archithese 4.12 - mischung / mix / mestizo

13
archithese Mischung – ein Glossar Lothar Baumgarten im Museum Folkwang Das Ende des Exotismus Smiljan Radics Mestizo Der Raum als Ort – Fusionen des Afrofuturismus Im Zeitalter der Genveränderung Postdigital Consciousness Iris van Herpen: Hybrid Holism Power, Progress, Petrolheads Who’s afraid of the (Re)Mix? Mary Katrantzou: Räume auf Frauen Remix: Die Entdeckung des Neuen im Alten Sottsas et. al.: Gegen das einheitliche Bild Die Promenadenmischung der Architektur Architektonische Bildregie von Prinz Charles Provinz als Inspiration – Die Oberpfalz the next ENTERprise: Kraft des Kindes OMA Milstein Hall der Cornell University, Ithaca SO – IL Kukje Gallery, Seoul 4.2012 Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Mischung / Mix / Mestizo

Upload: archithese

Post on 22-Mar-2016

235 views

Category:

Documents


6 download

DESCRIPTION

 

TRANSCRIPT

Page 1: archithese 4.12 - Mischung / Mix / Mestizo

arc

hit

he

se

4

.2012

Ju

li/A

ug

ust

P

reis

: 28

CH

F/2

2 E

uro

M

isch

un

g /

Mix

/ M

esti

zo

ModerneFormen im

kurvigen Design

kallysto.linekallysto.art kallysto.pro

kallysto.trend

Lassen Sie die Rundungen sprechen.

kallysto.trend macht Schluss mit Kanten. Die stilbewusste Schalter- und Steckdosen-ausführung von Hager besticht mit viel Design und trendigen Rundungen. Mit seinerangesagten Silhouette verleiht kallysto.trend zeitgemässen Interieurs und modernen Architekturen den perfekten Schliff. Wie alle Modelle von kallysto Multidesign gibt es.trend in verschiedenen Farb- und Funktionsvarianten.

www.tebis.ch

Leserdienst 121

architheseMischung – ein Glossar

Lothar Baumgarten im Museum Folkwang

Das Ende des Exotismus

Smiljan Radics Mestizo

Der Raum als Ort – Fusionen des Afrofuturismus

Im Zeitalter der Genveränderung

Postdigital Consciousness

Iris van Herpen: Hybrid Holism

Power, Progress, Petrolheads

Who’s afraid of the (Re)Mix?

Mary Katrantzou: Räume auf Frauen

Remix: Die Entdeckung des Neuen im Alten

Sottsas et. al.: Gegen das einheitliche Bild

Die Promenadenmischung der Architektur

Architektonische Bildregie von Prinz Charles

Provinz als Inspiration – Die Oberpfalz

the next ENTERprise: Kraft des Kindes

OMA Milstein Hall der Cornell University, Ithaca

SO – IL Kukje Gallery, Seoul

4.2012

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

International thematic review for architecture

Mischung / Mix / Mestizo

Page 2: archithese 4.12 - Mischung / Mix / Mestizo

4 archithese 4.2012

E D I T O R I A L

Mischung – Ein Heft für den Sommer

Für das vorliegende Heft gab es viele Quellen der Inspiration – und dennoch ist es

in seinem Ergebnis eine Überraschung. Auslöser für die Planung des Themas war

die Beobachtung einer fortschreitenden Homogenisierung in der Architektur, ins-

besondere im Wesen einzelner Projekte. Damit folgte die Entwicklung einer von

Greg Lynn formulierten Vision, dass nach den Zeiten von «complexity and contra-

diction», von Postmoderne und Dekonstruktivismus eine Phase einsetzen könnte,

die geschmeidiger, integraler ist, die biegsam (pliant) ist statt zu brechen.1 Das

war natürlich sehr beeinflusst von Gilles Deleuze und seinen Gedanken zur Falte

(Le Pli).

Greg Lynn wurde insbesondere von den Computer-affinen Architekten stu-

diert, und er ist noch heute Teil dieser Szene. Seine Analysen jedoch – hier verhält

es sich möglicherweise wie bei Marx – sind auch auf rationale und minimale

Denkrichtungen anzuwenden. Denn selbst in den konservativen und gemässigten

Strömungen stellt man eine zunehmend monothematische Herangehensweise

fest, wobei sich in manchen Fällen verschiedene Konzepte lose gruppieren, dabei

aber selten überlagern.

Greg Lynn sprach nicht von der Einheitlichkeit; er propagierte Unterschiede

und unabhängige Elemente in einem viskosen, zusammengehörigen Gesamtsys-

tem «wie Teigschichten» und Rosinenstücke beim Unterheben.2 Der Rückblick in

die Traditionsanalogie der Hausarbeit – er findet seine grössere Realität in der

offenen Struktur unserer heutigen vernetzten Welt, die rührt, mixt, tauscht, kaum

kontrollierbar, unablässlich, schlaflos über den gesamten Globus verteilt. Ein

Zustand, vor dem sich weder die Gesellschaft noch die Wirtschaft noch die

Architektur verschliessen kann; er ist bereits da, wie die Smartphones in der

Hosentasche.

Unabhängig von der Weltanalyse kann die Redaktion ein Plädoyer für das Mi -

schen nicht verheimlichen. Die Welt entstand aus Mischung, sie entwickelt sich

weiter durch Mischung, Ideen entstehen im Kopf aus der Mischung von Erfah-

rung, Wissen, Eindrücken; Menschen entstehen aus Mischung, und die Architek-

tur wie auch die Stadt sind in ihrem gebauten Zustand ebenfalls selten Werke

ohne Mischung. Für die Mischung benötigt es das eine wie das andere – den

Mainstream wie das Besondere (Vanilleeis wie Erdbeeren), das Naheliegende wie

das Absurde, das Bekannte wie das Unbekannte. Beim Mix ist beinahe alles

erlaubt.

Trotz Plädoyer und kulinarischen Metaphern: Tatsächliche Rezepte sind nicht

zu erwarten. Dafür ein Heft voller Freude, voller Energie, ein Heft der Architektur

für Reichtum und Offenheit – damit das Neue entstehen kann. Die Redaktion hatte

Spass, und Spass wünschen wir unseren Lesern.

Die Redaktion

P. S. Einige der Ideen des Heftes entstanden in der Sonne vor der Redaktion auf

und an den Möbelklassikern von Max Ernst Haefeli. Wir danken dem Hersteller

Embru.

Tanja Kalt, «Öl –

Ober fläche und

Licht», in: Ulrich

Bachmann, Farbe

und Licht. Materia-

lien zur Farb-Licht-

Lehre, Sulgen 2011,

S. 109.

1 Greg Lynn, «The Folded, The Pliant and the Supple», in: Folds, Bodies & Blobs – Collected Essays, Brüssel 2004, S.109–134.

2 Ebd.

Page 4: archithese 4.12 - Mischung / Mix / Mestizo

10 archithese 4.2012

A R C H I T E K T U R A K T U E L L

Ein unvernünftiges Ganzes

Page 5: archithese 4.12 - Mischung / Mix / Mestizo

11

DIE MILSTEIN HALL DER CORNELL UNIVERSITY

VON OMA

Milstein Hall ist mehr als ein Neubau; sie ist

zugleich eine Reise zurück zu den akademi-

schen Wurzeln von Rem Koolhaas, der

als Student in Cornell seine Forschung an

Delirious New York begann. Für OMA handelt

es sich um den zweiten Campus-Eingriff

in den USA. Zehn Jahre nach der Intervention

inmitten Mies van der Rohes IIT-Campus

sind die Aussagen über den Umgang

mit historischer Bausubstanz bei Milstein

Hall noch pointierter ausgefallen.

Autor: André Bideau

«Heritage is becoming more and more the domi-

nant metaphor for our lives today.» So liess Rem

Koolhaas in seinem Beitrag zur Architekturbiennale

2010 vernehmen, um gleichzeitig mit Fragen wie

«Should China save Venice?» zu provozieren. Cro-

nocaos, die nach Venedig auch in New York ge-

zeigte Ausstellung, führte im Grunde genommen

den Junkspace-Diskurs fort. In diesem Essay von

2001 hatte Koolhaas das Verhältnis zwischen

Architekturproduktion und einer zum reinen öko-

nomischen Reflex verkommenen Identitäts- und

Urbanitätspolitik beschrieben. Das daraus entste-

hende inhaltliche Defizit mündet in eine bereits

1994 in The Generic City reflektierte Geschichts-

hörigkeit, durch die jegliches Verständnis von Kon-

textualität und Authentizität desavouiert werde.

Der im Cronocaos-Essay aufgegriffene Heritage-

Komplex ist mit einer besonders im angelsächsi-

schen Raum ausgeprägten Dynamik verknüpft,

orientiert sich dort die urban governance doch von

jeher an der Privatwirtschaft. So bildet auch die

Auseinandersetzung mit Publikumsbedürfnissen

und – vor allem in den USA – die Verwischung von

marktstrategischen Überlegungen und Identitäts-

politik im Städtebau eine Prämisse, die etwa im

Erfolg des New Urbanism zutage trat. Diese post-

moderne Symbiose bringt der Begriff heritage

industry zum Ausdruck, wogegen die im Deutschen

gebräuchlichen Bezeichnungen Museali sie rung und

Festivalisierung die wirtschaftliche Di mension von

Identität in Bezug auf die zeitgenössische Stadt nur

unzureichend erfassen.

Die von Architekten hergestellten Objekte und

Bilder speisen heute andere Kreisläufe als zu Be-

ginn der Post moderne. Als Akteur und Vertreter

1 Aussenansicht des

Nordflügels

(Foto: Iwan Baan)

Page 6: archithese 4.12 - Mischung / Mix / Mestizo

36 archithese 4.2012

Autor: Hubertus Adam

Die Gemeinde Vitacura befindet sich im Norden des Bal-

lungsraums von Santiago de Chile. Entlang dem Rio Mapocho

ist hier nach Entwürfen von Teodoro Fernández zwischen

2005 und 2007 der Parque Las Américas entstanden, der von

einer Stadtautobahn und der Bicentenario Avenue begrenzt

wird. An der Nordostecke konnte Smiljan Radic das Restau-

rant Mestizo realisieren, bei dem zunächst an eine temporär

und ephemer wirkende Konstruktion gedacht war. Als die-

ser Gedanke der Gemeinde missfiel, änderte Radic sein Kon-

zept radikal. In Zusammenarbeit mit der Künstlerin Marcela

Correa entstand zwar eine erneut pavillonähnliche Struktur,

die aber mit dezidiert harten Materialien umgesetzt wurde.

Ein irritierendes, fast surrealistisch inszeniertes Element

bilden die unregelmässig platzierten und sieben bis elf Ton-

nen schweren Findlinge aus Granit, auf denen die Primär-

struktur des Restaurantbereichs ruht. Diese besteht aus ei-

nem sich in verschiedenen Winkeln verschneidenden System

aus schmalen, schwarz gestrichenen Stahlbetonträgern mit

hochrechteckigem Querschnitt. Das eigentliche, über der

Terrasse weit auskragende Dach ist aus parallelen Stahlträ-

gern gebildet, zwischen denen Glasplatten eingelassen

sind. Auf Rohren aufgewickelte Tuchstoren dienen im Inne-

ren als Sonnenschutz, während die Terrasse mit einem

Sonnenschutzsegel verschattet ist. Die robuste Rauheit der

STEIN, BALKEN, TUCHSmiljan Radic: Restaurant Mestizo, Santiago de Chile

Materialien, die deutlich sichtbaren handwerklichen Ferti-

gungsspuren und die offenkundig überdimen sionierte Kon-

struktion stehen in bewusstem Kontrast zu Tendenzen der

Immaterialisierung, welche für die Stahl-Glas-Architektur

der Moderne in der Nachfolge Mies van der Rohes bestim-

mend wurden.

Der Kontrast zwischen den hellen, nachts magisch illumi-

nierten Findlingen, die wie Teile des Parks gleichsam ins

Innere des Gebäudes gewandert sind, und der dunklen

Tragstruktur macht den eigentlichen Reiz des Gebäudes

aus. Als Referenz hat Radic selbst auf die Karyatiden verwie-

sen, welche das Vordach von Lubetkins Highpoint II (1938)

in London tragen. Die Kopien der Erechtheion-Karyatiden,

die fast wie eine Antizipation postmoderner Strategien wir-

ken, hatte Lubetkin seinerzeit gewählt, weil sie nicht als

tragende Elemente erscheinen, sondern sich als (Garten-)

Statuen visuell mit dem umgebenden Park verzahnen soll-

ten. Eine weitere Inspiration waren die Pavillonbauten von

Sverre Fehn, insbesondere der Nordische Pavillon für die

Biennale in Venedig (1958–1962); man kann aber auch an

Richard Neutras Versuche denken, die physische Grenze des

Hauses aufzulösen. Das Perkins House in Pasadena (1955)

steht paradigmatisch für die Entgrenzung des Hauses nach

aussen – und die Integration der Landschaft.

1, 2, 3, 4 5

Page 7: archithese 4.12 - Mischung / Mix / Mestizo

37

1 Perkins House,

Richard Neutra,

1955, Pasadena,

Kalifornien

(aus: Barbara Lamprecht, Peter Gössel, Neutra. Complete Works, Köln 2000)

2 Highpoint,

Tecton, 1935,

Highgate, London

(Foto: © Julian Osley)

3 Norwegischer

Pavillon, Sverre

Fehn, 1958–1962,

Venedig (Foto: © Seier & Seier)

4 Das Mestizo

Restaurant

im Parque

Las Américas

(Fotos 4–8: Gonzalo Puga)

5 Eine der Stützen

im Bauprozess

6 Modellstudie zum

zweiten Projekt

7 Aussenansicht

8 Gastbereich

6

7

8

Page 8: archithese 4.12 - Mischung / Mix / Mestizo

38 archithese 4.2012

DER RAUM ALS ORTFusionen des Afrofuturismus

Die Idee der «Fusion» gehört zur kulturell erfolgreichsten seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.

So verwendet die Wirtschaft den Begriff seit wenigen Jahrzehnten für den Zusammenschluss beziehungs-

weise die Verschmelzung von zwei oder mehreren Firmen zu einem einzigen grossen Unternehmen.

Auch konnte sich seit den Achtzigerjahren die Fusion Cuisine, hervorgegangen aus der California Cuisine,

zur international beliebtesten Küche im Zeitalter der Globalisierung etablieren. Last but not least ist von

der Fusion-Musik zu sprechen. Dieser Musikstil bildete sich ab Mitte der Sechzigerjahre aus und konnte

in den Siebzigern seine grössten künstlerischen und ökonomischen Triumphe feiern. Es war vor allem

eine Unterströmung der Fusion-Musik, die brisante Verbindungen zwischen Kunst, Technologie, Wissen-

schaft und politischer Emanzipation zu knüpfen verstand: der Afrofuturismus. Er katapultierte eine

afrikanisch inspirierte Ikonografie aus dem Archaischen ins Zeitalter der Raumfahrt – und ganz nebenbei

kommentierte er auf originelle wie produktive Art und Weise die Segregationsprozesse in der amerikani-

schen Gesellschaft und Stadt des 20. Jahrhunderts.

1

Page 9: archithese 4.12 - Mischung / Mix / Mestizo

39

1 Miles Davis:

Bitches Brew (1970);

Cover Art von

Mati Klarwein

2 Herbie Hancock:

Crossings (1972);

Cover Art von

Robert Springett

3 Herbie Hancock:

Sextant (1973);

Cover Art von

Robert Springett

4 Herbie Hancock:

Thrust (1974);

Cover Art von

Robert Springett

Autor: Stephan Trüby

Von Mark Dery 1993 in seinem Essay «Black to the Future»

erstmals geprägt, meint der Begriff «Afrofuturismus» eine

vor allem in den USA verbreitete und mehr oder weniger

ernsthaft vertretene Auffassung, wonach das schwarze

Amerika eigentlich ausserirdischer Herkunft sei. Schwarze

US-Amerikaner entstammen dieser Lesart nach nicht Skla-

venschiffen, sondern Raumschiffen und UFO-Landungen.

Der Afrofuturismus ist das kulturelle Produkt einer Exklusi-

onserfahrung: Zwar hat sich die politische Situation der

Schwarzen in den USA durch Lyndon B. Johnsons Civil

Rights Act von 1964 spürbar verbessert – die Rassentren-

nung in öffentlichen Einrichtungen wie Restaurants, Kinos,

Hotels, Sportstadien, Bussen, Sanitäreinrichtungen etc. war

damit für illegal erklärt worden. Dennoch blieben faktisch

viele Diskriminierungsroutinen erhalten, teilweise bis heute.

Gerade die fünf bemannten Mondlandungsprogramme, die

spätestens mit Neil Armstrongs «riesigem Sprung für die

Menschheit» am 21. Juli 1969 ins Nervenleben der Weltbe-

völkerung traten, machten deutlich, dass die ostentative

Überlegenheit der USA mit den perfidesten Spielarten eines

White-Supremacy-Rassismus kompatibel ist: Die militä-

risch-technologische Hegemonie der Vereinigten Staaten ist

eine «weiss» codierte; unter den zwölf Menschen, die bis

1972 den Mond betraten, war kein einziger Schwarzer.

Während ein Teil der Menschheit feierte und sich ob des

Errungenen der eigenen Grösse vergewisserte, verhagelten

spekulativere, um nicht zu sagen: alternativ-wissenschaftli-

che Töne die Gesamtstimmung. Der Schweizer Schriftsteller

Erich von Däniken und andere Prä-Astronautiker kränkten

den terrestrischen Narzissmus, indem sie bestritten, dass

die Poiesis auf Erden stets dem Humanum zu verdanken sei.

Ausserirdische, so führte von Däniken in seinem 1968 er-

schienenen Weltbestseller Erinnerungen an die Zukunft

(engl. Titel: Chariots of the Gods) aus, hätten vor langer Zeit

die Erde besucht und dadurch die kulturelle Evolution der

Menschheit in andere Bahnen gelenkt. Ihrer technischen

Überlegenheit wegen seien diese Besucher aus dem All

für Götter gehalten worden. Vor dem Hintergrund dieser

Thesen interpretiert von Däniken die verschiedensten kultu-

rellen Artefakte als Beweise für ausserirdischen Tourismus.

Das ist natürlich alles leicht zu behaupten und ebenso

schwer zu beweisen wie zu widerlegen, fiel aber insbe-

sondere im schwarzen Amerika auf fruchtbaren Boden. Die

traditionelle Zukunftsmüdigkeit der afroamerikanischen

Literatur, die sich gerade auch in einer Distanz zum Science-

Fiction-Genre äusserte, konnte nunmehr janushaft ins

gleichzeitig Historische wie Futuristische gewendet wer-

den. Die Gedächtnisträger der «diasporischen Urszene»1, der

Entführung aus Afrika, entflohen mithilfe der Prä-Astronau-

tik dem gesellschaftlichen Jammertal und begannen als

zunehmend glamouröse Musiktechniker an der eigenen

Zukunftsvergangenheit zu schrauben.

Der Afrofuturismus und seine Bildpolitik

Die technologische Aufrüstung der afrodiasporischen Bild-

tradition wurde, bevor sie im relativen Mainstream der

Funk- und Disco-Musik der Siebzigerjahre ankommen sollte,

insbesondere auf den Covern von Fusion-Platten vorbereitet.

Vor allem Miles Davis (1926–1991) und Herbie Hancock (geb.

1940) sind hier zu erwähnen, ebenso deren «Hauskünstler»

Mati Klarwein und Robert Springett. Allesamt synchroni-

sierten sie, Kodwo Eshun zufolge, Vergangenheit, Gegen-

wart und Zukunft. Betrachtet man Klarweins Cover für

Miles Davis’ Album Bitches Brew (1970), so wird der Aus-

gangspunkt deutlich: Die Optik des gerne als «Initialzün-

dung» der Fusion-Musik bezeichneten Albums ist noch ganz

technikfrei – und wird von den Spätsurrealismen paradiesi-

scher Paare am Meer, afrikanischer Stammeskleidung, flam-

menden Blüten, Himmelsschlieren und Tag-Nacht-Gleichen

bestimmt. Einzig ein Kosmos voller Sterne weist die Rich-

tung auf Zukünftiges. Auch Robert Springetts Cover für Her-

bie Hancocks Alben Crossings (1972) und Sextant (1973) wer-

den noch dominiert von archaisch anmutenden Menschen

mit Holzbooten oder tanzenden Kriegern zwischen Stufen-

pyramide und frei flottierendem Amulett. Die Musik dieser

Alben, die durchweg radikal und experimentell ist, ein weit-

gehend elektrifiziertes Instrumentarium an neu artige Ef-

2 3 4

Page 10: archithese 4.12 - Mischung / Mix / Mestizo

64 archithese 4.2012

REMIX_Die Entdeckung des Neuen im Alten

Die Wahrnehmung der sichtbaren Erscheinung der Welt gilt heutzutage als vollständig; die Erkundungen

bohren in die Tiefen vorhandenen Wissens. Damit geht ein stetiger Umbau unseres Verständnisses vom

Vorhandenen einher, der sich in der ästhetischen und architektonischen Evolution ebenfalls niederschlägt.

Page 11: archithese 4.12 - Mischung / Mix / Mestizo

65

Atelier Michael

Hirschbichler:

Theatrum Orbis

Terrarum

(© Atelier Michael Hirschbichler)

Autor: Michael Hirschbichler

Die Karte der Welt ist gezeichnet. Die Möglichkeit, neue

Welten aus dem Nichts zu erschaffen, schwindet mit rasan-

tem Tempo. Stile und Bewegungen formieren sich, verblas-

sen und gehen vobei, um bald darauf wiedererweckt zu wer-

den – während andere Inkarnationen, im Verborgenen

ruhend, unterdessen an die Oberfläche des kulturellen Be-

wusstseins drängen. Es stellt sich die Frage, wie angesichts

der Omnipräsenz des Bestehenden, bereits Erfundenen und

Entdeckten noch produktive und auf künftige Entdeckungen

gerichtete Bestrebungen möglich sind? REMIX Die Techni-

ken von Mix und Remix, die aus der Musik stammen und in

die verschiedensten Disziplinen Eingang finden, können auf

einer höheren Ebene als organisatorische Metastrategie zur

Kulturproduktion eingesetzt werden. Der Begriff Mix be-

schreibt eine Operation, bei der eine Reihe von Fragmenten

zu einer neuen Komposition zusammengeführt wird. Remix

bezieht sich auf eine alternative, veränderte Version eines

ursprünglichen Gebildes. Sowohl Mix als auch Remix sind

strukturelle Operationen, die dazu dienen, bestehendes Ma-

terial neu zu ordnen. Ihr Ziel besteht nicht darin zu erfinden,

sondern umzubilden und neu zu interpretieren, um auf diese

Weise Teile eines bestehenden kulturellen Universums in

neue Zustände zu überführen.

PROZESS Das Ergebnis des Remix ist ein neues Arrange-

ment, eine Transformation des Bestehenden. Es werden

nicht von Grund auf neue Gebilde geschaffen, sondern neue

Instanzen einer existierenden Anordnung durch die Strate-

gie des Remix zutage gefördert. Das Unbekannte und Neue

entfaltet sich in den Transformationen und Permutationen

des Bekannten. Der hierzu notwendige Prozess setzt sich

aus drei grundlegenden Schritten zusammen:

DEKONTEXTUALISIERUNG In einem ersten Schritt muss

eine Fragmentierung eines gegebenen Realitätsausschnit-

tes oder einer Reihe bislang intakter Gebilde vorgenommen

werden. Das Material des Remix wird aus seinem natürli-

chen Kontext herausgelöst. Dadurch werden bestimmte Zu-

sammenhänge und Beziehungsgefüge durchtrennt und ver-

schiedene Bedeutungen und Konnotationen ausser Kraft

gesetzt. Ein ursprünglich abgeschlossener Sinnzusammen-

hang gerät zu einem Fragment und existiert fortan in einem

ungenau umrissenen Schwebezustand, in dem er sich für

den Eintritt in eine neue Konfiguration frei hält. REKOMBI-

NATION Durch die Anwendung einer Reihe von Operatio-

nen werden Kombinationen ausgewählter Fragmente entwi-

ckelt. Neue Beziehungen und Sinnzusammenhänge eröffnen

sich, neue Bedeutungen und Qualitäten treten zutage. Frü-

here Kodierungen und Bedeutungsumfänge lösen sich, ver-

lieren ihre Verbindlichkeit, treten in den Hintergrund und

werden durch neue Inhalte überlagert. Die Kombination

unterschiedlicher Fragmente fügt sich zu einer neuen Kon-

stellation, wobei sich durch ein Zusammenspiel von domi-

nanten und ausfüllenden Elementen Bedeutungshierarchien

herausbilden. AMALGAMIERUNG Aufgrund der mannig-

faltigen Ursprünge der Fragmente besitzen Remix-Schöp-

fungen verschiedene Grade an Stabilität oder Instabilität,

Kohärenz oder Inkohärenz, Zusammenklang oder Spannung.

Je nach Art und Weise ihrer Dekontextualisierung und Re-

kombination sind einige stabiler als andere, abhängig von

der Stärke der sie zusammenbindenden Wechselbeziehun-

gen. Die Verschmelzung zu einer kohärenten Sinneinheit

(Amalgamierung) ist ein abschliessendes Verfahren, das die

Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten neu zusammen-

geführter Fragmente stärkt. Ziel hierbei ist, robuste neue

Entitäten zu entwickeln, die über eine blosse Anhäufung

separater Teile hinausgehen. TERRA COGNITA Dem Remix

liegt die schmerzliche Akzeptanz eines bereits bestehenden

willentlich gestalteten Territoriums zugrunde, das auf den

ersten Blick keine abenteuerlichen Entdeckungen mehr

zulässt. Die einst mysteriösen unbekannten Kontinente

wurden entdeckt, klassifiziert und in unser weltumspan-

nendes geografisches System eingeordnet. Unzählige For-

schungsreisen in eine Terra incognita haben im Laufe der

Zeit eine Welt des Bekannten geschaffen, wodurch jede Not-

wendigkeit zu deren Weiterführung hinfällig wurde. Wir

sehen uns daher mit dem Problem konfrontiert, dass wir,

sofern wir an Entdeckungen und Forschungsbestrebungen

festhalten wollen, einem schon kartografierten Territorium

gegenüberstehen. Unsere Expeditionen müssen sich fortan

innerhalb einer Terra cognita bewegen. REPETITION In

einer Welt des Bekannten folgen Ideologien, Stile und Bewe-

gungen in den verschiedenen Bereichen der Kulturproduk-

Page 12: archithese 4.12 - Mischung / Mix / Mestizo

82 archithese 4.2012

KÖNIGLICHER PASTICHE Die architektonische Bildregie von Prinz Charles

Stets im Schatten der anerkannten Architekturdiskussion hat Prinz Charles mit der Prince’s Foundation

ein Vehikel etabliert, welches mittlerweile selbst in China pittoreske Mischungen aus gestern und heute

entstehen lässt und in diesem Kontext die europäische Kritik hinter sich lässt.

1 Bildvergleich

der Skyline von

London

(in: Charles Jencks, The Prince, The Architects and the new wave monarchy, London 1988, S. 1)

Autor: Florian Dreher

Als der Prince of Wales im Mai 1984 erstmals in der Höhle des

Löwen, im Royal Institute of British Architects RIBA, seine

legendäre Rede zur Lage der Baukultur1 hielt, avancierte er

mit seiner Schelte an die bauende Zunft über Nacht zum

ersten Kritiker des Commonwealth. In unregelmässigen Ab-

ständen tritt der Monarch seither an die Öffentlichkeit und

nimmt zu innerstädtischen Grossprojekten in London Stel-

lung. Dabei kritisiert er mit Freude stets die gleichen Par-

teien, die Hightech-Architekten und einige Vertreter der

Postmoderne, die in seinen Augen für den von ihm diagnos-

tizierten ästhetischen Verfall der Stadt verantwortlich sind.

Investoren, deren Beitrag zur Baukultur häufig zweifelhaft

ist, werden dabei gerne aussen vor gelassen. Die Anzahl

seiner bisherigen Reden zur Architektur hält sich auffallend

gering, aber ihre mediale Durchschlagskraft beweist den ge-

genteiligen Erfolg. Als Thronanwärter und öffentliche Person

ist er sich seiner Wirkung und der Bedeutung seiner Worte in

der Presse – vom Boulevardblatt bis zum Fachmagazin –

äusserst bewusst. Das Rollenverständnis des Prinzen ist

zwiespältig. Nach Verfassung der konstitutionellen Monar-

chie liegt den Mitgliedern des königlichen Hauses eine ak-

tive Beteiligung in der Politik fern. Dies führte mehrmals

dazu, dass nach hitzigen Debatten mit dem Prince of Wales

sein schärfster Kontrahent, der Londoner Architekt Lord

Richard Rogers of Riverside, den Monarchen an seine stille

Funktion ausserhalb des politischen Systems erinnerte.

Mit welch königlichem Potentat ist aber der Prinz ausge-

stattet, dass sogar das deutsche Feuilleton2 sich nach der

Wiedereinführung der Monarchie sehnt? Ruft die Polis nach

dem Prinzen?

Nach Kantorowicz’ Zwei-Körper-Theorie des Königs3, in

der Vereinigung eines weltlichen vergänglichen Leibes und

das eines Ewigen der Krone, lässt sich heute im Zeitalter der

Medien ein Kaleidoskop unbegrenzter Körperformationen

hinzufügen beziehungsweise feststellen. Es gesellen sich

neben dem politischen Körper die medialen Inszenierungen,

die des Familienvaters, des Künstlers und Designers, des

Ökobauers und Umweltschützers bis zum «einfachen Mann»

hinzu – was in den unterschiedlichen Reden und auch im

Sprachgebrauch des Monarchen zum Tragen kommt. So

zeigt sich des Prinzen Wortwahl in diversen Ausprägungen,

zwischen provokativ, volksnah, naiv bis zu kindlichem Witz.

Inwieweit ist es unter diesem Gesichtspunkt des königli-

chen Rollenspiels noch denkbar, von Authentizität des Indi-

viduums zu sprechen, wenn der Darsteller in der medialen

Verkörperung mehrerer Figuren, sein «wahres Selbst zu

sein» beansprucht?4 Ist diese Janusköpfigkeit auch ein Indiz

1

Page 13: archithese 4.12 - Mischung / Mix / Mestizo

83

2 Illustration aus

Pugins Contrast:

Vergleich einer

«katholischen

Stadt» von 1440

mit ihrem Verfalls-

zustand im Jahr

1840

(aus: Gerda Breuer, «Ästhetik der schönen Genüg-samkeit oder Arts & Crafts als Lebens-form», in: Bauwelt Fundamente 112, Braunschweig/Wiesbaden 1998, S. 68)

für die Architekturauffassung seiner Majestät? Wie verhält

es sich mit den baulichen und gesellschaftlichen Leitbildern

des Monarchen?

Vision oder Erblindung

In seiner Publikation A Vision for Britain5 und der gleichna-

migen Ausstellung stellt der Prince of Wales sein Sehn-

suchtsbild nach Merry Old England der high-tech-architec-

ture Cool Britannias gegenüber. Um sein Anliegen zu ver -

deutlichen und den gewaltigen Zerstörungsakt durch die

moderne Architektur darzustellen, greift er zur simplen

Methode der bildlichen Gegenüberstellung eines romanti-

schen Stadtpanoramas (Abb. 1) von Canaletto und einer zeit-

genössischen Fotografie derselben Stadtsilhouette, geprägt

durch die Hochhäuser des Finanzsektors der City of London.

Bei Canaletto dominiert die gewaltige Kuppel von St. Paul’s

das Panorama und strahlt in ihrem Glanze über die ihr zu

Füssen liegende Bebauung entlang der Themse hinweg. In

der Fotografie hingegen wirkt die steinerne Manifestation

der klerikalen Macht in ihrer Bedeutung und Position ent-

rückt – das Kapital übernimmt unübersehbar die klare Vor-

machtstellung und Deutungshoheit ein.

In einem ähnlichen Konflikt agiert der zum Katholizismus

konvertierte Baumeister Augustus Welby Pugin, als er in

seinem Buch Contrasts von 1836 den Sittenverfall der Gesell-

schaft und den damit einhergehenden Verlust der mittel-

alterlichen Stadt durch die um sich greifende Industrialisie-

rung anprangert. Die moralische Erneuerung der Baukunst

erfolgt für Pugin aus dem katholischen Glauben und ist fest

an eine idealisierte Gotik-Rezeption (Gothic Revival) gebun-

den. Seine Gesellschaftskritik in Verbindung mit einem kla-

ren Baustilbekenntnis, einem religiösen Heilsversprechen

und einem glaubensfesten Patriotismus wandelt das vor-

herrschende romantische Mittelalter-Bild auf eine sozial-

ethische Ebene. Mit ihr als ideale Gesellschaftsform und der

Gotik als historischem Stil des Nordens, stemmt sich Pugins

codierte Version eines englischen Regionalstils gegen eine

fremdartige klassische Villenarchitektur des Südens. Zeigen

sich in Pugins Bestrebungen Parallelen zu Prinz Charles?

Versucht der Monarch gleichzeitig als angehendes Ober-

haupt der Kirche und moralische Autorität, mit seiner Kritik

und dem Verlust der Weltordnung durch die Enthierarchisie-

rung von St. Paul’s, an eine vergangene Gesellschaftsform

anzuknüpfen?

Mit seinen «Ten Principles» (Ort, Hierachie, Massstab,

Harmonie, Umschliessung, Materialität, Dekor, Kunst, Schrift-

züge, Licht und Gemeinschaft) hofft der Prince of Wales die

verloren gegangenen Werte einer traditionsorientierten und

2