solidarität 3/2010

20

Click here to load reader

Upload: solidar-suisse

Post on 21-Mar-2016

229 views

Category:

Documents


1 download

DESCRIPTION

Das Magazin des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks SAH

TRANSCRIPT

Page 1: Solidarität 3/2010

Das Magazin des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks SAH • August 3/2010www.sah.ch

SchweizChancen für junge MigrantInnen

InternationalTheater für soziale Veränderungen

Page 2: Solidarität 3/2010

2E

Dit

or

iAl

9.6.2010 Die Interessen der Flüchtlinge

wahrnehmen

Für die Flüchtlinge in der Schweiz setzen sich auch

die Hilfswerke ein. (…) Ihre Stärke ist es, die Men­

schen als Ganzes wahrzunehmen und auf ihre indi­

viduellen Schicksale einzugehen. (…) Die sogenann­

ten Integrationsprojekte zeigen ihnen auf, wo sie

sind, welche Rechte sie bei uns haben und wie sie

einen Beitrag zur Integration leisten können. Hans

Fröhlich, Geschäftsführer des Schweizerischen Ar­

beiterhilfswerks Zürich (SAH), erklärt: «Integration

heisst aber auch, dass wir die verschiedenen Kultu­

ren der Flüchtlinge respektieren und dass die Fertig­

keiten und Erfahrungen, die Flüchtlinge mitbringen,

in die Projektarbeit einfliessen.»

2.6.2010 Tropensturm fordert immer mehr Opfer

In den vom Tropensturm Agatha ausgelösten Regen­

fluten in Mittelamerika sind mittlerweile mindestens

175 Menschen zu Tode gekommen. (…) Zehntausen­

de Menschen in der Region mussten in Notunter­

künfte gebracht werden. (…) Auch aus der Schweiz

kommt Hilfe: In Zusammenarbeit mit der Direktion

für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) des

Bundes setzt das Schweizerische Arbeiterhilfswerk

SAH nach eigenen Angaben 50 000 Franken ein, um

in seinem Schwerpunktland El Salvador für über 130

Familien Notunterkünfte und Nahrungsmittel bereit­

zustellen.

4.5.2010 Graubünden will Kinderarbeit

einen Riegel schieben

Als erster Kanton schreibt Graubünden bei öffentli­

chen Beschaffungen soziale Mindeststandards vor.

(…) Gemäss einer Weisung sind bei öffentlichen Be­

schaffungen nur noch Anbieter zu berücksichtigen,

die gewährleisten, dass sie beziehungsweise ihre

Subunternehmer oder Lieferanten bestimmte Über­

einkommen einhalten und dies im Rahmen einer

Selbstdeklaration bestätigen.

Medienschau

Liebe Leserin, lieber Leser

In ihrer «Millenniumserklärung» hat sich die inter­

nationale Staatengemeinschaft 2000 darauf geeinigt,

was Entwicklung erreichen soll: die Reduktion der

Armut. Weitere Ziele sind Chancengleichheit für Frauen

und Mädchen, Primarschule für alle Kinder oder ver­

besserter Zugang zur Gesundheitsversorgung.

Im September zieht der UNO­Gipfel in New York Bilanz.

Sie wird gemischt ausfallen: Der Zugang zur Schulbildung

hat sich verbessert, ebenso die Gesundheitsversorgung.

Die weltweite Armut ist ein Stück weit reduziert worden.

Allerdings nicht überall und zu wenig: Nach wie vor leben

1,4 Milliarden Menschen in extremer Armut, und in vielen

Ländern südlich der Sahara ist jedes vierte Kind unter­

ernährt. Chancengleichheit bleibt Wunschdenken.

Und die Schweiz? Trotz seines Versprechens am UNO­

Gipfel im Jahr 2005 wird der Bundesrat erst in der

kommenden Wintersession und nach massivem Druck

dem Parlament eine Botschaft vorlegen, wonach die

Entwicklungshilfe bis 2015 auf 0,5 Prozent des Brutto­

nationaleinkommens erhöht werden soll. Abgesehen

davon haben Wirtschaftsinteressen regelmässig Vorrang

vor Entwicklungs­ und Menschen rechtsfragen, sei es

in der Steuer­ oder in der Handelspolitik. Die Schweiz

muss ihre Gesamtpolitik so ausrichten, dass sie Entwick­

lung fördert – und zwar als oberste Priorität.

Und das SAH? Mit unseren Trägerorganisationen engagie­

ren wir uns für eine Entwicklungsagenda, die sich an der

Armutsbekämpfung orientiert. Und wir setzen sie in

unseren Programmen um. Chancengleichheit für Frauen

und Mädchen ist dabei ein wichtiger Aspekt. Mit Blick auf

2015 stellen wir sie noch verstärkt ins Zentrum.

Ruth Daellenbach, Geschäftsleiterin SAH

Page 3: Solidarität 3/2010

3

inH

Alt

Herausgeber: Schweizerisches Arbeiterhilfswerk SAH, Quellenstrasse 31, Postfach 2228, 8031 Zürich, tel. 044 444 19 19, E-Mail: [email protected], www.sah.ch, Postkonto 80-188-1 Zürich

Redaktion: Katja Schurter (verantwortliche redaktorin), rosanna Clarelli, Christian Engeli, Hans Fröhlich, Alexandre Mariéthoz, Cyrill rogger

Layout: Atelier Binkert, www.atelierbinkert.ch

Übersetzungen: irene Bisang, Ursula Gaillard, Milena Hrdina, Walter roselli, Peter Schrembs

Korrektorat: Angelo Ciampi, Marianne Enckell, Jeannine Horni

Druck und Versand: Unionsdruckerei/subito AG, Platz 8, 8201 SchaffhausenErscheint vierteljährlich, Auflage: 37 000Der Abonnementspreis ist im Mitgliederbeitrag inbegriffen (Einzelmitglieder mindestens Fr. 50.–,organisationen mindestens Fr. 250.– pro Jahr).Gedruckt auf umweltfreundlichem recycling-Papier.

Impressum

SCHWEIZCoaching für lehrstellensuchendefördert die Chancengleichheit 4

STANDPUNKTChristian levrat: Die Schweiz braucht eine lehrstellenoffensive 7

PINGPONG 10

INTERNATIONALGreen Jobs müssen menschenwürdig sein 9

Brasilien 2014: Die Kampagne gegen Ausbeutung rund um die WM geht weiter 11

Freiwillige Sozialarbeiterinnen erhalten in Südafrika das Gesundheitssystem aufrecht 12

Mit theater soziale Veränderungen bewirken 16

SPENDENMit dem Vermächtnis Benachteiligte unterstützen 15

EINBLICKFreddy Chipana ermutigt Jugendliche mittheaterarbeit, aktiv zu werden 18

titelbild: Jugendliche mit Migrationshintergrund finden dank Coaching eine lehrstelle. Foto: Sabine rockrückseite: theaterarbeit mit Jugendlichen in Bolivien. Foto: Altoteatro

INTERNATIONAL und EINBLICK Mit theaterarbeit heikle themen ansprechen und soziale Veränderungen in Gang setzen.

SCHWEIZ Das Coaching des SAH Zentralschweizhilft Jugendlichen mit Migrationshintergrund,

trotz Benachteiligung eine lehrstelle zu finden. S. 4–6

STANDPUNKT Es braucht mehr lehrstel-len und Ausbildungs-plätze für Jugendliche mit schulischen Schwierigkeiten, damit auch sie eine Per- spektive erhalten. S. 7

El Salvador S. 16

Moçambique S. 17

Bolivien S. 18

Page 4: Solidarität 3/2010

4S

CH

WE

iZ

Flexibel von BerufJugendliche mit Migrationshintergrund haben es schwer, eine Lehrstelle zu finden. Das Coaching für Lehrstellensuchende des SAH Zentralschweiz bietet ihnen Unterstützung.Text: Katja Schurter, Fotos: Sabine Rock

Ali Azimi hat ein Praktikum mit anschliessender Lehre als Landschaftsgärtner gefunden.

Page 5: Solidarität 3/2010

5

SC

HW

EiZ

Noor Hamzawi hat vor einer Woche bei

der Bäckerei Sidler in Gisikon die Zusage

für eine Lehre als Bäckerin erhalten. Die

junge Frau mit dem offenen Blick und

dem Kopftuch hatte ursprünglich andere

Berufswünsche: «Ich wollte Floristin oder

Tierpflegerin werden.» Doch die Betriebe

wollten ihrer Kundschaft keine Stiftin mit

Kopftuch zumuten. «Auf dem Land ist die

Zeit wohl noch nicht reif für das Kopf­

tuch», meint Karin Amrein, die Noor bei

der Lehrstellensuche gecoacht hat. «In der

Backstube spielt das Kopftuch keine Rolle.»

Karin Amrein ist Primarschullehrerin

und arbeitet ehrenamtlich beim Coaching

für Lehrstellensuchende des SAH Zentral­

schweiz mit. Sie hat sich seit dem letzten

Oktober alle zwei Wochen mit der 17­Jäh­

rigen Sek.­C­Schülerin getroffen, deren Fa­

milie vor neun Jahren aus dem Irak in die

Schweiz geflüchtet ist. «Meine Hauptaufga­

be war, Noor zu motivieren, die Lehrstel­

lensuche intensiver anzugehen», erinnert

sich Karin Amrein. An jedem Treffen ver­

einbarten sie, was Noor bis zum nächsten

Mal erledigen musste: Offene Lehr­ und

Schnupperstellen suchen, Bewerbungen

schreiben. Auf Floristin und Tierpflegerin

folgten Optikerin und Drucktechnologin.

Als sich alles als unrealistisch herausstell­

te, schlug Noor Bäckerin vor. Ein pragma­

tischer Entscheid: «Als Bäckerin gab es

noch am meisten freie Lehrstellen. Ausser­

dem habe ich meiner Mutter immer gerne

beim Kochen geholfen.»

Über 50 Prozent ErfolgsquoteIm Projekt «Coaching für Lehrstellensu­

chende» des SAH Zentralschweiz beglei­

ten 14 Gotten und Göttis 14 Jugendliche

bei der Lehrstellensuche. «Sechs Jugendli­

che haben eine Lehrstelle gefunden, zwei

beginnen ein Jahrespraktikum und eine

hat die Prüfung fürs Gymnasium bestan­

den», resümiert Silvia Caluori, die das Pro­

jekt zusammen mit Christine Spychiger im

Oktober 2009 lanciert hat. Die Erfolgs­

quote kann sich bis Ende Sommer noch

erhöhen. Die meisten, die bis dann nichts

gefunden haben, werden an einem Brü­

ckenangebot teilnehmen und weiterhin

von ihren Gotten und Göttis begleitet, da­

mit es nächstes Jahr klappt. Allerdings

gab es auch ein paar Tandems, die sich

nicht mehr getroffen haben, weil ihre Zu­

sammenarbeit nicht gut funktionierte.

«Es gibt zu wenig Attestausbildungen

für Jugendliche, die die Voraussetzungen

für eine Lehre nicht mitbringen. Viele Ju­

gendliche resignieren, weil sie in ihrem

Traumjob keine Chancen haben. Und bei

gewissen Berufsfeldern – wie zum Bei­

spiel Kauffrau – haben Jugendliche mit

Migrationshintergrund auch mit guten

Noten in der Sek. A kaum Chancen», fasst

Christine Spychiger die Probleme bei der

Lehrstellensuche zusammen.

Sich nicht entmutigen lassenIn der Backstube duftet es intensiv

nach frisch gebackenem Brot. Neben

einem Gestell mit Hunderten von Laiben

stehen Schüsseln gross wie Bottiche mit

Cartoon von ANNA

Die Erfahrung von Silvia Caluori und Christine Spychiger zeigt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund geringe Chancen haben, eine Lehrstelle zu finden.

Page 6: Solidarität 3/2010

6S

CH

WE

iZ

riesigen Rührwerken. Lehrlingsanleiter

Häfliger erzählt, weshalb er Noor einge­

stellt hat: «Sie ist sehr anständig, sauber,

sieht die Arbeit selbst, hört zu und fragt

nach. Man merkt, dass ihr die Materie ver­

traut ist – und sie stand pünktlich um 5.30

Uhr in der Backstube.»

Auf dem Weg nach Luzern erzählt Ka­

rin Amrein, wie sie das Coaching erlebt

hat. «Ich musste meine Rolle zuerst fin­

den. Ich hatte es nicht mit einer Erwach­

senen zu tun, sondern mit einer Jugend­

lichen, die durch unser Schulsystem

gegangen ist. Ihr wurde immer gesagt,

was sie zu tun hat, und nun sollte sie

plötzlich selbst Verantwortung überneh­

men.» Ausserdem brauche es Kraft, sich

durch ablehnende Reaktionen nicht ent­

mutigen zu lassen: «Einmal erzählte Noor,

eine Kollegin, die auch das Kopftuch tra­

ge, meine, sie würden ja eh keine Lehr­

stelle finden. Da sagte ich ihr, dass es

nicht Sinn und Zweck unserer Zusam­

menarbeit sei, aufzugeben.»

«Ich mache mir gerne die Hände dreckig»

Im zweiten Stock eines Bürohauses im

Zentrum von Luzern befindet sich das

Treuhandbüro von Peter Bühler, Götti des

21­jährigen Ali Azimi. Motivieren für die

Lehrstellensuche musste er den Flüchtling

aus Afghanistan nicht. 12­jährig war Ali

zusammen mit zwei Cousins in den Iran

geflohen. Dort lebte er illegal, bis er vor

drei Jahren alleine in die Schweiz kam. Er

wollte unbedingt eine Lehrstelle finden:

«Ich habe manchmal bis zwei Uhr mor­

gens Bewerbungen geschrieben», erzählt

Ali. Er hatte bereits Schnupperlehren als

Sanitär und als Gärtner absolviert und

sich für den Gartenbau entschieden: «Ich

arbeite gerne an der frischen Luft und ma­

che mir die Hände dreckig», meint er. So

bestand Peter Bühlers Unterstützung da­

rin, seine Kontakte spielen zu lassen. Mit

Erfolg: Über seine Vermittlung konnte Ali

bei einem Gartenbauunternehmen in Mal­

ters schnuppern. Dort beginnt er im

Herbst ein einjähriges Praktikum und

geht einen Tag pro Woche zur Schule.

Bessere Deutschkenntnisse sollen ihn für

die Berufsschule während der Lehre als

Landschaftsgärtner wappnen.

Unverhoffter Lehrling Bei «Christoph Winistörfer – Naturgär­

ten und Wildgärten» öffnet uns der Be­

sitzer. Er fährt uns auf die Baustelle im

Garten eines Einfami lienhauses, wo seine

Arbeiter Steinplatten und Pflastersteine

setzen. Während Winistörfer sich nach

den Auswirkungen des gestrigen Gewit­

ters erkundigt, greift Ali zum Hammer und

klopft Pflastersteine ins Kiesbett.

Christoph Winistörfer suchte eigentlich

keinen Lehrling, als er über einen Ange­

stellten von Ali Azimi hörte. Er liess ihn

eine Woche schnuppern und bietet Ali

nun Praktikum und Lehrstelle. «Aus­

schlaggebend war, wie er arbeitete. Es

war spürbar, dass es nicht das erste Mal

war und dass es ihm gefällt. Weitere Grün­

de waren seine Lebensgeschichte und

dass bereits jemand aus Afghanistan im

Betrieb arbeitet», erklärt Winistörfer.

Ali hat sich schon Pflanzenbücher ge­

kauft. «Die Pflanzennamen auf Latein sind

für viele das Anspruchsvollste», weiss

Winistörfer. Wenigstens hier wird Ali ähn­

liche Voraussetzungen haben wie seine

deutschsprachigen MitschülerInnen.

Coaching für Lehr-stellensuchende

Das Beratungs­ und Bildungsan­gebot Co­Opera des SAH Zent ral ­ schweiz hat den Auftrag, die sprachli-che, berufliche und kulturelle integrati-on von anerkannten Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen zu fördern. Das Projekt «Coaching für lehrstellen-suchende» richtet sich an Jugendliche, die bei Co-opera beraten werden und eine lehrstelle suchen. Ehrenamtliche Gotten und Göttis begleiten die Ju-gendlichen ein Jahr lang bei der lehr-stellensuche. interessierte melden sich bei: [email protected]

Noor Hamzawi und Karin Amreins Zusammenarbeit war erfolgreich: Im Herbst beginnt Noor die Lehre als Bäckerin.

Solidaritäts-Barometer

Gibt es Ihrer Meinung nach genügend Lehrstellen in der Schweiz?

Was braucht es, damit alle Jugendlichen eine Lehrstelle bekommen?

Wie könnte die Diskriminierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund

bei der Lehrstellensuche verhindert werden?

Beantworten Sie die Fragen des Solidaritäts-Barometers auf dem beigelegten Antworttalon.

Page 7: Solidarität 3/2010

7

Die Arbeitslosenzahlen sinken wieder,

das ist ein positives Signal. Doch nach wie

vor sind über 150 000 Menschen in die­

sem Land ohne Stelle. Besonders stark be­

troffen ist die jüngste Generation: Fast je­

deR sechste Arbeitslose ist zwischen 15

und 24 Jahre alt. Innerhalb eines Jahres

hat die Jugendarbeitslosigkeit um fünf

Prozent zugenommen. Und es ist zu er­

warten, dass mit dem Schul­ und Lehren­

de diesen Sommer der Trend weiter nach

oben zeigt. Der Grund ist klar: Es fehlt an

Stellen für Schul­ und LehrabgängerIn­

nen, an Ausbildungsplätzen und Lehrstel­

len. Das kann sich die Schweiz und ihre

Wirtschaft auf die Dauer nicht leisten.

Handlungsbedarf wird negiertSeit geraumer Zeit fordert die SP sowohl

den Bundesrat als auch das Parlament auf,

die Situation ernstzunehmen und mit ge­

eigneten Massnahmen zu bekämpfen. Mit

grosser Sorge nehmen wir zur Kenntnis,

dass unsere Vorschläge abgelehnt, die Si­

tuation auf dem Arbeitsmarkt unterschätzt

und der Handlungsbedarf negiert werden.

Es besteht aber sehr wohl Handlungs­

bedarf, wenn weit mehr als 20 000 Ju­

gendliche ohne berufliche Perspektive da­

stehen. Die Politik muss diese Probleme

angehen und gemeinsam mit der Wirt­

schaft nach Lösungen suchen. Denn der

Übergang von der Schule in die Lehre ist

oft prägend für das ganze Leben.

Wir fordern eine Lehrstellenoffensive

mit mehr Investitionen und neue Ansätze.

Potenzielle Lehrbetriebe müssen darüber

informiert werden, dass sich Lehrstellen

für einen Betrieb auszahlen. Mehr noch:

Wird heute der Berufsnachwuchs ver­

nachlässigt, sterben ganze Branchen aus.

Internationale Firmen und öffentliche Hand fordern

Ein Potenzial für neue Lehrstellen liegt

bei den internationalen Firmen und Be­

trieben mit ausländischer Führung. Bund

und Kantone müssen vermehrt Massnah­

men treffen, um deren Führungskräfte

über unser duales System zu informieren.

So können neue Lehrstellen entstehen –

gerade auch in zukunftsträchtigen Bran­

chen.

Ausserdem ist die öffentliche Hand ge­

fordert. Die Verwaltung muss ihren Anteil

an Ausbildungsplätzen insbesondere für

schulisch schwache Jugendliche ausbau­

en. Die Vorgabe, wonach auf hundert An­

gestellte fünf Lernende ausgebildet wer­

den sollen, hat der Bund bis jetzt nicht

eingehalten. Dies soll in den nächsten

Jahren erreicht werden.

Es braucht zudem Massnahmen, um

die prekäre Lehrstellensituation für

schwächere SchülerInnen zu verbessern:

In Basislehrjahren soll der Stoff eines Jah­

res auf zwei Jahre ausgedehnt werden. So

können Jugendliche Defizite aufarbeiten

und Praxis gewinnen. Die Berufslehre mit

Attest soll ausgebaut und dabei nicht mit

zu hohen Ansprüchen überladen werden.

Ausserdem ist die Einführung einer Attest­

lehre «light» zu prüfen, damit auch Ju­

gendliche mit schulischen Schwierigkei­

ten den Einstieg ins Erwerbsleben finden.

Die Schweiz kann und darf es sich

nicht leisten, qualifizierte und motivierte

Jugendliche zu Tausenden auf die Strasse

zu stellen. Für mich ist klar: Diese jungen

Menschen verdienen eine Perspektive. Sie

brauchen Berufserfahrung und einen Ar­

beitsmarkt, der ihnen die Chance dazu

gibt.

Eine Lehrstellenoffensive für die SchweizEs braucht mehr Lehrstellen und Ausbildungsplätze für schwächere SchülerInnen, damit alle Jugendlichen eine Per spektive erhalten. Text: Christian Levrat

CHRISTIAN LEvRATNationalrat FR, Präsident SP Schweiz

StA

nD

PU

nK

t

Page 8: Solidarität 3/2010

8

Ausstellung rund um den Zwerg

Im Rahmen des Motivationssemesters (Semo) hat das SAH Genf eine Aus­stellung mit Kunstwerken von erwerbs­losen Jugendlichen lanciert.Das Ziel des Projekts «Nainvisible» (sichtbarer Zwerg) war, mit Jugendli-chen und LehrerInnen des Semo Kunstwerke für eine öffentliche Ausstellung zu schaffen. Der rote Faden des Projekts war die Hinterfragung des Gartenzwergs. Die Jugendlichen konnten sich frei mit der Persönlichkeit des Zwergs auseinandersetzen und haben ihm eine ganz neue Rolle verliehen: Normalerweise eher mit Märchen und Legenden assoziiert, wurde er multikulturell und modern. Die künstlerischen Kreationen der Jugendlichen (Gemälde, Skulpturen etc.) wurden vom 4. bis 13. Juni in Carouge gezeigt. Mehr als 1000 Personen haben die Ausstellung besucht.

9. Lauf gegen Rassismus in Zürich

Am 12. September findet in der Zürcher Bäckeranlage zum neunten Mal der traditionelle SponsorInnenlauf gegen Rassismus statt. Organisiert wird er, wie jedes Jahr, vom Zürcher Gewerkschaftsbund und dem SAH Zürich. Ein wichtiger Schwerpunkt ist auch dieses Mal die Unterstützung der Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich, die seit nunmehr fünf Jahren in der Beratung von MigrantInnen ohne gültige Aufenthaltsbewilligung elemen-tare Arbeit leistet. Wie schon 2008 die Beratungsstelle Impuls-Treffpunkt, wird auch dieses Jahr ein Projekt des SAH Zürich mit einem Teil der SponsorInnen-gelder unterstützt: die im Bereich Migrations- und Integrationsrecht tätige Beratungsstelle MIRSAH. Deren Arbeit geht vom Grundsatz aus, dass Integrati-on nur möglich ist, wenn MigrantInnen nicht bloss auf ihre Pflichten aufmerk-sam gemacht, sondern auch bei der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützt werden. Als drittes Projekt schliesslich wird ein in der Region Zürich tätiges Solidaritätsnetzwerk für und von AfrikanerInnen mit HIV mitfinanziert.Neben mutigen und motivierten LäuferInnen suchen wir auch SponsorIn-nen, die den einen oder die andere LäuferIn oder das Projekt als Ganzes mit einer Spende bedenken möchten.Mehr Informationen und Anmeldung unter: www.laufgegenrassismus.ch

Neues Präsidium des SAH Zentralschweiz

Ende Mai ist Alice Königs­Buol von ihrem Amt als Präsidentin des SAH Zentralschweiz zurückgetreten. Seit das SAH Zentralschweiz vor fünf Jahren ein eigenständiger Verein geworden ist, hat sie es durch eine erfolgreichen Aufbauphase geführt. Unter ihrer Leitung wurde das Angebot kontinuierlich weiterent wickelt und stieg die Zahl der Mitarbeitenden auf über 70 Personen. Ihr Nachfolger ist Beat Däppeler, seit fünf Jahren als Personalchef der Stadt Luzern tätig und ehe maliger Stabschef der städtischen Sozialdirektion. Vor seiner Tät igkeit für die Stadt Luzern hat er im Kanton Aargau als geschäfts leitender Koordi-nator die Regionalen Arbeitsvermitt-lungszentren RAV aufgebaut.

SAH Bern übernimmt FOKUS

Das SAH Bern übernimmt das Programm FOKUS und erweitert damit sein Angebot für die berufliche Bildung und Integration im Migrationsbereich. Bis anhin wurde FOKUS von der integrationBE AG getragen, einem Zusammen-schluss der Hilfswerke Caritas Bern, HEKS Regionalstelle Bern, SAH Bern und SRK Kanton Bern für die Integration der Flüchtlinge im Kanton Bern. Per 1. August 2010 hat das SAH Bern die alleinige Trägerschaft übernommen. FOKUS bietet vorläufig Aufgenommenen und Flüchtlingen im Kanton Bern Bildungskurse und Unterstützung bei der Integration in den Arbeitsmarkt. Die Teilnehmenden können Fachkurse für qualifizierte Hilfsarbeit, Gastgewerbe, Reinigung und Hausdienst sowie Pflege besuchen. Das Programm ist eine ideale Ergänzung des SAH-Programms co-opera.

no

tiZ

En

Page 9: Solidarität 3/2010

9

Green Jobs müssen menschenwürdig seinDas SAH unterstützt die Cleantech-Initiative der SP. Zusätzlich braucht es Massnahmen, um die Auswirkungen des Klimawandels auf die Beschäftigungslage in Entwick- lungsländern aufzufangen. Text: Cyrill Rogger, Foto: SAH

Während in der Schweiz hier und dort

wieder Zweifel an der Klimaerwärmung

zu hören sind, kämpfen in Entwicklungs­

ländern viele Menschen um ihre Existenz,

weil sie von klimabedingten Katastrophen

betroffen sind. So zum Beispiel in Burki­

na Faso, Moçambique oder El Salvador,

wo das SAH in jüngster Zeit mehrere Not­

hilfeprojekte für Opfer von Überschwem­

mungen und Wirbelstürmen organisiert

hat. Der von den Industrienationen verur­

sachte Klimawandel hat in diesen Län­

dern schon viele Verletzte und Tote gefor­

dert und dazu geführt, dass unzählige

Kleinbäuerinnen und ­bauern ihre Exis­

tenzgrundlage verloren haben.

Seit sich die klimabedingten Katastro­

phen häufen, setzt die humanitäre Hilfe,

auch jene des SAH, vermehrt auf Projekte,

die die Bevölkerung auf Überschwem­

mungen, Wirbelstürme und Dürre vorbe­

reiten sollen, um deren Folgen abzu­

schwächen. Die jährlichen Ausgaben der

EU für solche Projekte sind in den letzten

zehn Jahren von acht auf 33 Millionen

Euro gestiegen. Angesichts der jährlichen

160 Milliarden Dollar, die in den Entwick­

lungsländern für Massnahmen zur Anpas­

sung an den Klimawandel benötigt wer­

den, müssen die VerursacherInnen dieses

Phänomens jedoch dringend weitere Gel­

der zur Verfügung stellen. Auch die

Schweiz muss sich namhaft an den Kosten

dieser Anpassungsmassnahmen beteili­

gen – und zwar zusätzlich zur regulären

Entwicklungshilfe.

100 000 Green Jobs für die Schweiz Die Sozialdemokratische Partei der

Schweiz hat am 22. März die Cleantech­

Initiative lanciert (siehe Beilage). Diese

möchte Bund und Kantone verpflichten,

erneuerbare Energien, Energieeffizienz

und die damit verbundenen Technologien

zu fördern und so in der Schweiz 100 000

neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das SAH

unterstützt die Kampagne, denn die Be­

kämpfung der Ursachen des Klimawan­

dels ist wohl eine der grössten globalen

Herausforderungen der kommenden De­

kaden. Die Schweiz muss die Emission

von Treibhausgasen entscheidend redu­

zieren – und es ist sinnvoll, dabei wirt­

schaftliche Potenziale auszuschöpfen.

Grün und fairAuch die Internationale Arbeitsorgani­

sation (ILO) sieht ein grosses Potential für

neue «grüne» Arbeitsplätze. Die Green­

Jobs­Initiative* schätzt, dass im Zug des

Wechsels von fossilen zu erneuerbaren

Energien in den kommenden 20 Jahren

weltweit rund 20 Millionen zusätzliche

Jobs geschaffen werden, viele davon in

Entwicklungsländern. Bereits im Rahmen

des Handels mit Emissionszertifikaten

(Clean Development Mechanism, CDM),

wie er im Kyoto­Protokoll vorgegeben ist,

sollten in Entwicklungsländern grüne

Jobs geschaffen werden. Leider stand bei

diesen Projekten die möglichst kosten­

günstige Generierung von Emissionszerti­

fikaten im Vordergrund, und die Arbeits­

rechte wurden in vielen Fällen missachtet.

Deshalb setzt sich das SAH dafür ein, dass

die ILO­Kernarbeitsnormen in allen CDM­

Projekten und bei künftigen Green Jobs

eingehalten werden.

* Gemeinsame Initiative der Internationalen Arbeits­organisation (ILO), des UNO­Umweltprogramms (UNEP), der Internationalen Arbeitgeberorganisation (IOE) und des Internationalen Gewerkschafts­ bundes (ITUC).

BewohnerInnen von Los Maranitos in El Salvador lernen, das Wasser auf Trinkbarkeit zu testen. in

tE

rn

At

ion

Al

Page 10: Solidarität 3/2010

10P

inG

Po

nG

SAH-Bimaru

Auswertung Barometer

Spielregeln

Die nummer am Ende jeder Spalte

oder Zeile sagt ihnen, wie viele

Felder durch Schiffe besetzt sind.

Auf den mit Wasser ( ) belegten

Feldern, liegen keine Schiffe.

Schiffe dürfen sich nicht berühren.

Das heisst, jedes Schiff muss voll-

ständig von Wasser umgeben sein.

Die Schiffe liegen waagrecht oder

senkrecht. Das lösungswort ergibt

sich waagrecht fort laufend aus den

Feldern, die Sie mit Schiffen belegt

haben.

lösungswort:

1

5

1

1

4

1

0

1

3

3

5 0 3 2 0 1 1 2 3 3

B

l

t

E

S

F

o

Ü

B

C

H

E

r

t

E

M

o

i

r

A

Ä

U

l

i

E

n

r

E

o

l

A

X

l

l

n

C

A

J

K

E

n

r

D

r

t

A

l

Q

i

S

A

t

o

Z

E

r

l

U

S

E

V

F

r

A

B

D

M

A

t

H

r

A

n

E

S

U

E

l

A

r

i

n

E

P

A

K

H

U

S

F

Z

n

r

G

t

r

E

Preise

1. Preis: Etcetera-Gutschein für Arbeit über

100 Franken (= 3 Std.)

2. Preis: Etcetera-Gutschein für Arbeit über

70 Franken (= 2 Std.)

Die Preise werden freundlicherweise vom

Etcetera des SAH Zürich gestiftet.

Mit den Gutscheinen kann die Arbeit von

Etcetera-Angestellten bezahlt werden.

Einsendeschluss ist der 4. Oktober 2010. Die namen der Gewinnerinnen werden in der Solidarität 4/2010 ver-öffentlicht. Über den Wettbewerb wird keine Korrespon-denz geführt. Der rechtsweg ist ausgeschlossen. Von der teilnahme ausgeschlossen sind Mitarbeitende des SAH und der SAH-regionalvereine.

Das lösungswort des rätsels in Solidarität 2/10 lautete «Faire WM». Die Gewinnerin ist ausgelost: Marie-thérè-se leuzinger aus Petit-lancy hat eine Flasche palästi-nensisches olivenöl aus dem Projekt «Qualität plus» des SAH gewonnen. Wir danken allen Mitspielerinnen für ihre teilnahme.

ja 97,5 %nein 1,0 %keine Antwort 1,5 %

ja 40,4 %nein 39,3 %ja & nein 6,1 %keine Antwort 14,3 %

Sollte sich die Fifa aktiv gegen Ausbeutung und für die Einhaltung der Menschenrechte bei der Fussball­WM einsetzen?

Ist es sinnvoll, sportliche Grossanlässe wie die Fussball­WM in Entwicklungs­ und Schwellenländern durchzuführen?

196 leute haben beim letzten Solidaritäts-Barometer mitgemacht, 149 aus der Deutschschweiz und 47 aus der romandie.

Hier eine Auswertung der Antworten:

ihr Ja zu sportlichen Grossanlässen in Entwicklungsländern begründet ein Viertel der Antwortenden damit, dass die länder so eine Plattform erhalten, um über ihre Situation, ihre Kultur und Missstände zu informieren und zum Abbau von Vorurteilen beizutragen. Viele sind ausserdem der Meinung, dass die investitionen rund um die Austragung einer WM Arbeitsplätze schaffen und das Potenzial haben, infrastruktur und lebens bedingungen zu verbessern. Sie weisen auf das recht der Entwicklungs- und Schwellenländer hin, einen grossen Event auszurichten und nicht abseits zu stehen. Einige knüpfen ihre Befürwortung explizit an faire Bedingungen für die Arbeiterinnen oder daran, dass die WM tatsächlich die Entwicklung fördert und die lokale Bevölkerung davon profitiert. Die ablehnenden Antworten werden damit begründet, dass einzig die Fifa und die reichen von der WM profitierten und für die Bevölkerung nichts dabei rausschaue. Die hohen Ausgaben würden das Staatsdefizit vergrössern und zu Kürzungen des Budgets für Soziales führen. Andere sind der Meinung, dass die investitionen für die WM einzig zu Stadionruinen führten. Besser wäre es, in eine nachhaltige Entwicklung zu investieren. Erwähnt wird ausserdem die Korruption und dass sich im Vorfeld solcher Grossveranstaltungen die Menschenrechtslage erfahrungsgemäss verschlechtere.

Kommentar von Marco Kistler, SAH­KampagnenstelleSollen sportliche Grossanlässe in Entwicklungs- und Schwellenländern durchgeführt werden? Eine Frage, die die Geister scheidet – zu recht. Die eigentliche Frage ist eben nicht, ob, sondern wie Anlässe wie die Fussball-WM durchgeführt werden. Für das SAH ist klar, dass sie so organisiert werden könnten, dass die Bevölkerung tatsächlich davon profitiert. Man müsste dies aber wollen und die soziale Verantwortung höher gewichten als den Profit. Genau das tut die Fifa jedoch nicht. Deshalb setzen wir uns nun dafür ein, dass in Brasilien bereits im Vorfeld dafür gesorgt wird, dass die Vorbereitungs arbeiten für die WM 2014 unter fairen Bedingungen ausgeführt werden.

Schicken Sie das lösungswort ans SAH mit dem beiliegenden vorfrankierten Antwort talon,

einer Postkarte oder per E-Mail an [email protected], Betreff: «rätsel». Jede richtige lösung

nimmt an der Verlosung teil.

Page 11: Solidarität 3/2010

11

int

Er

nA

tio

nA

l

Im Mai haben die südafrikanischen Gewerkschaften die Kampagne für eine faire Fussball-WM an Brasilien übergeben. Text und Fotos: Joachim Merz

Beim Anpfiff der Fussball­WM in Südafrika

hatten die südafrikanischen Baugewerk­

schaften ihren Match bereits hinter sich. Er

dauerte nicht 90 Minuten und eine Halbzeit­

pause lang, sondern über drei Jahre, ohne

Pause. Insgesamt 26 Mal streikten die Bau­

arbeiterInnen auf den WM­Baustellen für

höhere Löhne, für Transportentschädigun­

gen, gegen Lohndumping von Subunter­

nehmen, für bessere Arbeitssicherheit und

das Recht der Gewerkschaften auf Zutritt

zu den Stadionbaustellen.

Die Kampagne «Fair Games – Fair

Play», die vom SAH und von der Unia un­

terstützt wurde, hat über 25 000 neue Ge­

werkschaftsmitglieder gewonnen, die

Mindestlöhne im Bauhauptgewerbe ange­

hoben, Lohndrückerei aufgedeckt und

das System der Vertrauensleute auf dem

Bau gestärkt.

Die Fifa muss handelnAm 22. Mai haben die südafrikani­

schen Gewerkschaften in Johannesburg

die Kampagne symbolisch an die brasilia­

nischen KollegInnen weitergegeben, denn

dort findet in vier Jahren die nächste

Fussball­WM statt. Rund 250 Bauarbeite­

rInnen waren gekommen, alle in gelb­

grünen T­Shirts mit dem Aufdruck «From

South Africa to Brazil», einige mit den be­

rühmt­berüchtigten Vuvuzelas. Eine Men­

schenkette auf dem Spielfeld drückte die

Gewerkschaftssolidarität aus, Diskie Dance

und Brass­Band sorgten für Stimmung.

SAH­Präsident Hans­Jürg Fehr forderte

in seiner Rede die Fifa zum Handeln auf.

Im Vorfeld der WM 2014 in Brasilien müs­

se die Fifa besser mit den Gewerkschaften

zusammenarbeiten als in Südafrika. Sie

solle in einen sofortigen Dialog mit den

gastgebenden Städten und den Gewerk­

schaften in Brasilien treten, um bereits im

Ausschreibungsverfahren für die anste­

henden Stadion­ und Infrastrukturbauten

arbeitsrechtliche und soziale Zuschlags­

kriterien einzubeziehen. In den Verträgen

mit den Bauunternehmen müssten diese

Kriterien enthalten sein. Die Fifa müsse

die Verträge mitunterzeichnen und die

Gewerkschaften von Anfang an in Stadio­

ninspektionen einbeziehen.

Unter dem Druck der Streiks in Süd­

afrika hatte die Fifa erste Konzessionen

gemacht, die sie allerdings nicht immer

einhielt. Will sie beim Anpfiff in Brasilien

nicht die rote Karte gezeigt bekommen,

dann muss sie mehr tun.

13 715 gelbe Karten für Sepp Blatter Die Kampagne gegen Ausbeutung an der Fussball­WM war ein voller Erfolg. 13 715 Menschen haben die Petition des SAH unterzeichnet und damit die Forderung nach einem echten Engagement der Fifa gegen Ausbeutung rund um die Fussball-WM un-terstützt. Die Petition wurde am 8. Juni 2010 in Zürich der Fifa übergeben.Mit einem riesenfussball von 4,5 Metern Durchmesser tourte das SAH während zwei Monaten durch 20 Schweizer Städte. Die reaktionen waren fast durchwegs positiv, was sich in der grossen Anzahl Unterschriften zeigte, die in kurzer Zeit gesammelt wurden. Viele Menschen haben die Petition auch auf der Kampagnenwebseite www.anstoss-suedafrika.ch unterschrieben. Die Facebook-Gruppe zur Unterstützung der Kampagne gewann allein in der Deutschschweiz über 6000 Mitglieder.

In vier Jahren in Brasilien

Übergabe der Petition an die Fifa in Zürich (l.) undWeitergabe der Kampagne an die brasilianischen Gewerkschaften in Johannesburg (r.)

Page 12: Solidarität 3/2010

12in

tE

rn

At

ion

Al

«Ich bin selber eine Waise. Und weil ich

erlebt habe, wie schwierig es ist, so aufzu­

wachsen, helfe ich jenen Kindern und al­

ten Menschen, die leiden müssen», erklärt

Lebohang Molafe, die in Soweto als Vo­

lunteer (Freiwillige) arbeitet. So werden

in Südafrika jene Menschen genannt, die

die Arbeit von Sozialarbeiterinnen, Kran­

kenpflegern und Polizistinnen überneh­

men, dafür jedoch nur den Bruchteil eines

regulären Lohns bekommen. Jeden Tag

besucht die 40­Jährige Grossmütter, El­

tern und Kinder, deren Leben von Armut,

Hunger und Aids gezeichnet ist.

Korruption und GewaltWir besuchen eine Grossmutter, die für

ihre EnkelInnen sorgt. In Soweto ist das

normal. Hier sind 40 Prozent der Erwach­

senen HIV­positiv. Die Wahrscheinlichkeit,

dass ein Kind seine Eltern verliert, ist

hoch. Die verzweifelte Grossmutter legt

Lebohang Molafe Dokumente vor, aus de­

nen hervorgeht, dass das Innenministeri­

um ihr keine Kinderzulagen zahlen will,

weil der Totenschein ihrer Tochter – der

Mutter der drei Kinder – ein falsches Da­

tum enthält. Und obwohl dies offensicht­

lich der Fehler des Ministeriums ist, soll

die Grossmutter nun für 80 Rand (12 Fran­

ken) ein neues Dokument beschaffen.

Doch die Frau hat kein Geld, sondern

bräuchte im Gegenteil dringend welches,

damit ihre Grosskinder etwas zu essen be­

kämen. Dieser Fall sei typisch für Südafri­

ka, sagt Lebohang Molafe. Die Bürokratie

sei aufgebläht, Zuständigkeiten nicht klar

geregelt und die Korruption ein grosses

Problem.

In Südafrika ist der Reichtum sehr un­

gleich verteilt. Im Bankenviertel von Jo­

hannesburg dominieren teure Autos und

schick gekleidete Damen und Herren das

Strassenbild, im Umland sind es Town­

ships wie Soweto oder Tembisa: Hütten­

siedlungen, die zu Zeiten der Apartheid

von der Regierung errichtet worden sind

und heute mehreren Millionen Menschen

als Heimat dienen. Soweto ist ein gefähr­

liches Pflaster. Arbeitslosigkeit und Ge­

walt grassieren: Die Mehrheit der über 40

Prozent Arbeitslosen ist zwischen 18 und

30 Jahre alt, alle neun Sekunden wird eine

Frau oder ein Mädchen vergewaltigt.

Grundversorgung dank FreiwilligenAuf ihrem Weg vom Haus der Gross­

mutter zu jenem einer schwerkranken

Mutter von zwei Kindern geht Lebohang

Molafe durch menschenhohes Gras. Ein

idyllisches Bild, möchte man meinen.

Doch die Idylle täuscht. Das Gras bietet

ein ideales Versteck für Vergewaltiger, die

hier Frauen und Kindern auch tagsüber

auflauern. Doch Lebohang Molafes Ar ­

beits weg führt hier durch. Tag für Tag.

Schätzungen zufolge arbeiten rund

100 000 Menschen landesweit als freiwilli­

ge Sozialarbeiterinnen und Krankenpfle­

«Wir wissen, was vor Ort wirklich geschieht»In den Townships rund um Johannesburg kämpfen freiwillige Sozialarbeiter und Krankenpflegerinnen um ihre Existenz und das Leben ihrer PatientInnen. Text und Fotos: Christian Walther

Page 13: Solidarität 3/2010

ger, mehrheitlich Frauen. Die Regierung

entschädigt sie mit 1000 Rand (150 Fran­

ken), ein schlechter Lohn, der zudem

manchmal monatelang nicht ausbezahlt

wird. «Ohne uns würde das Gesundheits­

system zusammenbrechen», meint Kolle­

gin Lindiwe Dzingirai, «wir sind diejeni­

gen, die die Leute besuchen und wissen,

was vor Ort wirklich geschieht.» In der Tat

scheint es, als ob das Gesundheitssystem

nur deswegen notdürftig funktioniert,

weil Leute wie Lebohang Molafe die

Grundversorgung übernehmen. Aber

auch ihnen sind oft die Hände gebunden:

«Wir können den Leuten weder Essen

noch Medikamente verteilen, weil wir sel­

ber fast kein Geld haben», sagt die Mutter

von zwei Kindern. «Und selbst wenn ich

Medikamente bekomme, kann ich sie den

PatientInnen oft nicht verabreichen, weil

sie nichts zu essen haben. Ohne Nahrung

schlagen die Medikamente nicht an.»

Trotzdem macht Lebohang Molafe ihre

Ko

lU

Mn

E

Swissness

Ein neues Zauberwort animiert die ent -

wick lungspolitische Debatte: Swissness.

Was damit gemeint ist, umschreibt

DEZA-Direktor Martin Dahinden so: «Was

wir tun und erreichen, soll sichtbar sein

– für die Not leidenden Menschen wie für

die Bürgerinnen und Bürger in der

Schweiz.» Wir sollen also in der Entwick-

lungszusammenarbeit die Schweizer

Flagge hissen und die von uns geleistete

Arbeit und erzielte Wirkung national

einfärben.

Diese Fokussierung auf Swissness ist zu

hinterfragen. Was ist denn nun das

zentrale Ziel von Entwicklungszusammen-

arbeit – die Armut bekämpfen oder die

Flagge zeigen? Unsere Stärken demon st-

rieren oder die Schwächen unserer

Partnerländer beseitigen? Geht es um die

Interessen der Schweiz oder um diejenigen

der Entwicklungsländer? Bedeutet

Swissness den Rückzug aus multilateralen

Entwicklungspartnerschaften, weil deren

Wesen eben gerade darin besteht, jenseits

nationaler Grenzziehungen zusammenzu-

arbeiten und zusammen aufzutreten?

Wir wollen uns der Diskussion um

Swissness nicht verweigern. Aber eines ist

klar: Das Ziel der schweizerischen

Entwicklungszusammenarbeit ist die

Reduktion von Armut, nicht der Fahnen-

aufzug. Das Mittel darf nicht zum Zweck

werden. Auch wir vom SAH wollen unser

Engagement nicht verstecken und unsere

Swissness nicht verleugnen; sie gehört

dazu, aber sie gehört nicht ins Zentrum.

Ins Zentrum gehören die miserablen

Lebensbedingungen von mehr als einer

Milliarde Menschen und ihr Ziel, diese zu

verbessern.

HANS-JÜRG FEHRSAH-Präsident und SP-Nationalrat

13

Ihre Spende wirktDie Freiwilligen organisieren sich, um die Probleme zu lösen, mit denen sie bei ihrer Arbeit konfrontiert sind. Dazu gehören der Mangel an Sicherheit und niedrige löhne. Khanya College, die Partnerorganisation des SAH in Süd-afrika, unterstützt sie dabei, Druck auf die Behörden auszuüben, damit diese ihre Verantwortung für die Sozialarbeit wahrnehmen. Ausserdem bietet Khan-ya College den Freiwilligen Weiterbil-dung. Mit ihrer Spende von 50 Franken können fünf Sozialarbeiterinnen ein zweitägiges Seminar besuchen.

Sehen Sie den Kurzfilm zu lebohang Molafes Arbeit: www.sah.ch/soweto

Arbeit gerne. Weil sie weiss, dass sie ge­

braucht und geschätzt wird. Und weil sie

die Menschen liebt.

Lebohang Molafe besucht eine Grossmutter in Soweto, die für Ihre Grosskinder sorgt.

Page 14: Solidarität 3/2010

Mitsprache in der Gemeindepolitik in El Salvador

Vor zwei Jahren hat das SAH zusammen mit seinen Partnerorganisationen im Departement Chalatenango eine Diplomausbildung zur partizipativen Erarbeitung von Entwicklungsplänen auf Gemeindeebene gestartet. Die Diplomarbeit war gleichzeitig die effektive Planung, die 2009 in acht Gemeinden umgesetzt wurde. Die Bevölkerung war Teil dieser Diskus-sionen und bestimmte die Prioritäten mit. Ein Schwerpunkt war und ist die Linderung der Auswirkungen von wiederkehrenden Umweltkatastrophen, in diesem Gebiet vor allem Erdrutsche. Im August startet der dritte Durchgang des Diplomkurses, ergänzt um das Element Gleichstellungspolitik. In drei Gemeinden von Chalatenango ist in den vergangenen Jahren bereits eine Gleichstellungspolitik eingeführt worden. Dabei zeigte sich, dass die Gemeinde ein Gleichstellungsbüro einrichten und ein Budget für konkrete Projekte zur Verfügung stellen muss. In der Gemeinde Las Vueltas hat die Bürgermeisterin aufgrund dieser Erfah- rung jährlich 10 Prozent des Budgets für Frauenprojekte und 15 Prozent für Jugendprojekte beantragt. Der Gemein-derat hat dies Anfang 2010 bewilligt.

Historischer Durchbruch in der ILO

An der diesjährigen ILO­Konferenz in Genf haben sich VertreterInnen der Arbeitge­ber, Gewerkschaften und Staaten nach zähem Ringen auf einen Text für eine neue Konvention und Empfehlungen zur Situation von Hausangestellten geeinigt. Dieser wurde am 16. Juni von der Generalversammlung angenommen. Das SAH war Mitglied der schweizerischen Arbeitnehmerdelegation. Ziel der Konvention ist es, dass Hausangestellte die gleichen Rechtsansprüche haben wie andere Arbeitneh-merInnen: zum Beispiel einen Arbeitsvertrag oder geregelte Arbeitszeiten. An der ILO-Konferenz 2011 wird die Konvention abschliessend beraten und verabschiedet. Millionen von Frauen arbeiten weltweit als Hausangestellte. Sie sind der unsichtba-re Motor der Wirtschaft, denn ohne sie könnten ihre ArbeitgeberInnen nicht arbeiten gehen. Dennoch ist die Verletzung ihrer Arbeitsrechte weit verbreitet. Die neue ILO-Konvention soll dazu beitragen, diese Missstände zu überwinden.

14n

ot

iZE

n

Wettbewerb für Bauernvereine in Kosovo

In einem SAH­Wettbewerb für Bauern­vereine in Westkosovo hat am 20. März eine lokale Jury aus 20 eingereichten Projekten zehn Ideen ausgewählt, die – gemessen an sozialen und wirtschaft­lichen Kriterien – am innovativsten sind. In den vergangenen Wochen wurde den Vereinen das Know-how vermittelt, um aus den Ideen Businesspläne zu erar-beiten. Die drei bis anhin am besten bewerteten Ideen stammen von Frauenvereinen aus Rahovec, Gjakova und Prizren. Zwei Vereine sind in der Milchwirtschaft und einer im biologi-schen Anbau von Paprika tätig. Die meisten Mitglieder sind Kriegswitwen. Im Oktober werden die Businesspläne von einer lokalen Jury bewertet. Die drei besten Pläne prämiert das SAH mit einem Beitrag für die Umsetzung.

Abfallentsorgung in den Flüchtlingscamps in Sri Lanka

Die Rückkehr der 280 000 intern Vertriebenen, die in den Flüchtlingsla­gern im Norden Sri Lankas lebten, verläuft langsam. Unter anderem wegen der vielen Landminen in ihren Herkunftsgebieten. Im März 2010 befanden sich immer noch knapp 90 000 Flüchtlinge in den Lagern. Deshalb hat das SAH sein 2009 lanciertes Abfallent-sorgungsprojekt bis Ende September 2010 verlängert. Die Abfallentsorgung hat die hygienischen Bedingungen massgeblich verbessert und zu einer namhaften Reduktion von Krankheiten beigetragen. So konnten die Durch-fallserkrankungen von 1101 Fällen pro 100 000 Menschen Mitte Juni 2009 auf 98 Anfang Dezember gesenkt werden. Das Projekt hat auch zum Umweltbe-wusstsein der Menschen beigetragen.

Page 15: Solidarität 3/2010

15

SP

En

DE

n

Vermächtnis für BenachteiligteVermächtnisse und Trauerspenden sind eine wichtige Unterstützung für die Arbeit des SAH. Text: Christof Hotz, Foto: Joachim Merz

Im vergangenen Jahr haben zehn Spende­

rInnen das SAH in ihrem Testament be­

rücksichtigt. Die einzelnen Beträge be­

wegten sich zwischen 400 und über

100 000 Franken. Es ist für uns jeweils sehr

berührend, wenn wir erfahren, dass je­

mand in seinem oder ihrem Testament an

das SAH gedacht hat. Oft sind es Spende­

rinnen und Spender, die uns bereits zuvor

treu unterstützt haben und uns auf diesem

Weg ihre letzte Spende zukommen lassen

– im Vertrauen darauf, dass wir das Geld

in ihrem Sinn und zum Wohl benachteilig­

ter Menschen in Ländern des Südens oder

Südosteuropas einsetzen werden.

Das SAH ist sehr froh über diese

Zuwendungen, helfen sie doch mit, die

Qualität und den Umfang unserer Projekt­

arbeit im gewohnten Rahmen zu erhalten

oder sogar auszubauen, auch wenn die

öffentliche Hand aus Spargründen ihre

Beiträge einfriert oder kürzt.

Wir bedauern sehr, dass wir uns bei die­

sen grosszügigen und weitsichtigen Men­

schen nicht mehr persönlich bedanken

und ihnen zeigen können, was ihre Hilfe

bewirkt.

Über den Tod hinaus wirkenNeben den Vermächtnissen in der Höhe

von 240 000 Franken erhielt das SAH im

vergangenen Jahr rund 60 000 Franken

aus Trauerspenden, insgesamt also rund

300 000 Franken, die uns von Menschen

ganz bewusst über ihren Tod hinaus ge­

widmet wurden.

Wenn Sie uns mitteilen, dass Sie das

SAH begünstigen wollen, können wir –

wenn Sie es wünschen – Kontakt aufneh­

men und mit Ihnen besprechen, wo Sie

Ihr Vermächtnis dereinst einsetzen möch­

ten. Wir freuen uns, mit Ihnen ins Ge­

spräch zu kommen und uns bei Ihnen be­

danken zu können.

Weitere Unter - stüt zungsformen

Regelmässige SpendenMit einem lastschrift-Auftrag bei der Post oder ihrer Bank können Sie das SAH regelmässig unterstützen, ohne dass ihnen oder uns Kosten entstehen.Nachlass­Spenden in unseren Merkblättern finden Sie wertvolle tipps zum Erbrecht und zur testamentsverfassung. Siehe auch www.sah.ch/testamentSAH­Patenschaft Übernehmen Sie eine SAH-Patenschaft und engagieren Sie sich gezielt für ge-rechte Arbeitsbedingungen weltweit.

Bestellen Sie die Unterlagen mit bei-liegendem Antwort-talon. Haben Sie weitere Fragen? Wir sind für Sie da: [email protected] oder tel. 044 444 19 19

Page 16: Solidarität 3/2010

16in

tE

rn

At

ion

Al

Ein unauffälliges Gebäude der Frauen­

organisation Las Mélidas in San Salvador

dient den sechs jungen Frauen der Thea­

tergruppe Amorales (Amoralisches) als

Proberaum. Kaum sind sie eingetreten,

breitet sich eine fröhliche und lebendige

Stimmung aus.

Beim Aufwärmen drücken die jungen

Frauen mit ihrem Körper Gefühle aus, die

sie in ihrem Alltag erleben. Sie treten mit

dem Raum und den Mitspielerinnen in Be­

ziehung. Ihre eigenwilligen Bewegungen

spiegeln den inneren Prozess, Schuld­

gefühle in Wut zu verwandeln, Zweifel in

Gewissheit.

Erzwungene FreudePamela Jordan leitet die Gruppe seit

zwei Monaten. Die Theaterfrau aus Anda­

lusien erarbeitet das Stück gemeinsam mit

den jungen Frauen, alle um die 20. In

Improvisa tionsübungen haben sie den ro­

ten Faden herauskristallisiert und entwi­

ckeln den Stoff anhand ihrer eigenen Ge­

schichten weiter. Ausgangpunkt ist eine so

genannte «Babyshower». Eine solche Feier

organisieren in El Salvador Frauen für

Frauen, die kurz vor der Geburt stehen.

«Alle sind fröhlich und nett und bringen

Geschenke für das Baby im Bauch. Un­

denkbar zu fragen, ob die Frau sich darü­

ber freut», erklärt Abigail Reinosa. «Ihr

Bauch wird gefeiert, auch wenn sie un­

glücklich ist.» Die Mädchen spielen eine

Babyshower und demontieren die künstli­

che Fröhlichkeit durch das Einflechten

von Frauengeschichten. Sie sprengen die

Doppelmoral, und auf der Bühne nimmt

Gestalt an, was junge Frauen bewegt: Ge­

walt in der Familie, die Abwesenheit der

Väter, Neugier auf das Leben und die Se­

xualität, Frauenfreundschaften, sexuelle

Übergriffe. Wie das Stück enden wird, ist

derzeit noch offen.

Kreativer FreiraumIm August werden die Frauen das Stück

öffentlich aufführen, im November neh­

men sie am nationalen Jugendfestival teil.

«Im Theater kann ich Rollen ausprobieren,

Stereotypen aufbrechen und zeigen, was

in unserer Gesellschaft falsch läuft», er­

klärt Meztli Montalvo Matus die Motivati­

on der jungen Frauen, Theater zu machen.

«Ich bin kreativ und lebe mit anderen

Frauen einen Freiraum. Das ist in unserer

machistischen, gewalttätigen Gesellschaft

gar nicht so einfach.»

Die Probe ist vorbei. Zurück bleibt der

starke Eindruck von der Energie und Kre­

ativität der jungen Frauen, von ihrem Mut,

die eigene Geschichte zu zeigen und sich

gemeinsam für gesellschaftliche Verände­

rungen zu engagieren.

Theater als Mittel für soziale VeränderungenTheater ist in diversen Ländern eine wichtige Methode unserer Projektarbeit. Was damit erreicht werden kann, zeigen Eindrücke aus El Salvador und Moçambique.

Die Doppelmoral sprengen Text: Karin de Fries, Fotos: Frederic Meyer (o.), Karin de Fries (u.)

Abigail Reinosa führt Regie (u.), während ihre Geschichte gespielt wird.

Page 17: Solidarität 3/2010

17

Luis Beans und Angel Antonio Mange ste­

hen auf der Freiluft­Bühne in einem Hin­

terhof in Chimoio. Nicht nur heute, son­

dern fast jedes Wochenende. Die beiden

sind Schauspieler der Theatergruppe Ser­

ra Choa, die 1994 nach dem Bürgerkrieg

in Moçambique gegründet wurde. «Da­

mals gab es viele Kinder, die, durch die

Kriegswirren von ihren Familien getrennt,

auf der Strasse lebten», erzählt Grün­

dungsmitglied Beans. «Mit Unterstützung

von Unicef gingen wir aufs Land und

machten Theater. Die BewohnerInnen der

umliegenden Weiler kamen zusammen,

und so konnten wir die Familien der Kin­

der ausfindig machen.»

Heute ist Serra Choa offiziell als Kultur­

vereinigung anerkannt und hat 25 feste

Mitglieder. Alles

Freiwillige, nie­

mand erhält einen

Lohn. Der Krieg ist

Vergangenheit, die

Herausforderungen

der Gegenwart sind

Aids, Gewalt in der Familie, sexuelle Aus­

beutung und die Prävention von Krank­

heiten nach Überschwemmungen.

Traditionen in Frage stellen«Wir spielen nicht nur Theater», erklärt

Angel Antonio Mange. «Nach dem Stück

gibt es eine Diskussion mit den Leuten

über das, was sie gesehen haben.» Kann

denn Theater eine Verhaltensänderung be­

wirken? «Ja», ist Mange überzeugt. «Heute

machen die Menschen eher einen Aids­

Test oder gehen zur nächsten Polizei­

wache und klagen den Vater an, der die

Kinder schlägt. Das Bewusstsein über ihre

Rechte ist gestiegen. Allerdings stellen wir

auch althergebrachte Traditionen in Frage.

Zum Beispiel die Witwenverheiratung mit

dem Ritual des ungeschützten Ge­

schlechtsverkehrs, das Aids verbreitet.

Darauf reagieren die Leute ärgerlich. Wir

mussten auch schon Stücke unterbrechen.

Wenn der Dorfchef, der Hüter der Tradi­

tion, nicht einverstanden ist, können wir

nichts erreichen.» Deshalb geht oft jemand

von Serra Choa vorher ins Dorf, um die

lokalen Traditionen kennen zu lernen,

Tabu themen auszuloten und mit dem

Dorfchef zu sprechen. «Die Aufführungen

finden in der Lokalsprache statt, in Shona,

Ndan oder Sena, denn nur so können sich

alle an der Diskussion beteiligen», meint

Luis Beans.

Neben den Auftritten in ländlichen Ge­

bieten macht Serra Choa auch Bühnen ­

t heater im eigentlichen Sinn und schreibt

eigene Stücke, zum Beispiel über Korrup­

tion. Nach der Aufführung eines Stückes

über Polizeikorruption ist einmal die gan­

ze Truppe verhaftet worden. Der Eintritt

für die Bühne in Chimoio ist frei. «Als

Nächstes wollen wir die Bühne überda­

chen und anständige Toiletten installie­

ren», erzählt Angel. «Wir haben mit unse­

rem Theater noch viel vor.»

Die Theaterarbeit des SAHIn Burkina Faso, das noch von einer mündlichen Kultur geprägt ist, sen-sibilisieren unsere Partnerorganisatio-nen die Bevölkerung mit Forumtheater für themen wie Kinderrechte, Aids, Alphabetisierung von Frauen und De-mokratie. in nicaragua nutzt das SAH die theaterarbeit zur Sensibilisierung für Gewalt gegen Frauen und Kinder. Auch in El Salvador, Bolivien und Mo-çambique (s. Artikel) ist theater ein wichtiges Mittel zur organisierung und Sensibilisierung der Menschen und er-höht die Wirkung der Programmarbeit.

int

Er

nA

tio

nA

l

Heikle Themen angehenText und Foto: Joachim Merz

Luis Beans und Angel Antonio Mange auf der Bühne der Theater-gruppe Serra Choa in einem Hinterhof von Chimoio.

«Wir stellen auch alther gebrachte Traditionen in Frage.»

Page 18: Solidarität 3/2010

18

«Du darfst nicht aufgeben»Freddy Chipana leitet die Theatergruppe Altoteatro, die mit Jugendlichen arbeitet. Er lebt für ein Theater, das viel bewirkt. Text: Katja Schurter, Foto: Altoteatro

Freddy Chipana weiss, was gemeint ist,

wenn Jugendliche von Vernachlässigung,

Armut und Gewalt berichten. In einer ar­

men Familie ohne Vater aufgewachsen,

war seine Kindheit von den Schlägen sei­

ner alkoholabhängigen Mutter begleitet.

«Ich bereue nicht, dass ich das erlebt

habe. Sonst wäre ich nicht, wer ich bin.

Und es gibt mir das Verständnis dafür,

was Jugendliche heute erleben.» Als Fred­

dy Chipana auf der Strasse lebte, erhielt er

in einem Projekt für vernachlässigte Min­

derjährige Unterstützung und kam dort

zum ersten Mal mit Theater in Berührung.

Alle Jugendlichen haben etwas zu erzählen

Heute leitet er die Theatergruppe Alto­

teatro. Die fünf Mitglieder der Gruppe ent­

wickeln die Stücke zusammen mit Jugend­

lichen. «Alle Jugendlichen haben etwas zu

erzählen», meint Freddy Chipana. «Manche

können schrei ben, andere tanzen, die Drit­

ten spielen. Es sind verschiedene Formen

sich auszudrücken, und wir versuchen he­

rauszufinden, welche ihnen entspricht.»

Mit spielerischen Methoden motivieren

die Theaterschaffenden die Jugendlichen

aufzuschreiben, was sie beschäftigt. Diese

berichten von Vernachlässigung, Gewalt in

der Familie, sexueller Ausbeutung, Ar­

beitslosigkeit und Diskriminierung. «Zu­

erst erzählen die Jugendlichen aus ihrem

Leben, in einem zweiten Schritt beginnen

sie, sich auch mit den Problemen in ihrer

Schule und ihrem Wohnviertel auseinan­

derzusetzen», erklärt Freddy Chi pana die

Wirkung der Theaterarbeit. «Sie sollen he­

rausfinden, was ihnen wichtig ist. Wir ge­

ben ihnen den Raum, um Ideen zu entwi­

ckeln.» Dabei geht es nicht da rum, dass

die Jugendlichen als SchauspielerInnen

brillieren, sondern um die Erkenntnisse,

die sie daraus ziehen.

Aktiv werdenFreddy Chipana möchte mit der Thea­

terarbeit erreichen, dass die Jugendlichen

besser verstehen, was in ihrem Umfeld ge­

schieht, und dann aktiv handeln können.

«Mir war schon immer wichtig, über das

Beklagen einer Situation hinauszugehen,

etwas zu tun. Du darfst nicht aufgeben we­

gen deiner negativen Erfahrungen.» Wenn

das Theater SchauspielerInnen und Publi­

kum verändert, ist Freddy Chipana glück­

lich. Das geschieht, indem die Jugendli­

chen in ihren Quartieren zum

Beispiel das Thema Alkoholis­

mus recherchieren und Aussa­

gen von Geschwistern, Verwand­

ten und Bekannten dazu

aufnehmen. «Danach sprechen

wir über die Auswirkungen des

übermässigen Alkoholkonsums.» Im Stück

werden die Resultate von Recherche und

Diskussionen verdichtet. Wenn die Ju­

gendlichen dann erzählen, dass sich die

Kommunikation in der Familie verändert

habe, nachdem die Eltern das Theater ge­

sehen hätten, ist ein erster Schritt getan.

Eine Kunstschule für alleAltoteatro arbeitet häufig in Schulen,

auch dort ist Gewalt ein allgegenwärtiges

Thema. Manchmal ist es schwierig, die Er­

laubnis von SchulleiterInnen und Eltern

zu bekommen, «doch nachdem sie das Re­

sultat gesehen haben, bringen die Eltern

weitere Geschwister und Cousinen in die

Theaterkurse», schmunzelt Freddy Chi­

pana.

Um als Theatergruppe überleben zu

können, sucht Altoteatro eine Balance

zwischen Theatermachen mit und ohne

Gage. «Ich möchte bei den Leuten etwas

bewirken und nicht elitäres bürgerliches

Theater machen. Theater ist für mich eine

Aufgabe, die mir einen Sinn und zu essen

gibt», fasst Chipana seine Motivation zu­

sammen. Als Zukunftsvision schwebt ihm

eine Kunstschule vor, die mit der Bevölke­

rung arbeitet. «Nicht mit den ‹Besten›, son­

dern mit denen, die etwas ausdrücken

möchten. Ich suche dafür einen kostenlo­

sen Ort. Früher oder später werde ich das

erreichen.»

Ein

Bl

iCK

Die Theaterarbeit des SAH in Bolivien

Das SAH unterstützt die Jugendar­beit von Altoteatro und anderen The­atergruppen mit dem Ziel, Diskussi-onen anzuregen und die Partizipation von Jugendlichen in der Gesellschaft zu fördern. neben der kollektiven Ent-wicklung von theaterstücken wird deren Aufführung an möglichst vielen orten gefördert. Auch ein jährliches nationales treffen von Jugendlichen, die theater machen, wird organisiert, damit sie ihre Erfahrungen austau-schen können.

«Die Jugendlichen sollen herausfinden, was ihnen wichtig ist.»

Page 19: Solidarität 3/2010

19

Ein

Bl

iCK

Freddy Chipana macht mit Jugendlichen Theater, damit sie ihre Erfahrungen ausdrücken und für veränderungen einstehen können.

Page 20: Solidarität 3/2010

«Wir geben den Jugendlichen Raum, um Ideen zu entwickeln.» Theaterarbeit motiviert Menschen

in Bolivien und anderswo, sich zu engagieren.

www.sah.ch