solidarität in der krise: ist europa am ende?

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POSITIONEN, BEGRIFFE, DEBATTEN Zusammenfassung: Die Dialektik der europäischen Verfassungsrevolutionen holt die Europäi- sche Union in ihrer größten Krise ein. Die kommt einerseits von außen, ist andererseits durch die faszinierende Entwicklung der Verfassung Europas seit den Anfängen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit verursacht. Von Stufe zu Stufe hat sich mit der Verstetigung des Verfas- sungsregimes die latente Legitimationskrise der Union verschärft. Der konzertierte Angriff der global vernetzten Banken, Konzerne und Hedgefonds auf Europas Peripherie und den Euro hat die Legitimationskrise manifest gemacht. Schlüsselwörter: Europa · Rechtsevolution · Verfassung · Inkrementalismus · Legitimation · Solidarität · Krise Solidarity in crisis. Is this the end of a United Europe? Abstract: The dialectic of the European constitutional revolutions has caught up with the Euro- pean Union which today finds itself in the midst of its greatest crisis. The crisis is due not only to one of the greatest breakdowns in the history of the global economy, but also to the fascinat- ing internal evolution of the European constitution since its beginning, shortly after World War II. Parallel to the growth of constitutional law, latent legitimation problems began to arise and grow cumulatively. However, once the big global banks, corporations and hedge-funds began a concerted attack on the European periphery and the Euro itself, the legitimation crisis manifested itself in full. Keywords: Europe · Constitutional evolution · Incrementalism · Legitimacy · Solidarity · Crisis Leviathan (2011) 39:459–477 DOI 10.1007/s11578-011-0132-z Solidarität in der Krise: Ist Europa am Ende? Hauke Brunkhorst © VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011 Bearbeiteter Text eines Vortrags vor dem Mitteleuropa-Sozialethik-Symposium an der Universität Wien am 28. April 2011. Prof. Dr. H. Brunkhorst () Universität Flensburg, Postfach 2954, 24919 Flensburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

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Positionen, Begriffe, DeBatten

Zusammenfassung: Die Dialektik der europäischen Verfassungsrevolutionen holt die europäi-sche Union in ihrer größten Krise ein. Die kommt einerseits von außen, ist andererseits durch die faszinierende entwicklung der Verfassung europas seit den anfängen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit verursacht. Von stufe zu stufe hat sich mit der Verstetigung des Verfas-sungsregimes die latente Legitimationskrise der Union verschärft. Der konzertierte angriff der global vernetzten Banken, Konzerne und Hedgefonds auf europas Peripherie und den euro hat die Legitimationskrise manifest gemacht.

Schlüsselwörter:  europa · rechtsevolution · Verfassung · inkrementalismus · Legitimation · solidarität · Krise

Solidarity in crisis. Is this the end of a United Europe?

Abstract:  the dialectic of the european constitutional revolutions has caught up with the euro-pean Union which today finds itself in the midst of its greatest crisis. The crisis is due not only to one of the greatest breakdowns in the history of the global economy, but also to the fascinat-ing internal evolution of the european constitution since its beginning, shortly after World War ii. Parallel to the growth of constitutional law, latent legitimation problems began to arise and grow cumulatively. However, once the big global banks, corporations and hedge-funds began a concerted attack on the european periphery and the euro itself, the legitimation crisis manifested itself in full.

Keywords:  europe · Constitutional evolution · incrementalism · Legitimacy · solidarity · Crisis

Leviathan (2011) 39:459–477Doi 10.1007/s11578-011-0132-z

Solidarität in der Krise: Ist Europa am Ende?

Hauke Brunkhorst

© Vs Verlag für sozialwissenschaften 2011

Bearbeiteter text eines Vortrags vor dem Mitteleuropa-sozialethik-symposium an der Universität Wien am 28. april 2011.

Prof. Dr. H. Brunkhorst ()Universität flensburg, Postfach 2954, 24919 flensburg, Deutschlande-Mail: [email protected]

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I

Die europäische Union versteht sich selbst nicht nur als regionales, sondern zugleich als kosmopolitisches Projekt (Beck und grande 2004). Das ist nicht ganz neu und seit längerem nicht nur mit den besten, mit Universalismus und aufklärung, mit Menschen-rechten und Demokratie, sondern auch mit den finstersten Traditionen, den „darker lega-cies“ (Christian Joerges) europas, mit Kreuzzügen und Kolonialismus, imperialismus und großraumprojekten eng verbunden (siehe Joerges und ghaleigh 2003; anghie 2004). am anfang der regionalen Vereinigung europas stand der klerikale Universalstaat des 12. Jahrhunderts mit dem kosmopolitischen Projekt einer Verrechtlichung nicht nur der Kirche, sondern auch der Politik, nicht nur der europäischen, sondern auch der außereuro-päischen erde, nicht nur der diesseitigen, sondern auch der jenseitigen Welt, nicht nur der sterblichen, sondern auch der postmortalen existenz des Menschen. Damals bestand die weltgeschichtliche innovation des kosmopolitischen Kirchenstaats, den Harold Berman im anschluss an Max Weber den ersten modernen rechtsstaat genannt hat (Weber 1964 [1922], S. 432, 480), in der Vorstellung, „daß die Reformierbarkeit und Erlösung der welt-lichen ordnung durch die stetig voranschreitende entwicklung von rechtsinstitutionen und die wiederholte revision der gesetze zu geschehen habe“ (Berman 1991, s. 622).

Damals wurde die alte idee universeller solidarität zum ersten Mal in der geschichte mit der organischen oder besser: organisierten solidarität von recht, administration und sozialer arbeitsteilung verbunden. Die frommen Mönche des 8., 9. und 10. Jahr-hunderts und später die Philosophen und Juristen bildeten eine isolierte teilpopulation, in der nicht nur im tierreich, sondern auch in der Menschenwelt mit neuen formen und ideen herumexperimentiert wurde. Dabei sind die christlichen intellektuellen, angetrie-ben von ungefähr zweihundert Jahren cluniazensischen reformmönchtums des 9., 10. und 11. Jahrhunderts, der fixen Idee verfallen, die „Agape-Netzwerke“ (Charles Taylor) winziger face-to-face communities, in denen die Christen eine inkarnation des göttlichen Liebeskommunismus’ sahen, mit Hilfe des rechts überall in der Welt zu verbreiten, zu verstetigen und zu verbessern. sie begannen damit, sich vom körpernahen Konkretis-mus der inkarnationslehre zu distanzieren, aber nur, um ihn durch eine viel abstraktere Lehre von der inkarnation zu ersetzen, die in der inkarnation göttlicher gerechtigkeit im positiven recht bestehen sollte. Daraus ist dann der durchlegalisierte anstaltsstaat der römischen Universalkirche, das Urbild des modernen staats entstanden – und, als ganz und gar ungeplante nebenfolge, das erste moderne, akademisch professionalisierte und funktional ausdifferenzierte rechtssystem (vgl. Berman 1991; Brundage 1995; tierney 1982; Moore 2001; zur Professionalisierung siehe Brundage 1994; fried 1974). aus der fixen Idee waren die ersten großen Teilstücke des Baus einer neuen Gesellschaftsforma-tion geworden. Der kosmopolitische Universalstaat, nicht – wie es die protestantische Legende will – der nationalstaat, hat die Weichen für die evolution der modernen gesell-schaft gestellt.

Diese Vorstellung einer expansion von solidarität durch verrechtlichte organisation ist in der Verfassung der heutigen, nicht länger christlichen europäischen Union immer noch lebendig, hat die Union sich doch immer als rechtsgenossenschaft verstanden und sich in der Präambel zum Lissabon-Vertrag zum wiederholten Mal zum „Aufbau eines Raums

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der freiheit, der sicherheit und des rechts“ (gleichlautend: art. 3 abs. 2, art. 12 c eUV) verpflichtet. Es ist aber kein bloßer Zufall, dass die kosmopolitische Rechtsidee nicht nur Verrechtlichung und bürgerschaftliche und klerikale selbstorganisation vorangetrieben, sondern auch Unterwerfung, Zwangsmission und Ausrottung der „Ungläubigen“ ebenso beflügelt hat wie die innere Kolonialisierung des Kontinents durch eine historisch bei-spiellose Akkumulation von „Pastoralmacht“ (Foucault).1

Die ungeheure Macht, die Kleriker in ganz europa über die seelen und Herzen ihrer schäfchen ausübten, kam nicht aus den gewehrläufen, sondern verdankte sich dem Umstand, dass die Kleriker – und genau das unterscheidet sie von den chinesischen Man-darinen – auch noch für den kleinsten Konflikt der niedrigsten Bauern um Fischrechte und Brückenzölle eine gemeineuropäische rechtsnorm als Lösung präsentieren konnten und sich nie zu fein waren, sich auf die alltäglichen streitereien unbedeutender Bauern einzulassen (Moore 2001, s. 294). Dadurch hatten sie die Bauern und ihre Herren nicht nur besser im griff als die Mandarine, sondern die Bauern, damals über 90 Prozent der Bevölkerung am untersten ende der sozialen Hierarchie, waren auch besser gegen die Übergriffe ihrer Herren geschützt als ihre chinesischen Kollegen, denen das dortige fami-liennahe schlichtungsrecht kaum schutz gegen solche Übergriffe bot.

in den postchristlichen Verfassungsrevolutionen des 18. Jahrhunderts hat sich der Kos-mopolitismus dann mit Menschenrechten und Demokratie verbunden (Kleingeld 2006, s. 4 f.). auch hier war der nationalstaat, der nationalistischen Legende zum trotz, weder anfang noch ende der Verfassungsevolution. in den Verfassungstexten, Verfassungsent-würfen und Verfassungsinterpretationen der revolutionären epoche zwischen 1776 und 1815 durchdringen sich nationales und internationales recht.2 in der Declaration of Inde-pendence wird mit der eigenen Unabhängigkeit zugleich das selbstbestimmungsrecht aller Völker erklärt und aus dem einen universellen Menschenrecht gleicher freiheit abgeleitet (fischer-Lescano 2005, s. 98). in den gründungsdiskursen der amerikani-schen und Französischen Revolution wird die „Form des Verfassungsstaats selbst“ für „universell“ erklärt (Ley 2009, s. 106). am markantesten im art. 16 der französischen rechteerklärung von 1789, der alle anderen staatsverfassungen mit ausnahme der Us-amerikanischen für null und nichtig erklärt: „Eine Gesellschaft, in der die Gewährleis-tung der rechte nicht gesichert und die gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung.“3

Waren Volkssouveränität und selbstgesetzgebung erst einmal in Verfassungstexten objektiviert, so konnten diejenigen, die das einfache recht ausgeschlossen hatte, sich im Kampf um ihre Rechte nicht nur auf „feierliche Erklärungen“ (Luhmann) berufen, sondern auf einen Rechtstext und seine rechtsfolgen.4 Mit wachsender formalisierung, ausgestaltung und Konkretisierung der Verfassungstexte und der transformation der

1 Siehe etwa die glänzende, von Foucault ganz unbeeinflusste historische Studie von Moore (2001, s. 93, 98 f., 108, 266, 268, 275).

2 Der Terminus „international“ stammt von Jeremy Bentham, der ihn 1789 als erster in Umlauf gebracht hat.

3 Zur normativen Bedeutung dieses artikels siehe auch Hofmann (1988); fossum und Menéndez (2010, s. 23 f.).

4 Koskenniemi nennt das „legal culture of formalism“, siehe Koskenniemi (2001).

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rechtstexte in rechtsnormen (friedrich Müller) konnten sie versuchen, den Kampf ums recht im Recht zu führen: „Norm- und besonders Verfassungstexte setzt man, mit unaufrichtigem Vorverständnis konzipiert, letztlich nicht ungestraft. sie können zurück-schlagen“ (Müller 1997, s. 56). immerhin haben die großen, revolutionären transfor-mationen einen neuen Bauplan, eine neue Formation der gesellschaft hervorgebracht, der als Verfassung und Verfassungsrecht die naturwüchsige, blinde und unkontrollierbare soziale evolution wenigstens normativ begrenzt. indem sie die universelle achtung der Menschenwürde vorschreiben und deren rechtliche Konkretisierung an Verfahren egali-tärer selbstbestimmung binden, verbieten Verfassungen bestimmte Formen evolutionärer Experimente, evolutionärer Anpassung und evolutionären Erfolgs. Die soziale evolution experimentiert auch mit Konzentrationslagern und foltertechnik, passt sich durch eth-nische säuberungen einer überkomplexen und nicht mehr durchschaubaren Umwelt an, kämpft in Kastengesellschaften und mit Wahlmanipulationen ums Überleben, sucht evo-lutionären erfolg durch die Kombination deregulierter Marktwirtschaft mit autoritären regimen, wie in Chile unter Pinochet oder in China und russland seit den 1990er Jahren. aber die indische Verfassung verbietet Kasten, die iranische ebenso wie die russische und die amerikanische Verfassung verbieten Wahlmanipulationen. Das Weltrecht,5 die europäische Menschenrechtskonvention und alle demokratischen oder konstitutionellen Verfassungen verbieten Konzentrationslager und folter. Die chinesische Verfassung und sogar die statuten der kommunistischen staatspartei schreiben die gleichheit vor dem gesetz, die regierung durch das Volk und die gewährleistung der rede- und Versamm-lungsfreiheit zwingend vor. Selbst in „symbolischen Verfassungsregimes“, also in Regi-men, deren Verfassung mehr symbolischen als konkreten rechtsgehalt besitzen wie in China oder dem iran, kann sich die opposition immerhin auf die Verfassung berufen und die regierungspartei des Bruchs derselben bezichtigen (tong 2010).

Und auch im heutigen Ungarn sind nicht einmal alle der neuen Verfassungsbestim-mungen, die schon in der Präambel die republik in die tradition der stefanskrone ein-rücken, die christliche Hegemonie festschreiben und den ethnisch ‚reinen‘ Ungarn im staatsbürgerrecht privilegieren, mit den Verfassungsprinzipien der europäischen Union kompatibel.

II

Das ist jedoch nur die eine seite der großen revolutionären errungenschaft moderner Verfas-sungen. Wenn die Revolution, in der „Menschen und Dinge“ wie „in Feuerbrillanten gefasst“ erscheinen und „die Extase (…) der Geist jedes Tages“ ist, ihren „Katzenjammer“ erlebt, setzt die evolution ihr mühseliges, kleinteiliges und graduelles spiel der Zufälle und interessen-kämpfe „nüchtern“ fort (Marx 1985 [1852], s. 97, 101). Den großen transformationen und revolutionären Umbrüchen der Geschichte, den kantischen „Geschichtszeichen“, folgt in der regel evolutionärer Gradualismus. Europarechtler sprechen von „inkrementellem Ver-

5 niklas Luhmann versteht darunter die heute abgeschlossene entwicklung eines funktional aus-differenzierten, von Politik und religion klar unterscheidbaren und professionalisierten Welt-rechtssystems.

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fassungswandel“ (Hitzel-Cassagnes 2011). Die jeweils Betroffenen, allen voran die poli-tische Klasse, die Lobbyisten, die mit den jeweiligen themen befassten experten und Journalisten, wursteln sich durch, passen sich an, unterwerfen sich der sozialen selektion durch die jeweils neuen Machthaber, hangeln sich mehr schlecht als recht von stufe zu stufe, und wenn man sich umschaut, sieht man, was die vorwärts rackernde politische Nomenklatura nicht sieht, dass „der Fortschritt kleiner ist als er ausschaut“ (Nestroy).

Den inkrementalismus der evolution sollte man indes nicht allzu hochnäsig verachten. ohne die vielen kleinen Veränderungen entsteht keine große Veränderung. nicht die elite, die Masse macht die evolution. ohne konkretisierende ausgestaltung sind die im Verfas-sungstext niedergelegten grund- und Menschenrechte viel zu unbestimmt, um irgendeine juristische Bedeutung zu haben. aber bei der konkretisierenden Umsetzung in den Bar-wert von gesetzen, Verordnungen, Urteilen, Vollzugsbefehlen, Verträgen, gewohnheiten kommen die gesellschaftlichen Herrschafts- und Klassenverhältnisse oft so zum Zuge, dass mit der Konkretisierung der Rechte der einen die Rechtlosigkeit der anderen konkre-tisiert wird, der sklaven und industriearbeiter, der fremden und ausländer, der frauen und Kinder, der schwarzen und farbigen, der gefängnisinsassen und Verbannten.6 Das recht schützt die schwachen, heißt es von gregor Vii. bis gustav radbruch. aber, und darin liegt die vertrackte Dialektik der rechtlich organisierten erweiterung und stabili-sierung der solidarität: genau dann, wenn das recht umfassend und stark genug ist, die schwachen effektiv zu schützen, ist es zu einem ebenso effektiven instrument der jeweils herrschenden Klasse geworden, ihre Herrschaft zu verstetigen und ihre Macht wie nie zuvor in der geschichte zu steigern. Das wussten die mächtigen Könige des 12. und 13. Jahrhunderts sehr genau, und sie haben deshalb sofort angefangen, die organisations-rechtlichen errungenschaften der Kanonisten zu kopieren und ihren eigenen Zwecken anzupassen – mit großem erfolg. am ende waren sie mächtig genug, den Kirchenstaat im 16. Jahrhundert beiseite zu schieben und, unabhängig von der Konfession, die Masse des kanonischen rechts, das in alle rechtsbereiche ausstrahlte, der eigenen Herrschaft zu inkorporieren. ein anderes klassisches Beispiel ist die weit über europas unbestimmte grenzen hinausgehende Wirkungsgeschichte des Code napoleon.

schon am tag seiner geburt bringt der pouvoir constituant der großen Verfassungsre-volutionen den demokratischen Universalismus zusammen mit dem imperialismus höchst partikularer Bürgerinteressen hervor. In Frankreich besetzen die Jakobiner sofort und flä-chendeckend alle wichtigen staatsämter mit angehörigen ihrer eigenen sozialen Klasse, mit rechtsanwälten, Beamten, Händlern, notaren, Unternehmern, Ärzten, akademikern (tilly 1995, s. 167 ff.). Der erfolgreichen jakobinischen abwehrschlacht der revolu-tion gegen ganz europa, das sich gegen sie verschworen hatte, folgt napoleon, um mit der Grande Armée den in ihrem und unserem sinne verfassungslosen rough states eine Verfassung und seinen familienangehörigen ein Königreich zu schenken. Die Grande Armée hat das Hegel’sche Dasein der freiheit und ihr symbol – den Code Civil und „die Trikolore“ – „zusammen“ mit der anderen „trefflichen Erfindung (…) der französischen

� Koskenniemi würde das „imperial legal culture“ oder „imperial formalism“ nennen (Kosken-niemi 2001).

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Revolution“, „dem Belagerungszustand“,7 „die Tour durch Europa machen lassen“, – ein entlastender systemischer Mechanismus, den die soziologischen theoretiker arnold geh-len und Niklas Luhmann nicht besser hätten erfinden können, „befreit“ er doch, wie Marx schreibt, „die bürgerliche Gesellschaft ganz von der Sorge (…), sich selbst zu regieren“ (Marx 1985 [1852], s. 112).

III

Die abgründige Dialektik der rechts- und Verfassungsevolution setzt sich auch in der europäischen Union fort. sie verdankt ihr entstehen jener selbsttranszendierenden Dyna-mik demokratischer Verfassungsregime, die seit dem späten 18. Jahrhundert zur vermut-lich größten politischen Produktivkraft aller Zeiten geworden ist. aber das ist nicht die einzige revolutionäre Quelle, aus der sie ihre antriebsenergien schöpft. Die andere, die in den späteren 1940er Jahren unmittelbar wirksam wurde, entspringt den großen sozialen und politischen Umwälzungen des nationalen und internationalen, des trans- und supra-nationalen rechts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (siehe Hobsbawm 1994; Ber-man 1963; sunstein 2004). in dieser schreckensepoche ist der kategoriale rahmen der Verfassungsrevolutionen des 18. Jahrhunderts noch einmal grundstürzend transformiert worden. Das Völkerrecht wurde, wie Kelsen es immer gefordert hatte, menschenrechtlich individualisiert,8 von Koexistenz auf Kooperation umgestellt (friedman 1964, s. 60–63).9 Die staatsverfassungen mussten dem Völker- und Menschenrecht einlass ins innere ihrer staaten gewähren (Di fabio 1998), was nicht nur in europa zur Verschränkung, Überlap-pung und Interpenetration von nationalem und internationalem Recht geführt hat (Wahl 2003; stone sweet 2009; Halberstam 2008, 2010). an die stelle des alten Dualismus von nationalem Verfassungs- und internationalem Vertragsrecht (Heinrich triepel) ist, wie Kelsen es immer postuliert hatte, das Kontinuum einer global gestuften Verfassungs-

7 an der stelle bezieht Marx sich auf den Belagerungszustand, der seit Juni 1848 fast ununter-brochen die fortlaufende revolution begleitet. er generalisiert das, weil er sieht, dass die Jako-biner, napoleon und andere sich wiederholt dieses instruments bedient haben: Dialektik des fortschritts.

8 eine konsequente und vollständige individualisierung des Völkerrechts in theorie und Praxis hat Kelsen, der heute als theoretiker der rechtsrevolution des 20. Jahrhunderts gelesen werden sollte, zeit seines Lebens verlangt und schon im Versailler Vertrag den ersten schritt zur indi-vidualisierung des Völkerrechts erkannt: Kelsen (1920, s. 3 f.); ders. (1932, s. 151, 155); Hoss (2008, s. 157 ff.); Bernstorff (2001, s. 128 ff.) Was damals noch auf die anklage deutscher Kriegsverbrechen beschränkt war (art. 227–230 Versailler Vertrag), ist inzwischen menschen-rechtlich zu internationalem ius cogens (art. 53, 64 Wiener Übereinkommen) mit erga omnes- Verpflichtung geworden (IGH Barcelona Traction, ICJ Reports 1970, 3 ff., hier: 32).

9 siehe auch Un-Charta: art. 1 abs. 2, 3; art. 11 abs. 1; art. 13 abs. 1; art. 14; Kap. iX; art. 55. ferner vor allem: Declaration on principles of international law concerning friendly relations and co-operation among states in accordance with the charter of the United Nations, annex zu resolution 2625 (XXV) vom 24. okt. 1970, United nations Year Book 24 (1970, s. 788 ff.); vgl. fassbender (2002, s. 235 ff.).

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ordnung getreten.10 Die Entkolonialisierung hat die Staatenwelt globalisiert,11 und nach einem Jahrhundert der sozialen Klassenkämpfe ist die bürgerlich exklusive Demokratie zusammen mit der konstitutionellen Monarchie zumindest programmatisch in der sozial inklusiven Massendemokratie verschwunden.12

Die gründung der europäischen gemeinschaften in Paris 1951 und rom 1957 geht unmittelbar auf diesen revolutionären impuls zurück. alle staaten, die sich 1951 und 1957 zu den ersten europäischen gemeinschaften zusammenschlossen, sind nach 1945 durch neue Verfassungen neu gegründet worden. Die neuen Verfassungen orientieren sich nicht nur in ähnlicher Weise an egalitärer Menschenwürde und universellen Menschenrechten und konstituierten die nationale gesellschaft als soziale Massendemokratie und den von ihnen hervorgebrachten staat als internationalrechtlich offenen Staat. sie erklären auch ihren ausdrücklichen Willen zur europäischen Einigung. Die gründungsverträge führen deshalb lediglich die Verfassungsprinzipien der Gründungsnationen zu einem höherstufigen cons-titutional moment zusammen, um die von vornherein supranational organisierten gemein-schaften als Vereinigungsprojekt eines demokratischen Europa zu begründen. Damit waren die europäischen gemeinschaften durch einen sekundären revolutionären gründungsakt, der sich direkt aus der verfassungsgebenden Gewalt der Gründernationen – und nicht nur aus der verfassungsrechtlich unverbindlichen völkerrechtlichen Verbindung ihrer staaten – herleitete, legitimiert. Verfassungsrechtlich revolutionär war die gründung schon der ersten europäischen gemeinschaft 1951, weil sie ein neues, verfassungsrechtliches Kon-tinuum zwischen gliedstaaten und gemeinschaft schuf. Die ersten gemeinschaftsverträge waren unmittelbarer ausdruck des jeweils nationalen Verfassungsrechts und die nationalen Verfassungen teilverfassung der gemeinschaft. Das entsprach im Übrigen nicht nur dem Pathos und inhalt der Präambel schon des Pariser Vertrags, sondern auch der dort vollzoge-nen Vergemeinschaftung des teils der nationalen Wirtschaft, ohne den dem einzelnen staat keine nach Vorkriegsverständnis souveräne außenpolitik mehr möglich war – waren doch Kohle und stahl 1951 noch unverzichtbar für die Möglichkeit, selbständig Krieg zu führen. nicht nur die gemeinsame Wirtschafts-, auch die gemeinsame außenpolitik begann 1951.

Damit war ein zwar noch stark dezentralisiertes, aber bereits europäisches Verfassungs-system auf den Weg gebracht. Wie schon Kelsen erkannt hatte, kommt den gerichten in solchen fällen eine evolutionäre führungsrolle zu, und die immer größer werdende Zahl

10 Kelsen hatte seine ebenso revolutionäre wie wegweisende Kritik am völkerrechtlichen Dua-lismus noch an die mit der ablehnung des Dualismus vorgeblich notwendige annahme eines deduktiv geschlossenen Monismus gebunden. Das war dem logischen empirismus des dama-ligen Wiener Zeitgeistes geschuldet, aber so überflüssig wie kurzschlüssig. Statt dessen lag die alternative zum Monismus längst in der pragmatistischen Dualismuskritik John Deweys bereit, die den metaphysischen Dualismus durch ein ebenso praktisches wie evolutionäres Kon-tinuum von Bedeutungen und Differenzen ersetzt hat (dazu Brunkhorst 2008). auch isabelle Ley kommt in ihrer brillanten analyse des Lissabon-Urteils des tschechischen Verfg zu dem Schluss, es wäre an der Zeit, „die Dichotomie supranationaler/internationaler Organisationen“ ebenso wie die von eU und gliedstaaten oder europarat und gliedstaaten durch die annahme eines „Kontinuums“ zu ersetzen (Ley 2009, s. 171).

11 Kritisch und im historischen Kontext siehe anghie (2004), für eine interessante fallstudie siehe Maul (2010).

12 Knapp und unter auslassung der real-sozialistischen Varianten siehe sunstein (2004).

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der europarechtlichen fälle, die vor den gerichten der gliedstaaten anhängig wurden, hat schließlich weit mehr zur schaffung eines gesamteuropäischen Rechtssystems beigetragen als alle politischen erklärungen und aktionen zusammengenommen.13 es formt heute alles nationales recht. seine Durchgriffstiefe erreicht noch den letzten Winkel der irischen Pro-vinz. es dringt in alle rechtssphären ein, verändert das Völkerrecht ebenso wie das straf-recht, lässt auch der City of London keinen europarechtsfreien raum und verschont noch nicht einmal die Landsitze des englischen Königshauses.

Das nationale bildet heute mit dem europäischen Verfassungsrecht ein dichtes Kon-tinuum, das viele Unterschiede, aber keinen Dualismus von nationalem und internatio-nalem recht mehr kennt.14 Unspektakuläre alltagsroutinen, juristischer und politischer inkrementalismus haben schließlich ein komplexes system gesamteuropäischer Gewal-tenteilung geschaffen, in das die nationalen staatsgewalten mittlerweile fast lückenlos zu einem einzigen großen organismus integriert sind. Dieser organismus ist heute schon, wie das tschechische Verfassungsgericht in einem bahnbrechenden Urteil zum Lissabon-ner Vertrag festgestellt hat, ein einheitliches System demokratischer Legitimation (Ley 2010, s. 170).15

Das Problem ist nur, dass das niemand weiß. Das Problem ist der inkrementalismus europäischer Politik, ohne den freilich, wie wir gesehen haben, sich weder egalitäre Mas-sendemokratie noch universelle solidarität machen und verwirklichen ließen, so dass mehr herauskommt als ein reines Herz und eine gute absicht. Das Problem ist nicht die inkrementalistische Berufspolitik als solche, der Lobbyist im Hinterzimmer, die riesige Bürokratie, die technische apparatur, der öffentlich zugängliche, aber unlesbare geset- zestext – 500-seitige Verfassungsverträge voller juristischer tücken und fallstricke, die nur noch spezialisten mit sonderausrüstung erkennen können. Das Problem ist die Reduk-tion von Politik auf technik unter Umgehung, Ausschaltung und Manipulation des öffent-lichen Meinungskampfes und der öffentlichen Willensbildung. Christoph Möllers hat sie treffend als „bypassing“, also als Umgehung der öffentlichen Macht des Volkes und seiner organe durch netzwerke informeller Herrschaft charakterisiert (Möllers 2005, 2006).16 Durch die reduktion von Politik auf techniken des Machterhalts wird die demokratische form der europäischen integration von vornherein von ihrem demokratischen inhalt abge-trennt. Kein Wunder, dass die europäische rechte hohe Wachstumsraten erzielt, auf immi-granten eindrischt, die dumpfesten Vorurteile gegen griechen und türken, sinti und roma mobilisiert und unter Leitung populistischer führer gegen europa und die Demokratie zu felde zieht. Das Parlament kann gehen, die Banken sollen’s richten. Die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber. inkrementalistische Politik hat den paradoxen effekt, dass

13 Zur Unabhängigkeit und integrationskraft der europäischen gerichtsbarkeit siehe alter und Meunier-aitsahalia (1994), vgl. auch alter (1996, 1998); Hitzel-Cassagnes (2011, s. 160); schwarze (2000).

14 Zur wichtigen Differenzierung von „Unterscheidung“ und „Dualismus“ vgl. Brandom (1994, s. 856 ff, insbesondere s. 864–866).

15 Zum prozeduralen Demokratiebegriff: Habermas (1992); zum „synthetic constitutionalism“: fossum und Menéndez (2010).

16 Zur Akkumulation informeller Macht in flexiblen, weit verstreuten und rasch wechselnden Zen-tren siehe auch Prien (2010).

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die anti-europa-Parteien zur öffentlich sichtbarsten und stärksten Kraft der europäischen Union werden und schon geworden sind. sie repräsentieren europas einheit unter der Parole: „Schluss mit Europa!“

IV

Verfassung, technische Politik und juristisches spezialistentum bilden, auch wenn man sie nicht aufeinander reduzieren darf, einen engen Zusammenhang. sie stützen und ermöglichen sich wechselseitig. Die Verfassung verkoppelt recht und Politik so, dass jede rechtsnorm politisch änderbar und gleichzeitig keine – vermeintlich souveräne – politische aktion mehr übrig ist, die der Unterscheidung von Legalität und illegali-tät entkommt. Der tief ambivalente, evolutionäre Vorteil dieser regelung besteht darin, dass technische Politik durch strukturelle Kopplung ans recht zuverlässig und erwartbar wird.

solche Politik ist darauf programmiert, dass Überraschungen ebenso ausbleiben wie in der flugzeug- oder agrartechnik, die das fliegen oder die schweinezucht zuverlässig und erwartbar machen. Deshalb ist das bypassing der flatterhaften öffentlichen Meinung, der spontanen öffentlichen selbstbestimmung und der überraschenden öffentlichen Kontrolle das a und o technokratischer exekutivpolitik. Die Universitätsreform von Bologna war hier exemplarisch. Die größte und tiefgreifendste Hochschulreform, die europa je erlebt hat und die das 19. Jahrhundert weit in den schatten stellte, hat sich in den Massendemo-kratien des 21. Jahrhunderts fast geräuschlos vollzogen – auf der Basis eines rechtlich gänzlich unverbindlichen Protokolls, auf das sich in trauter private-public partnership die nationalen exekutivspitzen der Wissenschaftsverwaltung zusammen mit einem Ver-treter der Zivilgesellschaft, dem abgesandten des Bertelsmann-Konzerns, eines schönen tages in Bologna geeinigt hatten. Und in der Parlamentsvorlage zu schleswig-Holsteins Hochschulgesetz liest man dann, der Bologna-Prozess müsse umgesetzt werden. Parla-mentarismus als selbst verschuldete Unmündigkeit (Möllers 2005; am Beispiel des Bolo-gna-Prozesses siehe Brunkhorst 2006)?

irgendwann jedoch stößt die durchaus effektive Mischung aus technischer Politik und juridifizierter Konstitutionalisierung an die Schranken ihres eigenen, revolutionären Bau-plans. Dann passiert, was der technik in aller regel nicht passiert, dass sie nicht funk-tioniert und die Kontrolle über das Kaiserreich, die arabischen Massen, die europäische Peripherie, stuttgart 21, das atomkraftwerk, das flugzeug oder die schweinegrippe ver-liert – dann freilich „mit Kaskaden von Nebenfolgen“ (Luhmann).

Mit fortschreitender Komplettierung des Konstitutionalisierungsprozesses tritt der inkrementalistische Funktionalismus, dessen Hauptakteure politische eliten und juristi-sche experten sind, in einen immer schärferen Gegensatz zum emanzipatorischen Gehalt der europäischen Verfassung. er könnte über nacht in eine ernsthafte Legitimationskrise europas umschlagen. es könnte mit der Union dann so schnell zuende gehen wie mit dem Herrn Mubarak – und wurde nicht auch der mächtige Belsazar (Heine) noch „in selbiger nacht/Von seinen Knechten umgebracht“?

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V

Werfen wir einen raschen Blick auf die entwicklungsgeschichte der Unionsverfassung, in der sich der gegensatz von elitärem funktionalismus und egalitärer Demokratie in den letzten Jahren immer deutlicher ausgeprägt hat. Die entwicklung verlief, der Logik technischer Politik entsprechend, in vier funktional gegliederten stufen.17

0 stufe i: Die durch den Vertrag von Paris begründete, gemeinsame europäische Wirt-schaftsordnung ließ die nachfrage nach Leistungen des mitbegründeten europäischen rechtssystems (gerichtshof) sofort in die Höhe schnellen.18 Darauf antwortete die evolution mit der europäischen Wirtschaftsverfassung,19 die das europa-recht struk-turell an die gemeinschaftswirtschaft koppelte. Die Wirtschaftsverfassung europas war von anfang an hegemonial strukturiert und ist, bösartig gesagt, heute mehr denn je deutscher großraum, der im Zentrum einen Aktiensturm entfacht, die Inflationsrate neurotisch flach hält und die Peripherie, in der die Banken des deutsch-französischen Hegemons gewaltige gewinne einfah-ren, in eine Flaute unabsehbarer Deflation treibt. Seit den späten 1970er Jahren ist die anfangs noch mit der sozialstaatlichen Umgründung der nachkriegsgesellschaft konforme, sie unterstützend flankierende Europäisierung (Fossum und Menéndez 2010, s. 115 f.) zusehends unter den Druck der neoliberalen episteme geraten. in der rechtsprechung markiert die Cassis de Dijon-entscheidung des eugH von 1979 die Wende zur einseitigen Dominanz der vier ökonomischen freiheiten (Waren, Kapital, Dienstleistungen, Personen).20 Menéndez und fossum sprechen treffend von einer Emanzipation der ökonomischen Freiheiten vom nationalen Verfassungsrecht (fos-sum und Menéndez 2010, s. 115 f.).

0 stufe ii: spätestens der Vertrag von rom (1957) ließ ein Problem hervortreten, das von der funktional einseitigen Wirtschaftsverfassung nicht mehr gelöst werden konnte: Wer von europäischen rechtsnormen betroffen ist, muss sie auch als Mit-

17 Vgl. tuori und sankari (2010). Zur rolle funktionaler Differenzierung in der Verfassungsevo-lution siehe auch fischer-Lescano und teubner (2006). Zur „politikfeldspezifischen“, „sekto-ralen Differenzierung“ der eU (von Kohle/stahl über atom, Verkehr und Landwirtschaft bis zur Polizei), der verfassungstypisch zugehörigen Diversifizierung von (Klassen- und Gruppen-) Kompromissen mitsamt der Gefahr der Errichtung immer neuer „Sonderregimes“ vgl. Bast (2005, s. 43 ff., 46 ff.). Während der abstraktere Begriff der funktionalen Differenzierung die evolutionstheoretische rekonstruktion anleitet, ermöglicht der konkreter ansetzende Begriff der sektoralen Differenzierung eine kritische Darstellung des Problems der europäischen sonder-regimes (siehe unten).

18 Zur rolle des wachsenden normbedarfs in der evolution des rechts siehe auch fischer-Lescano und teubner (2006, s. 49).

19 Zum spezifisch deutschen Hintergrund der Idee einer Wirtschaftsverfassung siehe Joerges (2003, 2007). autoren wie Hans-Peter ipsen, ernst-Joachim Mestmäker, giandomenico Majone oder andrew Moravcsik sehen im europäischen Projekt lediglich eine rein funktionale, techno-kratisch gelenkte ökonomische gemeinschaft

20 Kritisch zum possessiv individualistischen Paradigma der integrationspolitik und seinen laten-ten autoritarismus: somek (2008); aufschlussreiche fallstudie zur emergenz des neoliberalen Paradigmas: Buckel und oberdorfer (2009).

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469solidarität in der Krise: ist europa am ende?

glied einer Bürgergenossenschaft, die sich wechselseitig rechte zuschreibt, einkla-gen können (Habermas 1992). Die anwendung des europarechts erzeugt, wie der eugH in den berühmten Präzedenzfällen Van Gent und Costa 1963 und 1964 fest-gestellt hat, auf seiten der rechtsadressaten das recht auf individuelle selbstbestim-mung (Möllers 2006, s. 41 ff.). Damit beginnt die entwicklung einer europäischen Rechtsstaatsverfassung. in einer waghalsig teleologischen interpretation der Verträge konstruierten die richter erstmals europäische Bürgerrechte, die eine direkte Wirkung europäischen rechts und die European law supremacy begründen sollten. nur mit Hilfe des bis dahin juristisch bedeutungslosen europäischen Vorlageverfahrens konnten die natio-nalen gerichte unterster instanz der rasch wachsenden Zahl europarechtlich begrün-deter und deshalb schwer einzuordnender Klagen Herr werden und sich gleichzeitig erfolgreich gegen revisionen höherer instanzen absichern. sie haben, im Dickicht der fälle verborgen, das europäische recht von allen politischen steuerungsversuchen und antieuropäischen schlachtrufen de gaulles, des englischen oberhauses oder Mar-garet thatchers unabhängig gemacht (alter 1998). Das Vorlageverfahren war zum schneidenden Selektionsmechanismus geworden, der von fall zu fall den Vorrang des europarechts im nationalen recht zur geltung brachte und das rechtsstaatliche grundrecht des direct effect europäisiert hat. Welcher demokratisch gewählte Präsi-dent hätte gewagt, den eigenen gerichten in der sicheren erwartung seiner niederlage den Krieg zu erklären? Welche höhere instanz, welches Verfassungsgericht hätte sich ernsthaft mit dem eugH anlegen und eine seiner entscheidungen direkt zurückwei-sen wollen?21 ihn fürchtet selbst Berlusconi, kann er sich seinem spruch doch nicht durch ein nationales gesetz im regierungshörigen Parlament entziehen, von Ungarns neuer regierung ganz zu schweigen. Die rechtsstaatsverfassung der Union hat zwar die private Autonomie der euro-päischen rechtssubjekte erfolgreich europäisiert und stabilisiert, aber dabei blieben politische freiheitsrechte von europas Bürgern auf der strecke. sie hat so die wirt-schaftsfunktionale, privatrechtliche Schlagseite der europäischen Flotte noch ver-stärkt, führt doch die einseitige Verwirklichung privater Autonomie zwangsläufig zu einer Antinomie zwischen Menschenrechten und Demokratie, zwischen juridifizierter und politisierter Politik (scavenius 2011). ausgehend von dieser, im kritischen Dis-kurs der Menschenrechte spätestens seit Marx klassischen antinomie (siehe Marx 1966), ist der nächste schritt in der transformation der europäischen rechtstaatsver-fassung, fast schon ganz so wie bei Hegel, eine logische folge (Kesselring 1984) ihrer Auflösung.

21 Vgl. zu der indirekt deliberativen form des legal pluralism oberster gerichte Halberstam (2008, 2010). natürlich ist das in europa nicht anders als in den nationalstaaten selbst (stone sweet 2009). Hierarchie braucht das recht nur so viel, wie nötig ist, damit seine sprüche in der regel befolgt werden, also um Legalität zu gewährleisten. Das ist nicht viel an Hierarchie, Konsistenz und geschlossenheit, der rest ist (im sinne von Lawrence Kohlberg und gertrud nunner-Winkler) postkonventioneller Pluralismus, in dem je nachdem strategische Diskurse, verblüffend neue oder aber bessere Argumente, die durch den öffentlichen Diskurs mehr oder minder intensiv vermittelt sind, jeweils die nötige folgebereitschaft und flexibilität erzeugen, so etwa zwischen obersten nationalen und internationalen gerichten.

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0 stufe iii: Die dialektische aufhebung der rechts(staats)verfassung in die politische Verfassung europas begann mit der ersten Direktwahl zum europäischen Parlament 1979.22 im Lauf der Jahre wird das eU-Parlament, wiederum in einem von Wissen-schaft und Öffentlichkeit kaum bemerkten, inkrementalistischen und adaptiven Pro-zess winziger, aber zahlloser Modifikationen, zu einem machtvoll kontrollierenden („controlling“ und „law-shaping“) Parlament, ohne das heute in der EU (fast) nichts mehr läuft (siehe Dann 2002; fossum und Menéndez 2010, s. 123 f.). Der Lissabon-Vertrag hat lediglich die längst bestehenden, weitreichenden geset-zesgestaltenden Kompetenzen des Parlaments in ein nun auch formelles parlamen-tarisches Gesetzgebungsverfahren verwandelt (Bast 2010). Zug um Zug ist dem Machtzuwachs des Parlaments ein umfassendes system demokratiekonstitutiver Rechte: Zugangs- und informationsrechte, Begründungs-, Verfahrens- und ermächti-gungsrechte, als zweite Generation politischer Teilnahmerechte nachgewachsen (Hit-zel-Cassagnes 2011, s. 161 ff.). Mit dem formellen gesetzgebungsverfahren trennt die strukturelle Kopplung von Politik und Recht das recht der Union endgültig vom globalen Völkerrecht (oeter 2010). Der emanzipatorische Anspruch der politischen Verfassung, die demokratische selbstbestimmung der europäischen Bürgerschaft zu gewährleisten, wird jedoch vom techno- und expertokratischen inkrementalismus noch in der stunde seiner geburt ertränkt. Die strukturelle Koppelung von Politik und recht stabilisiert nicht nur die demokratischen institutionen (Parlament), sondern auch den außerparlamentarischen Machtzuwachs der europäisch vereinigten exekutiven. schon lässt sich die entste-hung eines kollektiven Bonapartismus in der rechtlich kaum gebundenen, dafür aber umso mächtigeren gestalt des europäischen rats beobachten (Brunkhorst 2007). Das ist aber beim Parlament selbst nicht anders. auch die wachsende Parlaments-macht blüht nur im Verborgenen. Der Preis dafür ist die öffentliche Delegitimierung des Parlaments. Der abgrund zwischen wachsender demokratischer gesetzgebungs-macht und sinkender demokratischer Legitimation wird von Wahl zu Wahl größer. Da nützt auch die Erfindung schöner neuer Namen, deren Liste von der (nicht zufällig auf Lorenzetti gereimten) „guten Regierung“ ( good governance) über „deliberative“ und „auditive“ Demokratie bis hin zur (rätedemokratischen) „Kommitologie“ reicht, nichts, wenn damit ohnehin nur good governance without democratic government inklusive Deliberation ohne egalitäre Dezision, anhörung ohne Partizipation oder – wie einst in der sowjetunion – rätedemokratie ohne Volk gemeint ist. Kein Wunder, dass die Bürger, wenn sie in referenden einmal selbst die Wahl hatten, die Verfas-sung abgelehnt und den Lissabonner Vertrag nur in einem zweiten, für die Demo-kratie demütigenden Wahlgang, der den iren mit Zuckerbrot und Peitsche aufgenötigt wurde, akzeptiert haben. fragt sich nur, ob die bis heute latent gehaltene Legitimationskrise der Union auch dann noch latent gehalten werden kann, wenn die Finanzwirtschaft zusammenbricht, die politische Krise des Euro manifest wird und die Union auf die technokratisch

22 sie war lange projektiert und begann mit der schaffung der parlamentarischen Versammlungen von 1951 und 1957, die sich 1957 selbst den (1986 dann von den staaten anerkannten) namen eines Europäischen Parlaments gab.

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471solidarität in der Krise: ist europa am ende?

knapp gehaltene Ressource Solidarität zurückgreifen muss, um fortzubestehen. alles, was wir derzeit erleben, spricht dagegen. Die Wirtschafts-, finanz- und eurokrise machen die symptomatische Wahrheit europas jedermann sichtbar.23 Die auf integ-ration, solidarität und Demokratie ausgestellten schecks der politisch herrschenden Klasse sind nur noch durch technische Output-Legitimation gedeckt. Werden sie in der demokratischen Münze der Input-Legitimation eingefordert, müssen sie mit einem lauten Knall platzen. Das würde wenigstens dem so lange erfolgreichen Umgehen und Beschweigen, bypassing und silencing der öffentlichen Meinung ein plötzliches, unsanftes, aber auch befreiendes ende bereiten.

0 stufe iV: auch die emanzipatorische Dimension der nach Maastricht zügig aus-gebauten vierten stufe der Sozial- und Sicherheitsverfassung ändert daran nichts, beschränkt sie sich doch auf die biopolitische Disziplinierung der immigrantenströme und die ökonomisch billige und nur für die oberen Mittel- und oberschichten der europäischen gesellschaft wirklich effektive Durchsetzung von Anti-Diskriminie-rungsnormen. Wie in amerika, wo nur noch die tea Party auf ihn wartet, bleibt Joe The Plomber außen vor und wird zur Beute rechtsradikaler Mehrheitsparteien: die Bolkestein-richtlinie, mit der die eU ihren Verfassungsvertrag selbst versenkt hat.

VI

Die große Weltwirtschafts- und finanzkrise, die 2007 begann und noch längst nicht vor-über ist, hat es ans tageslicht gebracht. Mit fortschreitender Verfassungsevolution wird das silencing und bypassing der Öffentlichkeit immer schwerer, und der Ausbruch einer massiven Legitimationskrise wird mit jedem weiteren Integrationsschritt wahrscheinli-cher. ein kleiner schubs von außen, und das tönerne Haus inkrementalistischer Politik bricht in sich zusammen. aller Welt wird offenbar, dass die Union (fast) an der Pleite ihres schwächsten gliedstaats (griechenland) zerbrochen ist, während die verfassungs-rechtlich gar nicht so unähnlich organisierten Vereinigten staaten die drohende Pleite ihres größten staats (Kalifornien) fast mühelos weggesteckt haben.

seit die Weltwirtschafts- und Finanzkrise den euro und die europäische Peripherie in den mächtigen sog ihres Malstroms gezogen hat, steht die politisch herrschende Klasse unter wachsendem Druck, die europäische integration schnell und in großen schritten fortzusetzen. Was sie auch tut, sie kann die öffentliche rede nicht mehr zum schwei-

23 Unter der Wahrheit des Symptoms verstehen Freudo-Marxisten wie Žižek „Versprecher, Träume, Zwangshandlungen“ und andere „symptomatische Verdrehungen“, die „die Wahrheit des betroffenen subjekts zugänglich machen, eine Wahrheit, die dem Wissen unzugänglich bleiben muss, das in ihnen nichts anderes als bloße störungen sieht, und im Marxismus ist die ökonomische Krise eine solche symptomatische Verdrehung“. sie macht sichtbar, dass mit dem Kapitalismus immer schon etwas nicht stimmte und die Krise deshalb kein Zufall oder aus-rutscher, sondern ein fehler des systems ist, der sich durch das system selbst nicht korrigieren lässt, während dessen apologeten sagen, das hätte nicht passieren dürfen, und es sei nur pas-siert, weil der staat interveniert hat, zuviel vom gewinn der großkonzerne an deren arbeiter verteilt hat usw. (Žižek 2001, s. 177 f.).

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gen bringen. Jetzt muss sie mit den Leuten reden und nicht mehr nur zu ihnen. ob sie will oder nicht, jetzt muss sie politisch handeln. Plötzlich ist der Vorhang weit offen und das geschehen auf der Bühne so unbestimmt wie selten. Wenn in einer nachtsitzung summen, die sich keiner mehr vorstellen kann, in den Markt gepumpt werden, wenn sie als rettungsschirm auf allen öffentlichen Plätzen aufgespannt werden, dann versagt das silencing, dann platzt der bypass, und das anschwellende gerede, der stoff, aus dem die Demokratie gemacht ist, überschwemmt die öffentlichen Plätze, auf denen sich bei den letzten europawahlen nur noch ein paar verlorene gestalten – ganz so wie auf dem fron-tispiz des Leviathan – eingefunden hatten.

Die technokratische europapolitik sitzt in der falle. Entweder sie sagt den Leuten die Wahrheit, dass die immer größer werdenden rettungsschirme für die abstürzende Peri-pherie nur der rettung der europäischen Hegemonialmacht dienen, der Verschiebung der gewichte am anleihemarkt zu ihren gunsten, dem Boom ihrer heimischen Bau- und Autoindustrie, während die so „gerettete“ Peripherie in depressiver Deflation versinkt und für den spott der großen Kanzlerin, sie könne ja austreten, wenn ihr das nicht gefalle, nicht mehr sorgen muss. Wird das offensichtliche aber zu laut ausgeplaudert – wie in england jetzt geschehen durch Charles Moore –, platzt der Konsens der staats- und regierungschefs und sie werden nicht mehr aufhören, aufeinander einzudreschen. Oder die regierung des Hegemons führt das rührstück vom deutschen Zahlmeister, das sie schon so lange nach dem Motto „Der Ehrliche ist der Dumme“ spielt, ungerührt weiter auf, dann wird die regierung des Hegemons niemandem im eigenen Land mehr erklären können, warum „wir“ die Union nicht einfach platzen lassen.

Die grundsätzliche alternative zu diesem Dilemma politischer technokratie wäre die rückkehr zu demokratischer Politik, die endlich ausspricht, wer wir sind. Die sagt, dass0 wir, wenn wir in der globalisierten Welt über die runden kommen wollen, schon

lange nicht mehr die Deutschen oder die Österreicher, franzosen oder Holländer sind, sondern die Bürger Europas, dass

0 wir die dafür erforderlichen solidaritätsreserven nicht mehr in Deutschland, Öster-reich oder Dänemark, sondern nur noch in europa mobilisieren können, dass

0 eine der größten Wirtschaftskrisen des modernen Kapitalismus nicht nur auf das Konto gieriger Banker geht, sondern auf das Konto national fragmentierter Politik (zu allen drei Punkten siehe auch Hefty 2011, s. 10).

aber wo kein politischer Wille ist, ist auch kein technischer Weg. Die Krise kann für europa tödlich enden. Das ist wahrscheinlich. aber sie ist auch eine große Chance und vermutlich europas letzte. Dass sie ergriffen wird, ist unwahrscheinlich, aber nicht aus-geschlossen. Die Krise, die große Vereinfacherin, hat den staat noch einmal als starken retter erscheinen lassen, um ihn schon im nächsten augenblick im letzten Hemd ste-hen zu lassen. „Noch so ein Sieg, und wir sind verloren“ (Streeck 2010). in der großen Krise, die 2007 begann und noch lange nicht zuende ist, hat der nationalstaat den immer noch erheblichen, aber – und das war entscheidend – schon nicht mehr manövrierfähigen rest seiner Handlungsfähigkeit und gestaltungsmacht eingebüßt.

Um es in der einfachen sprache der Krise zu sagen: Der mächtige und reiche natio-nale Wohlfahrtsstaat westlicher Hemisphäre hat grundsätzlich zwei Möglichkeiten, mit der marktwirtschaftlich unaufhebbaren Krisentendenz des Kapitals fertig zu werden. er

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kann Milliarden in die Wirtschaft pumpen, und davon hatte er bis vor kurzem mehr als jeder andere global economic player. oder er kann, statt dem Kapital mit dem Zuckerbrot seiner fast endlosen Kreditwürdigkeit zu winken, zur Peitsche des gesetzes greifen und kostenfrei in die Wirtschaft intervenieren. er kann die geldströme regulieren, abschöp-fen, umlenken. er kann Banken zerstückeln, verstaatlichen, an eine enge Kette aus gesetz und Verordnung legen. er kann das regime des Kapitals dem regime der staatsmacht unterwerfen. er kann dem systemisch selbstsüchtigen Kapital das allgemeine interesse aufnötigen. aber nur, wenn der staat die Wahl hat, zu zahlen oder zu zerstückeln.

genau diese Wahl hat und hatte er in der gegenwärtig anhaltenden Krise nicht mehr. regulieren, Zerstückeln, Verstaatlichen, anreizen, anketten, abschöpfen geht in den größendimensionen einer funktional differenzierten und systemisch geschlossenen Welt-wirtschaft nur noch durch kontinental und global koordiniertes, kooperatives Handeln, das man in dem jeweiligen Segment nicht mehr vage „Regieren“ ( governance), sondern präzise „Regierung“ ( government) nennen sollte. Da die nationalen regierungen trotz einiger Bemühungen und erfolge dazu weder in europa noch global in der Lage waren, blieb dem reichen und mächtigen segment der staatenwelt (oeCD, g 20) nur noch die option, geld in den Kreislauf zu pumpen und den götzen, das goldene Kalb anzubeten, dass die richtigen regulierungseffekte eintreten mögen. Das aber geht deshalb nicht mehr planmäßig, sondern nur noch mit gebet, weil die ergänzende Peitsche des gesetzes nicht mehr das Kapital, sondern nur noch den Wind, der um die erde fegt, trifft – so wie einst Xerxes, in einer ähnlichen Zwickmühle, das Meer auspeitschen ließ. es hat ihm so wenig genutzt wie dem Präsidenten obama oder der Kanzlerin Merkel das leere gerede von globaler regulierung.

Wenn der staat nicht mehr die Wahl zwischen Zuckerbrot und Peitsche hat, hat er keine Wahl mehr und muss zahlen. er ist erpressbar geworden. Die Vorstände von gene-ral Motors ahnten das, flogen in ihren hochgerüsteten Privatjets nach Berlin, nahmen am abend die Bundesregierung in geiselhaft, setzten ihr die Pistole auf die Brust und sagten, wenn ihr nicht zahlt, seid ihr morgen politisch tot. natürlich haben sie gezahlt und immer wieder gezahlt und ihr letztes geld, mit unseren schönen Bürgschaften, dahin gegeben, wo es von ihnen verlangt wurde. sie konnte auch gar nichts anderes mehr tun. Der staat sah, als er mit den scheinen wedelte und die großen schecks ausstellte, unge-mein handlungsfähig aus, war aber längst manövrierunfähig. er konnte das steuer nicht mehr herumreißen und musste zahlen. Kommt die nächste Krise schon in ein paar Jahren oder das nächste große nachbeben der gegenwärtigen in ein paar tagen, dann steht auch den reichen Ländern der oeCD-Welt der staatsbankrott bevor.24

Weil das sogar die borniertesten Politiker verstanden haben, spricht jetzt endlich auch die stimme des Hegemons von europäischer Wirtschaftsregierung und überlässt die governance den Lehrbüchern der Politologen. auch wenn das ergebnis der europäischen regierungsbildung im unregulierten ausnahmezustand nicht sehr demokratisch ausfallen dürfte, so muss es doch jetzt öffentlich ausgesprochen werden. Klartext ist unvermeidbar geworden, denn jeder weiß, was eine regierung ist. Wenn aber Regierung nichts anderes mehr ist als das Sonderregime des europäischen rates, dann ist die Legitimationskrise unvermeidlich geworden. Der Mangel europas an öffentlich erkennbarer opposition

24 ich folge hier ganz der analyse von streeck (2010) und Mayntz (2010).

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474 H. Brunkhorst

könnte so schnell wie in Kairo in einen gewaltigen, Dämme sprengenden Überfluss an opposition umschlagen. Was daraus dann wird, weiß – wie in Kairo – keiner, aber es könnte eine opposition werden, aus der eine regierung hervorgeht, in der auch die wach-sende Zahl aggressiv chauvinistischer antieuropäer zu europäischem Regieren genötigt würde, so wie in Kairo die islamisten eine regierung bilden könnten, in der sie zu demo-kratischer Politik genötigt werden. auch wenn die Chancen, dass das klappt, im fall Kai-ros vermutlich besser stehen als hierzulande, so hat europa das geschichtliche niveau des surrealen Realismus von 19�8 immerhin zurückgewonnen: „Alles ist möglich“ (Chris-tine Lagarde).

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