archithese 2.02 - architecture, biologie, techniques

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Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur Revue thématique d’architecture archithese 2 02 Architektur und Bionik Organisches Bauen im zwanzigsten Jahrhundert Wolfgang Pehnt Kunst und Technik Interview Thomas Herzog Bionische Sensibilität Greg Lynn AktuelleProjekte: Kolatan/MacDonald Greg Lynn Form Herzog & de Meuron Jacques Herzog im Gespräch über Architektur und Natur Architektur aktuell UN Studio/Ben van Berkel Bearth & Deplazes Steinmann und Schmid Scheitlin und Syfrig Architecture, Biologie, Techniques mit B A U DOC B A U BULLETIN

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Page 1: archithese 2.02 - Architecture, Biologie, Techniques

Zeitschrift und Schriftenreihe für ArchitekturRevue thématique d’architecture

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Architektur und Bionik

Organisches Bauenim zwanzigsten JahrhundertWolfgang Pehnt

Kunst und TechnikInterview Thomas Herzog

Bionische SensibilitätGreg Lynn

AktuelleProjekte:Kolatan/MacDonaldGreg Lynn FormHerzog & de Meuron

Jacques Herzog im Gesprächüber Architektur und Natur

Architektur aktuell

UN Studio/Ben van BerkelBearth & DeplazesSteinmann und SchmidScheitlin und Syfrig

Architecture, Biologie, Techniques

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BAU DOCBAU BULLETINCO

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TISCA Tischhauser + Co. AG � CH-9055 Bühler � 071-791 01 11TIARA Teppichboden AG � CH-9107 Urnäsch � 071-365 62 62

TISCA/TIARA Objektberatung � CH-8021 Zürich � 01-241 97 [email protected] � www.tisca.com

Auswärtiges Amt Berl inTeppiche von TISCA TIARA

Architekt: Prof. H. KollhoffFotograf: Ulrich Schwarz

Leserdienst 113

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Editorial

Architecture, Biologie, TechniquesDer Neologismus «Bionik», in dem Silben der Wörter «Biologie» und«Technik» zusammenfanden, ist vor gut 40 Jahren aufgekommen. Neu istder Gedanke also nicht, Erkenntnisse der technischen Biologie eigen-ständig weiterzuentwickeln und auf andere Tätigkeitsfelder zu übertra-gen. Nicht zuletzt durch eine Wanderausstellung des Landesmuseumsfür Technik und Arbeit Mannheim wurden die Überlegungen der Bionikindes einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich, und auch in aktuellenArchitekturdebatten fällt der Begriff häufig. Anders als vor einigen Jahrzehnten Frei Otto oder Thomas Herzog, die bei der Entwicklung vonMembranstrukturen oder «intelligenten» Fassadenhäuten durch Bei-spiele der Natur inspiriert wurden, sehen heutige Protagonisten wieGreg Lynn oder Kolatan/MacDonald Analogien insbesondere hinsicht-lich generativer Prinzipien, die sich vom evolutionären Prozess auf diecomputergestützte Entwurfsfindung übertragen liessen.Unumstritten sind diese Entwicklungen nicht, und so wurde die Blob-

Architektur zu einem zentralen Diskussionsgegenstand der letzten,im Jahre 2000 unter dem Titel Anything veranstalteten Any Conference.Be sonders Anthony Vidler scheute sich nicht, seiner Skepsis Ausdruck zuverleihen:«In these projects [. . . ] the missing link in the traditional chain na -

ture – architecture – building is ‹architecture›: the jump is straight fromnature to building [. . . ] What was symbolic in classicism, allegorical inthe baroque, and abstracted in modernism, is now rendered in the do-main of the real – or rather the real-virtual where the ‹real› now resides– in both natural and biological terms. Nature and building are mergedin an endless digital manipulation of material, inert and living. Digitaltechnology allows for a direct passage from one to the other, so that all domains of the ‹real› are mapped at one and the same time.Here then we might to ask: by what criteria are we to judge these new

bio-forms that no longer join us to cultural or historical tradition, but,so to speak, have attained an emancipation from culture that scientificthought has always willed but now has achieved?»Auch wenn die von Vidler kritisierten Tendenzen einen Schwerpunkt

dieses Heftes bilden, war es Ziel, die zeitgenössischen Beziehungen zwi-schen Architektur und Natur in möglichst vielen Facetten zu dokumen-tieren: von der im gesamten zwanzigsten Jahrhundert ostinaten Idee eines als «Organik» apostrophierten Biomorphismus über einen engerenBegriff der Bionik bis hin zur Frage der Wahrnehmung natürlicher undartifizieller Phänomene, wie sie sich in den Bauten von Herzog & de Meuron stellt.In wichtigen Teilen geht dieses Heft zurück auf das Symposium «Ar-

chitektur und Bionik», das die Akademie der Architektenkammer Hessengemeinsam mit dem Deutschen Architektur-Museum und der archi theseim November 2001 in Frankfurt am Main veranstaltete. Konzipiert und moderiert wurde die Veranstaltung von dem Akademieleiter RolfToyka sowie von Petra Hagen Hodgson, die als partielle Gastredaktorinwesentlich zum Entstehen des vorliegenden Heftes beitrug.

Redaktion

Lars Spuybroek/NOX Architects:OffTheRoad, Siedlungsprojekt,1998

In eigener Sache:Wie bereits im letzten Heft angekündigt, ist das Baudoc Bulletin der bekannten «Schweizer Baudoku-mentation» von dieser Ausgabe an mit der archithesezusammengeführt. Für die Leser der archithese bereitsam Logo auf dem Titelblatt erkenntlich, finden sich im Rubrikenteil die ausführlichen Produktinformationender Baudokumentation. Wir begrüssen die zusätzlichenAbonnenten und Leser des Baudoc Bulletins und hoffen, dass Sie mit dem umfangreicheren Angebot derarchithese zufrieden sind.

Gleichzeitig eröffnet archithese einen Leserdienstfür zusätzliche Produktinformationen. Inserate und In dustrieprodukte sind mit dem Begriff «Leserdienst»und einer Nummer versehen. Die Nummern, für deren Produkte Sie sich interessieren, können Sie auf deram Ende des Heftes eingehängten Karte «Leserdienst archithese» ankreuzen und an die angegebene Adressesenden.

Sie erhalten dann umgehend von den gewünschtenFirmen weitere Informationen.

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PHH, RT: Bionik bezeichnet eine relativ junge Forschungs-disziplin, die sich mit den Baumustern der Na tur unterphysikalischen Gesichtspunkten beschäftigt und den Evo -lutionsprozess mit in die Betrachtungsweise einbezieht.Herr Herzog, Sie haben mehrfach darauf hingewiesen,dass Sie mit Biologen zusammenarbeiten. Warum machenSie das? Wie gestaltet sich diese Zusammen arbeit? Was bedeutet Bionik für Sie?

TH: Es gibt vielfältige Berührungspunkte zwischen der Biolo-gie und meiner Arbeit. Ich sollte vielleicht zunächst etwas zumeinem persönlichen Hintergrund sagen. In meiner Gym -nasialzeit habe ich ernsthaft erwogen, Biologie zu studie-ren – die Phänotypen der Tiere und Pflanzen hatten es mir an-getan. Von ihrer optischen Wirkung geht eine ungeheure Fas-zi nation aus. Nichts ist so vielfältig und formenreich wie dieNatur. Immer interessiert mich die Frage, wie einzelne Er-gebnisse der Evolution einzelnen Anforderungen genügenund unter welchen Umständen und Bedingungen sich be-stimmte Formen und Funktionen entwickelt haben. Hierbeigeht es nicht nur um die nach aussen hin erkennbare Form,sondern gleichzeitig auch um die inneren Strukturen, wie siezum Beispiel in Schnitten deutlich werden. Ich hatte dasGlück, früh an einschlägige Literatur wie die Bücher von Karlvon Frisch zu kommen, um der Frage nachzugehen, wie ganzunterschiedliche Tiere und ihre Untersysteme aufgebaut sind.

Wir sprechen ja auch in der Architektur von Subsystemen.Ich glaube, dass ich unbewusst viel über die Zusammen hängezwischen der Anordnung dieser Subsysteme, ihren Wechsel-wirkungen untereinander und ihrem Aussehen verstandenhabe. Immer wieder habe ich mich dabei auch für Anschlüs-se und Übergänge interessiert. Gleichzeitig bin ich der Fragevon Spannungen in Krümmungen oder der Funktion von Fal-tungen nachgegangen.

Als ich die Professur an der Universität in Kassel über-nommen hatte, wurde ich bald darauf auch Gutachter für die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Es ging um den Sonderforschungsbereich «Natürliche Konstruktionen», dervon Frei Otto geleitet wurde. Wir trafen uns häufiger in einer interdisziplinär zusammengesetzten Forschergruppe.Zu ihr gehörte auch Werner Nachtigall, einer der «Väter» der Bionik-Grundlagenforschung. Seit den Siebzigerjahren habe

ich immer wieder mit ihm Kontakt gehabt. Wenn ich stu-dierte, wie etwas funktionieren könnte und wie sich dieWechselwirkungen mit anderen Phänomenen darstellen, sohabe ich häufig Ähnlichkeiten in der Natur gesehen. So habeich mich beispielsweise immer wieder mit der Funktionswei-se von Vogelschwingen, von Termitenhügeln (ein thermody-namisches Thema) und bestimmten Silhouetten von Teilenvon Tieren, die für Unter- und Überdrucksituationen sorgen,beschäftigt. Besonders interessant war auch die vor Jahren ge-wonnene Erkenntnis, dass Eisbärhaare hohl sind und durchinnere Reflexion Licht auf die dunkle Haut transportieren. –Als ich dieses Phänomen in einer amerikanischen Zeitschriftlas und Werner Nachtigall davon berichtete, hat ihn das sogleich interessiert. Er führte Messungen mit weissen Haa-ren von Schafen, Kühen und anderen Tieren durch; allerdingsmit dem Ergebnis, dass die Funktionsweise bei den Eisbär-haaren offenbar singulär ist. Für uns Architekten besteht ei-ne unmittelbare physikalische Wirkungsana logie mit der umdie gleiche Zeit, in den Achtzigerjahren, aufgekommenentransluzenten Wärmedämmung aus eng gepackten Polycar-bonat-, oder Silikatglas-Röhrchen.

Im Zusammenhang mit der Bionik stellt sich die Grund-satzfrage, ob und wie das Lernen von der lebenden Naturfunktioniert. Hier herrscht die etwas irrige Meinung vor, manmüsse die Natur nur genau beobachten, dann baue man rich-tig. Es gibt verschiedene Gründe, warum das nicht stimmt. Einer liegt darin, dass es Modellgesetze gibt. Man ist schliess-lich nicht unabhängig von der absoluten Grösse. Was in einerDimension funktioniert, funktioniert nicht notwendigerwei-se auch in einer anderen. Je nachdem, worum es geht, hängtdas dann damit zusammen, dass zum Beispiel die massgeb -lichen Bestimmungsgrössen für Kraftübertragungen oder Verformungen in ihrer Auswirkung in der zweiten und drit-ten Potenz in dem relevanten Algorithmus vorkommen. Oderaber, dass man zwar bestimmte Strömungsvorgänge in einerbekannten Toleranzbreite mit Reynoldszahlen umrechnenkann, man aber andere Phänomene vom Eins-zu-eins-Mass-stab überhaupt nicht lösen kann. Die Übertragbarkeit ist alsonicht so einfach. Und ich sehe auch keine unmittelbare Not-wendig keit dafür. Ich habe den Eindruck, es geht letztlich umdie Befassung mit Phänomenen von zwei Seitenaus: die der

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Kunst und Technik zur Entsprechung bringen

Thomas Herzog im Gespräch mit Petra Hagen Hodgson und Rolf Toyka

Seit seiner Studienzeit setzt sich Thomas Herzog intensiv mit den Baumustern der Natur

auseinander, die ihm, dem Architekten, Konstrukteur und Forscher, als Inspirations quellen

dienen. In einem Gespräch warnt er allerdings vor simplifizierenden Parallelisierungen

von Natur und Architektur ebenso wie vor dem aktuellen Trend des Biomorphismus.

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1 Thomas Herzog:Verwaltungsge -bäude der Deut-schen Messe AG,Hannover, 1997–99Durch Integration derBaukonstruk tion in dasEnergiekonzept unddie Nutzung lokal vor-handener Umwelten-ergien und speziellerphysikalischer Prinzi -pien wurde ein «nach-haltiges» Gebäudeentwi ckelt, das bewei-sen soll, dass sich dasPrinzip des Hochhau-ses mit den Zielen eines ressourcenscho-nenden Bauens ver-binden lässt.

2 Thomas Herzog:Design Center,Linz, 1989–93Erstmals wurde eineMessehalle als Glas-halle kons truiert. Umexzellente Lichtqua-lität im Inneren ohneNachteile für dasRaumklima zu ge-währleisten, wur de ein speziellerLichtraster in dieDachpaneelen in -tegriert, der in direkteLichtstrahlungen ein-treten lässt, direktenSonneneinfall jedochverhindert.

3 Thomas Herzog:Gästehaus der Jugendbildungs-stätte, Windberg/Bayern, 1987–91Die opaken Aussen-wandteile der Südseitewurden aus thermischträgen Materialienkonstruiert, so dassSolarstrahlung ein -dringen kann, Wärme-verluste aber mini-miert werden.

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Was haben Corporate Mergers, die neue Boeing 888 und Info -mercials gemeinsam? Alle sind künstliche Konstruktionen des späten 20. Jahrhunderts. Alle sind Produkte eines von denKräften der globalen Dissipation und Aggregation herbeige-führten Wirkungsgeflechts. Und jedes der oben genanntenGebilde stellt eine neue gemischte Einheit dar, zusammenge-setzt aus Elementen von bereits existierenden Gebilden. ImFalle des Mergers bestehen diese Elemente aus den vorher be-stehenden Firmen und deren zugehörigen Holdings, aus denjeweiligen Leitungsstrukturen, ihren logistischen Organisa-tionen und dergleichen. Im Falle der Boeing sind es Teile vonzwei Boeing 999-Flugzeugrümpfen inklusive Sitzen, Ge päck -raum, und mechanischen Komponenten. Und im Falle des In-fomercials entsteht das Gemisch, worauf schon der Ausdruckselbst hindeutet, aus der Kreuzung von Informationspro-grammen und Werbung.Diese Beispiele aus der Welt des Business, der Technologie

und der Popkultur sollen die Frage der Chimaera über das All-tägliche einführen. Unsere heutige Kultur fordert die Bildungorganischer Hybridität in vielen verschiedenen Bereichen; sieist eine der wesentlichen Schöpfungen am Ende des 20. Jahr-hunderts. Bedingt ist sie durch die strukturgenerierendenProzesse der Netztechnologie und Forschungsergebnisse derBiologie. Während die Chimaera ihre Hybridität durch dieAuswirkungen der Netzlogik erhält, die sich in der Deaggre-gation und Reaggregation von bisweilen sedimentierten insti -tutionellen Hierarchien oder architektonischen Programm-paketen niederschlägt, gewinnt sie ihre Organizität durch dieWirkungen der Bio-Logik, welche es den Reaggreagtionen er-möglicht, als polyvalente, aber dennoch vereinte Systeme zufunktionieren.In seinem Essay Cooperation and Chimera argumentiert

Robert Rosen, dass die natürliche Chimaerenbildung, «inwelcher ein neues Individuum oder eine neue Identität, ausanderen, ursprünglich unabhängigen Individuen hervorge-hend, eine Art umgekehrten Differenzierungsprozess darstellt,in welchem üblicherweise ein anfänglich einziges Individuumviele verschiedene Individuen hervorbringt oder in welchemein Teil eines einzelnen Individuums sich im Vergleich zu an-deren Teilen unterschiedlich entwickelt». Rosen zufolge wirdChimaerenbildung durch Umweltveränderungen ausgelöst

und ist demnach die adaptive Reaktion eines Systems, dessenÜberleben auf dem Spiel steht. Diese Reaktion basiert auf kooperativen Verhaltensweisen in einer diversen und kom -petitiven Umwelt. Die Diagramme, die Chimaerisations -pro zessen unterliegen, sind jedoch nicht nur auf die Natur beschränkt. Ähnliche Adaptionsmechanismen sind in zeit -ge nössischen Postkolonialstudien zwischen «Gast-» und«Wirts kulturen» beobachtet worden, wobei zum Beispiel«Kreolisierung» und «Pidginisierung» lediglich zwei unter-schiedliche Formen der Hybridisierung von Sprache und kul-turellen Bräuchen sind, durch welche eine neue kulturelleIdentität entsteht. Während die Bedingungen für die Her -stellung einer Boeing 888 vielleicht auf einer anderen Ebeneliegen, wird es klar, dass Corporate Mergers und Infomercials For-men der adaptiven Reaktion auf Veränderungen in der öko-nomischen und kulturellen Umwelt sind.Veränderungen sieht sich auch die Architektur ausgesetzt.

Im kulturellen und kommerziellen Sektor steht die Architek-tur in direktem Wettbewerb mit Themed Environments, Mar-kenprodukten, Werbung, dem Internet und der Musik- undFilmindustrie. Es geht der Architektur nicht gut in dieser Kon-kurrenzsituation – manche Kritiker argumentieren, dass sieunter dem gegebenen Druck bald, wenn nicht schon heuteüberholt wird.Ich möchte ein etwas anderes Szenario vorschlagen, wo-

nach die Architektur sich den neuen Paradigmen anpasst, in-dem sie auf allen möglichen Ebenen mit den oben genanntenFeldern eine kooperative Beziehung eingeht, um somit selek-tive, präzise und taktische chimaerische Systeme zu bilden.

Funktionsprinzipien der ChimaeraIn der antiken Vorstellung ist die Chimaera ein Hybrid, einKompositum, und besitzt zwei Eigenschaften: sie ist orga-nisch und nichtseriell.Der Ausdruck «organisch» bedeutet eine systemische Ver-

knüpfung und Koordination der Teile eines Ganzen. Solch einorganisches Model des Kompositums lässt sich verstehen alseine funktionale und strukturale Einheit, in welcher die Tei-le für und durch einander existieren. Die Gemeinsamkeit vonfunktioneller Abhängigkeit und struktureller Einheit zwi-schen den heterogenen Komponenten im organischen Modell

ChimaeraÜber die Bildung organischer Hybridität Sulan Kolatan

Die Chimaera ist ein Denkmodell, ein Bild für die organische Hybridität, mit der wir am

Beginn des 21. Jahrhunderts konfrontiert sind. Chimaerisationen betreffen Produktions-

prozesse und Produkte auf allen Ebenen – nicht zuletzt auch im Bereich der Architektur.

Hier kann der Begriff sowohl als analytisches Mittel dienen als auch als entwurfsmetho-

dologisches Instrument. Die Prozesse mentalen und materiellen Schaffens sind heute

nicht mehr produktabhängig; für die Architektur gilt es, diese neue Konvergenz in den

Entwurfsprozess zu integrieren.

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des Hybriden unterscheidet sich merklich vom mechani-schen, das auf einer funktionellen Einheit basiert, in dem dieTeile in der Ausführung einer bestimmten Funktion lediglichfür einander existieren. Damit das letztere System zusam-menhält, müssen Übergange zwischen individuellen Kompo-nenten generell durch die Einführung von Zwischenstückengeleistet werden, welche die Verbindungen und Justierungeninnerhalb des Gesamtsystems und auch lokal zwischen denTeilen ermöglichen. Im organischen Modell werden jedochÜbergange durch Verwandlungen von und zwischen denKomponenten erzeugt.Eine biologische Chimaera stellt einen künstlich herge-

stellten, manchmal aber auch spontan vorkommenden Zu-stand dar, wobei Individuen aus verschiedenen genetischenTeilen zusammengesetzt werden. Ausschlaggebend dafürsind zwei Gründe: 1. Die Schaffung von neuen Identitäten, dieunter bestimmten Umständen lebensfähiger sind als ihre Vor-gänger, und 2. die Weiterentwicklung der Kenntnis bezüglichnormativer Typen durch das Studium pathologischer For-men. Wie wir oben gesehen haben, sind spontane Chimae-renbildungen in der Natur fast immer das Resultat einer adaptiven Reaktion auf Deformationen der Umwelt.

Als ein Hybrid fällt Chimaera in die Kategorie der Patho-logien. Georges Canguilhem nimmt jedoch in Le normal et lepathologique (1966) einige wichtige Unterscheidung vor, wenner schreibt: «Es gibt keine Tatsache, die von sich aus normaloder pathologisch ist. Eine Anomalie oder Mutation ist ansich nicht pathologisch. Beide drücken andere mögliche Le-bensnormen aus. Wenn diese Normen spezifischen früherenNormen im Bezug auf Stabilität oder Lebensvariabilität un-terlegen sind, werden sie pathologisch genannt. Sollten dieseNormen sich in derselben Umwelt als gleichwertig oder in einer anderen Umwelt als überlegen erweisen, dann werdensie normal genannt. Ihre Normalität kommt ihnen durch ihre Normativität zu. Das Pathologische ist nicht die Ab -wesenheit biologischer Norm: es ist eine andere Norm, aber eine, die vergleichsweise vom Leben beiseite gedrängtwurde.»Dem französischen Theoretiker Canguilhem zufolge hängt

es also ganz von der Fähigkeit ab, in einer bestimmten Umwelt zu funktionieren, ob eine Chimaera als pathologischoder normal eingestuft wird. Durch Chimaerisierung «nor-malisiert» sich ein System im bezug auf ein anderes starkeresSystem.

1 Resi-Resi-Sky -scraper, New York,2000Projekt für ein 51-geschossiges Hochhaus mit mixed-use-Nutzung am Columbus Circle

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Es gibt mindestens vier Möglichkeiten, sich dem Thema derBionik in der Architektur zu nähern. Zum einen bedeutet esdie Suche mancher Architekten nach Analogien und Meta-phern in der Natur für den eigenen Entwurfsprozess. Einezweite Möglichkeit ist eine quasi-wissenschaftliche Heran -gehensweise. Sie beruht auf der Quantifizierung architek -tonischer Entwurfsprinzipien und der anschliessenden Organisierung dieser berechenbaren Einheiten mittels dermathematischen Regeln der neuen wissenschaftlichen Kom-plexi täts-Modelle. Die dritte Möglichkeit hat viel mit der er-sten zu tun, insofern als sie das Bionische metaphorisch be-greift. Charles Jencks hat präzise beschrieben, dass es die neu-sten wissenschaftlichen Erkenntnisse sind, die unserezeitgenössische westliche Welt im Wesentlichen bestimmen.An die Stelle von Herrschaft, Religion oder Demokratie als Me-taphern für das architektonische Denken sind heute andereStrukturen getreten, welche die Architektur zu repräsentie-ren und in physische, kulturelle und letztlich institutionelleFormen zu bringen hat: und zwar die Metaphern der Ökolo-gie, der Natur und der Genetik. Das vierte Modell, das ich

selbst verfolge, versteht die Beziehung zwischen Architekturund Bionik auf der mehr technischen Ebene einer diszip -linären Sensibilität. Ich beziehe mich dabei auf den Philoso-phen Henry Bergson, der Sensibilität als die Schnittstelle vonTheorie, Technik und Expertise beschrieben hat. Bergson ver-steht Sensibilität als einen Ersatz für den Terminus Intuition,mit dem er die unberechenbaren Launen eines mystischenGenies verbindet. Mit dem Begriff der Sensibilität definiert er Intuition als das teleologische Ergebnis einer strengen experimentellen Untersuchung.

Bionik als OrganisationsprinzipUm die Form einer bionischen Sensibilität umreissen zu kön-nen, möchte ich mit den historischen Vorbildern beginnen,die heute jede bionische Intuition mitbestimmen. Zunächstaber zum Terminus «Bionik», der allzu oft gleichgesetzt wirdmit organisch gewachsenen, biologisch reproduzierten, überZeit hinweg entwickelten, animierten, vitalen Organismen.Für mich sind diese Konnotationen des Natürlichen kulturellveraltet, nostalgisch und limitierend. Vielmehr steht Bionik

Bionische SensibilitätZum Verhältnis von Architektur und Bionik Greg Lynn

Nach Lynn bedeutet Bionik ein neues Paradigma der Organisation, des Entwurfes und der

Produktion, das charakterisiert ist durch Kurvaturen und die Abkehr von Modularität

und Standardisierung. Die auf Näherungsrechnungstechniken beruhende Kombination

von Kontinuität, Integration und Variation erzeugt organisch anmutende Formen von

Pro portion und Schönheit, entspricht aber auch den Bedingungen moderner Maschinen -

produktion.

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meiner Meinung nach für ein neues Regime oder neues Para-digma der Organisation, des Entwurfes und der Produktion,das charakterisiert ist von Kontinuität, Nicht-Modularität,Kurvaturen, Nicht-Standardisierung und der Erotik von Varia -tion, Ondulation, Differenzierung, Komplexität, Ganzheit-lichkeit und Miteinander-Verwobensein. Dabei ist es völliggleichgültig, ob Bionik als etwas Natürliches oder Artifiziel-les verstanden wird. Gerade die Irrelevanz dieser Fragestel-lung erklärt, warum das Thema der Bionik uns heute in -teressiert. Es sollte nicht als reaktionäres Zurückgreifen aufden Diskurs über eine idealisierte Natur verstanden werden.

Leibniz, Newton und der «calculus»Meiner Auffassung zufolge gibt es zwei wesentliche histo -rische Momente bionischer Sensibilität: die Zeit vor 300 Jah-ren – und die Zeit der Jahrhundertwende des letzten Jahr-hunderts. Der erste Moment einer bionischen Sensibilität be-steht im calculus, also der gleichzeitigen Erfindung derNäherungsmathematik durch Leibniz und Newton, womitder Computer theoretisch denkbar wurde. Newton erfand ma-thematische Formeln, mit denen erstmals die Bewegung so-wie eine neue Art von Maschinen beschrieben werden konn-ten. Zu ungefähr derselben Zeit hat Leibniz neue Möglichkei-ten eingeführt, Kurven zu berechnen. Newton verstand dieMathematik der mechanischen Bewegung als tangentialeVektoren eines Bogens, die immer weiter unterteilt werdenkönnen bis hin zur Aufhebung des Differenzials. Ähnlich sahes Leibniz bei seiner mathematischen Beschreibung von Kur-ven, indem er feststellte, dass deren Differenzial sich verrin-gert, je mehr sie in immer kleinere polygonale Segmente un-terteilt werden. Um diese Differenziale und Integrale zu kal-kulieren, entwickelte Leibniz eine Berechnungsmethode, dieim Prinzip wie ein Computer funktioniert. Wenn man alsonach einer Theorie organischer Maschinen und der dazu-

gehörigen Näherungsrechnung sucht, kann man sich auf dieErfindung des calculus beziehen. Was die besondere Qualitätder Näherungsrechnung ausmacht, ist die Tatsache, dass sienicht modular ist, weil sie weder ganze Zahlen annimmt nochbevorzugt, dass sie kontinuierlich rechnet und dass sie mit Integralen anstatt einer absoluten Null arbeitet. Das heisst,eine Architektur, die nicht auf Proportionen basiert, welcheauf ganzzahligen Verhältnissen beruhen, eine Architektur,die über Repetition in nichtmodularen Ansätzen denkt, dieBeziehungen zwischen so disparaten Systemen wie denen der Statik, der Gebäudehaut und der Befensterung eng mit -einander verzahnt, eine solche Architektur wäre eine Nähe-rungsrechnungsarchitektur und hätte damit jene Sensibi-litäten, die mit bionischem Denken wie Komplexität, Varia -tion, Verflechtung und Ganzheitlichkeit verbunden werden.Ich weiss, dass die Frage gestellt worden ist, ob bionische Ar-chitektur auch bionisch aussehen muss. In diesem Zusam-menhang müsste ich diese Frage mit Ja beantworten. Eine aufder Näherungsrechnung basierende Architektur wird per de-finitionem auf Kurven und auf Nicht-Modularität basieren.Sie wird weder bionisch noch organisch sein, sondern wirdvielmehr Qualitäten haben, die mit den neuen Wissenschaf-ten, mit Kurvenberechnungsmethoden, mit Kontinuität undIntegration zu tun hat.

Horta und die Erforschung industrieller ProduktionDie Zeit um 1900 war der zweite wichtige Moment in der Ent-wicklungsgeschichte einer bionischen Sensibilität. Zur Jahr-hundertwende brachen Horta und Sullivan mit der neoklas-si zistischen und historistischen Tradition und schufen eineorganische Architektursprache, die sie mit neuen Materialienund Konstruktionsmethoden in Beziehung setzten. Mehr alsjeder andere Architekt proklamierte Victor Horta eine mo-derne Architektur als eine organische Bewegung. Pevsner und

1-3 US Pavilion, Ar-chitekturbiennaleVenedig, 2002Ergebnisse der Modell-werkstatt, die - auf derBiennale eingerichtet -Konstruktionsdetails fürGreg Lynns Projekt des«Embryological house»entwickelte

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HA: Der Begriff «Bionik» ist nicht neu – er wurde im Jahr1960 von einem amerikanischen Militäringenieur ge -prägt –, aber das Verhältnis von Architektur und Natur, dieFrage nach der Beziehung zwischen architektonischen und biologischen Strukturen hat in letzter Zeit an Aktua-lität gewonnen. Gerade die Apologeten computerunter-stützter Entwurfsprozesse berufen sich auf Analogien zu generativen Prinzipien der Natur. Anthony Vidler hatder Blob-Ästhetik eines Lars Spuybroek oder Greg Lynnund ihrem auf die Idee des Organischen bezogenen Legi-timationsdiskurs auf der letzten der «Any Conferences»zwar eine radikale Absage erteilt, aber gleichwohl bleibtdie Frage nach einer neuen, nicht allein von der euklidi-schen Geometrie bestimmten Formensprache virulent. Die Wege zu derartigen neuen Formen interessieren euchseit langem, und der Entwurf für das neue Münchner Fussballstadion oder das Prada-Logistikzentrum in Italienhat bewiesen, dass das Spektakuläre in gewisser Weisedurchaus das Einfache sein kann.Allen modischen Phänomenen und Bionik-Debatten zumTrotz: Eine Beziehung zwischen Architektur und Natur ist Thema schon seit Jahrtausenden, und immer wiederverwiesen Theoretiker wie beispielsweise Abbé Laugierauf die Natur als den Ursprung der Architektur. Dank dem menschlichen logos sei eine Transposition in struktu-rellere und abstraktere Formen möglich gewesen. Auch ihr bezieht euch mit euren Bauten auf ganz verschiedeneWeise immer wieder auf die Natur und ihre Phänomene.Wie würdest du diese Bezugnahme charakterisieren?

JH: In der Tat ist das Verhältnis von Architektur und Natur einzentrales Thema in unserer Arbeit, aber ich kann es nicht soeinfach auffächern. Wie du sagst: Seit es Architektur gibt, seites bildende Kunst gibt, seit es Wissenschaft gibt – Natur -wissenschaft und Geisteswissenschaft –, sind Modelle, die derNatur entlehnt sind oder sich in irgendeiner Weise auf natür-liche Prozesse oder natürliche Formen beziehen, immer wie-der ein Thema gewesen. Es scheint, als könnte man gar nichtaus diesem Kreislauf ausbrechen, weil wir selbst ein Teil derNatur sind. Joseph Beuys beispielsweise hat hingewiesen aufdie Verwandtschaft von gesellschaftlichen und natürlichenProzessen. Also sind wir Menschen selbst dort, wo wir uns am

weitesten von der Natur entfernt zu haben scheinen, in denkünstlichsten Domänen unserer urbanen Kultur, zurückge-worfen auf den natürlichen Ursprung. In der Chaostheoriewerden derartige Überlegungen diskutiert; ich denke auch andie grossräumigen, Naturformen nicht unähnlichen Bewe-gungen von Menschen auf Plätzen. Wir können den Phä-nomenen der Natur nicht entrinnen und uns ihnen auch nurbedingt widersetzen.

Wie man heute weiss, gelingen künstliche Eingriffe in dieErbanlagen nur dann, wenn sie in einem so bescheidenen Um-fang stattfinden, als ob man in einer Bibliothek mit 1000 Bän-den in einem Buch eine Seite herausreisst oder ein Wortdurchstreicht. Nur wenn das in diesem minimalen Umfanggeschieht, kann eine Zelle überleben. Die Manipulation, derEingriff des Menschen – wie ja auch Architektur ein Eingriffist – kann nur gelingen, wenn er von der Natur integriert wer-den kann.

Ich behaupte nicht, dass Architektur ein Teil des evolu-tionären Prozesses ist, ich bin weltanschaulich auch nicht re-ligiös oder anthroposophisch orientiert. Ich verstehe ledig-lich Natur – wie vielleicht auch ein Naturwissenschaftler – alsriesige Bibliothek oder Schatztruhe, aus der wir uns bedie-nen, um überhaupt zu verstehen, was wir machen.

Wenn du den Begriff der Bibliothek wählst, so geht es um einen Prozess des Lernens, vielleicht um die Übertra-gung oder Modifikation von Strukturen. Wobei sich danndie Frage nach dem Abstand zwischen der Kunstform und der Naturform stellt. Wie weit ist Transforma tion, istAdaption nötig, wie weit ist Imitation möglich? Goethe hat in einem Aufsatz des Jahres 1789 drei Begriffe ver-wendet: «Nachahmung» – also eine direkte Adap tion –,«Manier», die schon den Versuch der Strukturierung impliziert, und schliesslich «Stil», ein Gleichgewicht zwi-schen der Organisation der Natur und der Subjektivitätdes Entwerfenden, des Künstlers .

Diese Klassifizierung ist treffend. Bei uns gibt es einerseits Ar-beiten, in denen wir die Natur selbst wirksam werden lassen,wenn wir Wasser – Regenwasser – nutzen an Wänden oder aufDächern, sodass Natur ganz real in einer künstlichen Weisepräsent ist: in der Art eines Mini-Wasserfalls, eines Teichs oder

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Den Menschen auf seine Körperlichkeitzurückwerfen

Jacques Herzog im Gespräch mit Hubertus Adam

Seit dem Beginn ihrer Tätigkeit sind Herzog & de Meuron an der Beziehung zwischen

Architektur und Natur interessiert. Phänomene der Natur fliessen in ganz unterschied -

licher Weise in ihre Arbeiten ein: mal im unmittelbaren, materiellen Sinne, mal vermittelt,

in Form einer abstrakten Sprache, welche sich zu einer All-over-Struktur ausbauen lässt.

Ziel für die Architekten ist es dabei, jenen Punkt zu erreichen, an dem Künstliches und

Natürliches im Prozess der Wahrnnehmung zusammenfinden.

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Hafenanlage in Santa Cruz de TenerifeNach der Phase 1 (mit gefaltenen Gebäudestrukturen) und Phase 2 (mitLavafeldern) erarbeitetenn H&deMein Konzept, das auf der Idee einessich überlagernden Pixelrasters be-ruht. Aus dieser Struktur lassen sichsämtliche Baukörper entwickeln.

Projektteam: Carlos Bautista, Maria Rita Diniz, Anja Ehrenfried, JoaoFerrao, Jacques Herzog, Daniel Mallo,Ascan Mergenthaler, Pierre de Meu-ron, Lucio Morini, Astrid Peissard,Roberto de Olivera, Juan Salgado,Manuel Sanchez-Vera, Philip Schae-rer, Peter Sigrist, Peter Taylor

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Architektur aktuellBearth & Deplazes: Künstlerhaus Marktoberdorf, 1999–2001

Backstein brutIn einer unspektakulären Kleinstadt im Ostallgäu feiert der Backstein mit einem Aus -

stellungstempel einen solitären Triumph: Auch die Wände der Ausstellungssäle blieben

unverputzt. Den Churer Architekten gelang damit eine provozierende Alternative zum

«white cube» und zur «black box» des zeitgenössischen Museums.

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Gerne hätten die Architekten Valentin Bearth undAndrea Deplazes Sichtbeton benutzt, das auch sonstvon ihnen bevorzugte Baumaterial. Doch der Ziege -leibesitzer und Stifter des Baus, der langjährige Bürger-meister Franz Schmid, von dem die Churer Architekteneinen Direktauftrag erhielten, lehnte den als «seelen-los» empfundenen Baustoff ab. So folgten die Archi-tekten seinem Wunsch, auf Backstein zurückzugreifen.Und sie taten es derart konsequent, dass nicht nur im Äusseren, sondern auch im Innern des Künstlerhau-

ses dieses Material wahre Triumphe feiert. Es han-delt sich dabei um einen in der Oberfläche porösen,bräunlich-rot gefärbten, etwas rau wirkenden Klinker, dessen Format sich an das im Mittelalter in Bayern übliche hält. Wenn im bayrischen Schwaben auch tra ditionell dieses Material verwendet wurde, so ge -hört Markt oberdorf selbst nicht eigentlich zum Back-steingebiet. Vielmehr prägen Putzbauten den Ort und auch die unmittelbare Umgebung des Künstler -hau ses.

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Backstein überallDrei Zentimeter breite Stoss- und einen Zentimeterhohe Lagefugen verlaufen bündig mit dem Stein. Manwird lange gesucht haben, bis man die Handwerkerfand, die heute noch in traditioneller Technik mauernkönnen. In Deutschland wäre die Suche erst im fernenOstfriesland von Erfolg gekrönt worden; da lag esschon näher, Maurer aus Tschechien anzuheuern, wel-che die von den Architekten und der Bauherrschaft geforderte handwerkliche Könnerschaft Haufwiesen.Das volle, 48 Zentimeter starke Mauerwerk wurde vorOrt im Kreuzverband, mühsam Stein für Stein aufge-führt. Sogar im Kern der Wände, wo man in gotischerZeit gerne Fehlbrandziegel als Füllmaterial verwende-te, findet sich nichts als solides Mauerwerk. Schade nur,dass man sich für industriell gefertigte und gegenhandgestrichene Ziegel entscheiden musste.

Wer sich derart liebevoll alter Handwerkstechnikenbedient, der zögert nicht, auch im Innern den Backsteinsichtbar zu lassen. Die Ausstellungsräume sollen da-durch den Charakter von Ateliers annehmen. In situ

und artist in residence werden von den Architekten alsKonzepte für dieses Ausstellungshaus vorgeschlagen.Ob die zeitgenössischen Künstler des bayrischen Re-gierungsbezirkes Schwaben, denen hier eine Bühne ge-schaffen wurde, diesen architektonischen Rahmenadäquat füllen werden, bleibt indes noch offen. BeimAnblick der archaischen Räume ist man geneigt zu sagen, dass in solchem Gehäuse radikale künstlerischeKonzepte am besten gedeihen. Gut vorstellbar, dassdarin auch Skulpturen und Installationen ihre Wirkun-gen entfalten können. Das herkömmliche, gerahmteLeinwandbild dagegen wird sich vor dieser Folie kaumbehaupten; die Tatsache, dass man bei der Eröff-

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1 Toreingang zumVorhof mit Blickauf die Eingangs-front des Künstler-hauses(Fotos 1, 4–6, 9: Ralph Feiner)

2+3 Ausstellungs-bereich im Unter-geschoss, Frühjahrs -ausstellung 2002(Fotos: Klaus und Stoll)

4 Gesamtansichtdes Künstlerhausesvon Nordosten mitdem durch einengläsernen Gang angeschlossenenDr.-Geiger-Haus