archithese 6.13 - natur / nature

13
archithese Ein dynamisches Naturverständnis Is Organic Architecture still relevant today? Die Räume des Chen Kuen Lee Wissenschaftsbauten von Fehling+Gogel New Aaltoism: Tendencies in Nordic Architecture Die Natur der jungen Architekten in Japan Frei Ottos IL Mitteilungen Wasserkunst und Kunstlandschaft Patrick Geddes Biopolis Nachhaltigkeit im Biokapitalismus Irrtümer der Ökobewegung Architekturprinzipien und Naturwissenschaft The Milieu of Synthetic Biology SPEZIAL: Bildatlas Architektur die hilft: Hitoshi Abe und ArchiAid J. MAYER H. Architekten, a2o architecten, Lens°Ass architecten: Neuer Gerichtshof Hasselt SPBR/Angelo Bucci: Wochenendhaus São Paulo 6.2013 Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Natur | Nature

Upload: archithese

Post on 13-Mar-2016

229 views

Category:

Documents


6 download

DESCRIPTION

 

TRANSCRIPT

Page 1: archithese 6.13 - Natur / Nature

arc

hit

hes

e 6.

2013

N

ovem

ber

/Dez

emb

er

Pre

is:

28

CH

F/2

2 E

uro

N

atu

r | N

atu

re

architheseEin dynamisches Naturverständnis

Is Organic Architecture still relevant today?

Die Räume des Chen Kuen Lee

Wissenschaftsbauten von Fehling+Gogel

New Aaltoism: Tendencies in Nordic Architecture

Die Natur der jungen Architekten in Japan

Frei Ottos IL Mitteilungen

Wasserkunst und Kunstlandschaft

Patrick Geddes Biopolis

Nachhaltigkeit im Biokapitalismus

Irrtümer der Ökobewegung

Architekturprinzipien und Naturwissenschaft

The Milieu of Synthetic Biology

SPEZIAL: Bildatlas

Architektur die hilft: Hitoshi Abe und ArchiAid

J. MAYER H. Architekten, a2o architecten, Lens°Ass architecten: Neuer Gerichtshof Hasselt

SPBR/Angelo Bucci: Wochenendhaus São Paulo

6.2013

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

International thematic review for architecture

Natur | Nature

54810_AR06-13_Cover.indd 3 09.05.14 13:44

Page 2: archithese 6.13 - Natur / Nature

4 archithese 6.2013

��������������� ������������������������

�������������������������������������������� �����������������������

�����������

� ��������

E d I T o R I A L

Nachhaltigkeit, Öko(logie), Carbon, Klima, Eco, Umwelt, Green, Grün, Energie –

verlieren wir bereits Ihre Aufmerksamkeit?

Die Begriffe aus dem Dunstkreis der Natur haben Konjunktur, und doch wurde

dieses Heft mit Skepsis erwartet. «NATUR» schrieb dann auch der selten um

Worte verlegene Harvard-Professor Sanford Kwinter in der grösstmöglichen

Schrift in seine Präsentation, mit der er in Wien einen Vortrag zur Ökologie unter-

legte. Mehr könne er dazu nicht sagen, als ihre Bedeutung mit Grösse zu unter-

mauern. Natur – ein Problemwort wie ein Problembär. An sich gut, auch schön zum

Anschauen; im Kontext der Zivilisation jedoch problematisch.

Natur ist populär, und gerade deshalb schwer zu erkennen. Der skeptische

Zeitgenosse mag vermuten, dass das, was allerorten als Natur bezeichnet und

beschrieben wird, nicht die eigentliche Natur ist. Dieses Unverständnis ihr gegen-

über beschäftigt die Philosophie seit jeher auf grundsätzlicher Ebene und hat die

Naturwissenschaften entscheidend geprägt wie vorangebracht. Von hier wirkt es

auf die Gesellschaft und die Ökonomie zurück. Wenn wir also schon nichts über

einzelne Dinge in der Natur direkt wissen können, so müssen wir uns dem Ver-

ständnis der allgemeinen Beziehungen und Zusammenhänge widmen und können

dieses Wissen verfeinern. Die Architektur gibt diesem Wissen um Beziehungen

Form.

Wir erkennen, dass das Problem mit der Natur tiefer liegt. Frank Lloyd Wright

fand hierfür eine schöne Naturmetapher: Radikal heisst an die Wurzel gehen. Das

Radieschen erklärt das etymologisch.

In diesem Sinne haben wir zu graben begonnen und für das vorliegende Heft

Philosophen, Historiker, Geografen und Architekten beauftragt, die Erscheinun-

gen der Natur und die Beziehungen zwischen Natur, Architektur und Mensch zu

untersuchen. Diese Hinwendung zum Denken in Zusammenhängen sowie ein

prozesshaftes und dynamisches Wesen können als wichtige Eigenschaften eines

Naturverständnisses festgehalten werden. Hier lassen sich Widersprüche zu

einem rationalistischen Verständnis der Architektur als statisches Produkt er-

kennen – Spannungen, die sich aus der Verschiebung von Weltbildern ergeben,

welche die Philosophie seit Jahrtausenden untersucht hat und deren materiali-

sierte Abbildung sich in der Architektur zeigt. Im vorliegenden Heft finden einige

dieser Abbildungen zueinander und formen ein kreatives Milieu, ein geistig-

visuelles Habitat, dessen einzelne Elemente aufeinander einwirken sollen.

Dass die Architektur bereits einen mannigfaltigen Naturbegriff kultiviert, zeigt

die Bild- und Projektsammlung zum Ausklappen in der Heftmitte. Hier wird deut-

lich, dass nicht allein die Natur als stetig produzierend gedacht werden muss,

sondern auch die Architektur. Kunst sei Schaffen «wie Natur», sagte Kant, und in

ihr fände sich eine Brücke zwischen Natur und Freiheit. Wie natürlich sollte dem-

nach die Baukunst sein?

Die Redaktion

54810_AR06-13_IH_Gesamt.indd 4 10.12.13 11:48

Page 4: archithese 6.13 - Natur / Nature

18 archithese 6.2013

A R C H I T E K T U R A K T U E L L

Ein Refugium in der Innenstadt

1

1 Blick von der Strasse auf Wohn­ und Poolkubus

2 Das von Hochhäusern umgebene Quartier nahe der Faria Lima

54810_AR06-13_IH_Gesamt.indd 18 10.12.13 11:48

Page 5: archithese 6.13 - Natur / Nature

19

WoCHENENdHAUs IN são PAULo

voN sPbR/ANGELo bUCCI, são PAULo

Der Ruf der brasilianischen Megametropole

als Betonstadt mit permanentem Verkehrs­

kollaps weckt wenig Assoziationen mit

Erholung. Trotzdem entschied sich ein älte­

res Paar dazu, sein Wochenendhaus statt auf

dem Land in der Innenstadt São Paulos zu

bauen. Dieser ungewöhnlichen Bauaufgabe

begegneten die damit betrauten Architekten

mit einer roh belassenen Freizeitarchitektur,

die sie vom Garten, dem Sonnendeck und

dem Pool ausgehend entwickelten.

Autor: steffen Hägele

An Wochenenden verlassen Tausende bewohner

são Paulos die stadt, um Erholung von der lärmi-

gen Metropole zu suchen. da die meisten dafür mit

dem Auto fahren, kommt es an freitagen und

sonntagen zu stundenlangen staus, die weit ins

Hinterland reichen. die stadtplanung versucht

zwar, innerstädtische Grünräume wie die bewalde-

ten Hügel im Norden, die verwahrlosten brachen

entlang der flüsse sowie die Wasserreservoirs im

süden als Erholungsräume vor allem für die ver-

nachlässigte ärmere bevölkerung zu aktivieren und

sie zugleich zwischen den weiterwachsenden in-

formellen siedlungen als freiräume zu sichern.

Grosse Teile der besser gestellten oberschicht be-

stehen allerdings auf eigenen Landhäusern – auch

um einem gewissen status zu entsprechen. Trotz

der öffentlichen Projekte entstehen deswegen

weiterhin unzählige Anwesen – genannt sítios – im

Umland são Paulos sowie beachresorts und

Gated Communities mit grossem flächenver-

brauch an der nahen Küste, obwohl diese städti-

schen satelliten mittlerweile bis zu drei stunden

von são Paulo entfernt sind – dafür ohne stau.

Ein älteres Paar suchte ebenfalls nach einem

Refugium für seine freien stunden, wollte sich da-

bei jedoch von den verkehrsproblemen unabhän-

gig machen. Entgegen aller Trends ergab sich so

der unerwartete, aber umso logischere Entschluss,

ein Wochenendhaus in der Innenstadt von são

Paulo für sich bauen zu lassen. statt aufs Land zu

fahren, genügt nun der kurze Weg in ein ruhiges

Wohnquartier wenige Hundert Meter entfernt vom

boomenden Geschäftsbezirk entlang der faria

Lima. diese strassenachse südlich der Avenida

Paulista als historischem Zentrum stellt ein weiteres

lineares Zentrum dar, das sinnbildlich für são Pau-

los verlagerung der Geschäfts- und Zentrumsfunk-

tionen in Richtung stadtauswärts steht.

betrachtet man das Wochenendhaus, fällt es

durch seine plastische und gleichsam schmale

Kubatur zwischen den benachbarten bauten auf,

obwohl es deren Körnigkeit aufgreift. Leichtfüssig

kragen zwei vielgestaltige volumen zur strasse hin

aus und verdeutlichen, dass es sich hier nicht um

ein gewöhnliches Wohnhaus handelt. vielmehr ent-

warfen Angelo bucci und sein Architekturbüro

sPbR das Wochenendhaus als Erholungsstruktur.

statt Garten und Pool nachträglich an das Haus

anzulagern, drehten die Architekten das Programm

um und überhöhten diese meist peripheren Ele-

mente, machten sie zum Kern ihres Projekts – er-

gänzt durch einen minimierten schlafbereich, eine

kleine Haushälterwohnung sowie einen Raum zum

Kochen und Gäste empfangen. die distribution des

Programms verläuft dabei vertikal; allerdings nicht

in einer rigiden stapelung von Räumen, sondern in

einer offenen und gleichsam komplexen staffelung.

so wird der Übergang vom introvertierten Garten

zuunterst und dem im gleissenden sonnenlicht ex-

ponierten sonnendeck mit Pool zuoberst graduell

erlebbar.

die differenzierung des Raums geschieht vor-

nehmlich im schnitt. Mit dieser Entwurfshaltung

führt Angelo bucci die Tradition der Escola Paulista

und deren Architekten – beispielsweise vilanova

Artigas oder Paulo Mendes da Rocha – weiter. be-

reits 1991 sorgte bucci als junger Absolvent mit

seinem unrealisierten Entwurf für den brasiliani-

schen Pavillon der Expo sevilla 1992 für furore, als

2

54810_AR06-13_IH_Gesamt.indd 19 10.12.13 11:48

Page 6: archithese 6.13 - Natur / Nature

26 archithese 6.2013

Die «eigenwüchsigkeit» Der naturÜber ein dynamisches Naturverständnis und unser Verhältnis zur Natur Der Architekturdiskurs begegnet der Natur

mit Skepsis. Jenseits schöner Landschaften wird die Suche nach dem Wesen der Natur durch die allgemeine Popularität des

Begriffs erschwert. Dies wird befördert durch eine Baugeschichte, welche die Baukunst traditionell als statischen Gegen-

punkt zu einer Natur begreift, die seit der Antike als etwas in seinem Wesen Dynamisches und Prozesshaftes gedacht wird.

Die Architektur spiegelt hier eine allgemeine Tendenz wider: Obwohl wir als leibliche Wesen doch Teil der Natur sind, haben

wir uns im Lauf der Geschichte immer mehr als ihr Gegenüber betrachtet. Naturphilosophische Ansätze versuchen diese

Kluft immer wieder zu überwinden.

Autor: Norman Sieroka

Die Architektur vermittelt zwischen Mensch und Natur – und

sie tut dies ganz konkret, indem sie räumlich zwischen uns

und unsere natürliche Umgebung tritt. Man kann Architek-

tur somit als die praktische Antwort auf die Frage betrach-

ten, wie sich das Verhältnis von Mensch und Natur gestaltet.

Nun hat diese Frage aber auch eine theoretische Seite, und

die Disziplin, die sich auf dieser Ebene um unser Naturver-

ständnis und um das Verhältnis vom Menschen zu seiner

natürlichen Umgebung bemüht, ist die Naturphilosophie.

Oder anders formuliert: Wo die Architektur räumlich ausge-

dehnte Gebäude schafft, schafft die Philosophie begriffliche.

Solche Begriffsgebäude sind keineswegs ewig. Sie sind

historisch bedingt, unterliegen Zerfallsprozessen, Verschie-

bungen, Neuerungen. Will man sich philosophischen Frage-

stellungen – wie eben beispielsweise zur Natur und unserem

Verhältnis zu ihr – widmen, so ist es oftmals aufschlussreich,

die Geschichte der dazu herangezogenen Begriffe zu unter-

suchen. Eine Analogie zur Optik vermag die Methode zu il-

lustrieren: Begriffsgeschichtliche Betrachtungen verhelfen

uns zu einem stereoskopischen Blick und geben unseren

Überlegungen damit eine Tiefenschärfe. Es kommt eine neue

Dimension hinzu, indem wir etwas nicht nur aus der heuti-

gen, sondern auch aus einer früheren Perspektive betrachten.

Wurzeln des Naturbegriffs

Woher stammt also unser Begriff «Natur», und wie hat er

sich entwickelt? Die Ursprünge des abendländischen Natur-

begriffs oder, wie man im Vorgriff auf das Folgende termino-

logisch treffender sagen könnte, seine «Wurzeln» – reichen

zurück ins archaische Griechenland. Die klassische Textpas-

sage, an der der Begriff der Natur (griechisch phýsis) zum

ersten Mal in prominenter Weise auftrat, stammt aus Homers

Odyssee. Als Odysseus sich auf den Weg macht, seine Ge-

fährten zu retten, die von der Zauberin Kirke in Schweine

verwandelt wurden, begegnet ihm der Götterbote Hermes.

Damit Odysseus nicht auch wie diese dem Zauber der Kirke

anheimfällt, reisst Hermes eine spezielle Pflanze aus dem

Boden, die als Zaubermittel wirkt und Odysseus schützen

soll. Im Zuge dieser Handlung weist Hermes Odysseus nun

auf die «Natur» (phýsis) dieser Pflanze hin – und zwar im

Sinne ihres Wuchses und ihrer besonderen Gestalt.

Etymologisch stammt das Wort phýsis vom Verb phýein

ab, was «wachsen» bedeutet. Die Natur als phýsis meint also

tatsächlich den «Wuchs» – oder allgemeiner das, was durch

sich selbst verursacht und in seiner besonderen Gestalt her-

vorgebracht wird. «Eigenwüchsigkeit» wäre eine zwar un-

gewöhnliche, aber wohl recht treffende Übersetzung. Ganz

ähnliche Konnotationen von Wachstum schwingen auch in

unserem Wort «Natur» mit, das dem Lateinischen entlehnt

ist. Dort meinte natura ursprünglich die Gebärpforte der

Tiere; das zugrunde liegende Verb nascere bedeutet «gebo-

ren werden».

Aus heutiger Sicht fallen die biologischen Konnotationen

des antiken Naturbegriffs auf. Von «Wuchs» und «Wachs-

tum» sprechen wir heute im Allgemeinen bei Pflanzen und

Lebewesen. Im Kontext von Chemie und Physik wird

«Wachstum» zwar noch im Bezug auf Kristalle verwendet,

aber nicht, wenn es beispielsweise um den Aufbau von Ato-

men oder Anziehungen zwischen elektrischen Ladungen

54810_AR06-13_IH_Gesamt.indd 26 10.12.13 11:48

Page 7: archithese 6.13 - Natur / Nature

27

Die Odyssee- Fresken im Gross-herzoglichen Museum zu Weimar (Abb.: © Deutsches Historisches Museum, Berlin)

54810_AR06-13_IH_Gesamt.indd 27 10.12.13 11:48

Page 8: archithese 6.13 - Natur / Nature

38 archithese 6.2013

erweiterung Der architekturGefalteter Raum, bewohnte Landschaft Die Aufhebung der Grenze zwischen innen und aussen sowie die Frage

nach einer «Wohnlandschaft» standen schon Mitte des letzten Jahrhunderts auf der Agenda einiger Architekten.

Die Bauten des Scharoun-Schülers Chen Kuen Lee versinnbildlichen auf ideale Weise die Verschmelzung zwischen

Natur- und Lebensraum und stehen in der Tradition des organischen Bauens.

Autor: Eduard Kögel

Eine enge Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Dis-

ziplinen verändert manchmal sowohl die Auffassung des

Raumes wie die des Bauwerks. Die hier dargestellte Genese

einer organischen Architektur in der Auslegung von Hugo

Häring und Hans Scharoun zeigt jedoch auch, dass widrige

Umstände während des Nationalsozialismus wesentlich zu

einer neuen Auffassung von «Architekturlandschaft» beige-

tragen haben.1 In den Fünfzigerjahren entwickelten ihre

Schüler diese Haltung weiter. Am Beispiel von Wohnhaus

und Garten Straub senior von 1956/1957, das der Scharoun-

Schüler Chen Kuen Lee mit dem Landschaftsarchitekten

Hermann Mattern konzipierte, wird ein praktisches Ergeb-

nis der zuvor gespannten Diskurslinien dargestellt.

Von Hans Scharouns Vorkriegsbauten sticht das 1933 fer-

tiggestellte Landhaus Schminke im sächsischen Löbau als

«Dampfschiff der Moderne» hervor. Es hat alle Attribute, die

für eine ikonografisch wirksame Promotion der modernen

Doktrin erforderlich schienen: linearer Grundriss, flaches

Dach und Transparenz bestimmen das Bauwerk. Bei diesem

Projekt lernte Scharoun die Landschaftsarchitektin Herta

Hammerbacher und ihren Ehemann Hermann Mattern ken-

1

54810_AR06-13_IH_Gesamt.indd 38 10.12.13 11:49

Page 9: archithese 6.13 - Natur / Nature

39

nen, für die er anschliessend ein kleines Wohnhaus realisie-

ren konnte, das ebenfalls noch keine Konzessionen an die

ideologisch begründete Formvorgabe des Satteldaches unter

der nationalsozialistischen Herrschaft zeigte.2 Dadurch

lernte Scharoun den Bornimer Kreis kennen, der sich um den

Staudengärtner Karl Foerster gebildet hatte. Foerster, Ham-

merbacher und Mattern betrieben seit 1928 zusammen eine

Gartenbaufirma, die sich um eine Reform der Gartengestal-

tung bemühte und deren Ideen bei Scharoun auf fruchtbaren

Boden fielen.

Die Satteldachvorgabe der nationalsozialistischen Behör-

den führte Mitte der Dreissigerjahre bei Scharoun zu einer

Haltung, aus der zum Beispiel das Haus Baensch (1934/1935)

und das Haus Mohrmann (1938) in Berlin hervorgingen, bei

denen sich die biederen Strassenseiten gravierend von den

Gartenseiten unterscheiden. In beiden Fällen löst sich der

Grundriss des Hauses zum Garten hin auf, den jeweils die

Gestaltung von Hermann Mattern prägte. Eine ganz beson-

ders schwierige Auseinandersetzung folgte für Scharoun

beim Haus für den Kunstsammler Ferdinand Möller

(1937/1939) am brandenburgischen Zermützelsee – an einer

Stelle, die durch den Bezug zur Landschaft in besonderem

Mass das Augenmerk der nationalsozialistischen Behörden

auf sich zog.3 Genau in diesem Moment trat der junge Chi-

nese Chen Kuen Lee4 als Absolvent in das Büro von Scharoun

ein und erfuhr so am Entwurfsprozess die Suche nach einer

für alle Beteiligten vertretbaren Lösung. Auch hier wirkte

Hermann Mattern als Landschaftsarchitekt, und im Resultat

fand Scharoun eine unter politischen Vorgaben erzwungene

Zwittergestalt, dessen Schauseite eine Lochfassade zeigt,

während sich die Fassade zum See unter der verzogenen

Form des Satteldaches aus der Topografie begründen lässt.

Die Öffnung der Dachfläche mit einer asymmetrisch gesetz-

ten Kreissegmentgaube erlaubt die Beziehung zur Land-

schaft aus dem zweigeschossig offenen Galeriegeschoss des

Wohnraums. Chen Kuen Lee arbeitete bis 1943 im Büro von

Scharoun und erlernte dort in vielen Diskursen den Umgang

mit den nationalsozialistischen Vorgaben.

Offensichtlich wollte man sich in diesen Auseinanderset-

zungen jedoch nicht von den braunen Ideologien treiben las-

sen und suchte nach eigenen Handlungsspielräumen, die

sich mit selbstgewählten theoretischen Modellen untermau-

ern liessen. Die chinesische Herkunft von Lee befruchtete für

Scharoun – und offensichtlich noch mehr für seinen Kollegen

Hugo Häring – die intensive Suche nach einer originellen Be-

gründung für geneigte Dachformen und sich auflösende

Grundrisse, die mit einer neuen Bedeutungsebene unterlegt

werden mussten.

Von der chinesischen Dachlandschaft zur Dächerei

Hugo Häring traf sich Mitte Oktober 1941 mit drei jungen

Chinesen in Berlin. Chen Kuen Lee und John Woo (auch Woo

Shaoling) hatten Architektur studiert, während eine weitere

Person als Bauingenieur beschrieben wird. Aus dieser Zu-

sammenkunft entwickelte sich eine lose Folge von Treffen,

von denen bis Mitte 1942 neun Protokolle erhalten blieben,

die einerseits Aufschluss über die Diskurse in der Gruppe

geben und anderseits die anwesenden Personen listen.5

Während Lee und Häring an jedem Treffen teilnahmen,

kamen Hans Scharoun und Härings amerikanischer Assis-

tent, John Scott, ab Mitte November 1941 zu mindestens fünf

Zusammenkünften an der privaten Schule Kunst und Werk.

Zusätzlich verfasste Häring eine Denkschrift zur Gründung

eines chinesischen Werkbundes (2. Dezember 1941) und die

undatierte Beschreibung der Stadt des CHIWEB (Abkürzung

für Chinesischer Werkbund). Ein Reihe von Studien aus Hä-

rings Nachlass legen nahe, dass sie in diesem Kontext für ein

imaginiertes China entstanden und gleichzeitig dazu dien-

ten, die eigene Haltung unter nationalsozialistischem Druck

mit exotischen Vorzeichen neu zu deuten.6 Nicht zuletzt re-

feriert der erst 1947 veröffentlichte programmatische Text

«Gespräch mit chen kuan li über einige dachprofile» über die

Anfang der Vierzigerjahre geführten Diskurse. Darin schrieb

er: «Das ist das ganze haus: ein dach – alles andere ist nach-

1 Wohnlandschaft im Haus Straub, Knittlingen, 1956–57, Stahl-treppe von Günter Ssymmank (Foto 1, 10+11: Archiv Eduard Kögel)

2+3 Haus Scharf, Oberstdorf, 1954, Gartengestaltung von Hermann Mattern (Foto 2–4: © Ernst Deyhle, Archiv Eduard Kögel)

3

2

54810_AR06-13_IH_Gesamt.indd 39 10.12.13 11:49

Page 10: archithese 6.13 - Natur / Nature

48 archithese 5.2013

Back tO nature?New Tendencies in Nordic Architecture The architecture of Scandinavia became famous for a different, individual

interpretation of modernism, advocated by Alvar Aalto or Sverre Fehn. Nowadays, the aspect of nature as a theme

in contemporary architecture plays an important role in the work of a group of young Nordic architects. But how has

the relationship between human beings, nature and architecture evolved throughout these generations?

Author: Eeva-Liisa Pelkonen

In the 2013 Venice Art Biennale, Finland exhibited works of

two artists in two locations: Terike Haapoja at the Nordic

Pavilion, designed by Sverre Fehn, and Antti Laitinen at the

Finland Pavilion, designed by Alvar Aalto. A photograph by

Laitinen captured the essence of the shared theme “Fallen

Trees”: a perfect square, clear-cut in the middle of thick

spruce forest, exposing the black soil underneath. One is left

wondering about the status of this new nature: is it an im-

moral act or a source of a new kind of nature and a new kind

of beauty?

The two installations make clear that the generation of

artists born in the 1970s thinks differently about nature than

previous generations; nature is no longer taken for granted

as something easy to understand, react to, or even to classify,

but rather seen as a deep epistemological problem that forces

us to question everything we know about ourselves and the

external world. Haapoja and Laitinen framed the man-nature

relationship, which lies at the heart of this new paradigm, in

different, yet equally puzzling light; Laitinen by depicting

often humorous, even absurd, encounters and battles with

the natural world – a man digging a perfectly aligned path

in metres-deep snow, for example, reminiscent of Werner

Herzog’s movies, and Haapoja, in her laboratory-like setting,

by treating nature as a sovereign agent, by for example hav-

ing the trees speak to each other. One is left wondering about

1

54810_AR06-13_IH_Gesamt.indd 48 10.12.13 11:49

Page 11: archithese 6.13 - Natur / Nature

49

the community of animals now dead. In both their works

human beings are defined as just one among many other

species. Fehn’s pavilion with trees growing through the

pavilion’s roof provided a poetic setting for Haapoja’s ques-

tioning of human agency over nature.

Tree Greens: Bjarke Ingels Group, avanto architects

and Helen & Hard

Nature is also a dominant theme in the works of contempo-

rary Nordic architects. Yet, also their understanding of na-

ture has moved far beyond the images of fjords and forests

that tourists flock to see. To be sure, the Nordic region is

hardly an abode of pure nature any longer. Thinking of

densely populated Denmark, where it is hard to find a corner

of the country without signs of human habitation, and even

in the more bucolic northern corners of the Nordic countries,

nature-culture hybrids dominate. In fact, all Nordic countries

have a long history of harvesting nature for economic bene-

fits: wood in the case of Finland, commercial fishing in

Iceland, oil in the case of Norway, wind energy and indus-

trial-scale agriculture in Denmark, mining in Sweden. Fur-

thermore, countries in the region have recently used technol-

ogy and engineering to counter their geographic and climatic

limitations: Sweden changed its geographic focus to the

south by building one of the world’s longest bridges that now

physically connects the country to continental Europe, while

Finnish cafés now provide ultraviolet light to counter the

Nordic gloom.

For the new generation of Nordic architects, who have

grown up in a world defined by clear cutting, windmills and

oil drilling platforms, nature has gained new meaning. The

examples of three firms – BIG from Copenhagen, avanto

architects from Finland, and Helen & Hard from Norway –

illustrate this point.

In the work of BIG, founded by Bjarke Ingels, the path to

nature leads through the lens of a nature-culture hybrid. A

mission statement on the firm’s website claims “the freedom

to change the surface of the planet to better fit the contem-

porary life forms”. An apartment building called Mountain

Dwellings outside Copenhagen exemplifies this approach by

opposing the flat landscape with a building that simulates a

hillside location – a concept that is amplified by a photomural

of the Himalayas. BIG’s buildings both look and work like

nature – the mountain-apartment concept has since then

been scaled up to transform a whole island off the coast of

the capital of Azerbaijan from an arid desert into a lush new

1 Antti Laitinen: Forest Square II, Venice Art Biennale 2013 (Photos 1+2: Antti Laitinen)

2 Antti Laitinen: Attempt to Split the Sea, 2006

3 The Naked Garden, Bolzano, Italy, 2008, architects: Helen & Hard (Photo: Helen & Hard)

3

2

54810_AR06-13_IH_Gesamt.indd 49 10.12.13 11:49

Page 12: archithese 6.13 - Natur / Nature

54 archithese 6.2013

Die natur als haustierÜber das Naturverständnis junger Architekten in Japan Die traditionelle Raumauffassung in Japan ist untrennbar

mit der Natur verbunden. In Primitive Future erneuerte Sou Fujimoto dieses radikale Verhältnis für die zeitgenössische

Architektur mit einfachen Begriffen wie Wald, Baum und Wachstum. Über diesen schematisch-metaphorischen Zugang

hinaus findet in der jungen Archi tektengeneration Japans eine differenzierte Auseinandersetzung mit Naturthemen

statt. Das Natürliche wird in die Lebensumgebung der Menschen reintegriert.

Autoren: Steffen Hägele und Tina Küng

Das Standardfoto vom Haus mit Garten zeigt in der westli-

chen Welt stets eine Ansicht von aussen. Eine japanische

Aufnahme zum gleichen Sujet ist hingegen von innen nach

aussen fotografiert; das Haus existiert nur als Vordergrund,

der sich schrittweise zum Garten hin öffnet. Dazwischen

staffeln sich gestaltete Elemente wie papierne Schiebetüren,

Stützenreihen, mitunter eine Veranda, und der Garten nimmt

schliesslich die Bildmitte ein. Hier ist die Grenze zwischen

innen und aussen, zwischen Haus und Garten graduell; sie

ist weniger scharf als in der Baukunst des Abendlandes, und

die Sphären stehen in einer intensiven Beziehung zueinan-

der. Mit der Öffnung kommt das Äussere nach innen, die

Natur wird in den Wohnraum miteinbezogen.

Der unendliche Raum

Die räumliche Durchlässigkeit der japanischen Architektur-

kultur manifestiert sich auch in der japanischen Schrift be-

ziehungsweise deren chinesischen Zeichen. Wörter aus der

Wortfamilie «Haus» werden durch das Zeichnen eines aus-

kragenden Daches im Querschnitt dargestellt. Am Pendant

der ägyptischen Hieroglyphe könnte man den Ursprung

des westlichen, geschlosseneren Verständnisses erkennen:

Einem leeren Gefäss ähnlich, umschliesst eine Wand das

Haus und besitzt damit eine deutliche Abgrenzung von

seiner Umgebung.

Was sich selbst in der Schrift abzeichnet, manifestiert

sich insbesondere in der Anlage traditioneller Tempelan-

lagen und Schreine des Shintoismus. Die Anlagen beziehen

ganze Wälder, Berge, das Meer oder Wasserfälle in ihre

spirituelle Realität mit ein. Mehr noch ist es dieser Bezug zur

Natur und die damit verbundene Symbolik, was das Unter-

scheidungsmerkmal der jeweiligen Schreine ausmacht. Die

Architektur ist ein Teil dieser Natur und damit des unend-

lichen Raums; sie wird gleichsam von ihm durchdrungen.

Alles steht zueinander in einem sich bedingenden Ver-

hältnis.

Mit Blick auf die zeitgenössische japanische Stadt zeigt

sich das traditionelle Raumkonzept als relativiert. Schreine

liegen wie Inseln in die japanischen Städte eingestreut und

zeugen als Relikt vom Einklang mit der Natur. Der weitaus

grössere Teil des gebauten Häusermeers bricht mit dem Kon-

zept des unendlichen Raums – auf die Spitze getrieben von

fensterlosen Appartements für überarbeitete Stadtnomaden

inmitten der ausufernden Stadt. In diesem Kontext ist die

facettenreiche Hinwendung junger japanischer Architekten

zu Themen und Raumkonzepten aus der Natur zu verstehen:

als Fortsetzung einer Tradition des Natürlichen und gleich-

sam als Kritik an der (über-)entwickelten, modernen Stadt

mit ihren Problemen wie Vereinzelung, Bezugsverlust und

Mangel an Naturerfahrung.

Die Genealogie japanischer Architekten

Innerhalb dieser Renaissance des architektonischen Natur-

bezugs lassen sich zwei sehr unterschiedliche Richtungen

ausmachen, die sich mit markanten Entwicklungslinien ja-

1

2

54810_AR06-13_IH_Gesamt.indd 54 10.12.13 11:49

Page 13: archithese 6.13 - Natur / Nature

55

panischer Architekten aus dem 20. Jahrhundert decken. Im

Unterschied zum Okzident bejahen sie mehrheitlich eine sol-

che direkte Ahnenfolge: Nicht durch Abgrenzung, sondern

aus der Tradition des Meisters heraus entwickeln sich die

jeweiligen Stossrichtungen.

Verallgemeinert stehen auf der einen Seite Architekten

wie Atelier Bow-Wow, Go Hasegawa oder Terunobu Fuji-

mori, die aus dem Dunstkreis von Kazuo Shinohara und sei-

nem Schüler Kazunari Sakamoto hervorgingen – die «Roten»,

wie Fujimori sie bezeichnet. Auf der anderen Seite reihen

sich die Architekten Toyo Ito, Kazuyo Sejima und Ryue Nishi-

zawa (zusammen SANAA), Junya Ishigami sowie Tetsuo

Kondo in eine zweite Entwicklungslinie – als die «Weissen»,

die Abstrakten. Beide Sphären sind in der Realität keines-

falls trennscharf, sondern überschneiden und beeinflussen

sich – erweitert um unzählige, hier unerwähnt bleibende

Architekten. Für einen ersten Zugang hilft diese Klassifizie-

rung jedoch, eine Architektur des Hauses als Behausung auf

der einen und eine abstrakte entmaterialisierte Architektur

auf der anderen Seite festzuhalten.

Natürliche Einflüsse, natürliche Materialien

In der Tradition von Kazuo Shinohara versuchen Architekten

wie Go Hasegawa oder Atelier Bow-Wow innerhalb existie-

render Elemente eines Hauses – Boden, Dach, Fenster, Licht,

Öffnung, Wand – der physischen Abschottung in der generi-

schen Architektur entgegenzutreten und natürliche Ein-

flüsse erfahrbar zu machen.

1 Ägyptische Hieroglyphe für Haus und Eingang, chinesische Hieroglyphe für Haus und diverse Gebäude. Die japanische Schrift hat diese Zeichen über-nommen (Abb. aus: «Japan: Climate, Space, and Concept», in: process: Architec-ture, Nr. 25, Tokyo 1981, S. 26)

2 Terunobu Fujimori, Teehaus Tetsu, 2005: «I dressed science and technology in nature» (Abb. aus: Fujimori Terunobu, Fujimori Terunobu architec-ture, Tokyo 2007, S. 105)

3 Go Hasegawa, Pilotis in a Forest, 2010 (Foto aus: Go Hasegawa, Works, Tokyo 2012, S. 103)

3

Shinohara verzichtete beim Tanikawa House von 1972 bei-

spielsweise auf einen künstlichen Boden und liess den Na-

turboden des umgebenden Waldes durch das Gebäudeinnere

laufen – betonte somit das Haus als einen Teil des universel-

len Raums. Im selben Geist stellte Go Hasegawa jüngst das

Wochenendhaus Pilotis in a Forest auf filigrane Pfeiler – und

hob damit den Wohnraum zwischen die Baumkronen. Der

angehobene Wohnraum und der darunterliegende, gedeckte

Aussenbereich stehen im direkten Bezug zum Wald als über-

geordnetem Raum. Hasegawa führt die Natureinflüsse wie-

derum bis ins Gebäudeinnere: Das Erdgeschoss ist dem Bo-

den, der Erde zugeordnet, der zweite Stock dem Himmel – in

Analogie zum idealen zweigeschossigen Wohnhaus. Durch

die wechselnden Stimmungen in Material und Licht re-inte-

griert Go Hasegawa so den verloren gegangenen Bezug zur

Umwelt ins Gebäudeinnere – ohne dabei die Natur selbst

«mitzuentwerfen».

Terunobu Fujimori hingegen, der – bevor er mit 43 Jahren

sein Erstlingswerk vollendete – sich bereits als Architektur-

theoretiker einen Namen gemacht hatte, entwickelt aus sei-

ner düsteren Absage an die zeitgenössische Stadt eine

fröhlich-folkloristische Architektursprache, in welcher er

vornehmlich im ländlichen Kontext baut. In Abgrenzung zu

den harten, künstlichen Materialien der Stadt bekleidet

Fujimori die notwendige moderne Technik bei seinen Bauten

mit natürlichen und archaischen Werkstoffen. Augenzwin-

kernd lässt er Löwenzahnblüten in unzählige Töpfe über die

eigentliche Dachhaut aus Blech pflanzen, verkohlt von Hand

54810_AR06-13_IH_Gesamt.indd 55 10.12.13 11:50