archithese 4.03 - wohnbauprogramme / programmes d'habitation

11
archithese Wohnwelten, Denkwelten Siedlungsbau in den Niederlanden – eine Standortbestimmung und vier Beispiele Wohnungsbau in Deutschland Wiener Massenwohnungsbau im Aufbruch Wohnungsbau als pädagogisches Instrument Staatliche Eingriffe in den Wohnungsmarkt – soll der Staat intervenieren, und wenn ja, wie? Kommunale Wohnungspolitik und Globalisierung Ieoh M. Pei Deutsches Historisches Museum, Berlin Herzog & de Meuron Schaulager, Basel 4.2003 Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur Revue thématique d’architecture Wohnbauprogramme Programmes d’habitation mit

Upload: archithese

Post on 20-Feb-2016

229 views

Category:

Documents


1 download

DESCRIPTION

 

TRANSCRIPT

Page 1: archithese 4.03 - Wohnbauprogramme / Programmes d'habitation

architheseWohnwelten, Denkwelten

Siedlungsbau in den Niederlanden –

eine Standortbestimmung und vier Beispiele

Wohnungsbau in Deutschland

Wiener Massenwohnungsbau im Aufbruch

Wohnungsbau als pädagogisches Instrument

Staatliche Eingriffe in den Wohnungsmarkt –

soll der Staat intervenieren, und wenn ja, wie?

Kommunale Wohnungspolitik und Globalisierung

Ieoh M. Pei Deutsches Historisches Museum, Berlin

Herzog & de Meuron Schaulager, Basel

4.2003

Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

Revue thématique d’architecture

WohnbauprogrammeProgrammes d’habitation

archithese 4.2003

Juli/August

Wohnbauprogramme – Programmes d’habitation

mitLeserdienst 104

Page 2: archithese 4.03 - Wohnbauprogramme / Programmes d'habitation

2 archithese 4.2003

E D I T O R I A L

Wohnbauprogramme

Wohnbauprogramme hatten in den letzten 200 Jahren stets eine politische Di-

mension. So formal unterschiedlich sie ausfallen mochten, und so gegensätzliche

und soziale ökonomische Ideale ihnen zugrunde lagen: Vielen Entwürfen war

das Ziel gemeinsam, dem Menschen eine «richtige» Wohnform nahezulegen, um

durch dieses Mittel seine Lebensweise zu beeinflussen. Sozialreformer, Politiker,

philanthropische Gesellschaften, paternalistische Fabrikherren, avantgardisti-

sche Architekten, Wohnbaugenossenschaften, Spekulanten und gemeinnützige

Stiftungen prägten mit ihren Wohnbauprogrammen auch Wertvorstellungen.

Heute gerät dieses ideelle Engagement an seine Grenzen. Das weitgehend ak-

zeptierte Leitbild der Kleinfamilie – und die entsprechende Wohnform in der funk-

tionalistischen, bürgerlichen Familienwohnung – werden mehr denn je in Frage

gestellt. Mobilität und Globalisierung, gewandelte Familien- und Arbeitsstrukturen,

veränderte Auffassungen von Öffentlichkeit und Privatsphäre stellen Bauträger

und Architekten vor neue Probleme. Flexiblen Lebensmodellen, einer Vielzahl

differenzierter Bedürfnisse kann nicht eine einzige räumliche Lösung entspre-

chen. Auch das ehemals eindeutige, wohldefinierte Bild der Bewohner löst

sich auf: Aus den Familienmenschen werden Konsumenten, Migranten, Singles,

Nomaden, Alleinerziehende . . . Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die

Frage, wie der statische Charakter des Wohnens mit der Möglichkeit eines steten

Wandels zu vereinbaren sei. Die angebotenen architektonischen Lösungen sind

unterschiedlich: undeterminierte, rohbauartige Raumfolgen stehen spezifizierten

Indivi dualwohnungen gegenüber, konsumorientierte Lebensabschnitts-Fertig-

häuser kontrastieren mit gemeinschaftsorientierten Siedlungen mit drakonisch

geregeltem Alltag. Bei näherem Hinsehen fällt jedoch auf, dass echte typologi-

sche Neuerungen eher selten sind – bis auf einige erfreuliche Ausnahmen.

Unsicherheit herrscht auch über die Rolle der öffentlichen Hand. Sinn oder Un-

sinn staatlicher Interventionen in den Wohnungsmarkt werden heftig diskutiert.

Ein Argument besagt, dass Instrumente wie Darlehen, Landabgaben, Subventio-

nen, etc. den Wohnungsmangel letztlich verschärften; Regel werke dagegen, die

reibungslosere Marktabläufe ermöglichen, würden lang fristig zur Entspannung

der Situation beitragen. Solchen Liberalisierungsversuchen stehen die Anliegen

von immer zahlreicheren ökonomisch Benachteiligten gegenüber, die auf sofor-

tige Hilfe angewiesen sind. Doch selbst in sozial engagierten Kreisen herrscht

keine Einigkeit darüber, wie diese zu erfolgen hätte. In der Schweiz wurde kürz-

lich eine Umstellung von der Objekthilfe (die Unterstützung gemeinnütziger und

günstiger Wohnbauten) auf die Subjekthilfe (Direktzahlungen an Bedürftige) in

Erwägung gezogen – und verworfen. Angesichts des knappen Budgets reduziert

der Bund die für die Wohnbauförderung bestimmten Mittel ohnehin laufend; eine

Haltung, die auch in anderen Staaten zu beobachten ist. Zusätzlich zu all diesen

Fragen sieht sich Zürich auch noch mit dem Problem konfrontiert, dass Familien

und gute Steuerzahler die Stadt verlassen, weil sie keine angemessene Wohnung

finden; um das drohende finanzielle und soziale Debakel zu vermeiden, wurde ein

Programm lanciert, das den Bau grosser Wohnungen erleichtern soll – auch dies

ein neues Phänomen unter vielen.

Redaktion

Steven Holl:Entwurf für dasWohngebietToolenburg-Zuidder GemeindeHaarlemmermeer

Page 4: archithese 4.03 - Wohnbauprogramme / Programmes d'habitation

26 archithese 4.2003

1

Page 5: archithese 4.03 - Wohnbauprogramme / Programmes d'habitation

27

Wohnungsbau in Deutschland – ein Aperçu Konventionell und

teuer: Eine Betrachtung der Wohnungen, die derzeit in Deutschland

erstellt werden, fällt ernüchternd aus. Kurzfristiges Profitdenken,

Ignoranz und mangelnder Idealismus führen häufig zu überteuerten

Luxusobjekten und vermeintlich originellen Raumkonstellationen,

die sich kaum noch als Wohnungen für Normalsterbliche eignen. Den -

noch gibt es löbliche Ausnahmen – etwa, wenn sich die Architek-

tur vom Diktat des Investorendenkens zu befreien vermag, oder wenn

ökologische Prioritäten innovative Grundrisslösungen zur Folge

haben.

DIE HELDEN SIND MÜDE

Dabei gab es schon einmal andere Zeiten, als die Architek-

ten in den Siebzigerjahren sich liebevoll um die Bewohner

sorgten und versuchten, die Monotonie von Wohnblocks und

Punkthochhäusern zu überwinden. «High density – low rise»

war das Credo, Bodennähe, Freiraumangebot und kommuni-

kative Begegnungsräume lösten den normierten Stapelgrund -

riss ab; die Architekten entwickelten komplexere Strukturen

mit dem Ziel, die Lebensqualität der Bewohner und deren

soziale Kontakte zu verbessern. Eine Vielzahl neuer Wohn -

typen wurde ausgedacht, vom «verdichteten Flachbau» bis

zum Hügelhaus, und in Zusammenwirken mit engagierten

Planungsbehörden und Baugesellschaften realisiert. Heute

sind die Bauherren «Projektentwickler», die nicht eigentlich

Projekte entwickeln wollen, sondern Geschäfte. Alles, was

die Bauten strukturell, organisatorisch und betriebstechnisch

verkompliziert, insbesondere Gemeinschaftsflächen und -an-

lagen, erschwert die Vermarktung. Hinzu kommt, dass das

zahlungskräftige Publikum an einer kommunikativen Wohn-

umgebung in der Regel wenig Interesse zeigt.

Die Wohnungstypen selbst sind mehr und mehr von den

örtlichen Situationen abhängig. Immer seltener ergeben sich

freie Gestaltungsmöglichkeiten. Die Verwertung von Rest-

grundstücken, das Einpassen in gegebene städtebauliche

und architektonische Zusammenhänge sind eher die Regel,

selbst wenn dies nicht unmittelbar ins Auge fällt. So etwa bei

den beiden Zwillingshäusern in Berlin-Zehlendorf mit zusam-

men acht Wohnungen, die die Architekten Maedebach und

Redeleit entwarfen. Die Form der Häuser ergab sich fast auto-

matisch aus den notwendigen Abstandsflächen, das Oberge-

schoss aus der Staffelgeschossregel der örtlichen Bauvor-

schriften. Die Grundrisse sortieren sich in die so entstande-

nen Baukörper. Ein weisser Kubus bildet jeweils den Korpus

des Hauses und birgt die Wohnräume. An der Westseite ist

ein Bauteil aus Backstein angefügt, darin die «dienenden

Räume»: Treppenhaus, Bäder, Küchen. Hervorstechendes

Text: Falk Jaeger

«Wohnhäuser? Kein Thema mehr», so hört man deutsche Ar-

chitekten klagen. Die Szenerie ist gespenstisch. Die ostdeut-

schen Städte leeren sich noch immer. Nicht nur ungeliebte

Plattenbauten wandern auf die Abraumhalde, sogar der sonst

so beliebte Altbau von der Gründerzeit bis zum Ersten Welt-

krieg findet vielerorts keine Interessenten mehr. Auch viele

Städte im Westen verzeichnen eine dramatisch gesunkene

Nachfrage. Der soziale Wohnungsbau ist faktisch zum Erlie-

gen gekommen, die Finanznot der öffentlichen Hand und die

Rufe nach einem Abbau von Subventionen zeigen Wirkung.

2002 sind in Deutschland nur noch 253 700 Wohnungen er-

richtet worden gegenüber 600 000 im Jahr 1995. Im europäi-

schen Vergleich ist man mit 3,1 neu erstellten Wohnungen pro

1000 Einwohnern vom zweiten (1996) auf den drittletzten

Platz zurückgefallen.

Ökonomische und räumliche Zwänge

Zwei Tendenzen ergeben sich zwangsläufig aus dieser Si -

tuation: Mietwohnungsbau wird nur noch frei finanziert und

muss sich auf dem Markt behaupten, wobei mangelnde Sub-

ventionen zu teuren, Marktmechanismen zu möglichst extra-

vaganten Wohnungen führen. Der Bau von Eigentumswoh-

nungen verlagert sich ebenfalls in den Hochpreissektor. Die

Gründe sind dieselben; zudem werden die unteren und mitt-

leren Preislagen durch zahlreiche ehemalige Sozialwohnun-

gen abgedeckt, die als Eigentumswohnungen auf den Markt

kommen, weil ihre Sozialbindung ausgelaufen ist.

Grimmige Investoren sind am Werk, Fondsmanager, Stif-

tungsdirektoren, Anlagedompteure, und die sind im Ge-

schosswohnungsbau keine Experten – schliesslich bewohnen

sie ihre Villen im Grunewald, in Kronberg/Taunus oder in Grün -

wald im Isartal. Für sie zählt ausschliesslich die profitab le

Vermarktung. Aktuelle Miet- und Eigentumswohnungen sind

gebaute Verkaufsargumente.

1 Luxus läuftnoch: Auf deneffektvollen NamenClassicon hört das Büro- undGeschäftshaus amLeipziger Platz in Berlin. In denvier Obergeschos-sen hat ChristophLanghof Wohnun-gen für den gehobenen Bedarfrealisiert

Page 6: archithese 4.03 - Wohnbauprogramme / Programmes d'habitation

30 archithese 4.2003

Innovation im Bau von Massenwohnungen Am Beginn eines

neuen Jahrtausends stellt sich die Frage nach dem «richtigen Woh-

nen» mit neuer Vehemenz. Das klassische Experimentierfeld zur

Entwicklung architektonisch-räumlicher und typlogischer Visio-

nen war immer das Einfamilienhaus respektive die Villa. Dies gilt

natürlich auch für die Gegenwart. Dennoch findet man heute

avancierte Ansätze auch im Wohnungsbau, der für eine breite Schicht

konzipiert ist. Ein Blick auf die jüngste Entwicklung in Wien.

WIENER WOHNUNGSBAU

1 A

Page 7: archithese 4.03 - Wohnbauprogramme / Programmes d'habitation

31

Text: Margit Ulama

Sozialer Wohnungsbau bedeutet in Österreich und insbe -

sondere in Wien, dass diese Wohnbauten öffentliche Förder-

gelder er halten, um die Kosten für eine sozial schwächere

Klientel zu senken. Voraussetzung für diese Förderungen ist –

innerhalb eines komplexen Systems – die Einhaltung eines

begrenzten Baukostenrahmens. Aber auch die Gesetzgebung

hinsichtlich dessen, was baulich-architektonisch bei geför-

derten Bauten erlaubt ist, spielt eine Rolle.

Es mag schwierig sein, unter diesen sehr kurz und allge-

mein formulierten Voraussetzungen wirklich auch anspruchs-

volle Konzepte zu realisieren; dennoch entstand in Wien in

jüngster Zeit eine Vielzahl von ambitionierten, geförderten

Wohnbauten.

Diese Entwicklung wirft Fragen auf. Erzeugt der allge-

meine Architekturboom einen solchen Sog, dass davon der

Wohnungsbau allgemein erfasst wird? Oder liegt der Grund

in der Wohlstandsnachfrage eines gesättigten Marktes, die

höhere Ansprüche der potenziellen Mieter mit sich bringt?

Wie agieren heute Architekten, Politiker, Investoren und Bau-

träger, und wie verhält sich die Klientel, für die die Bauten

letztlich realisiert werden?

Die Situation ist ambivalent, und bis zu einem gewissen

Grad stimmt die These der Wohlstandsnachfrage. Zugleich

bedeutet diese nicht unbedingt ein gestiegenes architektoni-

sches Bewusstsein und Verständnis der Mieter. Von Unter-

nehmerseite wird die Annahme, architektonische Qualität

führe unmittelbar zu einem besseren Absatz der Wohnungen,

nicht nur relativiert, sondern sogar in Abrede gestellt. Wirkli-

che architektonische Qualität muss wahrgenommen und ge-

lebt werden, und dies ist für eine breite Schicht nicht selbst-

verständlich. Bei noch nicht realisierten Bauten ist die Ver-

mittlung der Architektur über Pläne und Bilder, so anschaulich

diese auch sein mögen, ein Problem.

Der Impetus für die Entwicklung in Wien geht unter ande-

rem von Architekten aus, die nach besonderen Lösungen su-

chen. Hinzu kommen das Engagement und die Strukturreform

von politischer Seite. Mitte der Neunzigerjahre wurden soge-

nannte «Bauträgerwettbewerbe» eingeführt, so dass Grund-

stücke der Stadt Wien über dieses Wettbewerbsverfahren, an

denen Architekten gemeinsam mit einem Bauträger teil -

nehmen, vergeben werden. Parallel dazu wurde ein «Grund-

stücksbeirat» eingerichtet, der all jene Projekte genehmigen

muss, die Wohnbauförderung erhalten.

So heftig das System der Bauträgerwettbewerbe in den

letzten Jahren auch diskutiert wurde, es bildet gemeinsam

mit dem «Grundstücksbeirat» eine entscheidende Rahmen-

bedingung für die Hebung der architektonischen Qualität.

Das Engagement einzelner Bauträger, die heute ungewöhnli-

che Wohnbauten errichten, ist möglicherweise ein Resultat

dieser Entwicklung.

Neue Tendenzen im Wohnungsbau

Wovon ist nun aber im architektonischen Sinn die Rede? Vor-

gestellt werden hier geförderte Wohnbauprojekte einer jün-

geren Architektengeneration in Wien, von Delugan_Meissl,

1 Delugan_Meissl:Wohnbau amPaltramplatzFür den gefördertenWohnungsbauuntypische Extras:die Wintergarten -boxen, die Gemein-schaftssauna sowie hochwertigeMaterialien(Foto: MargheritaSpiluttini)

A Ansicht

B –E GrundrisseDach geschoss, 5. Obergeschoss, 2. Obergeschoss,Erdgeschoss, 1 : 400

B

C

D

E

Page 8: archithese 4.03 - Wohnbauprogramme / Programmes d'habitation

38 archithese 4.2003

Architektur als pädagogisches Instrument Zu jedem Wohnmodell

ein Menschenbild: Die Idee, der Mensch könne durch die Archi-

tektur seiner Behausung gezielt beeinflusst werden, liess diese zum

bevorzugten Erziehungsmittel für Reformer jeglicher Couleur

werden. Als Leitbild setzte sich die Familienwohnung durch: Bald

galt sie als Mittel, der Arbeiterschaft bürgerliche Werte nahezu-

bringen, bald als Möglichkeit für dieselben Arbeiter, ein eigenes Selbst-

verständnis zu entwickeln. Doch selbst Villen waren vor ästheti-

schem Missionarismus nicht sicher. Heute scheint dieser erzieheri-

sche Anspruch einer pragmatischen Erfüllung marktgerechter

Bedürfnisse zu weichen; dennoch sind auch weiterhin pädagogische

Ansätze erkennbar.

WOHNUNGSBAU FÜR WEN?

Geschmack und die haushälterischen Fähigkeiten, sondern

auch die «geistige Gesundheit» und die weiblichen Instinkte

der Hausfrau an ihrem Heim gemessen.1 Was sich seit den

Sechzigerjahren allmählich ändert, ist lediglich der Rahmen,

den man persönlichen Variationen zugesteht. Lange hatten

diese in den Grenzen der bürgerlichen Lebensweise stattzu-

finden – und, räumlich gesehen, in der Familienwohnung.

Dass heute unterschiedliche Wohn- und Lebensformen als le-

gitim gelten, ist selbst in liberalen westlichen Ländern ein re-

lativ neues Phänomen.

Ebenso tief verwurzelt ist der Gedanke, dass nicht nur die

Bewohner ihre Behausung beeinflussen, sondern dass sie

umgekehrt auch von dieser beeinflusst würden. Die daraus

folgende Idee, Menschen mittels der Architektur ihrer Woh-

nung zu erziehen, prägt unübersehbar die jüngere Geschichte

des europäischen Wohnungsbaus.2 Feurige Manifeste und

empörte Klagen zeugen von der breiten Palette der teils offen

deklarierten, teils impliziten Manipulationsversuche. Die Be-

weggründe der diversen Bau träger, Architekten und Planer,

die Menschheit nach ihrem Gusto zu verbessern, umfassen

politisches Kalkül, wirtschaftliche Interessen, künstlerisches

Sendungsbewusstsein, philanthropischen Idealismus – und

nicht selten eine abenteuerliche Mischung aus alldem. Dem-

entsprechend bilden auch die Menschen, deren Erziehung

zum Ziel gesteckt wurde, keine homogene Gruppe: Adolf

Loos’ Fabel Von einem armen reichen Mann und die Berichte

über Mies van der Rohes Überwachung seiner Bauherren be-

legen, dass nicht nur jene pädagogischen Bemühungen aus-

gesetzt waren, die es sich nicht anders leisten konnten.

Hinsichtlich dieses erzieherischen Anspruchs scheint sich

eine Veränderung anzukündigen, die unter anderem an der

Neubewertung der Familienwohnung erkennbar ist. Diese er-

weist sich heute mit ihren kleinen, monofunktionalen Räumen

bekanntlich als wenig adäquat, veränderte Familien- und Ar-

beitsstrukturen aufzunehmen. Eine Wohnform, die sich als

neues Leitbild durchsetzen könnte, ist jedoch nicht in Sicht,

ebenso wenig wie eine allgemein akzeptierte Vorstellung

über eine richtige Lebensweise, wie sie das bürger-

liche Familienmodell lange geliefert hatte. Der politische, so-

ziale oder künstlerische Idealismus, Grundlage vieler früherer

Wohn bauprogramme, weicht oft einer pragmatischeren Hal-

tung. Etwas holzschnittartig gesagt: Es geht heute weniger

darum, den Menschen durch seine Wohnung neu zu formen,

als vielmehr um eine effiziente Bedienung des Wohnungs-

marktes.

Natürlich muss diese Aussage sogleich relativiert werden.

Auch heute gibt es Wohnbauprogramme, die darauf abzielen,

bestimmte Verhaltensweisen zu fördern und andere zu unter-

binden; auch heute wird versucht, mittels Wohnbaupolitik

Text: Judit Solt

Wohnzeitschriften haben Hochkonjunktur; Beiträge, die Ein-

blick in die Wohnsituation mehr oder minder prominenter

Zeitgenossen gewähren, zählen zu den beliebtesten Rubriken

seriöser Magazine und bunter Klatsch-Publikationen. Dieses

anhaltende Interesse für fremde Wohnräume lässt sich nicht

allein mit der Inspirationssuche für die Gestaltung des eige-

nen Heimes erklären. Mit der Wohnung werden auch die

Menschen begutachtet, die in ihr leben: Über deren Eigen-

tümlichkeiten sollen Grösse, Form und Einrichtung des Inte-

rieurs Auskunft erteilen.

Dies impliziert eine Interpretation der Privaträume als in-

dividuellen Ausdruck ihrer Bewohner. Dem tut auch die Tat-

sache keinen Abbruch, dass innerhalb einzelner Lifestyle-

Gruppen nicht nur der Kleidungsstil, sondern auch die Woh-

nungen verdächtig uniform sind: Schliesslich ist man in

westlichen Gesellschaften frei, sich zur einen oder anderen

«Szene» zu schlagen. Wie die Kleidung kann auch die Woh-

nung einer bis ins Theatralische gesteigerten privaten Selbst-

darstellung dienen. Was jedoch den Einblick in eine fremde

Wohnung so unwiderstehlich macht, ist mit der Anziehungs-

kraft einer Theateraufführung kaum vergleichbar. Ein Teil der

besonderen Faszination mag sicher darin liegen, dass die

Wohnung die Kulisse eines verbotenen, weil ursprünglich

nicht für Aussenstehende bestimmten Spektakels darstellt.

Der wahre voyeuristische Reiz gründet indes in der still-

schweigenden Annahme, dass diese Selbstdarstellung bis zu

einem gewissen Grad unwillkürlich und daher unverfälscht

sei: Zu Hause manifestiert sich die «wahre» Natur

eines jeden.

Pädagogisches Feuer, liberaler Pragmatismus

Das Verständnis der Wohnung als architektonischer Finger-

abdruck hat Tradition: Jahrzehntelang wurden nicht nur der

Page 9: archithese 4.03 - Wohnbauprogramme / Programmes d'habitation

39

1 Vom Werks -wohnungsbau des19. Jahrhundertsüber das NeueBauen bis hin zuGenossenschafts-siedlungen – dasKleinhaus nach demVorbild der bürger-lichen Villa wurdein verschiedenenVariationen ver-wirklicht.Grundrisse 1 : 200 im Vergleich

A Aktienbau vereinZürich: Grundrisseeines Ende des 19.Jahrhunderts vorallem in Zürich-Hottingen gebautenHauses. Nach demVorbild der Citéouvrière in Mul -house sind vier Woh -nungen kreuzweiseangeordnet, um aufeiner minimalenGrundfläche (ca.13,4 auf 11 Meter)möglichst unab-hängige Einheitenzu verwirklichen.

B MargareteSchütte-Lihotzky:zwei Häuser für die Werkbund-siedlung, Wien,1930 –32. DiequadratischeGrundfläche hateine Seitenlänge von6 Metern, dieFormensprache istdezidiert modern.Grundrisse undAnsicht

C Baugenossen-schaft Kleeweid:Überbauung Leim-bach-Tuschgenweg,Zürich, 1949. DieRaumanordnung istpragmatisch,die Formenspracheeher konservativ.Grundrisse undAnsicht

1 A

B

C

Page 10: archithese 4.03 - Wohnbauprogramme / Programmes d'habitation

60 archithese 4.2003

Berlin ist um eine architektonische Attraktion

reicher. I. M. Peis Anbau an das ehemalige

Zeughaus von Andreas Schlüter, der künftig

die Wechselausstellungen des Deutschen

Historischen Museums beherbergen wird,

zeugt von der Virtuosität des Altmeisters im

Spiel mit geometrischen Formen, platoni-

schen Körpern und räumlichen Wirkungen.

Anlässlich der Eröffnung des Grand Louvre 1989antwortete Ieoh Ming Pei auf die Frage, ob er nichteinmal in Deutschland bauen wolle: «Well, I do nocompetitions!» Nun hat er es also doch geschafft,sein einziges Gebäude in Deutschland: Das Deut-

sche Historische Museum (DHM) wurde nach sie-benjähriger Bau- und Planungszeit eingeweiht.Und ebenso wie in Frankreich erhielt der Architekteinen Direktauftrag vom höchsten Politiker; da-mals war es François Mitterrand, diesmal dessenFreund Helmut Kohl. Mit seiner zielstrebigen –oder besser: undemokratischen – Vorgehensweisehatte der französische Präsident nicht nur dengrössten Medienwirbel jener Jahre in Paris herauf-beschworen; die heftig ausgetragene Kontrover-se, vornehmlich zwischen dem linken und demrechten Lager, ist als «Pyramidenkrieg» in die Ge-schichte eingegangen. Von «Grössenwahn» (LeFigaro) bis «Disneyland an der Seine» (Le Mon-

de) reichten damals die Kommentare, bisschliesslich die «Vereinigung für die Renovierungdes Louvre» gegründet wurde, deren Ziel es war,das Projekt zu verhindern. Selbst als ein Modell inOriginalgrösse in der Mitte des Cour Napoléonaufgebaut wurde, konnten sich die erhitzten Ge-müter kaum beruhigen.Dass ein Chinese aus New York in ihr Allerhei-

ligstes eindringen sollte, war nicht nur für die loka-len Architekten ein harter Brocken. Der Streit umdie Erweiterung des Louvre hat sich zwar an deräusseren Form der Pyramide entzündet, im Grun-de ging es jedoch um die Frage, wie und nach wel-chen Prämissen ein modernes Museum geführtwerden sollte – und wie es auf das veränder-te Konsum- und Freizeitverhalten einer immerkunstinteressierteren Massengesellschaft reagie-ren könnte. Diese Debatte scheint mittlerweile ausdem letzten Jahrhundert zu stammen: Museensind längst fester Bestandteil der Tourismus -branche, und je mehr Menschen hineingehen,des to besser das Museum.Ganz anders als in Paris waren die Reaktionen

in Berlin: Bei der Eröffnung des Deutschen Histori-schen Museums hinterfragte kaum jemand dieEntscheidung, den Auftrag für den Bau dieses öffentlichen Gebäudes ohne Wettbewerb zu ver-geben. Zu gross ist der Erfolg des schmächtigen,seit 68 Jahren in Amerika lebenden Chinesen. Mitüber zwölf gebauten Museen auf drei Kontinenten,sowie mit drei weiteren, die der 86-jährige in Pla-nung hat, ist er der ungekrönte Star unter den Mu-seumsarchitekten. Ein Star ohne Allüren: Der stetsfreundliche Pei nimmt trotz seines Erfolgs und sei-nes hohen Alters jeden für sich ein – eine Haltung,die aus der Mode gekommen zu sein scheint. Soist es auch mit seinen Museen: Pei vermittelt, dasser für den Besucher baut. Seine Räume stimmeneinen heiter, zeugen vom sou veränen Umgang mitGeometrien, mit primär geometrischen Formen,spiegeln den Ort wider, an welchem sie stehen,lassen den Besucher zum Flaneur zwischen Kunstund Architektur werden – eine promenade archi-tecturale par excellence.

«between the two Schinkels»

Ebenso wie der Grand Louvre war auch das Berli-ner Gebäude von einer komplizierten historischenSituation, einer langwierigen Planungsgeschichteund einem komplexen politischen Kontext ge-zeichnet. Für Pei eine gezielte Herausforderung,als ortsfremder Architekt die «richtige» Lösung zupräsentieren. Die Planung geht auf das Jahr 1987zurück, in welchem anlässlich der 750-Jahr-FeierBerlins die Einrichtung eines Deutschen Histori-schen Museums beschlossen wurde, in bester

A R C H I T E K T U R A K T U E L L

«Bescheiden im Massstab, monumental in der Wirkung»

IEOH MING PEINEUBAU FÜR DAS DEUTSCHE HISTORISCHE MUSEUMBERLIN, 2003

1

2

1 LageplanA Neubau Wechselaus-

stellungsgebäudeB Neue WacheC ZeughausD Palais am Festungs

graben

2 Modell des Erwei -terungsbaues

3 Blick vom gläsernenTreppenhaus auf dieFassade des Schlüterbaus(Foto 3 + 4: UlrichSchwarz)

AD

B C

Page 11: archithese 4.03 - Wohnbauprogramme / Programmes d'habitation

6161

3