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UNI P RESS FORSCHUNG UND WISSENSCHAFT AN DER UNIVERSITÄT BERN APRIL 2001 108 SCHOGGITOBLER – UNITOBLER – UNI

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UNI PRESSF O R S C H U N G U N D W I S S E N S C H A F T A N D E R U N I V E R S I T Ä T B E R N

APRIL 2001 108

SCHOGGITOBLER –UNITOBLER –UNI

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1/2 Seite quer 4farbigInserat Accenture AG Zürich

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warum die Solidarität der Schweizer Bevölkerung heute nicht ander Landesgrenze Halt macht.

Transkulturelle Kompetenzin der Drogenarbeit

Das Institut für Ethnologie führte eine Studie über die spezifi-schen Bedürfnisse an Beratung und Therapie drogenabhängigerMigranten und Migrantinnen durch. Zu den ersten Ergebnissenäussern sich Dagmar Domenig und Corina Salis Gross.

Soziale Netzwerke im Internet

In der Pilotstudie des Instituts für Soziologie befasst sich Chri-stoph Müller mit jugendlichen Internetnutzern. Er untersucht dieWirkung der Internet-Kommunikation auf neue Formen von Ge-meinschaften.

Schadstoff- und Feuchte-Einträgein Ökosysteme durch Nebel

Nebel ist unbeliebt – und noch wenig erforscht. Fred Geiselmannschreibt über die Arbeit einer Forschergruppe am GeographischenInstitut, die den Einfluss des schadstoffebelasteten Nebels aufÖkosysteme untersucht.

Was gibt den Zellenden Anstoss zum Wandern?

Zellen stellt man sich stationär vor. Sie können sich jedoch auchbewegen, um z. B. Bakterien aufzuspüren und aufzufressen. Ve-rena Niggli legt dar, wie diese Wanderung ausgelöst wird.

Verbrannt

Die Strahlen- oder Radiotherapie weckt bei vielen Patienten undPatientinnen die Angst, „verbrannt“ zu werden. Ein Text von Ri-chard H. Greiner orientiert über neue Techniken, die Nebenwir-kungen seltener auftreten und diese Ängste schwinden lassen.

Optoakustik: Laserinduzierter Ultraschall

Die Laser-Physik hilft der medizinischen Forschung. Die opto-akustische Diagnostik ist ein zerstörungsfreies und nicht invasivesVerfahren, das von Martin Frenz und seiner Arbeitsgruppe ent-wickelt wurde.

Forschung um süsse Vergangenheit

Angeregt durch den immer noch zu riechenden süssen Duft inden Räumlichkeiten der ehemaligen Schokoladefabrik, machtensich Studierende des Lehrstuhls für Schweizer Geschichte auf,die Vergangenheit „ihrer“ Unitobler zu erforschen. Yvonne Leim-gruber erzählt, wie es dazu kam.

Von der paternalistischen Wohlfahrtzur Sozialpartnerschaft

Theodor Tobler richtete in seinem Unter-nehmen zahlreiche Arbeiter-, Fürsorge-und Wohlfahrtseinrichtungen ein. Über diedamaligen Arbeitsbedingungen berichtenMarianne Flubacher, Christian Holliger,Yvonne Leimgruber, Emanuel Maurer undKathrin Moser.

Von der Berner Länggasse ausden Weltmarkt erobert

Dank der Qualität seiner Produkte und einer kreativen Werbe-strategie stieg die Chocolat Tobler zum grössten Industriebetriebder Stadt Bern auf. Die Höhen und Tiefen dieses Unternehmenszeichnet Urs Schneider nach.

Reichtum und Wandelder Tobler-Schokoladen

„Berna“, „Amanda“ und „Alpenstock“ – Namen von Schoko-laden, die heute nur noch Erinnerung sind. Einzig die Tobleronehat überlebt, eine Innovation par excellence. Marc Gerber,Susanne Siegenthaler und Franziska Zürcher haben sich mit die-sem Thema befasst.

Aus der Chocolatfabrikist ein Denk-Haus geworden

Der Umbau des Industriegebäudes zur Bildungsstätte und zu ei-nem neuen architektonischen Juwel im Uni-Quartier. Fred Geisel-mann berichtet darüber.

Ein neues Glied in der Kette des Glücks

Sascha Katja Dubach zeigt auf, wie die Glückskette zum wich-tigsten Werkzeug der Spendensammlung im Inland wurde. Und

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4 UNIPRESS108/APRIL 2001

VerantwortlicheHerausgeberinStelle für Öffentlichkeitsarbeitder Universität BernProf. Dr. Annemarie EtterDr. Beatrice MichelFred Geiselmann

RedaktionsadresseSchlösslistrasse 5, 3008 BernTel. 031 631 80 44Fax 031 631 45 62E-Mail: [email protected]://publicrelations.unibe.ch/

LayoutPatricia Maragno

TitelbildChristine Blaser

UNIPRESS108/APRIL 2001

Erscheinungsweise4mal jährlich;nächste Nummer: Juni 2001

Druck und InserateStämpfli AGHallerstrasse 73012 BernTel. 031 300 66 66Tel. 031 300 63 82 (Inserate)

AdressänderungenBitte direkt unsererVertriebsstelle melden:„DER BUND“Vertrieb UNIPRESSBubenbergplatz 83001 Bern

Auflage14500 Exemplare

In diesem Heft, liebe Leser, wer-

den Sie ausgiebig mit Schoko-lade gefüttert – wenigstens aufdem Papier. Doch da die mei-

sten unter Ihnen mit Bern wohlin irgendeiner Weise verbundensind, werden Sie auch kaum et-

was dagegen haben. Die Uni-tobler, der heutige Arbeitsortunserer Theologen, Geistes-

und Sozialwissenschaftler, beherbergte ja über viele Jahrzehnte hin-weg ein Industrieunternehmen, von dem zumindest eines der Pro-dukte auf der ganzen Welt ein Begriff ist: Die Schokoladefabrik Tobler

mit ihrer berühmten Toblerone.

Beinahe die Hälfte des Heftes, das wir Ihnen vorlegen, befasst sich

mit der „Schoggitobler“. Grundlage für die Artikel zu diesem The-ma lieferte eine Lehrveranstaltung am Historischen Institut, aus derauch das Projekt einer Ausstellung hervorgegangen ist, die im Ber-

ner Kornhaus vom 12. Mai bis 1. Juli 2001 zu sehen ist. Die Studie-renden haben bei ihren Nachforschungen über die Firma, in derenfrüheren Räumlichkeiten sie jetzt ein- und ausgehen, viel Interessan-

tes zusammengetragen, und einen Teil der Resultate legen sie jetzt inUNI PRESS vor. Dabei erfahren die Leser nicht allein vom Auf undAb der Firma, von den wirtschaftlichen Höhen und Tiefen eines Welt-

unternehmens. Sie begegnen auch den Menschen, die der ChocolatTobler einen Teil ihres Lebens gewidmet haben, dem langjährigenPatron Theodor Tobler, der die Firma über dreissig Jahre lang ge-

prägt hat, ebenso wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die vonihrer ehemaligen Tätigkeit in der Länggasse erzählen. Das reicheBildmaterial mag bei jenen, welche die alte „Schoggitobler“ noch

gekannt haben, nostalgische Erinnerungen wecken.Doch obgleich der Schokolade in diesem Heft viel Raum zugestandenwird, ist der Themenreigen auch diesmal vielfältig und berührt Din-

ge, mit denen wir alle mehr oder weniger häufig in Kontakt kommen.

Sascha Katja Dubach zeigt, wie die Glückskette, vor rund 50 Jahren

in der Romandie lanciert und heute jedermann in der Schweiz be-kannt, sich entwickelte als Ausdruck der Solidarität mit Menschen,die von Katastrophen gepeinigt werden.

Wie notwendig transkulturelle Kompetenz in unserer Gesellschaftist, wo Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenleben, führt

uns der Beitrag von Dagmar Domenig und Corina Salis Gros vorAugen. Er befasst sich mit der Drogenarbeit bei Jugendlichen, dienicht aus einem schweizerischen Elternhaus stammen.

Eine besondere Ausprägung menschlicher Kommunikation hat sichin den letzten Jahren mit den so genannten Newsgruppen und Chats

im Internet entwickelt. Vor allem junge Leute treten so in Kontakt zuanderen. Was dabei ausgetauscht wird, wie eng solche Kontakte sind,aber auch welch amüsanter Zeichenkombinationen sich die Teilneh-

mer bedienen, um gewisse Dinge zum Ausdruck zu bringen, verrätder Artikel „Soziale Netzwerke im Internet“ von Christoph Müller.

Nebelwetter ist im Winter vielerorts häufig und seine Feuchtigkeitwenig beliebt. Doch die feinen Tröpfchen nehmen auch Schadstoffeauf und lagern sie wieder ab. In welchem Ausmass und auf welche

Weise dies geschieht, ist indessen noch wenig bekannt. Am Geogra-

phischen Institut befasst sich eine Forschergruppe unter Leitung vonWerner Eugster mit diesem Problem.

Dass Zellen sich fortbewegen können, mag erstaunen. Die Forsche-rin Verena Niggli zeigt auf, wie dies geschieht und legt dar, wie wich-tig es ist, über dieses Verhalten der Bestandteile des Lebens noch

weitere Informationen zu gewinnen.

Die Angst, bei der medizinischen Strahlentherapie – wie sie etwa

bei der Krebstherapie Anwendung findet – „verbrannt“ zu werden,ist offenbar noch weit verbreitet. Der Radio-Onkologe RichardGreiner beschreibt, wie die moderne Strahlentherapie durchgeführt

wird und mit welchen Folgen heute noch gerechnet werden muss.

Die Laser-Physik stellt sich mit ihrer Forschung und ihren Entwick-

lungen häufig in den Dienst der modernen Medizin. Martin Frenz –der uns vor einigen Jahren bereits den von ihm entwickelten Erbi-um-Laser vorgestellt hat, mit Hilfe dessen in der HNO-Klinik die

damals so neue und erfolgreiche Methode zu Operationen im Innen-ohr entwickelt wurde – stellt uns in seinem Artikel die neueste Ent-wicklung seiner Arbeitsgruppe vor: ein optoakustisches Verfahren

zur Gewebe-Untersuchung. – Zugegeben, ich habe den Artikel mehrals einmal und mit recht viel Konzentration durchlesen müssen, umzu verstehen, wie dieses Verfahren funktioniert, aber die Sache ist

faszinierend.

Von der Geschichte einer Schokoladefabrik zum bildgebenden Ver-

fahren in der Medizin – all dies hat seinen Platz in der wissenschaft-lichen Arbeit an unserer Universität. Wir freuen uns, unsere Lese-rinnen und Leser daran teilhaben zu lassen.

Annemarie Etter

Viel Schokolade

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Wer heute dieses Denkmal der Industrie-architektur und Zeugnis einer verklunge-nen Epoche durchschreitet, mag sich fra-gen, wer früher die Räumlichkeiten mit Le-ben füllte. Die Studierenden mögen denbeinahe gänzlich entschwundenen Schoko-ladeduft erahnen und würden vielleicht

Schoggifabrik und Uni Bern sind eng verknüpft

Forschung umsüsse VergangenheitVon der Berner Länggasse aus eroberte die Chocolat Toblerdank dem Unternehmergeist Theodor Toblers und dem Er-folg der Toblerone in beachtlich kurzer Zeit den Weltmarkt.Die Geschichte dieser Schokoladefabrik ist eng mit der Uni-versität Bern verknüpft. Denn die heutige Unitobler, Heimatverschiedener Fakultäten seit Anfang der 1990er-Jahre,war während fast 100 Jahren die Produktionsstätte derToblerone.

gerne erfahren, wo denn dieSchokolade fabriziert wurdeoder in welchen Räumlich-keiten flinke Hände in mo-notoner Handarbeit unzäh-lige Schokoladetäfelcheneinwickelten. Möglicher-weise wissen sie, dass dieFabrik dem Länggassquar-tier einen unverkennbarenCharakter verlieh: Der durch-dringende Duft der Schoko-lade war im ganzen Quar-tier zu riechen. Dass Bern-hard Stirnemanns Käthinach„Schoggola schmöck-te“, war künstlerisch umge-setzes reales Alltagsleben.Die Vergangheit „seiner“

Unitobler zu erforschen, bewog den Lehr-stuhl für Schweizer Geschichte in Verbin-dung mit Neuester Allgemeiner Geschichteunter der Leitung von Prof. Dr. BrigitteStuder vor einem Jahr, eine Lehrveranstal-tung zur Chocolat Tobler durchzuführen.Bei den Recherchen stiessen die jungen

Ausstellung im KornhausInitiiert durch Yvonne Leimgruber, Assistentin des Lehrstuhls, entstand anfangs 2000 in Zusammenarbeit mit der Schule fürGestaltung Bern/Biel (SfG BB) und der Hochschule für Gestaltung, Kunst und Konservierung Bern (HGKK) ein Ausstellungs-projekt zur Geschichte der Chocolat Tobler. Die Zusammenarbeit von Universität und Fachhochschule bietet jungen Fach-leuten die Gelegenheit, ihre verschiedenen Kompetenzen in ein interdisziplinäres Projekt einfliessen zu lassen. Es ermög-licht ihnen auch, Qualifikationen über ihr eigentliches Kerngebiet hinaus zu erlangen. Dabei sind die Forschenden undGestaltenden darauf angewiesen, eine gemeinsame Ausstellungssprache zu finden. Eine weitere Bedeutung des Projektsliegt im Transfer von universitärem Wissen:Das Historische Institut macht sein Wissen der Öffentlichkeit zugänglich. Im Kornhaus, mitten in Berns Altstadt gelegen,werden breite Gesellschaftskreise Einblick in einen bedeutsamen Teil von Berns Wirtschaftsgeschichte erlangen können.Damit entspricht diese Ausstellung, welche vom 12. Mai bis 1. Juli 2001 stattfindet, dem zentralen Anliegen der Stiftung„Science et Cité“ nach einer Förderung des Dialogs von Universität und Gesellschaft.

Forschenden auf faszinierende Objekte,die in einer düsteren Tiefgarage des Muséed’Art et d’Histoire in Neuchâtel eingela-gert waren: Alte Confiserie-Werkzeugewie beispielsweise Osterhasen-Gussfor-men, Werbebroschüren, Sammelalben, Ge-schäftsberichte und vieles mehr. Sie schie-nen nur darauf gewartet zu haben, entdecktund ausgestellt zu werden.

Yvonne Leimgruber

Historisches Institut

Redaktionelle Mitarbeit

Beatrice Michel

Stelle für Öffentlichkeitsarbeit

Altes Emailschild um 1910 mit dem damali-gen Logo. (Foto: Archives Suchard-Tobler, Musée d‘Art et d‘Histoire, NE)

In der umgebauten ehemaligen Chocolat Tobler wird 1993der universitäre Lehrbetrieb aufgenommen. (Bild: Alexander Egger)

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Die „Arbeiter-, Fürsorge- und Wohlfahrts-einrichtungen“ beinhalteten beispielswei-se eine Kranken- und Unfallversicherung,eine Wöchnerinnenunterstützung und eineSterbekasse. Über die gesetzlichen Be-stimmungen hinaus förderte die ChocolatTobler den Arbeiterschutz mit einer Heim-pflege und einem eigenen Sanitätsdienstinklusive Fabrikarzt. Nebst der Säuglings-ausstattung erhielten die Frauen Informa-tionen über falsche und richtige Säuglings-pflege mitgeliefert. Die bedeutendste undfortschrittlichste Wohlfahrtseinrichtungwar die Alters-, Invaliditäts- und Hinter-bliebenenfürsorge, die 1921 dank eines aus

Betriebsgewinnen angehäuften Hilfsfondseingerichtet wurde.

Eine Reihe von freiwilligen Wohlfahrts-einrichtungen lud die Arbeiterschaft dazuein, auch die Freizeit im Betrieb zu ver-bringen, so die Speiseanstalt, die Biblio-thek, die Haushaltungskurse und das Or-chester. Daneben konnte die Belegschaftfür viele Bedürfnisse des alltäglichen Le-bens die Chocolat Tobler aufsuchen.Es bestand die Möglichkeit, Geldangele-genheiten in der toblereigenen Sparkassezu erledigen, private Probleme dem Sozial-sekretär anzuvertrauen, Esswaren wie Kar-

toffeln und Fleisch sowie Heizmaterialgünstig zu beziehen. Sogar die Ferien, die1911 für treue Arbeiter und Arbeiterinneneingeführt wurden, konnten die Begünstig-ten im Ferienheim der Chocolat Tobler imländlichen Diemerswil verbringen (Abb. 1).

Wohlfahrtseinrichtungenals StrategieBereits vor dem Ersten Weltkrieg gehörtees zum guten Ton grösserer Firmen, derArbeiterschaft über die gesetzlichen Be-stimmungen hinaus Wohlfahrtseinrichtun-gen anzubieten. Toblers Wohlfahrtspolitikwar nur teilweise sozial motiviert. Wohlbetonte der Fabrikant seine menschen-freundliche Grundhaltung, der er sich alsFreimaurer verpflichtet fühlte, und er be-zeichnete soziale Einrichtungen in patri-archalischer Tradition als „Akt der Gerech-tigkeit und Nächstenliebe“. Doch in ersterLinie sah Tobler sein sozialpolitischesEngagement als Investition in höhere Pro-duktivität und Rendite. Damit bewegte ersich im tayloristischen Zeitgeist und be-trieb „herrschaftsorientierte paternalis-tische Wohlfahrt“. Die firmeneigene Al-ters- und Invalidenkasse zum Beispiel be-gründete Tobler so: „Es ist erwiesen, dassder Arbeiter, der sich für seine alten oderinvaliden Tage gesichert fühlt, viel mehrund viel freudiger aus sich herausholt, waser kann, um dem Betrieb zu helfen.“

«„I ha der Tobler vo z’ungerscht bisz’oberscht kennt.” erzählt Hedwig Gygax.Sie kommt Ende der 1940er-Jahre durchein Zeitungsinserat zu Chocolat Tobler undsteigt als Saisonarbeiterin ein. Sie ist ver-heiratet und hat eine Tochter, die sie wäh-rend der Arbeitszeit in die Obhut ihrerSchwiegermutter geben kann. Nach zweiJahren erhält sie eine feste Anstellung. AmFliessband füllt sie Schachteln auf, späterbefördert sie die schweren, mit Schoko-lade gefüllten Paletten von den Maschi-nen zu den Fliessbändern, zuerst ohneTransportmittel, dann mit einem Stapler.Die Mitgliedschaft in der Gewerkschaftsei in der ersten Zeit bei Tobler obligato-risch gewesen: „Entweder chömet dir i d

Sozialpolitisches Engagement als Investition in höhere Produktivität und Rendite

Von der paternalistischenWohlfahrt zur SozialpartnerschaftVon 1900 bis 1933 prägte Theodor Tobler die Entwicklungder Chocolat Tobler. In dieser Ära entstanden zahlreiche„Arbeiter-, Fürsorge- und Wohlfahrtseinrichtungen“.Deren Auswirkungen dauerten teilweise bis zum Um-zug nach Brünnen an. Davon zeugen Interviews mit dernachfolgenden Generation der Arbeiter und Arbeiterinnen:Sie geben Einblick in die damaligen Arbeitsbedingungenund den „Geist“, der in der Fabrik herrschte.

Abb. 1: Abfahrt der jüngsten Ferienkinder im Fabrikhof, um 1920. (Foto: Archives Suchard-Tobler, Musée d‘Art et d‘Histoire, NE)

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Gwärkschaft u leischtet e Bytrag oder dirsyt i 14 Tag dusse.“ Zuerst sei sie derGewerkschaft eher skeptisch gegenübergestanden, erklärt Hedwig Gygax la-chend. Später habe sie ihre Meinung ge-ändert. Noch heute profitiere sie von derMitgliedschaft: Ihre Steuererklärung wirdgratis ausgefüllt, und jedes Jahr erhält sieReisemarken.»

Die Wohlfahrtseinrichtungen sollten diequalifizierten Arbeitskräfte an den Betriebbinden. Von vielen sozialen Angeboten derFirma, wie etwa Ferien und subventionier-te Wohnungen, profitierten deshalb zuerstdie betriebstreuen Arbeiterinnen und Ar-beiter. Diese waren aus betriebswirtschaft-licher Sicht besonders rentabel, weil sichbei ihnen die Investition in Gesundheit undBetriebsverbundenheit am meisten lohnte.

Die auch das Privatleben umfassendeWohlfahrtspolitik ermöglichte eine weit-reichende Kontrolle: so half zum Beispieldie Heimpflegerin kranken Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern nicht nur bei derHausarbeit, sondern konnte auch überprü-fen, ob die Frauen und Männer wirklichkrank waren.

Kampfmittel gegendie GewerkschaftToblers paternalistische Wohlfahrtspolitikhatte eine klar antigewerkschaftliche Spit-ze: sie sollte verhindern, dass sich das Per-sonal gewerkschaftlich organisierte. Diesozialdemokratische „Berner Tagwacht“warf Tobler deshalb vor: „Das sind die Un-ternehmer, die jahraus, jahrein die Arbei-terschaft und ein weiteres Publikum mitden Wohlfahrtseinrichtungen ködern.“ Vondiesen profitiere aber höchstens ein Drit-tel der Belegschaft, gleichzeitig „werdendie Löhne darniedergehalten“. Im An-schluss an einen dreiwöchigen Streik an-erkannte Theodor Tobler 1919 die Ge-werkschaft VHTL als Vertreterin der Ar-beiterschaft und gründete eine betriebsin-terne Arbeiterkommission.

«Die in Deutschland aufgewachsene Eri-ka Sommer, ledig und kinderlos, hat 40Jahre bei Tobler gearbeitet. Als sie 1946eintritt, ist ihre erste Station der Express-tisch. Hier werden kurzfristige Bestellun-gen bereit gemacht. Ihr erster Stundenlohnbeträgt 76 Rappen. Ferien hat sie dreiTage pro Jahr. Im Lauf der Jahre steigt ihr

Lohn, und nach 15 Betriebsjahren hat sieAnrecht auf drei Wochen Ferien. Vom Ex-presstisch wechselt Erika Sommer späterin die Musterabteilung, wo sie und ihreKolleginnen die Schachteln gemäss denVorlagen mit Pralinen füllen und Spezial-anfertigungen herstellen: Geschenke fürdie Jubilarinnen und Jubilare sowie fürStaatsbesuche. „Einmal war Montgomerybei uns in der Fabrik.“ 1987, zwei Jahrevor ihrer Pensionierung, wird Erika Som-mer zur Vorarbeiterin befördert. Der Be-trieb in der Länggasse ist nun eingestelltund die Schokoladeproduktion nach Brün-nen verlegt, ein Musterzimmer gibt es amneuen Arbeitsort nicht mehr. Sie habe beiTobler „viel Schönes erlebt“, obwohl es hinund wieder Zeiten gab, in denen manbefürchten musste, den „blauen Brief“ zuerhalten.»

Bedingt durch die Wirtschaftskrisen an-fangs der 1920er- und 1930er-Jahre sowiedurch die übermässige Expansionspolitik,musste die Chocolat Tobler den Personal-bestand stark abbauen. Demgegenüber er-reichte die Gewerkschaft bis 1932 einen100-prozentigen Organisationsgrad derBelegschaft. Aufgrund dieses zunehmen-den Gewichtes konnte das gewerkschaft-liche Mitspracherecht immer stärker aus-gebaut und die aus dieser Sozialpartner-schaft resultierenden Leistungen erhöhtwerden.

Soziale Errungenschaftenversus Verlustder Betriebskultur1900 betrug die wöchentliche Arbeitszeitder Belegschaft entsprechend dem eidg.Fabrikgesetz 65 Stunden. Nach dem Er-sten Weltkrieg wurde dieses Pensum auf48 Stunden gekürzt und in der Folge kon-tinuierlich weiter reduziert. Seit 1991 wirdin der ehemaligen Chocolat Tobler in Bern-Brünnen, dem heutigen Produktionsbetriebder Kraft Foods Schweiz AG, regulär noch41 Stunden gearbeitet.

Auch die Löhne und Ferienzeitregelungenwurden kontinuierlich zugunsten des Per-sonals verbessert. Aufgrund der ursprüng-lich sehr tiefen Löhne hatten die Zulagenund Prämien eine grosse Bedeutung. Lohn-aufbesserungen waren auch für Überzeit-,Nacht- und Sonntagsarbeit vorgesehen.Bereits in den 1920er-Jahren wurde Über-zeit mit 25 %, Nacht- und Sonntagsarbeitmit 50 % vergütet. Diese Regelung wurdebis in die 1970er-Jahre in ihren Grundzü-gen beibehalten.

Ganz entscheidend zu einem Lohnanstiegtrug die Hochkonjunktur der 1960er-Jah-re bei: Der damalige ausgetrocknete Ar-beitsmarkt begünstigte höhere Löhne. DerZusammenschluss mit Suchard sowie dieÜbernahmen durch Klaus J. Jacobs undspäter durch Philip Morris bewirkte eine

Abb. 2: Frauen im Handwickelsaal unter Aufsicht einer Vorarbeiterin, 1910. Die „Pliage“(Einwickeln und Abpacken der Schokolade) bleibt bis in die 1960er-Jahre der zentraleArbeitsort für Frauen. (Foto: Archives Suchard-Tobler, Musée d‘Art et d‘Histoire, NE)

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wesentliche Verbesserung der Pensions-kassenleistungen.

«Der Zusammenschluss von ChocolatTobler mit Suchard 1970 führt bei den An-gestellten zu Verunsicherung. Sie wissennicht, ob ihre Arbeitsplätze erhalten blei-ben. Hedwig Gygax erinnert sich: „BirFusion sy mir e chli hässig gsy über diHerre Aktionäre. Itz hei si wider zwenigseh, itz müesse si dä Tobler no ver-chouffe.“ Einen Vorteil bringt die Fusionjedoch mit sich. Von nun an haben dieArbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen An-recht auf eine Pension. Dies hat sich Hed-wig Gygax stets gewünscht, denn dasGeld, welches sie von Tobler ausbezahltbekommen hätte, wäre schnell aufge-braucht gewesen. Viele Arbeiter und Ar-beiterinnen befürchten hohe Pensions-kassenbeiträge und treten der Kasse des-halb nicht bei. Der Umzug nach Brünnen1985 ist für sie „furchtbar gsy, i bi mitTräne i de Ouge gange“.»

Die Chocolat Tobler verfolgte einen be-triebspädagogischen Ansatz und eine Werk-verbundenheitspolitik. Sportliche und ge-sellige Veranstaltungen, Betriebsausflügeund Jubiläumsfeierlichkeiten hatten dieBetriebsbindung des Personals auch nachdem Krieg entscheidend gestärkt. Auf-grund dieser umfassenden Bindung lebtedas Personal in einer eigentlichen „Tobler-Welt“, welcher es über die Pensionierunghinaus angehört(e): So sind die Pensionier-

und seine Arbeitskollegen jeweils ins Re-staurant „Schweizerbund“ ein Bier trinken,hin und wieder spielen sie gemeinsamFuss-ball oder treffen sich zum Kegelspiel.„Früe-cher sy mir meh e Familie gsy undhei chly gschpasset.“ Auch mit seinen Vor-gesetzten habe er sich gut verstanden.Diese seien hilfsbereit und verständnisvollgewesen: „I säge geng, d Firma isch keiMueter, aber si het viu für eim chönneerledige.“ Zwanzig Jahre hat er mit dem-selben Chef zusammengearbeitet, diebeiden sind gut ausgekommen. Doch „ei-nisch bin ig stärnsverruckt gsy, ha derSchurz abzoge u bi ggange.“ Sein Chefhabe ihn eingeholt: „Wo geisch häre?“„I wott jetzt furt, i ha gnue!“, habe er ge-antwortet. Doch Giusto ist bis heute ge-blieben. Wie viele andere auch.»

Ein Abbildder gesellschaftlichenGeschlechterverhältnisseBis in die 1970er-Jahre entsprach dasgeschlechtspezifische Lohngefälle in derChocolat Tobler etwa dem schweizeri-schen Durchschnitt: Männer verdientenungefähr einen Drittel mehr als Frauen.1971 wurde eine neue Arbeits- und Lei-stungsbewertung eingeführt. Aufgrund derunterschiedlichen gesellschaftlichen Be-wertung von Männer- bzw. Frauenerwerbs-arbeit bewirkte dieses System jedoch kei-ne Nivellierung des geschlechtspezifischenLohngefälles. Auch mit dem Gesamtarbeits-vertrag von 1978, in welchem geschlechts-neutrale Grundlöhne festgehalten waren,blieben Diskriminierungen bestehen. Erstdie 1992 ausgehandelte neue Lohnstrukturbrachte schliesslich für viele Frauen we-sentliche Verbesserungen. Umstrukturie-rungen trugen zudem zur Aufhebunggeschlechtspezifischer Arbeitsplätze – unddamit unterschiedlicher Löhne – bei.

Aufgrund der kleineren Löhne wie auchder kürzeren Betriebszugehörigkeit warenFrauen im Bereich der Sozialleistungen be-nachteiligt, ebenso aufgrund verschiede-ner Feinheiten des auf männliche Fami-lienoberhäupter ausgerichteten Versiche-rungssystems.

«Schon ihr Vater hat bei Chocolat Toblergearbeitet, im Parterre in der Conchen-Abteilung. Er sei ein engagierter Gewerk-schafter gewesen, erzählt Lydia Pfeiffer,und er habe sich sehr um die Arbeiter-

ten in einer eigenen Vereinigung organi-siert und publizieren ein eigenes Journal.

Diese starke Bindung an das Unternehmenbestand bis in die 1980er-Jahre. Die Inte-gration in internationale Grosskonzernemit auf Rentabilität und Shareholder Valuekonzentrierten Unternehmensgrundsätzenzerstörten die ursprüngliche Betriebskulturund -verbundenheit. Veränderte Arbeitsbe-dingungen, unregelmässige Arbeitszeitenund häufige Personalwechsel behindernein betriebsinternes Zusammengehörig-keitsgefühl und erschweren zudem die ge-werkschaftliche Arbeit beträchtlich. Dem-gegenüber ist das Lohnniveau stetig ange-stiegen, sind die Arbeitszeiten gekürzt unddie soziale Sicherheit weiter ausgebautworden. Der kontinuierlich ausgebautenSozialpartnerschaft steht damit der Verlusteiner integrierenden Betriebskultur gegen-über.

«Die ersten 16 Jahre bei Chocolat Toblerverbringt Biago Giusto im dritten Stockder Fabrik unter dem Dach in der Karto-nage. „Uh, im Summer isch es dert obeheiss gsy.“ Er steht jeden Tag 9 Stundenund 15 Minuten an der Stanzmaschineund stellt Verpackungsschachteln in nahe-zu hundert verschiedenen Formen her.Ende der 1960er-Jahre arbeiten sehr vie-le Italiener und Italienerinnen bei Tobler,aber auch Spanier und Pakistaner.„D Schwyzer het me a eire Hang chönneab-zeue.“ Nach der Arbeit gehen Giusto

Abb. 3: Männer im Conchensaal, um 1906. (Foto: Archives Suchard-Tobler, Musée d‘Art et d‘Histoire, NE)

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«Eine der Lieblingstätigkeiten von Hed-wig Gygax ist das Abpacken der Scho-kolade. Sorgfältig werden Schleifen umdie Schachteln gewickelt, und die Frau-en sind „amigs scho chli stolz gsy uf dieschöne Mäscheli“, sagt sie. Später wirddie Arbeit in der Fabrik durch vermehrtenEinsatz von Maschinen erleichtert, dochherrscht nun mehr Hektik. Die Produktionwird beträchtlich gesteigert, die Anzahlder Produkte sinkt.»

Auch das Leben ausserhalb der Fabrik sahfür Männer und Frauen sehr unterschied-lich aus. So trafen sich die Arbeiter abendsoft an Stammtischen oder zur Besprechunggewerkschaftlicher Aktivitäten. Die Arbei-terinnen hingegen eilten zu ihren Fami-lien, um die aufgeschobenen Hausarbei-ten zu erledigen. Die Mehrfachbelastunghinderte viele Frauen mit Familienpflich-ten daran, sich in den firmeneigenen Frei-zeitvereinen zu engagieren. Auch in derGewerkschaftsarbeit spiegelten sich dieseverschiedenen Lebensbedingungen. Über-wiegend waren Männer im VHTL aktiv,ebenso in der betriebsinternen Arbeiter-kommission – mit entsprechenden Auswir-kungen auf die Löhne.

Der bis gegen Ende des 20. Jahrhundertsbestehende gesellschaftliche Konsensüber männer- und frauenspezifische Tätig-keitsgebiete war nicht alleine in den kon-kreten Lebensbedingungen, sondern auchin den mentalen Strukturen verankert.Umso gravierender, wenn die ein Lebenlang eingeübten Rollen plötzlich nicht

schaft gekümmert: „Di isch ihm wichtigergsy aus mir Ching.“ Die Arbeitertochterist 10-jährig, als die Familie in eine Tobler-Wohnung in der Länggasse zieht. AlsKind spielt sie häufig vor der Fabrik.1953 steigt auch Lydia Pfeiffer bei Toblerein und übernimmt eine Saisonstelle, dieihr aber keine sichere Existenz bietet. Siehat inzwischen selber Kinder und wohntwieder in der Länggasse. Als Wicklerinpackt sie zusammen mit sieben weiterenFrauen Samichläuse, Tannzapfen undandere Figuren in Cellophanpapier ein.Im Wickelsaal im zweiten Stock sindausschliesslich Frauen beschäftigt.„D Scheffe hingäge sy geng Manne gsy.“Die Arbeit muss flink verrichtet werden.Fleissige Arbeiterinnen werden mit einemZuschlag von maximal 35 Rappen proStunde belohnt.Während Lydia Pfeiffer in der Schokolade-fabrik am „Wickeln“ ist, besorgt ihreMutter den Haushalt und kümmert sich umdie zwei älteren schulpflichtigen Kinder.Das Jüngste bringt Lydia Pfeiffer am Mor-gen in die städtische Kinderkrippe. Mit-tags treffen sich alle zum gemeinsamenEssen. Ihr Ehemann lebt in diesen Jahrennicht zu Hause. Er wohnt und arbeitet inGenf, da er in der Deutschschweiz keineArbeit gefunden hat.»

Ein Vergleich der Tätigkeitsfelder von1913 und 1958 zeigt, dass die ursprüng-lich überwiegend in der Ein- und Aus-formerei tätigen Männer in weit stärkeremMasse als die Frauen das Spektrum ihrerArbeitsgebiete erweitern konnten. Die da-mit verbundenen Qualifikationen warennicht nur lohnwirksam – spezifisches Wis-sen war für ein reibungsloses Funktionie-ren der Fabrik unentbehrlich. Demgegen-über war und blieb eine Überzahl der Frau-en in diesem Zeitraum in der Pliage (Ein-wickeln und Abpacken der Schokolade)tätig, beschäftigt mit unqualifizierter, mo-notoner, schlecht entlöhnter Handarbeit.Von Rationalisierungsmassnahmen undtechnischen Innovationen waren dieseTätigkeiten an erster Stelle betroffen. ZurBedienung der zunehmend automatisier-ten Pliage wurden verschiedene der Arbei-terinnen weitergebildet. Mit der Einfüh-rung des Drei-Schichten-Betriebs in den1990er-Jahren wurden erstmals auch Män-ner als Maschinenführer in der Pliage ein-gesetzt, dies aufgrund des Nachtarbeit-verbots für Frauen.

mehr galten. So mussten beispielsweiseWitwen in einer ihnen weitgehend frem-den öffentlichen Sphäre agieren. Eine ehe-malige „Toblerianerin“ beschrieb dies sehranschaulich und verband mit diesen für sieneuen Erfahrungen gleich einen Aufruf:

«„Las[s]t nicht alles Eure Männer machen,Bank-Postwesen, Steueramt usw. Schauthin und wieder über ihre Achseln. Ganzplötzlich muss man sehr selbständig han-deln. Ohne Erbarmen kommt all der Be-hörde[n]kram auf uns zu. Auch den lie-ben ‚Ehemännern‘ möchte ich zurufen:[K]ümmert euch etwas um den Haushalt,es ist nicht nur Betten machen, Schuh-putzen und kochen. Nein, da steht auchnoch die Waschmaschine, das Bügelbrettusw. So plötzlich steht man eben alleinda. Ich muss[te] zum ersten Mal in mei-nem Leben, die Steuererklärung ganz al-lein bewältigen … [Es] war alles in be-ster Ordnung. Wieder ein Triumph. Ichwar sogar stolz auf diese Tat.“»

Marianne Flubacher, Christian Holliger,

Yvonne Leimgruber, Emanuel Maurer,

Kathrin Moser

Historisches Institut

Abb. 4: Bestandteil der Werkverbundenheitspolitik waren die Weihnachtsfeiern für Kinder,hier die Weihnachtsfeier 1974. (Kontakt: Personalzeitung der AG Chocolat Tobler Bern, NR 76, 1975, 5.4)

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Die Geschichte der Chocolat Tobler

Die Gründung der Chocolat Tobler erfolgt in einer wirt-schaftlich sehr aktiven Periode: Der Kanton Bern holt zwi-schen 1890 und 1914 die Industrielle Revolution nach. DieModernisierungswelle verändert auch das Gesicht der StadtBern: Durch Hochbrücken und die ersten Tramlinien werdendie Aussenquartiere erschlossen; es entstehen neben Toblerso bedeutende Industriebetriebe wie Wander, Winkler undFallert (Wifag), Von Roll und Hasler. Dabei fällt auf, dassdiese Betriebe von Zuzügern aus anderen Kantonen oderaus dem Ausland aufgebaut wurden. Die alteingesesseneBerner Elite verspürt damals offenbar nur wenig industriel-len Tatendrang.

Von der Berner Länggasse ausden Weltmarkt erobert

Überdimensioniert und vor touristische Kulisse gerückt: Fabrik-ansicht in der Eigenwerbung (Blechplakat, 1910).

(Foto: Archives Suchard-Tobler, Musée d‘Art et d‘Histoire, NE)

Gründerzeit (1899–1914)Auch Johann Jakob Tobler ist kein Ber-ner, 1830 ist er in Lutzenberg (AR) gebo-ren. Nach Lehr- und Wanderjahren inSt. Gallen, Dresden und Paris kehrt dersich mittlerweile Jean nennende Tobler1865 in die Schweiz zurück. In Bern über-nimmt er 1868 eine kleine Confiserie Spé-ciale, die verschiedene Süsswaren herstelltund vertreibt. Besonders gefragt ist diezartschmelzende Schokolade des BernerFabrikanten Rodolphe Lindt. Diese wirdseit 1879 hergestellt und ist das innova-tivste Produkt auf dem damaligen Schoko-ladenmarkt. Tobler vertreibt sie gegen Pro-vision und trifft auf eine reissende Nach-frage. Der etwas eigenwillige Lindt ist je-doch nicht bereit, die Produktionsmengeauszudehnen.

Als Toblers 18jähriger Sohn Theodor 1894ins Geschäft einsteigt, regt er daher denBau einer eigenen Schokoladefabrik an.1899 nimmt die Fabrik den Betrieb auf;schon in kurzer Zeit sind ihre Kapazitätenjedoch zu klein. 1900 übergibt Jean Toblerdas Unternehmen seinen Kindern. 1902wird mit einem Aktienkapital von einerMillion Franken die „Berner Chocoladen-Fabrik Tobler & Co. AG“ gegründet. Bis1908 steigt das Aktienkapital auf 6 Mio.,was nach heutigem Geldwert etwa 300 Mil-lionen Franken entspricht. Trotz des ver-gleichsweise späten Einstiegs etabliert sichTobler in kurzer Zeit im Schweizer Scho-

koladenmarkt. Dies verdankt die Firmaihren Qualitätsprodukten und einer zwi-schen kreativ undaggressiv anzusie-delnden Werbestra-tegie.

Das Unternehmenwächst auch durchgewagte Übernah-men. 1905 erwirbtTobler für 2,7 Mio.Franken die TurinerSchokoladefabrikTalmone, wodurchsich Toblers Umsatzmehr als verdoppelt.Hintergrund derÜbernahme ist eineKonzentrationswel-le in der Schokola-debranche. In Luga-no kauft Tobler 1907für 1,9 Mio. einedritte Schokolade-fabrik (CompagnieSuisse). Nach derstürmischen Inve-stitionsphase folgt1908/09 eine Ab-satzflaute. Die ver-grösserten Fabrikensind schlecht ausge-lastet und arbeitenunrentabel. Bei der

ersten Sanierung von 1912 werden 2,4 Mil-lionen oder 40 % des Aktienkapitals abge-schrieben und 2 Mio. neues Kapital auf-genommen. Gleichzeitig wird die „Ak-tiengesellschaft Chocolat Tobler“ als neueHolding- und Verkaufsgesellschaft gegrün-det. Die Fabrik ist 1911 mit 477 und 1912mit rund 600 Beschäftigten zum grösstenIndustriebetrieb der Stadt Bern aufgestie-gen.

Blütezeit und Krise(1914–1932)Entgegen anfänglicher Verunsicherung beider Unternehmensführung sind die Kriegs-jahre von wirtschaftlichem Erfolg geprägt.Eine steigende Inlandnachfrage und derWegfall der ausländischen Konkurrenz im

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Theodor Tobler mit seiner dänischen Dogge. (Foto: Archives Suchard-Tobler, Musée d‘Art et d‘Histoire, NE)

Export lösen einen eigentlichen Boom aus.Der Bilanzgewinn steigt 1914 bis 1919 vonknapp 300 000 Franken auf über 1,5 Mio.

Die Rekordgewinne fliessen zu 80–90 %aus dem Unternehmen ab, wovon Aktio-näre und Belegschaft profitieren, letztereüber die Schaffung eines Sozialfonds mit1 Mio. Franken Kapital. In der Blütezeitwird Tobler zum integrierten Konzern mitdrei Schokoladefabriken, einer Milchsie-derei, einem Sägewerk und einer Gross-druckerei (Polygraphische GesellschaftLaupen). 1918 brennt die Fabrik in Luga-no nieder. Angesichts der guten Aussich-ten wird beschlossen, sie wiederaufzubau-en und massiv zu erweitern. Um das an-gestiegene Geschäftsvolumen und weite-re Investitionen zu finanzieren, wird dasAktienkapital 1920 um 3,6 auf 9,2 Mio.erhöht. Im gleichen Zug werden Holdingund Fabrikationsgesellschaft wiederverei-nigt.

Als 1921/22 die Nachkriegskonjunkturzusammenbricht, verfügt Tobler über zugrosse Produktionskapazitäten. Die Toch-ter Talmone wird deshalb verkauft. ImErlös von 7 Mio. ist ein Buchgewinn vonbeinahe 5 Mio. enthalten, der mit den an-fallenden Betriebsverlusten verrechnetwird. Ohne Buchgewinn wäre bereits 1921statt eines Gewinns von 600 000 Frankenein Verlust von über 1 Mio. auszuweisengewesen. Trotzdem werden 552 000 Fran-ken Dividende ausgeschüttet. Die operati-ven Verluste für 1922 betragen rund 4 Mil-lionen, werden aber durch stille Reservenabgedeckt. Die externe Bilanz weist nurrund 90 000 Franken Verlust aus. Ange-sichts der ausfallenden Dividende richtetsich der Unmut der Aktionäre gegen dieNebenbetriebe und die hohen Steuern inBern. 1924 wird deshalb die Doppelstruk-tur wieder eingeführt und der Holdingsitzins steuergünstige Schaffhausen verlegt.Der Kanton Bern nimmt die Sitzverlegungnicht kampflos hin, und das Bundesgerichtgibt ihm 1928 recht. Der Kanton kommtTobler indessen steuerlich entgegen.

Der schlechten Auslastung der Fabrikenwill Theodor Tobler durch vermehrte Um-sätze begegnen. Eine Verkleinerung desUnternehmens lehnt er ab. Staaten mitschwacher Währung oder zu hohen Zöl-len sollen durch Fabriken vor Ort belie-fert oder über Lizenzverträge erschlossen

werden. So beteiligt sich Tobler 1921 aneiner Fabrik in Bordeaux und vergibt 1929Lizenzen nach Belgien und England. 1924plant Tobler mit dem deutschen Produzen-ten Stollwerck einen Joint Venture in Bra-tislava, um die Märkte in der Tschecho-slowakei, Ungarn und Rumänien zu er-schliessen. Eine Aktionärsgruppe um dieSchweizerische Vereinsbank vereitelt dasVorhaben an der Generalversammlung.Theodor Tobler und zwei weitere Verwal-tungsräte treten daraufhin unter Protestzurück. Durch den riskanten Schachzugverunsichert Theodor Tobler seine Wider-sacher derart, dass sie aus Verwaltungsratund Aktionariat ausscheiden und er ge-stärkt in „sein“ Unternehmen zurückkeh-ren kann.

Die Suche nach Umsatz führt TheodorTobler 1925 in die USA. Die Gründung

einer Vertriebsgesellschaft mit 150 eige-nen Vertretern wird jedoch zum kostspie-ligen Flop, da die USA bald darauf dieEinfuhrzölle auf Schokoladeproduktenstark erhöhen. Grosse Verluste resultierenauch bei den Nebenbetrieben; die Sägerei(1924) und die Fabrik in Lugano (1926)werden stillgelegt.

Die gesamten Jahresgewinne 1923–28 unddie ordentlichen Reserven werden abge-schrieben. Zusätzlich zu diesen 5,2 Mio.wird 1929 das Kapital um 7,3 Mio. Fran-ken reduziert. Der Beschluss für dieseRosskur erfolgt einen Tag nach dem NewYorker Börsencrash. Die Weltwirtschafts-krise, insbesondere der Zusammenbruchdes Exports, trifft Tobler besonders hart.Die Exportwerte der Schokoladenindustriefallen von 115 Mio. Franken für 1919 auf29 Mio. für 1929.

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Mit aggressivem Marketing zu wirtschaftlichem Erfolg. In diesem Magazin wurde 1908Werbematerial gelagert. (Foto: Archives Suchard-Tobler, Musée d‘Art et d‘Histoire, NE)

Die Konsolidierung(1932–1950)1931 kann Tobler eine Anleihe von 4 Mio.nicht zurückzahlen. Nach erfolglosen Ver-handlungen mit den Gläubigern ersuchtdas Unternehmen um Nachlassstundung.Der gesamte Verwaltungsrat muss demis-sionieren. Theodor Tobler bleibt als Direk-tor im Unternehmen. Sachwalter und Ver-waltungsratspräsident wird der Berner No-tar Otto Wirz. Er will die Firma primär aufden Schweizer Markt ausrichten und so dasVertrauen der Geldgeber neu gewinnen.Tobler Bordeaux wird 1932 an ein franzö-sisches Konsortium verkauft, 1933 über-nimmt Direktor Albert Feller die Polygra-phische Gesellschaft Laupen. Durch dieVerkäufe und eine sehr vorsichtige Ge-schäftspolitik fasst Chocolat Tobler lang-sam wieder Tritt. Der als Direktor ange-stellte Theodor Tobler fühlt sich durch diestraffe Führung zu stark eingeengt undverlässt das Unternehmen im Juni 1933„zufolge gütlicher Verständigung“. Im Un-ternehmen wird Theodor Tobler nach sei-nem Abgang zur Unperson.

1935 ist für Tobler das schwierigste Jahrnach der Sanierung. Die Umsätze erlau-ben keinen rentablen Betrieb mehr. DasBilanzergebnis liegt knapp über Null, ope-rativ resultiert jedoch ein deutlicher Ver-lust. Bereits für 1936 können dank besse-rer Inlandverkäufe wieder ein Gewinn aus-gewiesen und den Aktionären 3 % Divi-dende ausgeschüttet werden. Trotz Fran-kenabwertung erreicht der Export keinengrossen Anteil am Firmenumsatz.

Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegsverändert sich das Umfeld grundlegend.Bei der stark steigenden Inlandnachfragedurch Armee und Bevölkerung muss sichdas Unternehmen nicht mehr um den Ab-satz, sondern um die Beschaffung der kost-baren Rohstoffe sorgen. Die eingeführtenMengen stehen unter Verwaltung des Bun-des, der die Prioritäten auf die Versorgungder Bevölkerung setzt. Die Zuteilungen anZucker und Kakao erreichen zeitweise nurnoch 25 % der Werte von 1938. WegenRohstoffmangels wird ein Teil der Produk-tion von Schokolade auf Confiserie verla-gert. Dieser Schritt schont die knappenKakaovorräte und stellt die Beschäftigungsicher. Angesichts der angespannten Ver-sorgungslage rationiert der Bundesrat abMai 1942 das Kakaopulver und ab Sep-

tember 1943 die Schokolade. Die Renditewird dadurch nicht berührt: Ab dem Ge-schäftsjahr 1940 erhalten die Aktionärin-nen und Aktionäre von Tobler regelmässig6 % Dividende.

Nach Kriegsende bleiben die Versorgungs-probleme noch einige Zeit bestehen. DieRationierung für Schokolade wird erst imMai 1946 aufgehoben. Bei Tobler herrschtVollbeschäftigung, aber die Nachfragekann wegen der eingeschränkten Kakao-versorgung nicht gedeckt werden. Der an-ziehende Tourismus in der Schweiz ent-schädigt das Unternehmen für den Export,der erst ab 1947 allmählich wieder aufge-nommen werden kann. 1948 führt Tobler

die dringend notwendige Modernisierungdes Betriebes durch. Die nötigen Mittelwerden erstmals seit der Sanierung von1932 wieder über eine Kapitalerhöhungbeschafft.

Von der Länggassein die weite Welt (1950–70)Ende der vierziger Jahre sitzt das Tobler-Management auf gefüllten Kassen undwartet auf die Öffnung der Exportmärkte.1950 entsteht in Turin die erste neue Toch-tergesellschaft. Weitere Produktionsstättenfolgen in Stuttgart (1951) und Bedford/GB(1967). Tobler beteiligt sich auch wiederan der 1932 verkauften Tochter in Bor-deaux. Die Ausfuhr der Schweizer Schoko-

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Mit vollem Schwung in die Hochkonjunktur der Nachkriegszeit. Toblerprodukte werden indie ganze Welt exportiert. (Foto: Archives Suchard-Tobler, Musée d‘art et d‘histoire, NE)

ladenindustrie steigt stürmisch an. 1954wird das Aktienkapital vereinheitlicht undauf 6 Mio. erhöht, wodurch die letztenSpuren der Sanierung von 1932 getilgtsind. Dank der Flaggschiffe Toblerone undTobler-O-rum belegt Tobler den Spitzen-rang unter den Schweizer Exporteuren.Toblers Zuwachsraten übersteigen regel-mässig den Branchenschnitt. Das Unter-nehmen macht in diesen erfolgreichenJahren eine Internationalisierung auf ver-schiedenen Ebenen durch. Die Exporte ausBern erreichen 1963 bereits 101 Staaten.Gleichzeitig steigt die Belegschaft in derSchweiz, vor allem durch die Beschäfti-gung von ausländischen Arbeitskräften.1964 erreicht ihr Anteil 44 % aller Mitar-beiter des Berner Unternehmens.

Die grossen Investitionen im In- und Aus-land bezahlt Tobler zum grössten Teil ausselbst erarbeiteten Mitteln. Dabei ist dieInformationspolitik des Unternehmenssehr zurückhaltend. In den Bilanzen desBerner Unternehmens sind die Ausland-beteiligungen massiv unterbewertet, ob-wohl z. B. die Tochter in Stuttgart Mitteder 1960er-Jahre den Berner Umsatz umdie Hälfte übertroffen hat. Zur gleichenZeit zeigt die Konjunktur zunehmend ihreSchattenseiten. Staatliche Eingriffe in denArbeitsmarkt sollen die Wirtschaft vor ei-

ner Überhitzung schützen. So werden zumBeispiel die Kontingente für Saisonnierseingeschränkt. Wegen des ausgetrockne-ten Arbeitsmarkts kann Tobler offene Stel-len nur noch mit Mühe besetzen. Die ste-tig steigende Produktion wird mit immerraffinierteren Maschinen und immer we-niger Belegschaft realisiert. Vor allem imarbeitsintensiven Verpackungsbereichwird Handarbeit abgebaut. Die Produkti-vität des Unternehmens erhöht sich deut-lich.

Immer grösser –immer kleiner? (1970–2000)Ende der 1960er-Jahre ist Tobler ein ge-sundes Unternehmen mit populären Pro-dukten, einem sehr gut eingeführten Mar-kennamen und modernen Fabriken. Ge-rüchte betreffend einer Übernahme durchSuchard werden an der Generalversamm-lung 1969 noch verneint. Dessen ungeach-tet künden Suchard und Tobler am 2. Juni1970 die Fusion an. Die Strategie des in„Interfood“ umbenannten Konzerns ver-spricht Synergien im technischen Bereichund im Vertrieb. Zudem soll die Holdingals Basis für eine weitere Diversifikationim Nahrungsmittelsektor dienen. Die neu-en Besitzer betonen die Erhaltung desFabrikationsstandorts Bern. Tobler tritt dieFührung der Auslandbetriebe und den Ex-

port an die Holding ab und wird wieder zueiner reinen Produktionsgesellschaft. 1982geht Interfood mit der rund dreimal grös-seren Kaffeegruppe Jacobs zusammen.Mehrheitsaktionär des neuen Multis istKlaus J. Jacobs. 1990 verkauft dieser sei-nen Anteil an den amerikanischen Nah-rungsmittel- und Tabakkonzern PhilipMorris, der Jacobs Suchard in den Unter-nehmensteil Kraft Foods eingliedert.

Von der einstigen Berner Institution Cho-colat Tobler ist wenig erhalten geblieben.In den immer grösser werdenden Mutter-gesellschaften wird Tobler vom eigenstän-digen Unternehmen zur blossen Produk-tionseinheit für einen Artikel. Trotzdemwird heute bei Kraft Foods in Brünnen beiBern mit einer Belegschaft von rund 370Personen mehr Toblerone produziert als jezuvor. Die aneinandergereihte Tagespro-duktion ergibt eine Strecke von 283 Kilo-metern. Nach langjähriger Lizenzproduk-tion in diversen Ländern ist heute wiederjede Toblerone „Swiss made“. Die zacki-ge Diva hat ihre Erfinder überlebt und istunverändert verführerisch aus den wech-selhaften Geschicken ihrer Produzentenhervorgegangen.

Urs Schneider

Historisches Institut

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Den Start ins Schokoladegeschäft machtedie 1899 gegründete Chocolat Tobler mitMilchschokolade, dunkler Fondant-Cho-colade und vor allem mit löslichem Ka-kao in drei Qualitätskategorien. Noch tru-gen die Schokoladen Bezeichnungen wie„Vanillé“, „Fin“ oder „Surfin“, wie diesdamals üblich war. Theodor Tobler musstesich seinen Platz im bereits hart umwor-benen Schokolademarkt erst einmal er-kämpfen. Die Konkurrenz schlief nichtund beschuldigte Tobler mehrmals, erahme ihre Produkte nach. In rascher Fol-ge kamen neue Artikel und damit Namen

wie „Berna“ „Amanda“, „Mocca“ und„Bijou“ zum Sortiment dazu (Abb. 1). Fastalles Artikel, die sich bis in die 1980er-Jahre hielten. Langsam begannen sichMarkennamen zu etablieren, und wohl-klingende Produktmarken spielten für denVerkauf eine immer bedeutendere Rolle.Theodor Tobler gehörte nicht zu den Pio-nieren der Markenproduzenten, er tat sichaber durch ein besonderes Werbegeschickhervor. Mit der 1908 erfundenen Toble-rone lanciert Tobler eine Schokolade vonneuartiger Form und Inhalt, und von nunan muss er sich vor Nachahmungen in achtnehmen. Tobler setzte von Anfang an auf„Qualität und Exklusivität“.

Erfolg dank WerbungEr war sich auch bewusst, wie wichtigReklame für den erfolgreichen Absatz ei-nes Markenproduktes ist. Mit der frühenWerbung der Chocolat Tobler sollte in er-ster Linie der Name Verbreitung finden.Emailschilder mit der einfachen Aufschrift„Chocolat Tobler“ dominierten das Bildder Aussenwerbung. Das damalige Logo(ein Adler mit Schweizer- und Bernerfahnezwischen den Krallen, im Hintergrund wei-dende Kühe in einer idyllischen Alpen-landschaft) schmückte fast alles, was dieFabrik verliess. Doch wurden von der Jahr-hundertwende an kritische Stimmen ge-genüber der Aussenwerbung laut. 1905wurde die Schweizerische Vereinigung fürHeimatschutz gegründet, nicht zuletzt umdem „wilden Treiben gewisser Reklame-helden“ entgegenzutreten. Immer häufigerwurden auch Künstler engagiert, um Pla-kate für die Chocolat Tobler anzufertigen.Es sind durchgehende Motive erkennbar:das Exotische, das Familenleben (Frau undKinder) oder die Schweiz als romantischeHeimat. Theodor Toblers Gespür für dieWerbung zeigen auch die Sammelbild-chen, die von 1906 an den Tobler Schoko-laden beigelegt wurden (Abb. 2). DieseBildchen konnten in Sammelalben einge-

Von Nimrod über Tobler-O-rum zu Toblerone-Pralinés

Reichtum und Wandelder Tobler-SchokoladenDen Namen Tobler verbinden die meisten in erster Liniemit der weltweit bekannten „Toblerone“. Dass auch Tafel-Schokoladen, dunkle, helle und gefüllte, Pralinés, Liqueurs,Confiserieartikel wie „Schoggi-Stängeli“ und Schokoriegel,Osterhasen und Ostereier in den unterschiedlichsten For-men und Grössen, Weihnachtsschmuck aus Schokolade,Kakao und Kakaogetränke, Couverturen und Artikel fürConfiseure – die Liste liesse sich beliebig verlängern – dassauch dies alles einmal Teil des riesigen Angebots vonChocolat Tobler war, ist in Vergessenheit geraten.

Abb. 2: Sammelbildchen aus dem „Album Tobler“. Sujet eins stammt aus der Serie„Carricaturen“, Sujet zwei aus der Serie „Papageien“, Sujet drei aus der Serie „ToblerWeltreise II“ mit Halt in New York. (Privatsammlung)

Abb. 1: Kleiner Ausschnitt aus der Produk-tepalette von 1913. (Foto: Archives Suchard-Tobler, Musée d‘Art et d‘Histoire, NE)

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klebt und gegen eine Treueprämie einge-tauscht werden. Der Name Tobler zog soin jedes Berner Kinderzimmer ein.

Krisen- und KriegswirtschaftDie 1930er- und 1940er-Jahre waren ge-prägt von der speziellen Situation der Welt-wirtschaftskrise und des Zweiten Weltkrie-ges.

Ein dauerhaftes Problem bildeten die so-genannten „Dissidenten“, wie sie der Ver-waltungsrat der Chocolat Tobler AG nann-te. Gemeint sind Schokoladeproduzenten,die sich nicht wie das Berner Unterneh-men an der „Convention ChocoladièreSuisse“, einer Art Syndikat, beteiligten. Sieunterboten immer wieder das Angebot der„Convention“. So sah sich die ChocolatTobler gezwungen, eine Schokolade zwei-ter Qualität, die „Volksmilch-Schokolade“,auf den Markt zu bringen, um den Zulaufder Kundinnen und Kunden zur Konkur-renz zu vermeiden. Diese Aktion lohntesich, da die Leute aufgrund der erschwer-ten wirtschaftlichen Situation vermehrt zubilligeren Schokoladen griffen.

1932 war das Geburtsjahr der berühmten„Tobler-O-rum“. Laut Tobler handelte essich bei dieser Schokolade „um einen er-sten Versuch, Bonbons (Pralinés) in Tafel-form auf den Markt zu bringen“.

Die kriegsbedingte Rationierung erschwer-te die Produktion, vor allem der Mangelan Milchpulver war problematisch. Gewis-se Zusatzprodukte wie Mandeln und Ha-selnüsse waren anfangs noch relativ ein-fach zu beschaffen; gegen Ende des Krie-ges wurde die Lage allerdings auch in die-sem Bereich prekär. Laufend suchte mandeshalb nach neuen Produkten, die mit Er-satzrohstoffen hergestellt werden konnten.So wurde einmal eine Serie Milchschoko-lade mit Rohzucker hergestellt, weil gera-de ein Quantum billig ausser Kontingentbezogen werden konnte. Auffallend ist dieKonzeption von nahrhaften Schokoladenwie die „Vitamine“ mit den Vitaminen B1und C, die „Tobler-o-Malt“, die als „Kraft-Chokolade mit Rahm, Eiern und Malz“angepriesen wurde.

Während dieser Zeit beschränkte sich dieWerbung auf blosse Erinnerungsreklame.Der Ausschuss des Verwaltungsrates ge-nehmigte 1944 eine Reorganisation der

Propagandaabteilung und entschied sichfür ein neues Signet: ein einfaches Schild-wappen mit „T“ und Mauerkrone, das inZukunft auf allen Tobler Packungen, Re-klamen, Briefköpfen etc. erscheinen sollte.

Die Aufhebung der Schokoladerationie-rung 1946 hatte einen Riesenansturm aufSchokolade zur Folge, und binnen kürze-ster Zeit waren die Regale in den Lädenleer. Mit dem enormen Wirtschaftsauf-schwung nach dem Krieg wurde die Wer-bung ausgebaut. Man setzte immer häufi-ger auf das Medium Film (oft Zeichen-trickfilme). Aufwendige und kostspieligeWerbeaktionen nahmen ihren festen Platzin der Werbung der Chocolat Tobler ein.So wurden z. B. Helikopterflüge in allenSchweizer Städten mit Abwurf von Flug-blättern veranstaltet. 1954 überlegte mansich für solche Werbeaktionen gar denAnkauf eines eigenen Tobler-Helikopters– zu hohe Unterhaltskosten verhindertendies jedoch. Ab Mitte der 1960er-Jahrenahm das Wort gegenüber dem Bild eineimmer tragendere Rolle ein. So wurde bei-spielsweise der Slogan „der Klick zumGenuss“ in der Tobleronewerbung mehre-re Jahre verwendet.

Tobler-Schokoladefür jedermann undjede GelegenheitMit den 1950er-Jahren kam der Wirt-schaftsboom und die Wiederbelebung derschweizerischen Wirtschaft. Die Löhnestiegen, und der Marktwert der Schokola-de änderte sich: Sie wandelte sich vom Ge-nuss- und Luxusartikel zum alltäglichen

Konsumgut und wurde für alle erschwing-lich. Dies führte ab Mitte der fünfzigerJahre zu einer stürmischen Entwicklungbei der Neuheiten-Kreation. Auch beiTobler wurde in diesen Jahren das Sorti-ment laufend ausgebaut. Die Entwicklungder Produkte geschah noch relativ unpro-fessionell: Hatte jemand aus der Verkaufs-oder Entwicklungsabteilung eine Idee füreine neue Schokolade, wurde im kleinenVersuchsraum an der Länggasstrasse solange gepröbelt, bis ein neues, feines Pro-dukt entstand.

Doch die vielen Neuheiten waren mit vielAufwand und hohen Kosten verbunden.Ein einjähriges Abkommen von 1955 zwi-schen den vier grossen Schokoladefirmender Schweiz (Nestlé, Lindt & Sprüngli,Tobler und Suchard), ein Jahr lang keineneuen Produkte auf den Markt zu bringen,brachte etwas Entlastung.

Doch der Boom ging weiter: 1958 erreich-te der Inlandumsatz einen neuen Höhe-punkt. Auch das Exportgeschäft hatte einestarke Zunahme zu verzeichnen und ge-wann laufend an Bedeutung.

In der Werbung waren die Grafiker an dieStelle der Künstler getreten. Ein weitererwichtiger Schritt Richtung Professionali-sierung bestand seit den 1960er-Jahren inder Zusammenarbeit mit einer Werbeagen-tur.

Ausbau und AbbauIn den späten fünfziger und den frühensechziger Jahren produzierte die Chocolat

Abb. 3: Toblerone-Werbefoto. Auch die moderne, sportliche Frau wirbt für Schokolade:kecke Bernerinnen am Wohlensee, um 1928. (Foto: Privatbesitz)

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Tobler ihr grösstes Tafelsortiment. Vor al-lem gefüllte Tabletten lagen im Trend.„Tobler Mint“, „Mandélice“, „Lemona li-quide“, „Truffe Mandarinette“ waren nurein paar Beispiele. Innovativ war man ins-besondere in bezug auf neue Tabletten undallenfalls noch bezüglich der Gestaltungdes Wickels.

Auch was die Pralinés betrifft, waren diesechziger Jahre Spitzenjahre. Nach langenJahren der Erfahrung etablierte sich einklassisches Sortiment, bei dem vor allemnoch die Form variierte. Wo man aller-dings unermüdlich Neukreationen schuf,war bei den Verpackungen: Neben denklassischen Pralinéschachteln mit Blumen,Städte- und Landschaftssujets wurden sam-tene Schmuckschatullen, goldglänzendeSchatzkistchen und reichverzierte Körb-chen kreiert – der Fantasie schienen dabeikeine Grenzen gesetzt (Abb. 4).

Um 1967 entstanden die ersten Lebensmit-tel-Discounter. Die Markenartikel, so auchdie Tafel-Schokoladen, dienten als beson-dere Attraktionen. Aufgrund der neuenVerkaufssituation musste der Firmenname„Tobler“ auf dem Produkt gut sichbar sein,

denn die gewünschte Schokolade sollte aufden ersten Blick erkennbar sein. In diesemSinne wurden die Verpackungen verändert(Abb. 5). Der Strukturwandel auf demSchweizer Markt beschleunigte sich wei-ter. Ende der 1960er- und Anfang der1970er-Jahre gab es neue Konzentrationenbei den Verteilerorganisationen, und Dis-count- und Aktionspreise gehörten zur Ta-gesordnung. Bereits machte sich diese Ten-denz im Sortiment bemerkbar: Es wurdenach dem Zusammenschluss mit Suchard(1970) um 20 % reduziert.

Neue Zeiten, neue Produkte und Verpak-kungen sowie gelungene Werbeaktionen(siehe Kasten „Talking Head“): 1968 ent-standen erste Kleinpackungen, die Ten-denz ging weg von den Tafelschokoladenhin zu den Riegeln. Die Kultur der Zwi-schenverpflegung oder des kleinen Snacks,den man überall mitnehmen kann, begannsich mehr und mehr durchzusetzen. Dafürwaren andere Formate als die Tafelschoko-lade und neue Kombinationen gefragt. Als(zu) revolutionär galt im Mai 1977 dieLancierung der „Tobler-Orion“. Es handel-te sich dabei um eine „90-g-Portionen-Schokolade für den kleinen Hunger unter-

wegs“. Noch schien die Zeit nicht reif füreinen solchen Artikel; schon ein Jahr nachder Lancierung stagnierten die Verkaufs-zahlen, und der Artikel verschwand baldwieder aus dem Sortiment.

Die 1970er-Jahre brachten eine zunehmen-de Professionalisierung auch in der Pro-dukteentwicklung: Das Chemielabor, wel-ches vorher in erster Linie die Qualität derRohstoffe und Endprodukte überprüft hat-te, wurde in die Neuentwicklung von Pro-dukten involviert. Auch orientierte mansich immer intensiver am Geschmack derKundinnen und Kunden: Immer häufigerwurden Marktstudien zu gewissen Produk-ten durchgeführt, so 1973 nach der Lan-cierung der weissen Toblerone.

Immer jünger, dynamischerund nur noch Toblerone1982 kaufte Klaus J. Jacobs die in der In-terfood zusammengeschlossenen Schoko-ladefabriken Suchard und Chocolat Toblerauf, und zwei Jahre später zog die ehema-lige Chocolat Tobler von der Länggassein einen hochmodernen Neubau nachBrünnen. Von nun an lief alles nach einerneuen Unternehmensstrategie: Konzentra-tion der Kräfte auf führende Marken, we-nige Neuheiten, Reduktion des bestehen-den Sortiments. So wurden beispielswei-se die seit 1913 produzierte „Nimrod“ undder „Alpenstock“ aufgegeben.

Die Unternehmung arbeitete fortan nachdem sogenannten „Umbrella concept“:

Abb. 4: Die Pralinés wurden in immer aufwendigere Verpackungen gefüllt. 1964 kostetediese Packung stolze Fr. 54.–. (Foto: Werbung 1964)

Abb. 5: Die neuen Selbstbedienungsgeschäf-te beeinflussten die Verpackungsgestaltung:Die gewünschte Schokolade musste auf ei-nen Blick erkennbar sein.

(Foto: Archives Suchard-Tobler, Musée d‘Art et d‘Histoire, NE)

„Talking Head“ im Loeb-Schaufenster stoppt PassantenEine der bemerkenswertesten Werbeaktionen war der „Talking Head“. Der TalkingHead war eine Wachsfigur, die nach Theodor Toblers Ebenbild gestaltet wurde.Das Gesicht eines Schauspielers wurde während des Sprechens abgefilmt undder Film auf den Kopf der Puppe projiziert. Anfang der 1980er-Jahre wurde derTalking Head erstmals in einem Schaufenster des Warenhauses Loeb in Bernpräsentiert. Die Figur sass an einem Tisch und „erzählte“ die Geschichte derToblerone und der Firma. Dieses Schaufenster soll unglaubliches Aufsehen erregthaben, nach Berichten von Zeugen bildete sich vor dem Schaufenster eine sogrosse Menschenmenge, dass ein Durchkommen kaum möglich war.

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Toblerone: Rezept, Form, Verpackung, QualitätIn der Markenstudie, die dieses Jahr von „Brand Asset Valuator“ für die Schweiz erhoben wurde, steht Toblerone gleichnach Coca-Cola an zweiter Stelle der Power-Marken. Diese Schokolade, die 2008 ihr hundertjähriges Jubiläum feierndarf, gehört noch heute zu den wichtigsten Produkten der Schweiz. Sie war eine Innovation par excellence.

Toblerone kam als Milchschokolade auf den Markt und wurde zu den Tafelschokoladen gezählt, unterscheidet sichjedoch von der Milchschokolade durch die Zusätze von Mandeln, Honig und Nougat. Von den Tafelschokoladen hebtsie sich durch ihre Dreiecksform deutlich ab. Sie ist also in Form und Rezept eine Besonderheit. Durch die spezielle Formbedingt, erscheint auch die Verpackung als einzigartig. Nougat, Milchschokolade und selbst die Dreiecksform wurdenvon anderen Unternehmen bereits früher verwendet. Neu war nun aber die Verbindung dieser Elemente, und zusammenmit geschickten Werbekampagnen machte dies den Erfolg der Toblerone aus.

Im Gegensatz zum Logo hat sich der Schriftzug seit der ersten Toblerone bis heute kaum verändert. Der Steinadler mit derSchweizer- und Bernerfahne in den Krallen zierte die Verpackung von 1908 bis 1960, mit einem Unterbruch währendder Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland, als der Adler aus guten Gründen dem Berner Bären weichen musste.Das Matterhorn, Wahrzeichen der Schweiz, erschien in den frühen 1960er-Jahren auf der Toblerone und wurde 1987durch den abstrakten Felszack ersetzt. Heute ist man wieder zum traditionellen Sujet des Matterhorns zurückgekehrt – neumit unauffällig integriertem Berner Bären.

Unter einem Markendach wurden nun ver-schiedene Produkte und Marken gruppiert.Der Vorteil ist einleuchtend: Erfasst durcheine grosse Dach-Marken-Werbung, konn-ten nun viele kleinere Werbeaufwendun-gen eingespart werden.

1987 präsentiert sich Chocolat Tobler ineinem neuen Kleid: „frischer, jünger undmoderner“. Und mit einem einprägsamenSignet, dem Tobler-Dreieck. Dieses Signetsymbolisiert den Gipfel des Genusses. Allenoch bestehenden Produkte wurden dem

„modernen und sympathischen“ einheitli-chen Markenbild angepasst.

Nach der Übernahme durch Philip Morris(1990) stieg der Druck, kostengünstiger zuproduzieren und das Sortiment entspre-chend einzuschränken. Immer stärker wur-de die Produktepalette auf die Tobleronereduziert, bis sie als einziges Produkt üb-rig blieb.

Dafür wurde sie zunehmend in Variantenhergestellt: als Toblerone à 35 g im prak-

tischen Flowpack zum Aufreissen, und1995 folgte die Toblerone mini (12,5 g)mit 3 Zacken. Seit 1996 gibt es die gefüll-te Toblerone (blau) und seit 1997 Toble-rone-Pralinés.

Marc Gerber, Susanne Siegenthaler,

Franziska Zürcher

Historisches Institut

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Während Jahrzehnten prägte die mächtige Fabrik der „ChocolatTobler“, von der ein süsslicher Duft nach Kakao ausging, dasBild der mittleren Länggasse. Doch die 1898 erbaute Chocolat-fabrik, immer wieder vergrössert und durch Annexbauten erwei-tert, verlegte ihre Produktionsstätten schliesslich vor die ToreBerns nach Westen. Die leerstehenden Gebäude wurden 1982 vomKanton gekauft und später von einem Architektenteam für dieUniversität Bern umgebaut. Heute prägt die so entstandene„Unitobler“ mit ihrer markanten, hellblau gestrichenen Fassadedas Strassenbild noch mehr – sie ist zu einem neuen Wahrzei-chen des Quartiers geworden.

Lange war nicht klar, was mit dem leerstehenden Fabrikarealzwischen Muesmattstrasse, Länggassstrasse und Lerchenweggeschehen sollte. Einige hätten hier am liebsten (teure) Wohnun-gen eingerichtet, andere strebten nach einer Nutzung durch dieUniversität. Sie sollten schliesslich, nach langwierigen Debattenund Auseinandersetzungen, die Oberhand gewinnen.

Aus der Chocolatfabrikist ein Denk-Haus geworden

Alt und Neu in geglückter Verbindung: links die Fabrikmauer,rechts die in den Innenhof der ehemaligen Fabrik eingebauteBibliothek. (Foto: Heinrich Helfenstein)

In Hunderten von Sitzungen rauften sich die Verantwortlichen –Fachleute der kantonalen Baudirektion, der Erziehungsdirektionund der Universitätsverwaltung, aber auch Professoren, Assisten-ten und Studierende aus den betroffenen Fächern – zusammen,und es entstand das Bauvorhaben Unitobler. Ein überzeugendesProjekt.

Die bestehenden Gebäude der alten Fabrik sollten nicht etwa nie-dergerissen und durch Neubauten ersetzt, sondern durch zweck-mässige Um- und Ausbauten dem grossen und wechselndenRaumbedürfnis eines Universitätsbetriebes angepasst werden. Altund Neu sollten, beide als solche klar erkennbar, zu einem har-monischen Ganzen vereint werden.

Das Projekt passierte den Grossen Rat – mit viel Einsicht undviel Glück. Auch die städtischen Instanzen, Volk und Behörden,gaben ihre Zustimmung. Und schliesslich hiessen die kantonalenStimmbürger am 7. Dezember 1986 das 90-Mio.-Bauvorhabenmit über 70 % Ja-Stimmen gut. Die Detailplanung begann, undzwei Jahre darauf setzte der Um- und Neubau ein – ein Bauvor-haben von unglaublicher Komplexität. Inklusive Teuerung undmit dem späteren Einbezug der Sozialwissenschaften sollte derUm- und Neubau Unitobler letztlich auf rund 100 Mio. Frankenzu stehen kommen.

Kernstück von Unitobler ist die neue Basisbibliothek, die im er-sten Untergeschoss beginnt, sich bis ins vierte Stockwerk erstrecktund rund 750 000 Büchern Platz bietet. Stahlbrücken und Wen-deltreppen verbinden die einzelnen Bibliotheksplattformen mit-einander, Stege führen direkt in die Institute. Um die Bibliothekherum sind auf fünf Geschossen die Büros und Arbeitsräume, Sit-zungszimmer und Hörsäle angeordnet.

Im Herbst 1992 zogen als Erste die Sozialwissenschaften – So-ziologen, Politikwissenschafter und Medienwissenschafter – inden neuerstellten Trakt am Lerchenweg ein. Im anschliessendenFrühjahr folgten 12 Institute der Philosophisch-historischen Fa-kultät, die bisher in 20 verschiedenen Gebäuden untergebrachtwaren. (7 weitere geisteswissenschaftliche Disziplinen, die in derUnitobler nicht Platz gefunden haben, sind wenigstens zum Teilin der Nähe untergebracht). Im März 1997 schliesslich zügeltenauch die beiden Theologischen Fakultäten in die Unitobler. – Heu-te erhalten in der Unitobler an die 3000 Studierende ihre wissen-schaftliche Ausbildung.

Der Neu- und Umbau der einstigen Chocolatfabrik zu einer uni-versitären Stätte ist mehrmals mit Architekturpreisen ausgezeich-net worden.

Fred Geiselmann

Stelle für Öffentlichkeitsarbeit

Unitobler – ein Wahrzeichen des Länggassquartiers geblieben

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Tradition der Schweizer Hilfe?Die Solidarität wird oft als schweizerischeEigenart verstanden. Sonderfallgefühlesind jedoch unbegründet, denn ähnlicheSolidaritätspraktiken gibt es auch andern-orts. Die Sammel- und Spendentätigkeitist keine exklusiv schweizerische Erschei-nung, gemäss Selbstbild aber besondersstark entwickelt.

Über die freiwillig-karitative Hilfe anläss-lich von Unglücksfällen – vor allem beiBränden und Überschwemmungen – gibtes schon frühe Überlieferungen aus deralten Eidgenossenschaft. Die Folgen vonNaturkatastrophen wurden immer wiederdurch die Hilfe von Nichtbetroffenen ge-lindert. Bereits im 14. Jahrhundert schick-ten umliegende Landschaften und Städteden Betroffenen Mannschaften zum Wie-

Schweizerische Solidarität zugunsten von Naturkatastrophenopfern

Ein neues Gliedin der Kette des GlücksDie Glückskette vermeldete am 10. November 2000 diebisher erfolgreichste Sammlung aller Zeiten für die Über-schwemmungsgebiete Tessin, Berner Oberland, Waadtund Aostatal. Der Spendenrekord wuchs bis heute aufüber 70 Millionen Franken an. Diese Spendensammlung,gemeinsam für das Inland und das angrenzende Ausland,beschreibt eine neue Phase der Entwicklung schweizerischerSolidarität für Naturkatastrophenopfer, die immer weitereKreise zieht und durch die immer mehr Menschen einehelfende Hand geboten wird.

deraufbau, Lebensmittel zur sofortigenHilfe oder stellten Geld zur Verfügung.Diese sogenannten Liebesgaben-Samm-lungen waren regional, später kantonalbegrenzt.

Der neu gebildete Einheitsstaat, die Helve-tische Republik von 1798, sorgte dafür,dass bei der Unterstützung im Katastro-phenfall und bei der Beschaffung der nö-tigen Mittel neue Wege beschritten wur-den. Der Schweizer Staat begann im Be-reich des Unterstützungswesens eine zen-trale Rolle einzunehmen. Das zentralisier-te freiwillige Kollektenwesen verdrängtemehr und mehr die früher üblichen inter-kantonalen Sammlungen. Zu Beginn des20. Jahrhunderts boten die Versicherungenden Betroffenen neue Möglichkeiten, dieFolgen von Naturkatastrophen zu bewäl-

tigen. Die private, freiwillige Spende bliebaber weiterhin ein wichtiger Pfeiler derKatastrophenhilfe.

Eine Kette des GlücksAls der Journalist Roger Nordmann, derChansonnier Jack Rollan, der Verantwort-liche für Reportagen Paul Vallotton undweitere ihrer Kollegen vor rund fünfzigJahren auf Radio Lausanne die Glücks-kette lancierten, stellten sie sich sicherlichnicht vor, dass sich das anfangs gefälligeund altruistische Radiospiel in der Schweizzum gewichtigsten Werkzeug der Spen-densammlung im sozialen und humanitä-ren Bereich entwickeln würde.

Am Anfang stand ein „humanitäres Domi-no“, das 1946 ins Leben gerufen wurde.Die Spielregeln waren einfach: Ein Zuhö-rer äusserte am Sender einen Wunsch, werihn erfüllen konnte, durfte in der nächstenSendung seinerseits eine gute Tat vorschla-gen. Das interaktive Radio war geboren.Seit 1954 wurde nur noch bei Ereignissenvon grosser Tragweite an die Grosszügig-keit des Schweizer Publikums appelliert.Aus einer Kette des Glücks entstand dieGlückskette. Sie selbst war und ist keineigentliches Hilfswerk, sondern ein „emo-tionales Spendensystem“. Durch die Zu-sammenarbeit mit schweizerischen Hilfs-werken werden die Spenden zur Umset-zung derer Projekte verwendet.

Kampagnen schaffen nationale SolidaritätZur Bewältigung der schweren Naturkatastrophen des 19. Jahrhunderts wurden nationale Solidaritätskampagnen zugunstender Opfer organisiert, die Zehntausende von Helferinnen und Helfern, Junge und Alte, im Namen der nationalen Solidarität zumobilisieren vermochten.Die Breitenwirkung dieser Hilfsaktionen war erheblich grösser als jene der männerbündischen Turn-, Schützen- und Sängerfeste,die gemeinhin als Wiege der schweizerischen Identität gelten. Die Organisation und Koordination solcher Kampagnen ist imVerlaufe des 19. Jahrhunderts schrittweise verbessert worden. Schon 1868 bildete die Presse moderne Kommunikationsfor-men wie Sammelwettbewerbe à la Glückskette aus.

Dieser Aufsatz basiert auf einer Lizentiatsarbeit im Rahmen eines grösseren Vorhabens unter Leitung von Prof. Christian Pfistervom Historischen Institut, das sich mit der Deutung und Bewältigung von Naturkatastrophen in den letzten Jahrhundertenbefasst. Thematisiert werden unter anderem die Bergstürze von Aigle (1584), Goldau (1806) und Elm (1881), der Erdrutschvon Falli-Hölli (1994), die Hochwasser von 1834, 1868, 1910, 1987, 1997 (Sachseln), die Lawinenkatastrophe von 1951sowie die Diskussion um die Funktion des Waldes und die heutigen, naturnahen Schutzkonzepte.Die Ergebnisse des Projekts sollen der Öffentlichkeit unter anderem in Form eines reich illustrierten Sammelbandes zugänglichgemacht werden, dessen Vorbereitung weit fortgeschritten ist. Er soll wenn möglich im Jahr 2002 herauskommen.

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Erst 1983 beschloss die Schweizer Radio-und Fernsehgesellschaft SRG, die Schwei-zerische Stiftung Glückskette zu gründenund ihr so eine juristische Form zu geben.

Solidaritätsräume18mal appellierte die Glückskette seit ih-rer Entstehung bis anfangs der 70er Jahrean die Schweizer Bevölkerung, um derenSolidarität zugunsten von Naturkatastro-phenopfern zu wecken. Nach welchen Er-eignissen Sammlungen lanciert wurden,war von verschiedenen Einflussfaktorenabhängig: Die Anzahl der betroffenenMenschen schien massgebend dafür gewe-sen zu sein, ob die Glückskette einen Auf-ruf an die Bevölkerung richtete. DieserFaktor wog bei ausländischen Katastro-phen mehr als bei inländischen Ereignis-sen. Der nationale Rahmen reichte aus, umein „Wir-Gruppen-Gefühl“ entstehen zulassen, auch wenn die Anzahl der betrof-fenen Menschen gering war.1

Das alles entscheidende Moment, das Züng-lein an der Waage, war jedoch die geogra-phische Distanz des Katastrophengebietes.Diese beeinflusste sowohl die Möglichkeitder Berichterstattung und somit den Wis-sensstand der potentiellen Spender undSpenderinnen, die organisatorische Durch-führung der Hilfe, aber auch die politischeund kulturelle Nähe, die ein Zusammen-gehörigkeitsgefühl zwischen Betroffenenund Spendenden bestimmte. Die geogra-phische Verteilung der Appelle im be-schriebenen Zeitraum zeigt deutlich auf,dass die Glückskette diesem Faktor vor-rangig Rechnung trug.

Während bis Ende der 1940er-Jahre im Be-reich Naturkatastrophenhilfe ausschliess-lich Sammlungen für das Inland organi-

siert wurden, änderte sich das Bild in den1950er-Jahren frappant. Nun stand Euro-pa im Mittelpunkt; Aktionen für ausser-europäische Gebiete fehlten hingegen voll-ständig. Der nächste Schritt wurde anfangsder 1960er-Jahre unternommen. Katastro-phenhilfe für Afrika, Asien und Lateiname-rika wurde nun aktuell. Ab 1970 war dieHilfe für diese aussereuropäischen Gebie-te vollends institutionalisiert. Und es wa-ren erfolgreiche Sammlungen, so dass sichder Entscheid der Glückskette, von nun anKatastrophengebiete weltweit zu berück-sichtigen, rechtfertigen liess.

Doch es waren nicht die eigentlichen Auf-rufe der Glückskette oder die Wortwahl derAppelle, welche das Wachsen der Solidari-tätsräume beeinflussten. Vielmehr nutztedie Glückskette im jeweils richtigen Zeit-punkt eine Bereitschaft der Schweizer Be-völkerung für ihre Zwecke. Die Gründe,weshalb dieses Interesse, über die nationa-len und später kontinentalen Grenzen hi-nauszuschauen, in den 1950er- und 1960er-

Jahren wuchs, sind nur durch den Einbezugdes historischen Kontextes zu finden.

Neutralität und SolidaritätHauptgrund für die eingeleitete Intensivie-rung der Solidarität zugunsten europäi-scher Länder war der Tiefpunkt, den dasinternationale Ansehen der Schweiz nachdem Zweiten Weltkrieg erreicht hatte. DieNeutralitätshaltung der Schweiz trug nichtwenig zu dieser Stimmung – oder besserMissstimmung – bei. Der Bundesrat ver-suchte, das fehlende Mitwirken der Schweizam Aufbau einer Nachkriegs-Friedens-ordnung durch national überhöhte huma-nitäre Gesten zu kompensieren. Als Ersatzfür Aussenpolitik versuchte die schweize-rische Diplomatie mit den neuen Schlag-worten „Solidarität“ und „Disponibilität“(Verfügbarkeit), dem Anbieten guter Dien-ste im humanitären und politischen Be-reich, verlorenes Ansehen zurückzugewin-nen. Es war Bundesrat Max Petitpierre, derdie neue Selbstdefinition der Schweiz aufder Basis von „Solidarität“ prägte. Soli-

Abb. 2: Die letztjährige Naturkatastrophe in Gondo löste bei der Schweizer Bevölkerungeine sehr grosszügige Solidaritätswelle aus. (Bildquelle: Staat Wallis)

1 Die gleiche Entwicklung lässt sich auch bei denSpendenaufrufen des Schweizerischen RotenKreuzes beobachten.

Abb. 1: Sammlungen der Glückskette, An-zahl Aufrufe geographisch pro Jahrzehnt.

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darität sollte die Neutralität am Leben er-halten, weil deren eigentliche Rechtferti-gung – der Kriegszustand – weggefallenwar. Die Formel trug massgeblich zur neu-en Haltung gegenüber Europa bei. DieNaturkatastrophenhilfe im Zeichen von„Neutralität und Solidarität“ war der idealeRahmen, um die Schweiz aus der aussen-politischen Isolation herauszuführen. DerBlick schweifte nun über die nationalenGrenzen hinaus, die europäische Solidari-tät in der Naturkatastrophenhilfe war ge-boren.

Entwicklungshilfeals WegbereiterWährend gut zehn Jahren stand Europa imMittelpunkt der Naturkatastrophenhilfeder Glückskette. Anfang der 1960er-Jahrewurde der Solidaritätsraum weiter vergrös-sert. Als einer der Wegbereiter für die neueinternationale Solidarität ist die schweize-rische Entwicklungshilfe zu sehen. Alleinschon die Namen der verschiedenen Hilfs-werke zeigen das Zielpublikum der Hilfeauf. Die vom Bundesrat 1944 lancierte„Schweizer Spende“, die vor allem demWiederaufbau nach dem Kriege diente,

wurde 1948 durch die „Schweizer Europa-hilfe“ – Dachorganisation der privatenHilfswerke – abgelöst, die ihrerseits 1956zur „Schweizer Auslandhilfe“ umbenanntwurde. Durch die Öffentlichkeitsarbeit der

Hilfswerke wurde die Existenz von Län-dern ausserhalb Europas einem breitenPublikum ins Bewusstsein gerufen. Eineeigentliche Entwicklungs-Euphorie setzteanfangs der 1960er-Jahre ein. Diese Öff-nung der Entwicklungshilfe über die natio-nalen und europäischen Grenzen hinausverlief synchron zur Entwicklung der Na-turkatastrophenhilfe. Sie war ein Grund-stein für die erfolgreiche Tätigkeit derGlückskette im internationalen Raum seitden 1960er-Jahren. Die aussereuropä-ischen Katastrophengebiete waren dankden Hilfswerken schon bekannt, undSchweizerinnen und Schweizer fühltensich den Betroffenen nahe.

Rolle der MedienEinen besonders grossen Einfluss auf denSpendenmarkt besitzen noch heute dieMedien. Sie sind das Instrument, mit demein Grossteil der schweizerischen Bevöl-kerung erreicht werden kann. Für den Ein-druck, den die Öffentlichkeit von einerKatastrophe gewinnt, sind weniger dieHilfsorganisationen als vielmehr die Jour-nalisten verantwortlich. Da Medien undMediennutzer interagieren, erzielt vor al-lem dasjenige Informationsangebot Wir-kung, das die Aufmerksamkeit der Lese-rinnen/Leser und Hörerinnen/Hörer erregt,weil sie bereits besondere Vorkenntnissebesitzen. Das wirtschaftliche, politischeund gesellschaftliche Umfeld der schwei-zerischen Bevölkerung war somit von be-Abb. 4: Ausweitung der Hilfe und Einflussfaktoren auf das Spendenverhalten.

Abb. 3: Das Erdbeben von Agadir, Marokko (März 1960) war der Beginn weltweiter Soli-daritätswellen zugunsten von Naturkatastrophenopfern. Der gemeinsame Bau einer „CitéSuisse“ durch die Glückskette und das Schweiz. Rote Kreuz war nur ein Beweis der Anteil-nahme, die den Betroffenen entgegengebracht wurde. (Info: http://www.cam.org/~caroleb/agadir.html)

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deutender Wichtigkeit für die Wirkung,welche die Berichte der Medien auf dieSolidaritätsbezeugungen und das Spenden-verhalten hatte.

Die Glückskette als Kind des SchweizerRadios arbeitete eng mit den Medien zu-sammen, um die Bevölkerung zum Spen-den zu animieren. Für das Sammelergebnisbei Solidaritätsaufrufen war es entschei-dend, wie spektakulär eine Katastrophe inden Medien geschildert wurde. Die Glücks-kette sammelte jeweils nur für Ereignisse,die durch die Presse an die Öffentlichkeitgebracht werden konnten. Immer öfterfanden seit den 1950er-Jahren Berichteüber Naturkatastrophen Platz auf der Front-seite. Die Berichterstattung über ausser-europäische Naturkatastrophen nahm imLaufe der 1960er-Jahre frappant zu. DieLeserschaft wurde vermehrt für weltweiteSchicksale sensibilisiert. Zudem wurde dasSchweizer Fernsehen 1958 aus dem Ver-suchsbetrieb entlassen. Dies trug sicher-lich dazu bei, die Katastrophen seit den1960er-Jahren noch fassbarer und realererscheinen zu lassen, was sich positiv aufdas Spendenverhalten von Zuschauerinnenund Zuschauern auswirkte.

Hilfe für den Nächstenund den ÜbernächstenDie Solidarität der Schweizer Bevölkerungzugunsten von Naturkatastrophenopferndurchlief vor allem im 20. Jahrhundert ei-nen enormen Wandel. Immer entferntere

geographische Räume wurden in eine„Wir-Gruppe“ miteinbezogen, welche dieIdentifikation mit den Betroffenen erlaub-te, ein Gefühl der Zusammengehörigkeitweckte und die Spendenbereitschaft ankur-belte.

Der Übergang von der nationalen zur eu-ropäischen Solidarität, der sich anfangs der1950er-Jahre vollzog, war ein Produkt ver-schiedener äusserer Faktoren, wie der neu-en aussenpolitischen Maxime Petitpierres„Neutralität und Solidarität“, aber auchdem Aktionsvakuum, in dem sich die Hilfs-werke nach abgeschlossener Wiederauf-bau- und Flüchtlingshilfe nach dem Kriegbefanden.

Auch der Schritt zur Hilfe für den Über-nächsten, der Einbezug aussereuropäischerGebiete in der Naturkatastrophenhilfe zuBeginn der 1960er-Jahre war von welt-politischen Ereignissen geprägt. Der KalteKrieg und die Dekolonisation trugen vieldazu bei, dass die Schweiz sich politischund kulturell mit dem Westen und wirt-schaftlich mit der Dritten Welt solidarisier-te.

So gesehen waren Sammelorganisationenwie die Glückskette Profiteure der damalsaktuellen Weltgeschehnisse. Die Organi-sationen passten sich den Bedürfnissen,Interessen und Kenntnissen der Spende-rinnen und Spender an. Kenntnisse vonneuen Gebieten, die vor allem durch die

Medien vermittelt wurden. Printmedien,Radio und Fernsehen machten die Weltimmer mehr zum globalen Dorf. Die Soli-darität zum Nächsten weitete sich so auchauf Nachbarn aus, die in ein paar 1000 Kilo-metern Entfernung Not litten. Die Glücks-kette, als Kind der Schweizerischen Ra-dio- und Fernsehgesellschaft, war in derglücklichen Lage, den Medien sehr nahezu stehen. Nicht zuletzt daraus sind die er-folgreichen, grenzenlosen Sammlungender Glückskette auch im Jahr 2000 zu be-gründen.

Sascha Katja Dubach

Literatur:• Baringhorst, Sigrid. Politik und Kampagne. Zur

medialen Erzeugung von Solidarität. Opladen/Wiesbaden 1998.

• Holenstein, René. Was kümmert uns die Dritte Welt.Zur Geschichte der Internationalen Solidarität inder Schweiz. Zürich 1998.

• Hug, Peter; Mesmer, Beatrix (Hsg.). Von der Ent-wicklungshilfe zur Entwicklungspolitik. Bundes-archiv, Studien und Quellen 19. Bern 1993.

• Kreis, Georg: Eidgenössische Solidarität in Ge-schichte und Gegenwart. In: Linder, Wolf;Lanfranchi, Prisca; Weibel, Ewald R. (Hsg.).Schweizerische Eigenart – Eigenartige Schweiz.Der Kleinstaat im Kräftefeld der europäischen In-tegration. Bern/Stuttgart/Wien 1992. S. 109–127.

• Orsi, Guiseppe; Seelmann, Kurt; Smid, Stefan u. a.Solidarität. Rechtsphilosophische Hefte. Beiträgezur Rechtswissenschaft, Philosophie und Politik.Band IV. Paderborn 1994.

• Petitpierre, Max. Politique étrangère. In: Gruner,Erich; Gilg, Peter; Junker, Beat. Die Schweiz seit1945. Beiträge zur Zeitgeschichte. HelvetiaPolitica. Serie B, Band VI. Bern 1971. S. 154–174.

• Vallotton, Paul. La Chaîne du Bonheur. AnQuarante. Lausanne 1996.

• weitere Angaben unter: www. glueckskette.ch

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Transkulturelle Kompetenzin der DrogenarbeitDas Institut für Ethnologie führte im Auftrag des Bundes-amtes für Gesundheit die Studie „Migration und Drogen.Implikationen für eine migrationsspezifische Drogen-arbeit am Beispiel Drogenabhängiger italienischer Her-kunft“ durch, deren Ergebnisse nun vorliegen. Die Resul-tate deuten einerseits darauf hin, dass die untersuchtenDrogenabhängigen und deren Familien die vorhandenenEinrichtungen im Bereich Beratung und Therapie kaumbenützen. Aufgrund mangelnder transkultureller Kom-petenz wird dort häufig zu wenig auf die spezifischenBedürfnisse der Betroffenen eingegangen.

Transkulturelle Kompetenz ist die Fähig-keit, individuelle Lebenswelten von Mi-granten und Migrantinnen in der beson-deren Situation und in unterschiedlichenKontexten zu erfassen, zu verstehen undentsprechende, angepasste Handlungswei-sen daraus abzuleiten.Sprachbarrieren sind eines der Hauptpro-bleme in der Arbeit mit Migrantinnen undMigranten. Meist ist den Praktikerinnenund Praktikern weniger bewusst, dass auchauf die Bedürfnisse der Migrationskinder,welche die hiesige Sprache sprechen, nichtimmer angepasst und situationsgerechteingegangen wird. Sie fühlen sich vor al-lem dann verunsichert, wenn sie glauben,über zu wenig „kulturspezifisches“ Wis-sen bezüglich einer bestimmten Gruppe zuverfügen. Aus ihrer Sicht behindern weni-ger die konkrete Migrationserfahrung bzw.die individuellen Migrationsgeschichtenals vielmehr die abstrakte Kategorie „frem-de Kultur und Sprache“ den Kontakt. In-teressanterweise werden diesbezüglichauch Hierarchien erstellt; die italienischeGruppe wird generell als „nicht mehr sofremd“ und mehrheitlich integriert be-zeichnet. Entstehen jedoch in der konkre-ten Beratung Schwierigkeiten, abstrahie-ren sie auch in der Auseinandersetzung mitdiesen Betroffenen stärker. Diese werdendann wieder als „fremder“ wahrgenommen.

Eine Verbesserung der eigenen transkul-turellen Kompetenz steht jedoch häufignicht im Vordergrund; andere Aufgabenund Themenbereiche, wie z. B. frauen-

spezifische Drogenarbeit, Arbeit mit Paa-ren oder mit drogenabhängigen Mütternund deren Kindern, gehen vor. In den In-stitutionen bestehen kaum migrations-spezifische Angebote, und deren institu-tionelle Verankerung fehlt. So basiert trans-kulturelle Kompetenz mehrheitlich aufpersönlichen Arbeitserfahrungen einzelnerMitarbeiter und Mitarbeiterinnen oder aberauf dem eigenen Migrationshintergrund.Verlassen diese Leute die Institution, ge-hen auch deren Kompetenzen und Res-sourcen verloren. Sind spezielle „Migra-tionsverantwortliche“ vorhanden, so habendiese nicht die notwendigen Ressourcen,wie Zeit, Finanzen, Know-how und Ent-scheidungskompetenzen. Dies führt bei

ihnen zu Gefühlen von Frustration undOhnmacht und letztlich zu einer Vernach-lässigung dieses Aufgabenbereiches.

Drogensuchtaus der Perspektive der ElternFür die Eltern der untersuchten Drogen-abhängigen führt die Sucht eines Sohnesoder einer Tochter meist zu einer ein-schneidenden Lebenskrise, welche nichtnur die gegenwärtige Situation, sondernauch die ganze Migrationsentscheidung inFrage stellt. Häufig verstehen die Elternnicht, wie es zur Drogenabhängigkeit kom-men konnte, zumal sie aus ihrer Sicht allesnur Mögliche für ihre Kinder getan haben.So suchen sie die Ursachen der Suchtausserhalb der Familie: Die Schweiz, derStaat, die Polizei oder auch der Sozial-dienst werden dafür verantwortlich ge-macht. Andererseits dienen als Erklärungfür die Sucht „Ungezogenheit“ oder schlichtder „böse Wille“ der Kinder. Sucht wirdalso von den Eltern meist nicht als Krank-heit wahrgenommen. Auch wenn die El-tern kaum Verständnis für die Sucht ihrerKinder aufbringen, kommt es doch äus-serst selten zu Beziehungsabbrüchen. ImGegenteil: der Alltag der Eltern wird inhohem Masse von der Sucht ihrer Kinderbestimmt, indem sie ihre Kinder mit kon-

Die StudieDie qualitative Studie hatte zum Ziel, Zugangsbarrieren zu den Hilfseinrichtungen,den Umgang mit der Drogensucht und die Bedeutung soziokultureller Konzepteund des migrationsspezifischen Hintergrundes exemplarisch zu analysieren. EineVorstudie (Sommer 1998) untersuchte dabei die vorhandenen ambulanten Ange-bote sowie diejenigen der italienischen Gemeinschaft in der Stadt Bern. DerenErgebnisse führten zu einer weiteren Untersuchung (1999–2000), welche ver-mehrt auch die Perspektiven der Betroffenen einbezog.Diese Hauptstudie beinhaltete Tiefeninterviews mit zwanzig Drogenabhängigensowie mehrmonatige, teilnehmende Beobachtung in der Elterngruppe einer italie-nischen Beratungsstelle in Bern. Zudem erfolgten Expertengespräche mit Verant-wortlichen aus dem stationären Bereich in der Region Bern und ambulanten Bera-tungsstellen in weiteren Städten der Deutschschweiz. Eine parallele Aktionsforschungin der Beratungsstelle des „Contact“ in Bern führte zu der Entwicklung eines kon-kreten Migrationsprojektes innerhalb dieser Institution. Und schliesslich bot dasStudienteam eine kontinuierliche Weiterbildung in einer Methadonabgabestellean, um Weiterbildungsformen und deren institutionelle Auswirkungen näher zuuntersuchen. Eine Gruppe aus der Praxis wie aus der Wissenschaft begleitete dieForschung während der ganzen Laufzeit.

Migrationsspezifische Hilfe an Drogenabhängige italienischer Herkunft

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kreter „Überlebenshilfe“ unterstützen. Mo-tivation für diese umfassende Unterstüt-zung scheint neben der familiären Solida-rität das Verstecken der Sucht nach aus-sen zu sein. So sollen drogenabhängigeKinder nicht durch Verwahrlosung odergar Kriminalität auffallen. Ziel für die El-tern ist die Suchtfreiheit, z. B. über eineAbgabe von Methadon oder durch die Ein-weisung in eine drogentherapeutische Ein-richtung.

Meist suchen Eltern Hilfe innerhalb derFamilie und Verwandtschaft oder in der ita-lienischen Gemeinschaft, wobei die Mis-sione Cattolica eine wichtige Rolle in derZuweisung an andere Stellen spielt. Esscheint, dass Eltern sich eher an Personenals an unpersönliche Institutionen wenden.Oft wenden sie sich an medizinische oderpharmazeutische Vertrauenspersonen, aberauch an die ihre Kinder betreuenden Per-sonen des Sozialdienstes. Offenbar förderteine bereits bestehende Vertrauensbezie-hung zu einer Person das Aufsuchen einerStelle im Gesundheits- und Sozialbereich.An die spezifischen Einrichtungen wen-den sich Eltern, wenn überhaupt, erst zueinem sehr späten Zeitpunkt – wenn ih-nen die Situation über den Kopf gewach-sen ist. In diesem Moment wünschen siesofortige Hilfe, beispielsweise die unmit-telbare Einweisung ihres Kindes in eineInstitution. In diesem Moment entsprechenfamilientherapeutische Ansätze meistnicht dem konkretem Bedürfnis der Elternnach aktivem Handeln. Diese Erwartun-gen führen immer wieder zu schwierigenSituationen und in der Folge zu einem Ab-bruch des Kontaktes.

Die Elterngruppe der italienischen Ge-meinschaft scheint hingegen eher auf dieBedürfnisse dieser hilfesuchenden Elterneingehen zu können. In diesem geschütz-ten Rahmen sind Eltern mit der Zeit aucheher bereit, persönliche und auch familien-interne Probleme zur Sprache zu bringen.Gegenüber den Institutionen bezeichnenEltern nicht nur Sprachprobleme als Bar-riere, sondern auch den mangelnden Ein-bezug in die Beratung und Therapie ihrerKinder. Für die Eltern ist es nicht nach-vollziehbar, wenn sie ausgeschlossen wer-den. Sie wünschen sich nicht nur Trans-parenz und Information, sondern generelleinen stärkeren Einbezug und Respekt ge-genüber ihrer Rolle als Eltern. Unter-

schiedliches Verständnis der Bedeutungund Gewichtung der Familie zwischenEltern und Beratenden ist ein Problem.Eine in erster Linie auf das betroffene Kindausgerichtete Vorgehensweise, welchemeist verstärkte Autonomie und Unabhän-gigkeit von der Herkunftsfamilie fördernwill, findet kein Verständnis bei den Eltern.

Die Sicht derdrogenabhängigen KinderDie in der Schweiz geborenen und befrag-ten Drogenabhängigen machen keine mi-grationsspezifischen Suchtursachen gel-tend. Sie erwähnen die üblichen Ursachenfür den Drogeneinstieg, wie Neugierde,Freundeskreis oder Probleme in Beziehun-gen und mit der Familie. Dagegen sehenKinder, welche erst zu einem späteren Zeit-punkt in die Schweiz gekommen sind, ei-nen direkten Zusammenhang zwischen derSucht und diesem Wechsel von Italien indie Schweiz. Drogenabhängige in der Pha-se des Drogenausstiegs scheinen mit Fra-gen nach ihrer persönlichen Identität instärkerem Masse konfrontiert zu werden.Das Aufgeben der „Drogenidentität“scheint die Migrationserfahrung bzw. dieFrage nach der Zugehörigkeit stärker insZentrum zu rücken. Dabei sehen sich vie-le der befragten Drogenabhängigen an-fänglich meist als Angehörige zweier „Kul-turen“. Die Suche nach Identität und Zu-gehörigkeit führt dann zu einem Verknüp-fen der verschiedenen Identitätskonzepteund einem Ausbrechen aus dem „sich zwi-schen Stuhl und Bank fühlen“. Aus Sichtder Drogenabhängigen wird diese Proble-matik zu wenig in den therapeutischen Pro-zess einbezogen. Sie wünschen sich ver-mehrt eine individuelle Therapie, welcheihre spezifischen Lebensbedingungen undLebenswelten berücksichtigt. Für sie hatdie Herkunftsfamilie eine grosse Bedeu-tung. In der Beratung oder Therapie solltezwischen den teilweise unterschiedlichenLebenswelten und Sichtweisen der Kinderund Eltern vermittelt werden. Ansonstengeraten die Kinder zwischen die Fronten;sie leiden unter Loyalitätskonflikten, wasauch zum Abbruch der Beratung oder The-rapie führen kann. Auch wenn sie keinespezielle Einrichtung für sich wünschen,eine Beratungsstelle speziell für Migrantenund Migrantinnen würden sie mehrheitlichbegrüssen. Solche Drogenabhängige rich-ten sich denn auch eher an Institutionen,in denen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen

italienischer Herkunft tätig sind und dieauch auf die Rollenverständnisse in denbetroffenen Familien eingehen können. Siefühlen sich von diesen generell besser ver-standen und sind infolgedessen auch ra-scher fähig, Vertrauen zu fassen. Auch mitanderen ist dies möglich, doch ist dafürihrer Meinung nach viel mehr Zeit notwen-dig. Erst wenn eine solche Beziehung, wel-che häufig über eine Art „Familiarisie-rung“ hergestellt wird, aufgebaut werdenkann, lassen sich die Betroffenen auch auftherapeutische Prozesse ein. Mit der „kal-ten und distanzierten“ Art der professio-nellen Beratung haben somit nicht nur dieEltern, sondern auch deren Kinder grosseMühe.

Die Studie zeigt auf, dass Praktiker undPraktikerinnen auf die besonderen Bedürf-nisse und Lebenswelten von Drogenabhän-gigen und deren Familien oft nicht genü-gend eingehen können. Dabei stehen nichtprimär Sprachbarrieren im Vordergrund,sondern unterschiedliche Erwartungen andie Zusammenarbeit. Ziel sollte daher sein,die spezifischen, individuellen Lebens-welten der Ratsuchenden konkret zu er-fassen und in der Therapie und Beratungentsprechend zu berücksichtigen. Eine sol-che Erhöhung transkultureller Kompetenzmuss einerseits durch Angebote in der Aus-und Weiterbildung, aber auch durch einevermehrte transkulturelle Ausrichtung derEinrichtungen angestrebt werden. Letzt-lich fordert die Beratung und Therapie imMigrationskontext die Bereitschaft, Alt-bekanntes in Frage zu stellen, flexibel zusein, Neues auszuprobieren, Unbekanntesauszuhalten und die Herausforderung an-zunehmen, das Eigene im Kontext desFremden in Frage zu stellen.

lic. iur./dipl. phil. Dagmar Domenig

Institut für Ethnologie und

SRK Fachstelle Migration und Gesundheit

E-Mail: [email protected];

Dr. phil. Corina Salis Gross

Institut für Ethnologie

E-Mail: [email protected]

• Domenig, D., Salis Gross, C., Wicker, H.-R.: StudieMigration und Drogen. Implikationen für eine mi-grationsspezifische Drogenarbeit am Beispiel Dro-genabhängiger italienischer Herkunft. Schlussbe-richt. Institut für Ethnologie der Universität Bernund Bundesamt für Gesundheit, Bern, 2000, erhält-lich bei der EDMZ, Bestellnummer 311.822.d.

• Domenig, D.: Transkulturelle Kompetenz in derGesundheitsversorgung am Beispiel des Drogen-bereiches, Bern, Hans Huber Verlag, 2001; in Vorb.

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Das Internet ist zunächst ein technischesNetzwerk, welches weltumspannend ver-schiedene Computer in nicht-hierarchischerWeise miteinander verbindet. Zugleich istdieses technische System auch ein sozialesNetzwerk, welches Menschen miteinanderverknüpft.

Das soziologische Interesse am Internetrichtet sich beispielsweise auf die Fragenach den institutionellen und organisato-rischen Bedingungen, welche ein solchesNetzwerk ermöglichen, nach den Elemen-ten einer sozialverträglichen Gestaltungdes Internet oder nach den Auswirkungenauf wirtschaftliche Beziehungen. Das vor-liegende Projekt befasst sich mit der Fra-ge, ob und inwiefern es in speziellen Kom-munikationsdiensten des Internets zur Bil-dung von neuen Gemeinschaften kommt,bei welchen die Teilnehmenden losgelöstvon ihrer Körperlichkeit und von einer ge-meinsamen lokalen Präsenz ausschliess-lich online interagieren (s. Kasten „Fach-

begriffe“). Dazu wurden die persönlichenNetzwerke von Nutzern und Nutzerinnenvon zwei Newsgruppen und drei Chats un-tersucht. Neben den sozio-strukturellenDaten der Teilnehmenden (wie Alter, Ge-schlecht oder Bildung) und deren Nut-zungsgewohnheiten interessiert vor allem,wie deren Beziehungsnetze aussehen undob sich Online- und Offlinenetze über-schneiden.

Wie bei den meisten neuen Technologienwar auch die Diskussion über das Internetin der Anfangsphase von sagenhaftenZukunftserwartungen geprägt. So wurdedie Tatsache, dass Kommunikationsbe-ziehungen mehr und mehr durch den Com-puter vermittelt werden, von mancher Seiteenthusiastisch begrüsst: Es würden neueSolidarbeziehungen entstehen, die „Cyber-demokratie“ würde die Einflussmöglich-keiten der kleinen Bürger gegenüber denMächtigen aus Wirtschaft und Staat stär-ken. Andere befürchteten hingegen, dass

sich solidarische Gemeinschaftsbeziehun-gen auflösen, dass durch die Nutzung desInternet die wesentlichen Aspekte der zwi-schenmenschlichen Beziehungen verküm-mern und die Gesellschaft schliesslich nurnoch aus vereinsamten „Aliens“ bestehenwerde – bleichen und kranken Maschinen-menschen, die in ihre Bildschirme starren.

Vereinzelung am Computer?Kritische Einwände gegen die Nutzung desInternet stützen sich vorwiegend auf diesogenannte „Individualisierungsthese“.Nach dieser These haben sich im Zuge derModernisierung traditionelle Milieus, diefrüher gemeinschaftsbildend waren, immermehr aufgelöst und dadurch zu einem Ver-schwinden von Sozialität und von Gesell-schaft überhaupt geführt. Sicher ist unbe-stritten, dass traditionelle Grossfamilienheute in der Schweiz – selbst in ländlichenGegenden – kaum mehr vorkommen, dassviele traditionelle Vereine Mühe bekunden,neue Mitglieder zu finden oder dass per-sönliche und berufliche Mobilitäten zuEntwurzelungen führen. Daraus lässt sichaber nicht unmittelbar ableiten, dass sichGemeinschaft und mithin die Gesellschaftinsgesamt einfach auflöst. So belegen ver-schiedene empirische Studien aus denUSA, dass sich gesellschaftliche Bezie-hungen zwar verändern, nicht aber ver-schwinden. Sozialbeziehungen sind in derModerne selektiver geworden, sie sindfunktional spezifischer, kurzlebiger undgeographisch breiter gestreut. Zudem wer-den sie immer öfter mit technischen Kom-munikationsmitteln aufrechterhalten: mitEisenbahnen, Autos und Flugzeugen, aber

Soziologie interessiert sich für Internetbenutzer

Soziale Netzwerke im InternetDas Internet ist weit mehr als eine riesige Bibliothek. Nebendem Bezug von Dokumenten oder Programmen ermöglichenverschiedene Dienste den Aufbau von Onlinekommunika-tions-Beziehungen. Im Gegensatz zu dem meist bilateralenAustausch von Nachrichten mittels E-Mail zielen News-gruppen und Chats („Schwätzchengruppen“) auf multi-laterale Beziehungen ab. Dies erlaubt es im Prinzip, neueFormen von Gemeinschaften zu etablieren. Ob und inwie-fern diese prinzipiell vorhandenen Möglichkeiten in derPraxis wahrgenommen werden, wird in einer Pilotstudiedes Instituts für Soziologie untersucht.

Fachbegriffe„Newsgruppen“ sind zu vergleichen mit „Schwarzen Brettern“, wo Mitteilungen, Informationen, Fragen und Antworten notiertwerden. Die Kommunikation erfolgt asynchron und die Beiträge werden während einer gewissen Zeit archiviert. Beziehensich mehrere Mitteilungen aufeinander, so erhalten die Newsgruppen den Charakter eines „Forums“. Insgesamt gibt esmehrere zehntausend Newsgruppen, die meist nach Themen strukturiert sind.

In „Chats“ werden die Mitteilungen in der Regel nicht archiviert. Die Kommunikation findet synchron statt, also quasi gleichzei-tig, und lässt sich z. B. mit CB-Funk vergleichen: Auch hier bestehen mehrere Kanäle, in denen sich eine unterschiedlicheAnzahl von Teilnehmenden tummelt. Die Äusserungen können sich aufeinander beziehen und so Gespräche bilden. Nebenden eigentlichen Sprechakten können in Chats auch textlich simulierte Handlungen generiert werden.

„Online“ bezieht sich in diesem Artikel auf alle durch Computerverbindungen vermittelte Kommunikationsbeziehungen, „off-line“ auf alle Beziehungen ausserhalb des Internet, typischerweise von Angesicht zu Angesicht. Obwohl die „Offlinewelt“bisweilen als „real life“ (RL) bezeichnet wird, sind Onlinebeziehungen in keiner Weise „irrealer“ als erstere.

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auch mit dem Telefon und – mehr undmehr – mit Kommunikationsdiensten desInternets.

Möglichkeiten und Eigenheitender Internet-KommunikationIn der Tat können die kommunikativenMöglichkeiten des Internet dazu beitragen,bereits bestehende Beziehungen übergrosse Distanzen hinweg aufrechtzuer-halten und zu vertiefen. Entfernt wohnen-de Verwandte und Freunde tauschen perE-Mail Nachrichten aus ihrem aktuellenUmfeld aus oder schicken sich die neue-sten Fotos digitalisiert zu. Darüber hinauskönnen sich in Chats oder in Newsgruppenauch neue Beziehungen zwischen Men-schen entwickeln, die sich zuvor nicht ge-kannt haben. Allerdings ist die über dasMedium des Computers vermittelte Kom-munikation voraussetzungsreich und an-spruchsvoll, denn die auf Text basiertenDienste des Internet weisen einige Beson-derheiten auf, die sie von der herkömmli-chen, direkten Kommunikation unterschei-den:

• Erstens sind die Ausdrucksmöglichkeitenbei dieser Internet-Kommunikation be-schränkt: Verbale Äusserungen wie Ton-lage oder Räuspern fallen ebenso wegwie visuelle Aussagen durch Körperhal-tung, Gesten oder Kleider.

• Zweitens treten die Teilnehmenden meistanonym oder pseudonym auf. In den mei-sten technischen Systemen ist über die-se Personen nur gerade der selbstge-wählte Übername bekannt, der oft völ-lig fiktiv formuliert wird.

• Drittens ist es in den meisten Systemenmöglich, unter verschiedenen Namenaufzutreten, sei es nacheinander odersogar gleichzeitig. Identität erscheint da-bei als eine durchwegs multiple und wan-delbare Form der Selbstdarstellung(en).

• Und viertens ist es in diesen Dienstennicht nur vergleichsweise einfach einzu-treten, – es braucht bloss einen Compu-ter, eine Telefonleitung, ein Modem undeinen Zugang zum Internet –, es ist auchsehr einfach, wieder auszutreten.

Diese vier Eigenschaften der computer-vermittelten Kommunikation stellen in derPraxis oft strukturelle Defizite dar: Beiausschliesslich auf Texten basierten Ge-sprächen kommt es öfter zu Missverständ-nissen; die Anonymität des Auftritts scheint

die Hemmschwellen für Unflätigkeiten zuverringern, und mit einem einfachen Ta-stendruck können die Teilnehmenden denKontakt sofort abbrechen.

Andererseits bietet diese Kommunika-tionsform auch Vorteile: Die Beschrän-kung auf den Text erfordert und erlaubtkreative Sprachspiele – oft wird beispiels-weise ein eigentlicher Jargon entwickelt (s.Kasten „Emoticons“). Der niederschwel-lige Zugang zu den Kommunikationsdien-sten eröffnet breite Teilnahmemöglichkei-ten, etwa auch für Menschen mit Sprech-hemmungen oder mit körperlichen Be-sonderheiten. Die Anonymität bietet eingeschütztes Umfeld, um unterschiedlicheAspekte des Selbst auszuprobieren odersich unbekannten Personen gegenüber zuöffnen, und schliesslich können solcheIdentitäts- und Rollenspiele sehr unterhalt-sam und lustig sein.

:-):-(((-::-#(:-D;-/#-)%-):-{:-O=:-(

grinsend, glücklichsehr trauriglinkshändigverschwiegenPlappermaulgrübelndwas für eine Nacht!stonedmit Schnurrbartschockiertein echter Punk lächelt nicht!

„Emoticons“Besonders in Chats wird die Kommu-nikation oft durch „Emoticons“ ange-reichert. Dies sind spezielle Zeichen-kombinationen der Schreibmaschinen-tastatur, z. B. :-). Dreht man das Blattum 90 º nach rechts, kann dieses Zei-chen als augenzwinkerndes Gesichtentziffert werden. Diese sogenannten„Smileys“ dienen der Präzisierung vonAussagen, aber auch der Profilierungder Nutzerinnen und Nutzer und derAbgrenzung gegenüber „Newbies“,sogenannten Neulingen.

Insgesamt führen die besonderen und un-gewohnten Anforderungen an die Teilneh-menden jedoch meist zu einer Banalisie-rung der Kommunikation. So beschränktsich der allergrösste Teil der Konversationin den Chats auf oberflächliche Floskelnwie „Hallo, wie geht’s?“ – „Wie alt bisch?“– „Wohär chunsch?“– „m (männlich) oder

f (weiblich)?“. Daneben gibt es aber auchtiefergehende und zum Teil ernsthafte Ge-spräche, bei denen die Teilnehmenden ihreFreuden und Sorgen austauschen, sich Rat-schläge in Lebens- und Computerfragengeben und mithin eine Art Gemeinschaftkultivieren. Dies wirft die Frage auf, in-wiefern Onlinegemeinschaften in der Rea-lität existieren und wie sie soziologischaussehen.

Profil der InternetnutzerZur Klärung dieser Frage wurden im Som-mer 1998 insgesamt 101 Nutzerinnen undNutzer aus zwei Newsgruppen und aus dreiChats in persönlichen Offlineinterviews zuihrem Nutzungsverhalten und zu ihren per-sönlichen Netzwerken befragt. Die Befrag-ten nutzen das Internet intensiv, im Maxi-mum bis zu 75 Stunden pro Woche. Siesind mehrheitlich jung, das Durchschnitts-alter beträgt knapp 24 Jahre, haben ihreAusbildung noch nicht abgeschlossen undwohnen noch bei den Eltern. Es handeltsich um eine ausgeprägte männliche Ju-gendkultur (nur 11 % der Befragten sindweiblich). Im Vergleich zur Schweizer Ge-samtbevölkerung haben die jungen Män-ner und Frauen überproportional häufigeine mittlere oder höhere Schulbildung.

Das Internet wird von ihnen im Durch-schnitt insgesamt während mehr als18 Stunden pro Woche genutzt. Sie ver-bringen mithin einen beträchtlichen Teilihrer Freizeit oder Arbeitszeit vor demComputer.

Trotzdem handelt es sich keineswegs umEinzelgänger oder Einzelgängerinnen: Inden Interviews wurden durchschnittlich 21Personen als Kontaktpartner namentlichidentifiziert. Zu fast der Hälfte von diesenPartnern (46 %) haben die Befragten täg-lich oder mehrmals wöchentlich Online-kontakt. Zu 40 % der Kontaktpersonen ha-ben sie einen intensiven Offlinekontakt.Dabei ist insgesamt eine starke Über-schneidung von Online- und Offlinenetzenfestzustellen: nur ein Viertel aller Bezie-hungen ist exklusiv online, ein weiteresViertel ist exklusiv offline, und die Hälfteder Beziehungen findet sowohl online alsauch offline statt. So macht z. B. jeder drit-te Bekannte, mit dem die Befragten ausser-halb des Internet die Freizeit verbringen,überdies auch im gleichen Internetgefässmit. Interessant ist dabei, dass der erste

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Kontakt in den weitaus meisten Fällen viaComputer zustande kam und anschliessendauch nach draussen verlängert wurde –zum Beispiel in eine Disco.

Man könnte nun vermuten, dass es sich beidiesen Beziehungen nur um lockere, ober-flächliche und relativ unverbindliche Ge-legenheitskontakte handelt, um sogenannte„weak ties“. Dem ist aber nicht so: min-destens ein Drittel jener, denen sich die Be-fragten „persönlich nahestehend“ fühlen,die sie als „gute Freunde oder Freundin-nen“ bezeichnen oder mit denen sie über„Persönliches“ sprechen, sind zugleich auchInternetbekannte. Die Internetgefässe ha-ben für sie nicht nur eine oberflächlicheBedeutung, sondern sie bieten auch Gele-genheiten für tiefere Begegnungen. Aller-dings finden nur gerade 2 % aller starkenBeziehungen ausschliesslich online statt.Das heisst, in Kommunikationsgruppendes Internet bestehen zwar durchaus auchviele starke persönliche Beziehungen,doch werden sie typischerweise nichtausschliesslich online aufrechterhalten,sondern sind durch Begegnungen ausser-halb des Internet stabilisiert: Sie sind alsolokal verwurzelt.

NutzungspotentialeDie Ergebnisse der Studie zeigen, wie diejugendlichen Erwachsenen die neuen Mög-lichkeiten der Internetkommunikation aufihre Bedürfnissen zuschneiden: sie nutzen

Newsgruppen zum Austausch von Infor-mationen und Fachwissen; sie beteiligensich an Chats, um zu flirten, um neue Be-kanntschaften zu schliessen und bestehen-de zu pflegen. Darüber hinaus nutzen vie-le die öffentlich zugänglichen Kommuni-kationsdienste auch, um ihre Persönlich-keit zu profilieren und um Anerkennungzu gewinnen. Gerade diejenigen, die „chat-ten“, benutzen das Internet als einen neu-en Kommunikationskanal und bauen die-sen mit Leichtigkeit in ihr Alltagsleben ein.Die Chats sind dabei in den meisten Fäl-len nicht Ersatz für bestehende sozialeBeziehungen, sondern ergänzen diese. DieKommunikationsdienste des Internet er-möglichen den Aufbau von neuen Be-kanntschaften und leisten damit einen Bei-

trag zur Erweiterung des sozialen Netzes.Viele der enthusiastischen Prognosen übereine glitzernde neue Onlinewelt des Inter-net sind Marketingargumente der Herstel-ler von Soft- und Hardware; andererseitswerden viele kulturpessimistische Be-fürchtungen durch empirische Beispielewiderlegt. Wie weltverändernd die neuenKommunikationstechnologien wirklichsind, wird nicht nur durch Spekulationenentschieden, sondern hauptsächlich durchdie konkrete Praxis der Anwendungen. ImFalle des überaus offen strukturierten undrelativ frei zugänglichen Internet werdendie gesellschaftlichen Auswirkungendurch die aktuelle Nutzung geprägt: Ent-scheidend ist, wer was konkret mit demprinzipiell vorhandenen Potential macht.

Christoph Müller

Institut für Soziologie

Die Untersuchung entstand im Rahmen des

sozialwisssenschaftlichen Schwerpunktpro-

gramms „Zukunft Schweiz“ im Forschungs-

verbund „Individualisierung und Integration“.

Das Forschungsprojekt „virtuelle Vergemein-

schaftung“ wurde von Prof. Dr. Bettina Heintz

(Mainz) initiiert und geleitet.

Die Studie wird gegenwärtig vom Autor zu ei-

ner Dissertation am Institut für Soziologie der

Universität Bern ausgebaut. Detaillierte An-

gaben unter: www.soz.unibe.ch/ii/virt_ d.html

:-Q:-X:-S:-I:-D{:-)[:-)#-)8-):-@$|-)@->—>—<*:-)C={>;*{))

Raucherin/Rauchergrosser KussQuatsch redend; verwirrtgleichgültiglaut lachendmit Toupetmit WalkmanBrett vor dem KopfBrillenträgerin/Brillenträgerschreiendträume vom GeldRoseZaubererBetrunkener, teuflischer Chef-koch mit Toupet, Schnurr-bart und Doppelkinn.

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„Obschon wir wissen, dass Nebelwassersehr verschmutzt sein kann, ist noch kaumbekannt, wieviel Nebelwasser und Schad-stoffe durch Ablagerung von Nebeltröpf-chen in Ökosysteme eingetragen werden.Darüber möchten wir Genaueres erfahren.Immerhin kann die Schadstoffkonzentra-tion in Nebeltröpfchen bis zu 33mal hö-her sein als in einem Regentropfen“, er-klärt Projektleiter Dr. Werner Eugster vomGeographischen Institut der UniversitätBern. Er hat daher mit seinem Team in Zu-sammenarbeit mit Martin Oetliker von denMechanischen Werkstätten des Theodor-Kocher-Instituts ein hochmodernes, laser-gestütztes Messsystem aufgebaut, das neueErkenntnisse zu diesen Fragen liefern soll.Das Messsystem, das sich automatischnach der aktuellen Windrichtung ausrich-tet, wurde im deutschen Fichtelgebirge ander Grenze zu Tschechien eingesetzt. Pa-rallel zu den Messungen wird beabsichtigt,die Prozesse im Rahmen von computer-gestützten Modellen zu simulieren.

„Wir wollen als erstes einmal herausfin-den, welche physikalischen und chemi-schen Prozesse sich zwischen den Luft-schadstoffen und den Nebeltröpfchen ab-spielen“, erklärt Eugster weiter. Währenddie grösseren Tröpfchen im Nebel wach-sen, verdunsten die kleineren, was zu ei-ner Anreicherung der gelösten Schadstof-fe führt. Unklar ist aber noch, wie dieseProzesse im Detail ablaufen. Sind sie ab-hängig von der Geländestruktur, von derNebeldichte oder von anderen Faktoren?

Das grösste Interesse gilt den stickstoff-haltigen Substanzen (Nitrat, Ammoniumund Nitrit) im Nebel, die als Dünger wir-ken und zur Überdüngung von Ökosyste-men führen. Daneben werden aber auchdie Mengen an Sulfat, Kalium, Natrium,Magnesium, Calcium und Chlorid ermit-telt.

Turm auf Lägerenvon Lothar geknicktEigentlich wollte die Berner Forscher-gruppe ihre Untersuchungen an der Läge-ren bei Wettingen vornehmen. Auf derLägeren stand nämlich ein rund 45 Meterhoher, stählerner Turm der EMPA (Eidge-nössische Materialprüfungs- und For-schungsanstalt in Dübendorf), auf dessenoberster Plattform die Messgeräte hätteneingerichtet werden sollen. Doch der SturmLothar, der am 25./26. Dezember 1999weite Teile der Schweiz heimsuchte, hatdiesen Turm unbrauchbar gemacht: fallen-de Bäume stürzten auf die Abspannungs-seile, die den Turm sicherten, worauf derMast seitlich einknickte.

Ersatzlösung BayreuthEin Glück für die Berner Gruppe, dass dasBayreuther Institut für Terrestrische Öko-systemforschung (BITÖK) im Fichtelge-birge ebenfalls über einen Turm in einemWaldökosystem verfügt, der nicht von Lo-thar beschädigt worden war. Dort konntennun Werner Eugsters Doktorand RetoBurkard und sein Team ihr Messsystem in-stallieren, um die Methodik im Direkt-

vergleich mit der Bayreuther Forschungs-gruppe von PD Dr. Otto Klemm weiter zuentwickeln.

Zu Versuchszwecken wurden bereits imFrühjahr 2000 erste Messungen über land-wirtschaftlich genutztem Gebiet im Ker-zersmoos durchgeführt.

Erste Ergebnisse:• Von der Grösse her sind die Nebeltröpf-

chen im Fichtelgebirge anders zusam-mengesetzt als im ebenen, grasbedeck-ten Kerzersmoos. Im Fichtelgebirge sinddie Nebeltröpfchen zudem generell klei-ner.

• Der Eintrag von Stickstoff durch Nebelist im Fichtelgebirge wesentlich höherals im schweizerischen Seeland. Zusätz-lich zum Regen werden durch Nebel wei-tere 11,3 % an Stickstoff in die Wälderdes Fichtelgebirges eingetragen. Im Ge-biet bei Kerzers beläuft sich dieser An-teil nur auf 3,9 %.

Das Fichtelbegirge:Einst kahle WälderDass das Fichtelgebirge seinerzeit vomBayreuther Forschungs-Institut als Be-obachtungsraum gewählt wurde, kommtnicht von ungefähr. Als in den frühen1980er-Jahren die Diskussion um dasWaldsterben einsetzte, bot das waldreicheFichtelgebirge ein hervorragendes An-schauungsbeispiel: Ganze Wälder bestan-den nur noch aus kahlen Baumstämmen,das Gebiet bot grossräumig einen gespen-stischen Anblick. Das Fichtelgebirgegrenzt nämlich an Tschechien, und diedortige Braunkohlegewinnung im Tagbausowie die mit dieser Kohle betriebenenKraftwerke führten zu starken Schadstoff-emissionen. Ostwinde verfrachteten dieseSchadstoffe nach Westen, was zur Folgehatte, dass diese Fichten sehr stark bela-stet wurden und ihr Nadelkleid verloren.Inzwischen hat sich der Wald wiedereinigermassen erholt, die ehemals kahlenFlächen im Fichtelgebirge sind wiederbegrünt. Forschungen haben gezeigt, dassder saure Regen vor allem zu einem Mag-

Klimaforschung am Geographischen Institut der Uni Bern

Schadstoff- und Feuchte-Einträgein Ökosysteme durch NebelWissenschafter der Universität Bern untersuchen gegen-wärtig zusammen mit Kollegen aus Deutschland den Ein-trag und die Zusammensetzung des Nebels. Zu diesemZweck wurde im letzten Winter auf der Lägeren naheWettingen ein stählerner Turm errichtet, auf dem dieMessgeräte installiert wurden. Während der Bauzeit,bis etwa im Februar dieses Jahres, erprobten die BernerForscher ihre Instrumente durch Messungen des Nebelein-trags in einem Nadelwald im deutschen Fichtelgebirge.

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nesiummangel der Bäume geführt hatte,der mit gezielter Magnesiumdüngung teil-weise behoben werden konnte.

Die PioniereSubjektive Empfindungen und Erfahrun-gen führen zum Eindruck, dass sich dieNebelhäufigkeit im Schweizer Mittellandin den letzten 30 bis 40 Jahren veränderthat. Genauere Angaben und Untersuchun-gen dazu sind jedoch schwer zu erhalten,da es kein langjährig angelegtes Nebel-Beobachtungsprojekt gibt. Die Nebel-forschung wurde bisher meist in Einzel-projekten und mit unterschiedlichen Fra-gestellungen durchgeführt. Zu den Pionie-ren auf diesem Gebiet gehören Prof. Wer-ner Stumm (inzwischen verstorben) undProf. Laura Sigg von der Eidg. Anstalt fürWasserversorgung, Abwasserreinigungund Gewässerschutz/EAWAG in Düben-dorf, die in den frühen 1980er-Jahren Bei-träge über den „Nebel als Träger konzen-trierter Schadstoffe“ veröffentlicht haben,und der Berner Klimatologe Prof. HeinzWanner, der systematisch und grossflächigNebelbeobachtungen vornahm. Späterfolgten die Nebelstudien seines Kollegen,des heute in Bonn wirkenden Prof. Mat-thias Wyniger, der anhand von Satelliten-beobachtungen die Häufigkeit und die geo-graphische Ausdehnung des Nebels imMittelland untersuchte. „Viele dieser An-strengungen standen im Zusammenhangmit der Erforschung der Ursachen desWaldsterbens“, ergänzt Werner Eugster.

Den Forschern ging es damals um die Fra-ge: Wie verhalten sich die Schadstoffe imNebel in Bezug auf die Pflanzen? Aller-dings waren die technischen Möglichkei-ten damals noch nicht so weit gediehen wie

heute, so dass die Untersuchungen mitneuen Messgeräten diesmal genauere Er-kenntnisse liefern dürften.

Vergleiche mit früherenForschungsprojektenUnter dem Eindruck des Waldsterbenswurde anfangs der 1980er-Jahre das Na-tionale Forschungsprogramm 14 durchge-führt. Anschliessend wurde an der Läge-ren und weiteren Standorten im Rahmendes neu geschaffenen Nationalen Beobach-tungsnetzes Luft (NABEL) die Luft in derSchweiz auf Schadstoffe hin untersucht.Da man eine Fülle von unterschiedlichenDaten erheben musste, um ein gültigesBild zu erlangen, war die Untersuchungdes Nebels im NFP 14 ein zentrales An-liegen. Zusätzlich galt die Aufmerksam-keit besonders dem Ozon und den Stick-oxiden. „Um auch Aussagen über die Ent-wicklung seit den 1980er-Jahren machenzu können, möchten wir die neuen Mess-daten aus unseren Nebelbeobachtungenmit den Daten des NFP 14 und den wert-vollen langjährigen NABEL-Messdatenvergleichen“, erläutert Eugster.

In der Wüste genügt TauEugsters Projekt, das vom Nationalfondsfinanziert wird, hat 1999 begonnen undwird mindestens zwei Jahre dauern. EinNachfolgeprojekt ist bereits eingereicht.Seit 1999 gibt es eine internationale Ko-ordination der weltweiten Nebelforschungs-projekte, die von Forschern aus Kanadaaufgebaut wurde.

In sieben Arbeitsgruppen sind die Projek-te thematisch geordnet. So beschäftigensich zum Beispiel israelische Wissenschaf-ter mit Taubildung in Wüstengebieten,

während in Südamerika das grossflächigeSammeln von Nebelwasser im Vorder-grund steht.

„Gerade in Trockengebieten ist es wichtigzu wissen, inwieweit der Nebel belastetist“, betont Eugster. „Enthält er nämlichkeine Schadstoffe, kann man aus ihmTrinkwasser gewinnen. Dabei kann derNebel mit grossen Netzen, die senkrechtaufgestellt werden, als Kondensat einge-fangen werden. Und in Wüsten wie etwain der Atacama-Wüste in Lateinamerikaoder der Namib-Wüste in Afrika genügtoft schon der nächtliche Tau, um Insektenund Vögeln das Überleben zu ermögli-chen.“

In der industrialisierten Welt sind solcheÜberlegungen müssig: „Die Schadstoff-belastung liegt meist deutlich über denGrenzwerten für Trinkwasser; aus Nebellässt sich also in den Industriestaaten kaumTrinkwasser direkt gewinnen“, hält Eug-ster abschliessend fest.

Fred Geiselmann

Stelle für Öffentlichkeitsarbeit

Mitwirkung:

Dr. Werner Eugster,

Reto Burkard

Geographisches Institut

Nebeltage in den Wäldern des Fichtelgebirges. Die Nebeltröpfchen sind hier generell kleiner als im Kerzersmoos. (Bilder: zvg.)

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Die Zellfortbewegung –ein wichtiges ThemaOhne die gezielte Fortbewegung bestimm-ter Zellen wären eine Reihe physiologi-scher Vorgänge nicht denkbar: z. B. wan-dern bei der Embryonalentwicklung be-stimmte Zellen in neue Bereiche ein, umdort spezialisierte Gewebe zu bilden. Beider Wundheilung, der Abwehr von Infek-ten und der Bildung neuer Blutgefässespielt die gerichtete Zellwanderung eben-falls eine zentrale Rolle. Auch bei patho-logischen Vorgängen spielt die Zellfort-bewegung eine Rolle. Bei Krebserkran-kungen trägt die Fähigkeit von Tumorzel-len im Primärtumor, sich fortzubewegen,zur Bildung von Metastasen bei. Dabeimüssen diese Tumorzellen den Primär-tumor verlassen, in die Blutbahn gelangenund schliesslich irgendwo wieder von derBlutbahn in andere Organe wandern, umdort Sekundärtumoren zu bilden. Zellen,die zur raschen Fortbewegung fähig sind,sind hier besonders gefährlich. Kenntnis-se über die molekularen Mechanismen derZellfortbewegung können uns also helfen,biologische und pathologische Vorgängewie z. B. die Wundheilung oder die Bil-dung von Metastasen besser zu verstehenund wenn nötig zu beeinflussen.

Modellsysteme zum Studiumder ZellfortbewegungEine Forschungsabteilung in Bern, unterder Leitung von Hansuli Keller und Vere-na Niggli, arbeitet im Pathologischen In-stitut Bern, Abteilung Entzündungspatho-

logie, seit Jahren an diesem Thema. ZweiModellsysteme stehen im Zentrum derForschung: einerseits weisse Blutzellen,andererseits Tumor-Zell-Linien, die sichständig teilen und lange im Labor kulti-viert werden können. Die weissen Blut-zellen werden aus menschlichem Blut vonfreiwilligen gesunden Spenderinnen undSpendern angereichert. Es handelt sichdabei um sogenannt „neutrophile Granulo-zyten“ oder „Neutrophile“, welche einesehr wichtige Rolle bei der Abwehr vonbakteriellen Infekten spielen. Neutrophilewandern nicht spontan; sie brauchen dazueinen Anstoss. Dies ist vernünftig, denndie Zellen sollen ja nur bei Infekten aktivwerden. Man kann diese Aktivierung imReagenzglas nachahmen, indem man ak-tivierende Substanzen (chemotaktischeSubstanzen) zu den Zellen gibt. Als ersteAntwort verändern die Zellen sehr raschihre Form und beginnen dann in Richtungder höchsten Konzentration der chemotak-tischen Substanz zu wandern. Dies ge-schieht auch bei Infekten im menschlichenKörper: angelockt z. B. durch bakterielleStoffwechselprodukte im Gewebe, verlas-sen die Neutrophilen die Blutbahn undwandern durchs Gewebe zur befallenenStelle hin, wo sie schliesslich die einge-drungenen Bakterien auffressen und somitvernichten. Sichtbar ist dann Bildung vonEiter, der zu einem grossen Teil aus Neu-trophilen besteht.

Bei der in der Entzündungspathologie un-tersuchten Ratten-Tumor-Zelllinie verhält

es sich anders als bei den Neutrophilen:hier wandern die Zellen spontan, ohne dassein Stimulus zugegeben werden muss. Al-lerdings kann man nicht ausschliessen,dass diese Zellen selber einen Stoff synthe-tisieren und abgeben, der die eigene Wan-derung stimuliert. Wichtige Forschungs-themen sind nun, wie die Wanderung die-ser beiden unterschiedlichen Zelltypen re-guliert wird.

Molekulare Mechanismender ZellfortbewegungWas braucht es denn, damit Zellen sichfortbewegen? Ganz wichig sind Signal-Empfängerproteine auf der Zelloberfläche,sogenannte „Rezeptoren“. Diese Rezepto-ren binden chemotaktische Substanzen undwerden dadurch aktiviert. Dies führt dannzur Freisetzung von Botenstoffen im In-neren der Zelle, welche ihrerseits eine La-wine von Vorgängen auslösen. Das Ganzemuss allerdings trotzdem kontrolliert undvor allem in bestimmten Zellarealen loka-lisiert ablaufen. Wichtige Empfänger die-ser Signale sind z. B. das sogenannte Zyto-skelett und die Adhäsionsmoleküle. DasZytoskelett ist ein sehr wichtiger Zellbe-standteil. Es besteht aus verschiedenenEiweiss-Fibrillen mit unterschiedlichenmechanischen Eigenschaften, welche dieZelle ausfüllen, ihr Festigkeit verleihenund Form geben. Das Zytoskelett ist abernicht etwa ein starres Gebilde, wie manvom Namen her denken könnte, sondernes ist, als hochdynamisches System, stän-digen Veränderungen unterworfen. Die beider Wanderung auftretenden Formver-änderungen (Abb. 1) sind verursacht durchVeränderungen im Zytoskelett, besondersim Falle der Neutrophilen in den soge-nannten Aktin-Filamenten. Ohne ein funk-tionierendes Zytoskelett können die Zel-len nicht laufen. Ein anderes wichtigesElement sind die Adhäsionsproteine, in derPlasmamembran eingelagerte Eiweisse.Diese können auf der Aussenseite der Zellean Gewebsfasern wie Collagen bindenoder an Adhäsionsproteine auf anderenZellen. Das hilft den Zellen, durch dasGewebe zu wandern. Die Bindung an das

Wie beweglich sind Zellen?

Was gibt den Zellenden Anstoss zum Wandern?Zellen stellt man sich gerne stationär vor, immobilisiert ineinem Zellverband als Bestandteile von Geweben. Dabeigibt es erstaunlich viele Zellen in Menschen und Tieren,welche zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Fortbewegungangeregt werden. Die schnellsten Säugerzellen laufen miteiner Geschwindigkeit von etwa zehn bis zwanzig Mikro-meter pro Minute. Das entspricht etwa dem Zelldurchmesserpro Minute. Das mag zwar wenig erscheinen, aber so legendiese Zellen doch immerhin in acht Stunden etwa einenZentimeter zurück.

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Gewebe sollte natürlich nicht zu stark seinund muss immer wieder rückgängig ge-macht werden, sonst kommen die Zellennicht vom Fleck.

Die molekularen Mechanismender Zell-FortbewegungWie sich die Aktin-Filamente in wandern-den Zellen verändern und welche Signalediese Filamente regulieren, wird nur an-satzweise verstanden. Zur Erforschung deshochkomplexen Vorgangs der Zellfortbe-wegung ist es nötig, eine Reihe verschie-denster Methoden zu kombinieren. ZumBeispiel können lebende Zellen unter demMikroskop, welches mit einem Gehäuseversehen ist, das auf 37 ºC erwärmt ist, di-rekt bei der Wanderung beobachtet wer-den. Die Zellen werden dann auf Videoaufgenommen (Abb. 1). So kann bestimmtwerden, welcher Anteil der Zellen, abhän-gig von Zugabe von Stimulus, sich bewegtund mit welcher Geschwindigkeit. Faszi-nierend sind auch neueste molekular-biologische Methoden. Dabei werden be-stimmte Proteine mit einem fluoreszieren-den Protein genetisch „markiert“. So kannmittels Fluoreszenzmikroskopie ständigverfolgt werden, wo sich ein bestimmtesProtein (z. B. Aktin) in der lebenden wan-dernden Zelle gerade befindet. AndereMethoden beinhalten das Sichtbarmachenvon Zytoskelettproteinen in Zellen nachder „Fixierung“, d. h. der chemischen Ver-netzung von Eiweissen. Die Zytoskelett-proteine werden dann mit einem Antikör-per markiert, welcher spezifisch nur ein be-stimmtes Protein erkennt. Dieses wirddann durch einen fluoreszierenden zwei-

ten Antikörper sichtbar gemacht, welcherden ersten Antikörper erkennt (Abb. 2).Das Zytoskelett wird auch biochemischuntersucht, durch Isolation und Auftren-nen der Komponenten. So konnte gezeigtwerden, dass in den Neutrophilen be-stimmte an Aktin gebundene Eiweisse sichnur in stimulierten wandernden Zellen imZytoskelett anreichern.

Regulation der Fortbewegungvon Neutrophilenund TumorzellenIn der Berner Forschungsgruppe wurde inden letzten Jahren die Rolle von zwei wich-tigen Signaltransduktionswegen in derZellfortbewegung untersucht: das EnzymPhosphatidylinositol 3-Kinase (PI 3-Kinase) und der Rho/Rho-Kinase Signal-weg. Das Enzym PI 3-Kinase wird in Neu-trophilen bei der Wanderung aktiviert. Die-ses Enzym katalysiert die Bildung einesspeziellen Phospholipids. Phospholipidesind Fettbestandteile der Zelle. Sie bilden,zusammen mit eingelagerten Proteinen, diePlasmamembran der Zelle. Das durch diePI 3-Kinase neugebildete Phospholipid iststark negativ geladen und wirkt als Signalin der Zelle. Wir konnten nun zeigen, dasseine pharmakologische Substanz, welcheim Reagenzglas die Aktivität der PI 3-Ki-nase blockiert, dies auch in lebenden sti-mulierten Neutrophilen tut. Damit gehteine Hemmung der Wanderung einher. DieBehandlung mit dieser Substanz führtebenfalls dazu, dass weniger stark vernetz-te und stabile Aktin-Fibrillen gebildet wer-den, was sich sehr wahrscheinlich auchnegativ auf die Zellwanderung auswirkt.

Ein anderer wichtiger Signal-Weg gehtüber das Protein Rho und die dadurch ak-tivierte Protein-Kinase Rho-Kinase. All-gemein sind Kinasen Enzyme, welchedurch eine stabile chemische Bindung ne-gativ geladene Phosphor-Gruppen an be-stimmte Stellen in Proteinen koppeln undso deren Funktion verändern. Das EnzymRho-Kinase erhöht den Gehalt an Phos-phat-Gruppen im Protein Myosin. Diesführt zu eine Aktivierung dieses Proteins.Es bindet an Aktin-Fibrillen und kontra-hiert diese. Ähnliche Vorgänge sind für dieMuskelkontraktion verantwortlich. Wiruntersuchten nun die Rolle der Rho-Kinasein der Fortbewegung der Neutrophilen.Wir fanden, dass ein selektiver Hemmerdieses Enzyms die Polarisierung der Neu-

Abb. 2: Das Aktin-bindende Protein a-Acti-nin ist in den Zellfortsätzen polarer neutro-philer Granulozyten angereichert. Links(graues Bild) ein polarisierter neutrophilerGranulozyt im Lichtmikroskop (Vorderseiteder Zelle mit Zellfortsätzen nach oben ge-richtet) und rechts (schwarzes Bild) die glei-che Zelle im Fluoreszenzmikroskop beob-achtet. Die helle Fläche entspricht einer Re-gion mit angereichertem a-Actinin.

(Bild: A. Dehghanizadeh, Entzündungspathologie Bern)

Abb. 1: Ein neutrophiler Granulozyt, beobachtet bei der Wanderung. Die Zahlen entsprechen den Zeitabständen in Sekunden, in denendie Aufnahmen (immer derselben Zelle!) erfolgten. Der Pfeil zeigt jeweils auf die breit ausgefächerten Zellfortsätze an der Vorderseite derZelle. Hinten ist die Zelle deutlich schmaler; sie weist eine „polare“ Form auf. Das weisse Kreuz markiert die Mitte des Bildes. In der Zeitvon 105 Sekunden ist die Zelle vom linken zum rechten Bildrand gewandert. Der Balken im Bild links oben entspricht einer Distanz von10 µm (= 0.01 mm).

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trophilen und deren Wanderung starkhemmt. Dieser Befund konnte korreliertwerden mit einer Hemmung des Phosphat-Einbaus in das Myosin der Neutrophilen.Wie steht es nun mit den Tumor-Zellen?Die Rolle von Rho/Rho-Kinase und PI 3-Kinase wurde auch in einer Tumor-Zell-Linie aus Ratten untersucht. Es stellte sichheraus, dass die spontane Wanderung die-ser Zellen, welche keinen von aussen zu-gegebenen Stimulus brauchen, ebenfallsfast komplett gehemmt wird durch Hem-mung von Rho, Rho-Kinase und PI 3-Kinase. Es scheint also, dass bei diesen un-terschiedlichen Zelltypen die gleichen Si-gnale beteiligt sind. Interessanterweisefanden wir Hinweise darauf, dass Rho-Kinase und PI 3-Kinase in den Tumorzel-len bereits in einem aktivierten Zustandsind, ohne Zugabe von Stimulus. Mögli-cherweise sind also spontan aktivierteSignalwege Schuld an der Überaktivitätvon Tumorzellen. Solche überaktive Sig-nalwege könnten interessante Angriffs-punkte sein für neuartige Krebstherapien.Wir konzentrieren uns nun darauf heraus-zufinden, weshalb die Signal-Wege in die-sen Ratten-Tumor-Zellen spontan aktiviertsind.

Die Zellfortbewegung ist einhochaktuelles ForschungsthemaWir organisierten im Herbst 2000 eine in-ternationale Tagung auf dem Gebiet derZellfortbewegung im Schloss München-wiler in der Nähe von Murten (s. Kasten„Mechanisms of Cell Locomotion oder:Wie bewegt sich eine Zelle?“). Die be-schränkte Teilnehmerzahl erlaubte es, dieForschungsprojekte ausführlich darzustel-

„Mechanisms of Cell Locomotion” oder: Wie bewegt sich eine Zelle?Die internationale Tagung im Schloss Münchenwiler bei Murten, 26. bis 28. Sep-tember 2000, wurde von den Professoren Verena Niggli und Hansuli Keller (Pa-thologisches Institut, Universität Bern) organisiert. Die Tagung wurde ermöglichtdurch die grosszügige Unterstützung der Max und Elsa Beer-Brawand-Stiftung. Ander Tagung nahmen 22 Forschende aus dem In- und Ausland teil, die in informel-lem Rahmen ihre neuesten Ergebnisse diskutierten.

len und intensiv zu diskutieren. Diese Artdes Gedankenaustausches wurde von denForschenden, die aus der Schweiz, Eng-land, Deutschland, Österreich, Russland,Polen und Israel kamen, sehr geschätzt.

Verschiedenste Aspekte der Zellfortbewe-gung wurden an dieser Tagung beleuchtet– so etwa biophysikalische Aspekte, dieRolle des Zytoskeletts, die Dynamik derZellmembran, die Rolle von intrazellulä-ren Signalwegen, die Wechselwirkung derZellen mit dem Gewebe, in dem sie sichfortbewegen. Die Forschenden berichtetenüber das Verhalten einer Reihe verschie-dener Zelltypen: Schleimpilze, Fisch-Keratozyten (Zellen, die aus Fisch-Schup-pen gewonnen werden und sich rasch fort-bewegen können), menschliche weisseBlutzellen und verschiedene Tumor-Zell-Linien. Es kam dabei klar heraus, dasszwar dieselben Grundelemente bei allenZelltypen an der Wanderung beteiligt sind,dass aber die Feinregulation sich vonZelltyp zu Zelltyp unterscheidet. So sindauch die Wanderungsgeschwindigkeit unddie Formveränderungen je nach Zelltypsehr unterschiedlich. Ganz klar stellte sichauch heraus, dass die Forschung auf demGebiet der Zellfortbewegung weitergehen

muss. Viel zu viele Fragen sind noch of-fen. Was ist genau die Rolle der Aktin-Fibrillen? Wie werden diese reguliert? Wiewerden sie lokal aufgebaut und aktiviert?Wo sitzt der „Motor“ der wandernden Zel-le? Antworten auf diese Fragen werdenmöglicherweise einmal helfen, gezielteHeilmittel zu entwickeln, um die Tumor-metastasierung oder die unkontrollierteEntzündung zu bekämpfen.

Prof. Verena Niggli

Pathologisches Institut

Siehe auch:

http://www.pathology.unibe.ch/Forschung/

cytoskeleton/vniggli_intro.htm

Literatur:1. Niggli, V. and Keller, H.U.: The phosphatidyli-

nositol 3-kinase inhibitor wortmannin markedlyreduces chemotactic peptide-induced locomotionand increases in cytoskeletal actin in humanneutrophils. Eur. J. Pharmacol.: 335, 43–52,1997.

2. Niggli, V., Rho-kinase in human neutrophils: arole in signalling for myosin light chain phos-phorylation and cell migration. FEBS Lett.: 445,69–72, 1999.

3. Wicki, A. and Niggli, V.: The Rho/Rho-kinase andthe phosphatidylinositol 3-kinase pathways areessential for spontaneous locomotion of Walker256 carcinosarcoma cells. Int. J. Cancer, Vol. 91.

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Strahlentherapieim TherapiekonzeptStrahlentherapie in ihrem prinzipiellstenVerständnis ist der Ersatz chirurgischerMassnahmen mit dem Ziel der Organ- undFunktionserhaltung (Beispiel: Therapievon Kehlkopfkrebs) oder die zum chirur-gischen Vorgehen komplementäre Anwen-dung bei gleicher Zielsetzung (Beispiel:Therapie von Brustkrebs).

Am deutlichsten kann sich Strahlenthera-pie beim palliativen Einsatz, d. h. bei derBehandlung von Symptomen wie Schmerz,Druck oder Blutung als dem Patienten hel-fende und als im ärztlichen Sinne befrie-digende Therapie erweisen.

Die Indikation zur Bestrahlung, auch derZeitpunkt der Bestrahlung innerhalb desBehandlungskonzepts, wird abgestimmtauf die Möglichkeiten der operativen undder medikamentösen Therapien, und ihrEinsatz geschieht selbstverständlich nurnach zufriedenstellender Information undmit dem Einverständnis der Patientinnenund Patienten.

Werde ich verbrannt?Information und Konsens sind kritischeMomente vor der Einleitung von Vorbe-reitungen zur Strahlentherapie. Sie sind diePfeiler des Vertrauens in die Nützlichkeitder vorgeschlagenen Therapie, in die kor-rekte Anwendung der zur Verfügung ste-henden Technik und in die Wahrhaftigkeitder Angaben zu möglichen belästigendenund auf Dauer beeinträchtigenden Neben-reaktionen der Strahlentherapie – und ma-chen diese dann, sollten sie wirklich ein-getreten sein, eher erträglich.

Unabhängig von der Erkrankung, für wel-che der Einsatz von ionisierender Strah-lung vorgeschlagen wird, ob für einen ent-zündlichen Vorgang (Beispiel: Schulterge-lenk), eine hypertrophe Erkrankung (Bei-spiel: Hypophysentumor, d. h. Tumor derHirnanhangdrüse), eine zusätzliche Be-handlung (adjuvante Therapie) nach vor-heriger radikaler Operation eines bösarti-gen Tumors (Malignom) oder ob als allei-nige Massnahme bei Inoperabilität einesMalignoms (Beispiel: Gebärmutterhals-krebs) – die weit überwiegende Mehrzahlder Patientinnen und Patienten äussert ihreÄngste vor möglichen Nebenreaktionender Bestrahlungstherapie mit der Frage:Werde ich „verbrannt“?

In „verbrannt“ äussert sich die Angst nichtnur vor sichtbaren Veränderungen währendoder nach der Strahlentherapie an Haut undan Schleimhäuten, sondern auch vor nichtsichtbaren, dafür aber symptomatischenVeränderungen im Körper (Beispiel: „Nachder Bestrahlung waren die Därme ver-brannt“).

Bestrahlung als Auslöservon Verbrennungen„Verbrannt“ nach Strahlentherapie hatmittlerweile eine mehr als 100jährige Ge-schichte. Schon wenige Monate nach derVeröffentlichung der Entdeckung der nachihrem Entdecker Wilhelm Conrad Röntgenbenannten Strahlen im Dezember 1895nutzte der junge Wiener Dermatologe Leo-pold Freund im April 1896 diese Energie-quelle als erster für therapeutische Zwek-ke. Er bestrahlte einen Tierfell-Naevus(grosses, behaartes Muttermal), der denganzen Rücken eines jungen Mädchens

bedeckte. Die Therapie war erfolgreich,aber sie verursachte eine tiefe, verbren-nungsähnliche Zerstörung der Haut. Ent-sprechende Narben zeigte die betagte, aberrüstige Patientin dem Auditorium an-lässlich eines Kongresses in Wien 1973 –ein Schlüsselerlebnis für den bis anhinnoch unentschlossenen Autor dieses Arti-kels.

Mehr als oberflächliche Effekte konntenmit der nur unzuverlässig kontrollierbarenEnergie von 100–120 Kilovolt der durchdie Haut (perkutan) zu applizierendenRöntgenbestrahlung, die bis ungefähr 1920zur Verfügung stand, auch nicht erreichtwerden. Die Behandlung tiefer liegenderZielorgane führte unweigerlich zur Zerstö-rung der Haut und des darunter liegendenGewebes.

Wir vermögen uns kaum vorzustellen,welchen Fortschritt es deshalb bedeutete,als das Radium dank der hartnäckigen undselbstlosen Arbeit von Marie Curie als ra-dioaktive Strahlenquelle für die Mali-gnomtherapie zur Verfügung stand, undzwar insbesondere für die Therapie gynä-kologischer Tumoren, weil es unmittelbarin den Tumor plaziert werden konnte.

In den frühen Jahrzehnten der Strahlenthe-rapie mittels Röntgenstrahlen wurden die-se tatsächlich als Auslöser von Verbren-nungen verstanden. Eine Selektionierungdes Zell- bzw. Gewebeuntergangs wurdenicht angestrebt. Die Regel waren wenigeBestrahlungssitzungen mit hohen Einzel-dosen. Die Messeinheit der Dosis war dieErythemdosis, d. h. diejenige Dosis, nachderen Applikation eine Rötung auftretenkonnte – ein Wert etwa zwischen 300 und800 Röntgen-Einheiten.

Die Entdeckung der ToleranzErst in den 1920er-Jahren begann ein all-gemeines Umdenken zu Gunsten einerSchonung nicht erkrankten Gewebes, undman erkannte die Bedeutung des Gefäss-und Bindegewebes für die Spätfolgen nacheiner Strahlentherapie. Die Selektionie-rung zwischen einer kranken Zielzelle undeiner gesunden und für die Funktion wich-tigen Gewebezelle erforderte eine drasti-

Die Angst vor den möglichen Folgen der Strahlentherapie

„Verbrannt“Die therapeutische Nutzung ionisierender Strahlen,die beim Zerfall radioaktiver Elemente frei werdenoder die eigens für die medizinische Anwendung er-zeugt werden, ist als Strahlen- oder Radiotherapieeine der von der Schulmedizin angebotenen Metho-den der Behandlung maligner (bösartiger), hyper-tropher (überschiessender) und entzündlicher Er-krankungen.

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sche Änderung der Behandlungstechnik,eine Technik mit vielen Sitzungen undniedrigen Einzeldosen, die Henry Coutardpredigte. Diesbezüglich haben wir in mehrals 70 Jahren keinen Fortschritt gebraucht;nach wie vor bedeutet die strenge Frak-tionierung der Gesamtdosis die Vorausset-zung für den Schutz der Toleranz des ge-sunden Gewebes.

Öffentliche MeinungDer Radio-Onkologe muss davon ausge-hen, dass in der Gesellschaft eine unbe-stimmt vorgefasste, vordergründig skep-tische Meinung besteht, die Strahlenthe-rapie in erster Linie mit Nebenwirkungenin Verbindung bringt. Die Annahme dürf-te leider nicht falsch sein, dass sich diesean sich verständliche, aber auf Unkennt-nis gründende Meinung auch in der nicht-spezialisierten Ärzteschaft findet. Da Strah-lentherapie fast nur mit Krebs in Verbin-dung gebracht wird, überträgt sich dieFurcht vor der Krankheit auch auf derenTherapie. Es dürfte vergebliche Mühe sein,generell für ein besseres Image der Strah-lentherapie zu kämpfen. Wenn aber dieStrahlentherapie für den Einzelnen vonNutzen sein kann, dann lohnt sich jederEinsatz, um Vertrauen in sie zu wecken.

Auffälligerweise äussern nur wenige Pa-tientinnen und Patienten bei der ersten In-formation zur geplanten Therapie mitStrahlen ihre Bedenken zum „Verbrannt-werden“. Die später anlässlich der vorbe-reitenden Gespräche an den Radio-Onko-logen herangetragenen Ängste und Zwei-fel sind sehr oft Auswirkungen einer kol-lektiven, vielleicht gut gemeinten, abersicher kontraproduktiven Beratungsaktionim Umfeld von Familie, Freunden undNachbarn. Wir sind bei diesen Beratungennicht dabei; eventuell sollen sie Mut ma-chen, aber sicher betonen sie in Erfahrunggebrachte unschöne Nebenwirkungen derStrahlentherapie und schüren dadurchÄngste. Bis zur definitiven fachlichen In-formation durch den Radio-Onkologenbleibt diese Frage die wichtigste der Fra-gen: Werde ich verbrannt?

SpätschädenDer Radio-Onkologe wird bei der Nach-frage nach der Quelle der Ängste sehr häu-fig auf vor Jahren – im Rahmen der Be-handlung von Brustkrebs nach der Entfer-nung der Brust – an der Brustwand be-

strahlte Patientinnen verwiesen, bei denennach der Strahlentherapie die typischenHaut- und Unterhautveränderungen einerSpätreaktion, die Strahlennarbe, aufgetre-ten waren, wegen der grossen bestrahltenFläche nur auffälliger und wohl auch stö-render: Atrophie (Geweberückbildung),Fibrosierung (Verdichtung des Stützgewe-bes), Induration (Gewebsverhärtung),Pigmentverschiebung und Teleangiekta-sien (Vermehrung und Erweiterung ober-flächlicher Gefässe).

In der Tat ist der Hinweis auf solche Ver-änderungen im Zusammenhang mit dereigenen bevorstehenden Behandlung be-rechtigt.

Akute und späte Reaktiondes gesunden GewebesDas gibt Gelegenheit, die Abläufe der Re-aktionen im Normalgewebe bei Strahlen-therapie zu erläutern. Im Vordergrund derVeränderungen in der akuten Phase stehtder Verlust von Organzellen. Dies bedeu-tet bei der Haut die dosisabhängig zuneh-mende Verdünnung der Epidermis durchdie Reduktion der Zahl der Stammzellen,bei der papillären Dermis – d. h. in der dar-unter liegenden Hautschicht – Gefäss-erweiterungen und ein später Verlust vonEndothelzellen (Zellen der Gefässinnen-wände). Sichtbar sind Erythem (Rötung)und Ödem (Wasseransammlung), bei hö-heren Dosen trockene und schliesslichfeuchte Abschuppung.

Bei der üblichen Aufteilung der Gesamt-dosis auf verschiedene Teildosen (2 Gray-Einheiten [Gy] pro Dosis) tritt diese Haut-reaktion während der Strahlentherapie beiDosen bis 45 Gy selten auf. Bei Dosen von50 Gy und mehr, appliziert über grössereHautpartien, z. B. bei der brusterhaltendenTherapie des Mammakarzinoms, gehenwir zumindest bei druckexponierten Stel-len eher von einem regelmässigen Vor-kommnis aus.

Der Zellverlust der Epidermis gibt Signa-le zur Neubildung von Zellen. Zytokine –das sind Botenstoffe zwischen den Zellen,welche Entzündungen und Gewebebil-dungen hervorrufen – sorgen dafür, dassdie verschiedenen Zelltypen zum Handelnangeregt werden. Gewebebildende Zyto-kine regen die Wucherung von Bindege-webszellen und die Bildung extrazellulärer

Substanz an. Die Aktion dieser Zytokinebeginnt bereits während der Strahlenthe-rapie und kann danach als Kaskade dieakuten, subakuten und chronischen Pha-sen der Strahlenreaktion durchlaufen undzu progressiven Spätreaktionen führen,wie sie oben beschrieben wurden. Gewe-beschwund und Gewebewucherung sindspezifische Antworten der Bindegewebs-zellen der Haut auf die Bestrahlung. DerVerlust von Gefässwandzellen in den ver-schiedenen Hautschichten führt zum Un-tergang von Teilen des Gefässnetzes derHaut, das Gefäss-Remodelling führt zurprogressiven Teleangiektasie (siehe mitt-lere Spalte), welche sich innerhalb vonJahren entwickeln kann.

Kontrolliertes VerbranntseinKaum je – und nicht nur aus Gründen derheute a priori nicht so oft vorliegendenIndikation der Brustwandbestrahlung nachder Entfernung der Brust – werden nachheutiger Bestrahlungstechnik solche Spät-reaktionen auftreten, die als ängstigendesBeispiel für „verbrannt“ gezeigt werdenkönnten. Allerdings wissen wir, dass 5 bis8 % der Patientinnen und Patienten wohlaus genetischen Gründen mit Überreak-tionen auf Strahlung antworten. Wir ken-nen auch die erhöhte Radiosensibilität beiPersonen, die mit Immunsuppressiva be-handelt werden, und wissen, dass Fakto-ren wie Hyperthyreose (Überfunktion derSchilddrüse), Diabetes, Alter usw. für un-übliche Bestrahlungsreaktionen verant-wortlich sind.

Die feuchte Abschuppung der Haut derBrustwand als akute Reaktion der Strah-lentherapie lässt sich allerdings auch mitden heute zur Verfügung stehenden Behand-lungstechniken nicht vermeiden, wenn Do-sen appliziert werden müssen, die einenRückfall an der Brustwand verhindern sol-len. Diese Art des „Verbranntseins“ wirddie gut instruierte Patientin ohne Vorwurfertragen, wenn auch mitunter über Schmer-zen klagend.

Die akute Hautreaktion bei der Brustwand-bestrahlung ist nicht zu umgehen, da ja,um Rückfälle zu vermeiden, gerade dieHaut das Zielorgan sein muss, das diehöchste Dosis erhalten soll; vermiedenwerden soll die Strahlenbelastung vonHerz und Lunge. Im Unterschied zu denZeiten der Strahlentherapie, aus denen die

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Beispiele der Ängstigung zitiert werden,können die Dosen heute mit Hilfe desRechners homogen über das Zielorganverteilt werden, was die Voraussage derAbheilung der akuten Reaktion erlaubt.Krasse Inhomogenitäten mit unkontrollier-ten Dosisspitzen waren die Ursache frü-herer unerfreulicher Spätreaktionen.

Technik und Voranschreitender ForschungDie Technik und die Rechner haben denRadio-Onkologen bei seinen Bemühungenunterstützt, das oberste Gebot der Behand-

lung zu befolgen: die Wahrung der Tole-ranz des gesunden Gewebes. Schnittbild-techniken machen die Diagnostik sichererund lassen Volumina eingrenzen, dreidi-mensionale Applikationstechniken mitkonvergierenden (auf das gleiche Ziel ge-richteten) Feldern aus unterschiedlichenEbenen sparen gesundes Gewebe aus, undaufwendige Planung mit modulierter (an-gepasster) Intensität der aus wechselndenWinkeln eintreffenden Strahlung bewirktnoch einen weiteren Schutz des gesundenGewebes. Hoffen wir auf die baldige Rea-lisierung der routinemässigen Anwendung

von Substanzen, welche die Wirkung derStrahlentherapie unterstützen. Und wartenwir geduldig auf die Zeit gentherapeuti-scher Konzepte – die Angst, „verbrannt zuwerden“, könnte dann ein Randthema wer-den.

Prof. Dr. Richard H. Greiner

Klinik für Radio-Onkologie

Inselspital

[email protected]

Inserat Paul Haupt1/4 Seite hoch

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In der modernen Medizin sind bildgebendeSysteme – wie Röntgen, Computertomo-graphie, Ultraschall oder Kernspintomo-graphie – zu einem wichtigen und nichtmehr weg zu denkenden Bestandteil dermedizinischen Diagnose geworden. DieGeschichte der bildgebenden Verfahren inder Medizin begann mit der Entdeckungder Röntgenstrahlung durch Wilhelm Rönt-gen im Jahre 1895. Röntgenstrahlen kön-nen als sehr kurzwellige, für das menschli-che Auge nicht sichtbare Lichtstrahlen be-trachtet werden, welche durch biologi-sches Gewebe nur geringfügig gestreutwerden. Misst man ihre Signalenergie anverschiedenen Orten, so kann diese direktden optischen Parametern des Gewebeszugeordnet werden. Röntgenstrahlen sindallerdings ionisierend und können in ho-hen Dosen das Erbgut schädigen.

Ultraschall weist diese schädigende Wir-kung nicht auf. Die Ultraschalldiagnostikstützt sich auf die Aufnahme und Analysevon Ultraschallsignalen, die bei der Wech-selwirkung einer in den Körper einge-strahlten Ultraschallwelle entstehen. Ge-messen wird die Zeit, die eine Ultraschall-welle benötigt, um von der Schallquelleauf eine Gewebestruktur zu treffen und vondort als „Echo“ wieder zurückgeworfen zuwerden. Obwohl der Ultraschall eines derwichtigsten bildgebenden Verfahren in derMedizin ist, sind seine Anwendungsmög-lichkeiten durch den geringen Kontrast undlimitierte örtliche Auflösung beschränkt.Die Ursache liegt in der Tatsache, dass dieDichte und Schallgeschwindigkeit sichvon Gewebeart zu Gewebeart nur inner-

halb weniger Prozente ändern und dasshochfrequente Schallwellen im Gewebesehr stark abgeschwächt werden.

Eine Alternative zum Ultraschall ist Licht.Bestrahlt man Gewebe mit Licht im Wel-lenlängenbereich von 650 nm bis 1400 nm,dringt dieses sehr tief ins Gewebe ein, wirdalso nur schwach absorbiert. Der grosseVorteil dabei ist, dass sich der Grad derAbsorption von Gewebe zu Gewebe umGrössenordnungen unterscheidet, was ei-

nen grossen optischen Kontrast zur Folgehat. Mit Hilfe der optischen Mammogra-phie kann so z. B. Tumorgewebe von ge-sundem Gewebe unterschieden werden.Daher sind Abbildungsverfahren, welchedie räumliche Verteilung der optischenGewebeparameter mit Licht bestimmenkönnen, von grossem Interesse. Der Nach-teil von Licht ist die diffuse Lichtausbrei-tung infolge der starken Streuung, was einedirekte Zuordnung des gemessenen Sig-nals zur räumlichen Verteilung von Gewe-bestrukturen äusserst schwierig macht.

Optoakustische Verfahren kombinieren aufideale Weise die Vorteile von Ultraschallmit denjenigen der optischen Tomogra-phie. Im Gegensatz zum klassischen Ul-traschall, bei dem der Schall mittels einesSchallgebers ins Gewebe eingekoppeltwird, ist die Schallquelle in der Optoaku-stik das Gewebe selbst oder es sind Struk-turen innerhalb des Gewebes. Der opto-akustische Effekt wurde 1881 von Alex-

Neue bildgebende Verfahren in der Medizin

Optoakustik:Laserinduzierter UltraschallAm Institut für angewandte Physik der Universität Bernwurde ein optoakustischer Sensor entwickelt, mit welchemes gelang, in vivo die Durchblutung der Haut in tomogra-phischen Schnitten in einer Tiefe von einigen cm mit einerTiefenauflösung von 20 µm abzubilden. Dabei könnenArterien und Venen anhand ihres Blutsauerstoffgehaltesunterschieden werden.

Abb. 1: Versuchsaufbau zur Messung laser-induzierter Druckwellen und typische in Refle-xion und Transmission gemessene Drucksignale. Da sich die im Gewebe eingestellte Licht-verteilung im zeitlichen Verhalten der Drucksignale reproduziert, können die optischenEigenschaften des Gewebes daraus bestimmt werden. Beim Reflexionsmodus muss zwi-schen Gewebeprobe und Drucksensor ein akustisch angepasstes, optisch transparentesMedium (wässriges Gel) verwendet werden.

Reflexion Transmissionstark absorbierende

Schicht

Druck-sensor

schwacherAbsorber

Laser-

Puls

Laser-

Puls

transparenterDrucksensor

Dru

ck

Zeit Zeit

Dru

ck

wässriges Gel

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ander Graham Bell entdeckt und hat seit-her viele Anwendungen im Bereich derUmwelttechnik (z. B. zur Schadstoffbe-stimmung), Materialprüfung oder medizi-nischen Diagnostik gefunden. Grundlagedes optoakustischen Effekts ist die Absorp-tion eines kurzen Laserpulses. Die absor-bierte Lichtenergie wird in Wärme umge-wandelt, welche zu einer nahezu soforti-gen Ausdehnung des bestrahlten Volumensführt. Durch die Ausdehnung wird eineakustische Stosswelle generiert, die miteinem Schalldruckaufnehmer zeitaufgelöstdetektiert wird. Aus dem zeitlichen Ver-lauf des Drucksignals können die opti-schen Gewebeeigenschaften sehr präzisebestimmt und über die Geschwindigkeitder akustischen Wellen in eine tiefenauf-gelöste Information überführt werden.

Der medizinischen bildgebenden Diagno-stik steht damit eine neue, hochempfind-liche und nicht invasive Methode zur Ver-fügung, um beispielsweise pathologischeHautveränderungen wie z. B. Feuermalepräzis zu lokalisieren und zu vermessen.Auch karzinogene Veränderungen an derHaut bis hin zu Tumoren in tiefer liegen-den Schichten lassen sich mit dieser Me-thode erkennen. Darüber hinaus könnenbei laserchirurgischen Eingriffen mit Hil-fe der Optoakustik die optischen Eigen-schaften des bestrahlten Gewebes und ihreVeränderungen während einer Therapieüberwacht und dokumentiert werden. Einegenaue Kenntnis der Absorptions- undStreueigenschaften des Gewebes ist not-wendig, um eine möglichst schonende

Therapie sowie eine gezielte Diagnostikunter Einsatz von Laserlicht zu erreichen.

Am Institut für angewandte Physik wur-den verschiedene experimentelle Verfah-ren der Optoakustik entwickelt und ersteAnwendungsmöglichkeiten aufgezeigt.Als Anregungslichtquelle dient ein opti-scher parametrischer Oszillator, mit demkurze Lichtpulse (Pulsdauer 6 ns) in einemWellenlängenbereich von 400 bis 4000 nmerzeugt werden können. Dieser spezielleLaser erlaubt es, die Wellenlänge optimalan die optischen Eigenschaften der zu un-tersuchenden Gewebestruktur anzupassen,was eine spektralaufgelöste optoakustischeBildgebung ermöglicht.

Physikalisches Prinzipder OptoakustikStrahlt ein Laserpuls in ein biologischesGewebe ein, so wird dieser den optischenEigenschaften des Gewebes entsprechendgestreut und absorbiert. Die Strukturen imGewebe mit erhöhter Absorption werdengemäss ihrer Wärmekapazität erwärmt unddehnen sich dabei aus. Diese Stellen wer-den zu Zentren von Druckwellen, die sichdann im Gewebe ausbreiten. Ihr zeitlichesund örtliches Verhalten reproduziert die imGewebe deponierte Lichtenergievertei-lung. Bei der Einstrahlung mit kurzen La-serpulsen entsteht also überall dort ein er-höhter Druck, wo Licht absorbiert wird.Ist die Dauer des Laserpulses kürzer alsdie Relaxationszeit, eine Bedingung, die

als „stress confinement“ bezeichnet wird,so ist die Amplitude dieser Druckwellemaximal.

Unter der akustischen Relaxationszeit ver-steht man die Zeit, die eine Druckwellebenötigt, um die Strecke der optischen Ein-dringtiefe der Laserstrahlung ins Gewebemit einer Schallgeschwindigkeit vonv

Gewebe = 1.5 mm/ns zurückzulegen. Die an-

fängliche Druckverteilung breitet sich mitSchallgeschwindigkeit als thermoelasti-sche Druckwelle (Ultraschall) im Gewe-be aus. Dabei genügt eine lokale Tempera-turerhöhung von lediglich 1oC, um einDrucksignal mit einer Amplitude von ca.5 bar zu erzeugen. In diesen Bereichenwird das bestrahlte Gewebe weder vondem Wärmeeintrag des Lasers noch vonder dabei induzierten Druckwelle geschä-digt. Die Methode der optoakustischenTomographie ist somit vollständig zerstö-rungsfrei und nicht invasiv. Diese im Ge-webe generierten Druckwellen werden,ähnlich wie beim klassischen Ultraschallan der Gewebeoberfläche, mittels speziellangepasster Druckempfänger zeitaufgelöstgemessen.

Ziel der optoakustischen Bildgebung ist es,die ursprüngliche räumliche Druckvertei-lung innerhalb des Gewebes aus der Mes-sung des Ultraschalls an der Gewebeober-fläche zu rekonstruieren. Damit gelingt es,absorbierende Strukturen innerhalb desGewebes darzustellen, obwohl das Gewe-

Abb. 2: Piezoelektrischer Drucksensor R miteinem transparenten Plexiglas-Würfel H zurakustischen Anpassung zwischen Sensorund Gewebeprobe S. Die laserpulsführendeLichtfaser befindet sich in der Mitte des Sen-sorringes.

Sy

H

x

R

h

z

Abb. 3: Optoakustische Schnittbilder durch Gewebe. a) nach Bestrahlung mit einemHolmium-Laser (Energiedichte H = 1.63 J/cm2). Thermisch induzierte Gewebekoagulationan der Oberfläche kann auf diese Weise sichtbar gemacht werden. b) Schnittbild durcheinen Absorber, der 2 mm unterhalb der Oberfläche versteckt ist.

Reflexion

x-Achse (mm)

z-A

chse

(mm

)

x-Achse (mm)

z-A

chse

(mm

)

Oberfläche Oberfläche

Koagulation

Absorber

0 2 4 0 2 4 6

4

2

0

4

2

0

a b

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be wegen seiner starken Streuung desLichtes für unser Auge undurchsichtig er-scheint.

Methoden zur Messungdes UltraschallsBei medizinischen Anwendungen gibt esprinzipiell zwei Möglichkeiten, die laser-induzierten Ultraschallwellen zu messen:in Transmission oder in Reflexion. Abbil-dung 1 zeigt schematisch den Versuchs-aufbau und die dabei entstehenden zeitli-chen Drucksignale. Die meisten klinischenAnwendungen können nur in Reflexiondurchgeführt werden, was eine spezielleGeometrie des druckempfindlichen Sen-sors voraussetzt, damit die Einstrahlungdes Anregungslaserlichtes und die Erfas-sung der akustischen Signale am gleichenOrt erfolgen können. Innerhalb unsererForschungsarbeiten untersuchten wir zweiDruckmessprinzipien im Hinblick aufMessempfindlichkeit und klinische An-wendbarkeit.

Beim piezoelektrischen Effekt wird derDruck in ein zum Druck proportionaleselektrisches Signal umgewandelt, das miteiner speziell entwickelten Hochfrequenz-verstärkerelektronik gemessen wird. AlsDrucksensor verwenden wir eine Ring-geometrie, bei der die laserpulsführende

Lichtfaser in der Mitte plaziert ist (Abb. 2).Die symmetrische Anordnung von akusti-schem Ringsensor und Lichtfaser garan-tiert eine maximale Ortsauflösung undminimale Verzerrung des akustischen Si-gnals. Aus dem zeitlichen Verlauf des Si-gnals gewinnt man die Tiefeninformationüber die Lage der im Gewebe absorbie-renden Strukturen. Je später der Druckpulsden Ringsensor erreicht, desto tiefer imGewebe wurde dieser Druck generiert. Umein tomographisches Bild zu erhalten, wirdder Drucksensor über das zu untersuchen-

Abb. 5: Optoakustische Schnittbilder der Haut mit darunterliegenden Blutgefässen. Diebeiden Bilder zeigen den genau gleichen Ausschnitt der Haut bei einer Anregungswellen-länge von l = 577 nm und l = 595 nm. Die Hautoberfläche (Melanin) und das venöse Blutsind bei beiden Aufnahmen zu sehen, während das arterielle Blut, infolge seiner unter-schiedlichen Absorption, nur bei 577 nm sichtbar wird.

Abb. 4: Einzelne Schritte bei der optoakustischen Bildaufnahme und Verarbeitung.

OPO 5 ns Laserpuls

experimenteller Aufbau Lichtverteilung

2D-Druckbilder Schnittbild 3D-Rekonstruktion

streuendes BlutgefässeMedium

HeNe CCDerwärmteZone

Blut

2,6

mm

2,6

mm

1,4

mm

1,5 mm x 1,5 mm x1,5 mm xt = 570 ns t = 710 ns

yy y

01

1

0,5

2

1

0

z [m

m]

y [mm]

x [mm]

de Gewebe gescannt. Abbildung 3 zeigtzwei Beispiele eines optoakustischen Scans.

Die zweite, von uns neu entwickelte Me-thode, Druck zu messen, basiert auf demphysikalischen Prinzip, dass die Reflexi-on von Licht an einer Grenzschicht druck-abhängig ist. Abbildung 4 (Bild oben links)zeigt den schematischen Aufbau unsereszwei-dimensionalen Drucksensors. Durchdas optisch transparente Prisma wird daszu untersuchende Gewebe bestrahlt. Dieim Gewebe generierten Druckwellen mo-

Arterien Venen

3

2

1

0

3

2

1

00 1 2 3 4 5 0 1 2 3 4 5

Hautoberfläche(Melanin)

z [m

m]

x [mm] x [mm]

z [m

m]

l = 577 nm l = 595 nm

Venen

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dulieren beim Auftreffen auf die Grenz-schicht zwischen Probe und Prisma denReflexionsgrad des Heliums-Neon-Laser-strahls. Auf diese Weise kann die Druck-verteilung mit hoher örtlicher und zeitli-cher (ns Belichtungszeit der Kamera) Auf-lösung als Graustufenbild ausgelesen wer-den. Die zeitliche Analyse der Druckver-teilung erlaubt es, ein Tiefenprofil derSchallquellen im Gewebe zu erzeugen. EinVorteil dieser Technik ist, dass sie vollkom-men ohne bewegliche Teile auskommt.

Unser detailliertes Studium der Schall-ausbreitung akustischer Druckwellen imGewebe bildete die Basis für die Entwick-lung eines schnellen Algorithmus, mit des-sen Hilfe aus den gemessenen Druck-verteilungen die örtliche Verteilung deranfänglichen Druckquellen im Gewebeberechnet werden. Damit entsteht quasi inEchtzeit ein drei-dimensionales Bild der

Gewebestruktur. Wählt man eine Anre-gungswellenlänge, die selektiv von Blutabsorbiert wird, so kann die räumlicheAnordnung von Blutkapillaren im Gewe-be in einem drei-dimensionalen Bild dar-gestellt werden. Abbildung 4 zeigt die da-für notwendigen unterschiedlichen expe-rimentellen Schritte.

Der Unterschied im Sauerstoffgehalt vonvenösem und arteriellem Blut spiegelt sichin einem unterschiedlichen Absorptions-spektrum wider. Dadurch können mit Hil-fe des spektral-aufgelösten optoakusti-schen Verfahrens Arterien und Venen se-lektiv dargestellt werden. Abbildung 5zeigt Blutgefässe unter der Hautober-fläche, bei denen der laser-induzierte Ul-traschall mit Laserpulsen unterschiedlicherWellenlänge erzeugt wurde. Auf dieseWeise werden Blutgefässe nicht nur miteiner Tiefenauflösung von etwa 20 mm

dargestellt, sondern auch funktionell un-terschieden.

Optoakustische Gewebediagnostik ist einzerstörungsfreies und nicht invasives Ver-fahren, mit dem optische Gewebeeigen-schaften bis zu einer Tiefe von mehrerenZentimetern dargestellt werden können.Dieser grosse Messbereich, die hohe Orts-auflösung von wenigen Mikrometern, dereinfache Aufbau und die schnelle Mess-werterfassung machen dieses Verfahrenideal für die medizinische Diagnostik. Da-rüber hinaus erlaubt dieses Verfahren, op-tische Gewebeeigenschaften in Echtzeit zubestimmen, was die Präzision und die Ef-fizienz vieler chirurgischer Lasereingriffesteigern könnte.

PD Dr. Martin Frenz

Institut für angewandte Physik

Inserat Derron + Moser1/3 Seite quer

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Inserat Intraform4. UG 1/1 Seite