archithese 1.11 - swiss performance 11

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archithese Manuel Herz Jüdisches Gemeindezentrum, Mainz HHF Labels 2, Berlin Diener & Diener Museum für Naturkunde, Berlin Brzoza und Kwietowicz Haus Sosnowska, Warschau Christ & Gantenbein Swiss Church, London Herzog & de Meuron VitraHaus, Weil am Rhein EM2N Viaduktbögen, Zürich Fuhrimann Hächler Friedhofsgebäude, Erlenbach Bosshard Vaquer Tonhalle, St. Gallen Lütjens Padmanabhan Doppelhaus, Rüschlikon huggenbergerfries Heizzentrale, Lungern Miller & Maranta Altes Hospiz, St. Gotthard Durisch + Nolli SSIC, Gordola merlini & ventura Badmintonhalle, Vevey Made in Apartment, Genf 1.2011 Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Swiss Performance 11

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Allreal-Gruppe:Zürich,B

asel,B

ern,St.Gallen

www.allreal.ch

Immobilien

Projektentwicklung

Realisation

Kauf/Verkauf

Foto:R

obertPolidori

4051 Basel:Hier saniert Allreal

die Markthallewww.markthalle-basel.ch

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architheseManuel Herz Jüdisches Gemeindezentrum, Mainz

HHF Labels 2, Berlin

Diener & Diener Museum für Naturkunde, Berlin

Brzoza und Kwietowicz Haus Sosnowska, Warschau

Christ & Gantenbein Swiss Church, London

Herzog & de Meuron VitraHaus, Weil am Rhein

EM2N Viaduktbögen, Zürich

Fuhrimann Hächler Friedhofsgebäude, Erlenbach

Bosshard Vaquer Tonhalle, St. Gallen

Lütjens Padmanabhan Doppelhaus, Rüschlikon

huggenbergerfries Heizzentrale, Lungern

Miller & Maranta Altes Hospiz, St. Gotthard

Durisch + Nolli SSIC, Gordola

merlini & ventura Badmintonhalle, Vevey

Made in Apartment, Genf

1.2011

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

International thematic review for architecture

Swiss Performance 11

4 archithese 1.2011

E D I T O R I A L

Swiss Performance 11

Das Jahr 2001 starteten wir mit der Idee Swiss Performance – folglich liegt mit dem

vorliegenden das elfte Heft der Serie vor, die zu einem grossen Erfolg geworden

ist. Der Versuch, die wichtigsten Bauten des Vorjahres zu resümieren und bilan-

zieren, wird von Leserinnen und Lesern des In- und Auslands überaus geschätzt.

Bekanntermassen sind Auswahlen subjektiv, und die kritische Lektüre der Texte

dokumentiert, dass nicht alle präsentierten Bauten in jeder Hinsicht über alle

Zweifel erhaben sein müssen. Anlass zur Diskussion – und das ist eine unserer

Intentionen – geben sie allemal.

Die Auswahl selbst ist – angesichts der Fülle und Qualität des in der Schweiz

oder von Schweizer Architekten im Ausland Gebauten – schwierig, und manches,

das auch in diesem Heft hätte veröffentlicht werden können, ist schon in vorange-

gangenen Nummern publiziert worden; verwiesen sei insbesondere auf das Rolex

Learning Center von SANAA in Lausanne (archithese 3’2010) und den Schweizer

Pavillon von Buchner Bründler auf der Weltausstellung in Shanghai (archithese

4’2010). Weitere Bauten des Jahres folgen in den kommenden Ausgaben: der Hör-

saal am Plantahof in Landquart und der Eingang des Grossratsgebäudes in Chur

von Valerio Olgiati sowie das Projekt 1111 Lincoln Road von Herzog & de Meuron

in Miami.

Wie auch in den vergangenen Jahren ist in diesem Heft die archithese-typische

Unterscheidung zwischen Thementeil und aktuellen Architekturberichten suspen-

diert – zugunsten der Aufteilung in «Swiss Performance» und «Swiss Unlimited»;

in letzterer Rubrik finden sich erneut kleinere oder experimentellere Projekte.

In gewohnter Aufmachung folgen die übrigen Hefte des Jahres: Heft 2 hat «Ober-

fläche», Heft 3 «Dichte» zum Thema. Mit Heft 4 («Architekturkritik heute») feiert die

archithese ihr vierzigjähriges Jubiläum – eine begleitende Ausstellung im Architek-

turforum Zürich ist bereits in Planung. Unter dem Titel «Let’s go west» werden in

Heft 5 Architekten porträtiert, die in den Zwanziger- und Dreissigerjahren Europa

den Rücken kehrten und ihre Karriere in den USA begannen. «Festarchitekturen» 

werden schliesslich, passend zur Weihnachtszeit, in der letzten Nummer des

Jahres behandelt.

Redaktion

Herzog & de Meu-

ron: 1111 Lincoln

Road, Miami 2010

20 archithese 1.2011

HHF Architekten: Modezentrum Labels 2, Berlin Der Bau ist ein Solitär, und er polarisiert.

Eine markante, in allen Himmelsrichtungen identische Fassade thematisiert die Funktion des Hauses.

Es beherbergt übereinandergestapelte Showrooms von Modelabels – hier war der Ort am

Friedrichshainer Spreeufer in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Szenegegenden der Stadt für

die Bauherren von Bedeutung.

FASHION IN ARCHITECTURE

1

21

Text: Carsten Krohn

Jeder, der einmal in einer Sommernacht in der Bar 25 am

Spreeufer sass, wird sich dort vergewissert haben, dass Ber-

lin eine besondere Stadt ist. Die magische Atmosphäre des

Ortes kann nicht nur unzählige Gäste in eine euphorische

Stimmung versetzen, sondern auch bei Menschen aus ande-

ren Ländern den Wunsch auslösen, in dieser Stadt zu leben.

Während den Betreibern von Jahr zu Jahr die Zwischennut-

zung verlängert wurde, da der Bau eines Bürokomplexes im-

mer wieder aufgeschoben wurde, formierte sich Widerstand

gegen die Pläne der Investoren. Ein Bürgerbegehren führte

schliesslich zu einer Abstimmung über die Entwicklung von

«Mediaspree». Unter diesem Namen wird das Spreeufer zwi-

schen Mitte, Kreuzberg und Friedrichshain vermarktet.

Transformation des Osthafens

Da mit der Umstrukturierung auch Verdrängungsprozesse

verbunden sind, betrachten viele Anwohner alles, was auf

dem ehemaligen Grenzstreifen geplant wird, von vornherein

mit äusserster Skepsis. In den zwei Jahrzehnten nach dem

Fall der Mauer wurden hier mit Subventionen gezielt Medien-

unternehmen angeworben, und seither wird das riesige Ent-

wicklungsgebiet kontrovers diskutiert, sodass die Reaktio-

nen auf die dort entstehenden Bauwerke auch immer vor

diesem politischen Hintergrund begriffen werden müssen.

So stiess das im Osthafen von HHF Architekten (Tilo Her-

lach, Simon Hartmann, Simon Frommenwiler) errichtete Mo-

dezentrum neben Begeisterung auch auf eine Ablehnung, die

sich nicht auf die Architektur bezieht. «Superprojekt, aber am

falschen Ort»¹, wurde der Sprecher der Gegeninitiative «Me-

diaspree versenken!» zitiert. Auf Wikipedia ist zu lesen, dass

der Neubau von Labels 2 «unter Ignorierung eines im Juli

2008 erfolgten Bürgerbegehrens» umgesetzt wurde. Damals

stimmten 87 Prozent für die Forderung nach einem breiten

öffentlichen Uferstreifen und öffentlichen Nutzungen in den

1 Ansicht von

der Stralauer Allee

(Foto: Christian Gahl)

2 Situationsplan

3 Treppe

(Fotos 3, 4, 9: Iwan Baan)

3

2

24 archithese 1.2011

Diener & Diener Architekten: Ostflügel des Museums für Naturkunde, Berlin

Mit dem wiedererrichteten Ostflügel des Berliner Museums für Naturkunde gelang Diener & Diener

ein bemerkenswerter Beitrag zur Debatte um die Rekonstruktion historischer Bauten.

REKONSTRUKTION ALS INSZENIERUNG

Text: Mathias Remmele

Das Berliner Museum für Naturkunde ist eine alte und altehr-

würdige Institution mit wechselhafter Geschichte. Seine Be-

kanntheit und sein internationales Renommee verdankt das

populäre Haus – intern bezeichnet man sich ironisch als gröss-

te Kindertagesstätte Berlins – nicht nur seiner Dauerausstel-

lung, zu deren Hauptattraktion gewaltige Dinosaurierskelette

gehören, sondern auch seiner rund dreissig Millionen Objekte

umfassenden wissenschaftlichen Sammlung und den viel-

fältigen, damit zusammenhängenden Forschungsaktivitäten.

Das in den Achtzigerjahren des 18. Jahrhunderts nach Plä-

nen von August Tiede im Stil des Spätklassizismus errichtete

Museumsgebäude, das Anfang des 20. Jahrhunderts erheb-

lich erweitert wurde, präsentiert sich als eine komplexe, um

mehrere Innenhöfe herum organisierte Anlage. Den Zweiten

Weltkrieg überstand der Bau im Gegensatz zu vielen anderen

Berliner Museen mit vergleichsweise geringen Schäden. Nur

der sogenannte Ostflügel wurde durch einen Bombentreffer

so stark zerstört, dass davon nicht mehr als die Aussenmau-

ern und selbst diese nur fragmentarisch erhalten blieben.

Aufgrund jahrzehntelanger Vernachlässigung aber befand

sich das im ehemaligen Ostteil der Stadt gelegene Haus nach

der Wiedervereinigung in einem prekären baulichen Zustand.

1995 wurde daher ein Gutachterverfahren zur denkmalge-

25

1 Ostflügel mit

rekonstruiertem

Zwischenstück

(Fotos: Christian Richters)

2 Situationsplan

3 Schrägansicht

3

2

rechten Sanierung des Hauses und zur Wiedererrichtung des

Ostflügels durchgeführt, das Diener & Diener Architekten für

sich entscheiden konnten. Seither hat sich das Projekt vor

allem aus finanziellen Gründen mehrfach verzögert und in-

haltlich stark gewandelt. Im Verlauf des gerade vergangenen

Jahrzehnts gelang es immerhin, einige Bereiche des Hauses

herzurichten, und im Spätsommer 2010 konnte schliesslich

nach mehrjähriger Planungs- und Bauzeit auch der für 29,6

Millionen Euro neu erbaute Ostflügel des Museums seiner

Bestimmung übergeben werden.

Preziosenkabinett und Hochregallager

Der Neubau beherbergt die sogenannte Nass-Sammlung des

Museums – in Alkohol eingelegte Tierpräparate, die in zylin-

drischen Gläsern unterschiedlicher Grösse aufbewahrt wer-

den. Die rund 276000 Gläser, die das Naturkundemuseum

besitzt und bisher über das gesamte Haus verteilt lagerten,

stellen einen wissenschaftlich eminent bedeutenden Fundus

dar. Zugleich handelt es sich dabei, unter konservatorischen

und sicherheitstechnischen Aspekten betrachtet, um ein ex-

trem heikles Sammlungsgut. Die Nass-Präparate verlangen

nach einer dunklen Lagerung bei möglichst gleichbleiben-

der, kühler Raumtemperatur und müssen gegen vielfältige

Schadensszenarien geschützt werden. Um diesen sachlich

zwingenden Vorgaben gerecht zu werden, entschieden sich

Diener & Diener, den Neubau als fensterloses, weitgehend

geschlossenes Volumen zu realisieren. Die Lagerflächen

für die Nass-Sammlung wurden im Keller sowie in den drei

Hauptgeschossen mit ihren Raumhöhen von bis zu sechs

Metern untergebracht. Das Dachgeschoss nehmen die mit

modernster Technik ausgestatteten hauseigenen Präpara-

tionswerkstätten ein. Während der Keller und die oberen

Stockwerke nur für den internen und wissenschaftlichen Ge-

brauch zugänglich sind und nach rein funktionalen Gesichts-

punkten geplant wurden, konzipierte man das Erdgeschoss

als öffentliche, in den Museumsrundgang integrierte Schau-

sammlung. Eine bis zur Decke reichende, für das Publikum

nicht betretbare gläserne Vitrine, hinter der sich ein Hochre-

gallager für die Sammlung befindet, beherrscht den Ausstel-

lungssaal. Die Vitrine, gleichsam als Raum im Raum realisiert,

wird von innen beleuchtet, wobei das durch die Glasgefässe

sowie durch die darin befindliche, bald goldgelb, bald bern-

steinfarben schimmernde Alkoholflüssigkeit gefilterte Licht

dem wissenschaftlichen Depot – zumindest auf den ersten

Blick – den Charakter eines Schmuckkastens verleiht. Bei nä-

herer Betrachtung wirken die in den Gläsern versammelten

Fischleichen dann freilich nicht mehr so glamourös …

Der dunkle Terrazzoboden, in den glimmernde Muschel-

schalen eingearbeitet wurden, sowie die nach einem Farb-

konzept des Künstlers Leonard Forslund in einem dunkel-

28 archithese 1.2011

Piotr Brzoza und Marcin Kwietowicz: Haus und Atelier für Monika Sosnowska, Warschau Oft wird

zeitgenössischer Architektur mit Kunst am Bau auf die Sprünge geholfen. Wie Architektur umgekehrt auch

das Schaffen von Künstlern befördern kann, zeigt das Wohnhaus und Atelier für die Künstlerin Monika

Sosnowska. Es erfindet neu, knüpft typologisch an, denkt den Ort weiter und schafft einen Bezugspunkt –

überraschend klar und kraftvoll.

KARGER REICHTUM IM ENSEMBLE

Text: Steffen Hägele

Nordöstlich des bunten Problem- und Künstlerquartiers

Praga in Warschau verläuft sich die städtische Wahrnehmung

schnell im wilden Brei der Grossmärkte, Tankstellen und

Verkehrsknoten. Hinter einem grossen Kreisverkehr erreicht

man am Rand des Stadtbezirks Targówek, im städtebauli-

chen Schatten des alten jüdischen Friedhofs und des riesigen

Stadtfriedhofs Bródnowski, plötzlich kleinkörnige Strukturen.

Der Kontrast zum nahen Stadtzentrum, welches nach den

Kriegszerstörungen euphorisch und mit grossmassstäblicher

Wucht wiederaufgebaut wurde, könnte kaum grösser sein.

Mit fast dörflichem Charakter wechseln sich in Targówek

ohne erkennbare städtebauliche Ordnung teils herunterge-

kommene Einfamilienhäuser, Schuppen und Werkstatthallen

ab. In einer der Seitenstrassen erregt ein anthrazitfarbener

Baukörper mit seiner rigiden Strassenfront die Aufmerksam-

keit – und lehnt sich gleichzeitig wie selbstverständlich an

das verfallende Nachbargebäude an.

An einem solchem Ort erwartet man keine hochwertige

Baukunst und erst Recht keine Künstlerin von Weltrang. Und

so tritt man staunend zwischen die Baukörper, welche der in

Basel tätige Architekt Piotr Brzoza mit Marcin Kwietowicz

aus Warschau als Haus und Atelier für die Künstlerin Monika

Sosnowska realisierte.

Kunst des Raums und Architekturen der Stadt

Monika Sosnowskas Œuvre besteht grösstenteils aus Skulp-

turen und raumgreifenden Installationen, welche ihre Wir-

kung als dreidimensionale Gebilde im Raum entfalten. Damit

begibt sie sich in einen Übergangsbereich zwischen Instal-

lation und Architektur, in welchem die Wahrnehmung des

Betrachters durch verzerrte Perspektiven scheinbar bekann-

ter Raumeindrücke herausgefordert wird; der wahrgenom-

mene mentale Raum widerspricht der realen Orientierung

der deformierten Raumgebilde. Mehrere Art Basel-Teilnah-

men, eine Ausstellung im Schaulager Basel 2008 sowie eine

Retrospektive im Kunstmuseum Vaduz 2007 (vgl. archithese

4’2007) etablierten Sosnowska auf dem Schweizer Kunst-

markt. Für die letztgenannte Ausstellung kam es zudem zu ei-

ner engen Zusammenarbeit mit Christian Kerez, den Monika

29

1 Strassenfront

(Fotos: Juliusz Sokołowski)

2 Lageplan 1:500:

A Einfahrt B Arbeitshof C Wohnhof D Schlafhof 1 Garage2 Atelier 3 Wohnhaus 4 Gästehaus

3 Arbeitshof

4 Im Bild rechts

das Wohnhaus, im

Hintergrund das

Gästehaus

43

2

Sosnowska umgekehrt in der später siegreichen Teilnahme

am Wettbewerb des Museum of Modern Art Warschau von

2007 bestärkte.

Die Bedeutung der Schweiz für die Künstlerin manifestiert

sich auch im Neubau selbst. Denn hier kam Sosnowska mit

dem in Basel tätigen Architekten Piotr Brzoza in Kontakt, der

sie davon überzeugte, als Wohnung und Atelier ein Haus

im Warschauer Vorort Targówek zu realisieren anstatt, dem

Trend folgend, im In-Quartier Praga eine Altbauwohnung

zum Wohnatelier umzugestalten. Piotr Brzoza war unter an-

derem als Projektleiter im Büro Diener & Diener für das Ein-

kaufszentrum Stücki in Basel-Kleinhüningen verantwortlich

(vgl. archithese 1’2010). Dort wurde bereits ein Raumkon-

zept angewandt, das im Haus für Monika Sosnowska wei-

tergeführt wird: Die vier prägnanten Türme, welche an den

neuralgischen Stellen des Einkaufszentrums auch aus der

Distanz für Orientierung sorgen, verorten gleichzeitig den

umgebenden Raum im Inneren. Die Strahlkraft der Körper auf

den Aussenraum weicht die Unterscheidung zwischen Innen

und Aussen auf. Dieser Dualismus aus Gebäudemassen und

dazwischenliegenden, öffentlichen Freiräumen findet als

Stadt in der Stadt seine Übertragung im Inneren des Ein-

kaufszentrums.

Auf die diffuse, suburbane Umgebung in Targówek re-

agiert Brzoza mit einem ähnlichen architektonischen Thema:

Anstatt von einer einzigen kompakten Figur auszugehen,

stehen vier Körper und deren Zwischenräume in einem be-

ziehungsreichen Wechselspiel.

Grenzgang Gehöft

Die körperlichen Umgrenzungen in Form der vier kubischen

Massen generieren beim Haus und Atelier der Künstlerin äus-

serst vielfältige Raumformen – ähnlich einer Stadtstruktur im

Sitte’schen Sinn. Analog zu diesem urbanistischen Ansatz

setzt die zentrale Erschliessungslinie die gestaffelten Aussen-

räume und Volumina des Hauses in Beziehung. Durchschreitet

man von der Strasse kommend die sich öffnende Einfahrt und

biegt in Längsrichtung zum Haus ein, kommt man auf einen

privaten Weg, der mal als Durchgang, mal als Terrasse das

ganze Grundstück durchzieht, um zu den verschiedenen Be-

A

B

C

3

D4

1

2

60 archithese 1.2011

Text: Jürgen Tietz

Ein bisschen zur Seite gerückt – so steht das Alte Hospiz am

Rand des kleinen Ensembles auf der Passhöhe des St. Gott-

hard, ganz so, als spiele es lediglich eine Nebenrolle neben

dem einstigen Güterumschlagplatz der Alten Sust, die heute

als Museum dient, und dem Hotel St. Gotthard. Dabei bildet

das Alte Hospiz doch das historische Herzstück dieses En-

sembles. Trutzig ragt es auf der einen Seite empor, während

es zur anderen steil abfällt. Wie Felsbrocken ragen dabei die

Dachgauben aus seiner bleigrauen Dachschräge hervor. Da-

mit dieses gleichermassen für die Schweiz wie für das übrige

Europa wichtige Denkmal seiner Bedeutung künftig wieder

gerecht werden kann, haben die Basler Architekten Quintus

Miller und Paola Maranta das Alte Hospiz im Auftrag der

Fondazione Pro San Gottardo umgebaut und erweitert.

Miller & Maranta Architekten: Altes Hospiz St. Gotthard Das Alte Hospiz auf dem Gotthard ist der

über die Jahrhunderte vielfach erweiterte und umgestaltete Ursprungsbau auf der Passhöhe. Nun

haben ihm Miller & Maranta eine einprägsame Gestalt verliehen, in der die Tradition alpinen Bauens sich

mit einer ebenso selbstverständlichen wie sensiblen Modernität paart.

ZWISCHEN NORD UND SÜD

Erweiterung und Vernachlässigung

Heute erinnert von aussen einzig der kleine Glockenturm

daran, dass am Anfang des Alten Hospizes eine dem Heiligen

Gotthard geweihte Kapelle stand, die nach Grabungsbefun-

den noch auf vorromanische, wohl karolingische Zeit zurück-

geht. Durch den schlichten Steinbau mit Apsis erhielt diese

seit Jahrtausenden genutzte alpine Schnittstelle zwischen

Nord und Süd ihre besondere Auszeichnung. In den folgen-

den Jahrhunderten wechselten sich Erweiterungen und Ver-

nachlässigung der Kapelle ab. Seit 1623 ergänzte schliesslich

das Alte Hospiz die kleine Kapelle, ehe beide im 18. Jahrhun-

dert von einer Lawine zerstört wurden – um anschliessend

wieder aufgebaut zu werden. 1905 brannte das Doppelhaus

dann aus. Bei seiner Wiedererrichtung wurde die alte Kapelle

mit einer Aufstockung überbaut und das Alte Hospiz erhielt

61

2

eine veränderte innere Struktur. Gleichwohl blieb der Cha-

rakter als Doppelhaus deutlich ablesbar.

Bauliche und optische Einheit

Mit dem aktuellen Umbau für die Hotelnutzung haben Miller

& Maranta die Kapelle und das Hospiz erstmals unter einem

hohen, mit Blei gedeckten Dach nicht nur baulich, sondern

auch optisch zu einer Einheit zusammengefasst. Zugleich

haben sie den Baukörper um ein Geschoss erhöht und so

seine monumentale Wirkung inmitten des grandiosen Alpen-

panoramas gestärkt. Erst auf den zweiten Blick zeigt sich der

leichte Absatz zwischen dem historischen und dem neuen

Fassadenputz. Es ist ein schmaler Grat zwischen Bewah-

ren und Verändern, den Miller & Maranta bei ihrem Umbau

beschritten haben und an dessen Ende sich das Alte Hospiz

so selbstverständlich präsentiert, als habe es nie anders aus-

gesehen. Ohne sich dem Betrachter aufzudrängen, bleiben

die unterschiedlichen Zeitschichten erkennbar, die sich bei

den zahlreichen Umbauten der Vergangenheit an dem Bau-

denkmal abgelagert haben: die alte hölzerne Eingangstür,

die steinernen Treppenstufen, aber auch die gekoppelten

Bogenfenster im ersten Obergeschoss. Sie stammen aus der

Wiederaufbauphase nach 1905 und tragen zum besonderen

Charakter der hoch aufragenden Südfassade bei. Hinter ih-

nen liegt eine grosszügige Stube, ein Gemeinschaftsraum

mit altem Kamin, neuem, dunklen Kalkputz und einer angren-

zenden neuen Küche mit einem schwarzen Betonwaschtisch

und atemberaubendem Ausblick. Sonst aber dominieren im

Inneren des Hauses die Veränderungen. Miller & Maranta

haben dem alten steinernen Haus ein vorgefertigtes, neues

1 Ansicht von

Nordwesten

(Fotos: Ruedi Walti)

2 Situationsplan

3 Ensemble der

Bauten auf dem

Gotthard-Pass

2

3

68 archithese 1.2011

ABSTRAKTION IN ROT UND BLAU

Text: Cornelia Tapparelli

Das Projekt liesse sich nach Gilles Deleuze als pli (Falte)

zusammenfassen, so die Architekten. Die Nähe zum in der

Architekturwelt gern zitierten Deleuze ist kaum überra-

schend, haben Luca Merlini und Emmanuel Ventura doch

über mehrere Jahre hinweg für Bernard Tschumi gearbei-

tet, so auch an dessen seminalem Projekt für den Parc de

la Villette (1982 – 1998). In Zusammenarbeit mit Tschumi ha-

ben M+V auch ihr erstes Projekt realisiert: Die Regelung des

Verkehrsknotenpunktes Flon im Zentrum Lausannes (1988,

1994 – 2001; vgl. archithese 1’02).

Den Auftrag zum unlängst in Vevey fertiggestellten Bau

haben merlini & ventura vom Tennisklub La Veyre erhalten,

dessen Anlage bis dahin eine gestaffelte Tennishalle mit

insgesamt sechs Plätzen sowie zehn weiteren im Freien um-

fasste. Ziel war es, das Angebot um eine Badminton- und

Basketballhalle zu erweitern. Das Terrain ist gegen den Gen-

fersee ausgerichtet und gibt nach Süden den Blick auf die

französischen Alpen frei. Diesem malerischen Ausblick steht

in der unmittelbaren Umgebung ein Autobahnknoten ent-

gegen, welcher die Routen aus Richtung Fribourg, Martigny

und Lausanne verknüpft. Die bestehenden Bauten des Klubs

sind dabei in ihrer architektonischen Qualität dem groben

Eingriff der Autobahn zuzuordnen. Aus diesem Spannungs-

feld heraus suchten die Architekten mit ihrem Projekt zwei

Ambitionen zu vereinbaren: Sie wollten die Aussicht auf den

Genfersee und das Alpenpanorama freihalten, andererseits

jegliche Bezugsnahme zu den bestehenden Bauten vermei-

halle tennis

chemin de la veyre d'en-haut

parking airede jeux

club house

entrée

autoroute

terrasse

halle tennishalle badminton

Erweiterung des Tennisklubs La Veyre in Vevey von

merlini & ventura architectes Im Schatten eines Auto-

bahnknotens oberhalb von Vevey am Genfersee haben M+V

architectes eine Badminton- und Basketballhalle vergraben

und doch ein prägnantes, funktionales und farbenfrohes

Bauwerk geschaffen.

2

69

den. Aufgrund dieser selbstgestellten Forderungen entschie-

den sie, den Neubau weitgehend ins Terrain einzulassen.

Blauer Raum

Die neue Badminton- und Basketballhalle des Tennisklubs

liegt auf der Südseite der mittleren Tennishalle, inmitten der

ungedeckten Tennisplätze – genauer: Sie hat zu zwei Drit-

teln einen bestehenden Platz ersetzt und übernimmt dadurch

seine ungefähren Masse. Von der Terrasse des bestehenden

Klubhauses erhält der Besucher über einen tiefgelegten, ab-

fallenden Korridor Zugang zu der neuen Sporthalle. Fällt die

Tür hinter ihm zu, empfängt ihn das höherliegende Podest

eines akustisch stark isolierten wie fensterlosen Gesamt-

raums, in den man regelrecht ab- wie einzutauchen scheint.

Verstärkt wird die immersive Wirkung durch das Blau der tief

eingegrabenen Spielflächen, zu welchen man über eine zwei-

läufige Betontreppe gelangt. Dabei haben merlini & ventura

mit der Wahl des blauen Farbtons eigentlich nur die Bestim-

mungen des schweizerischen Badmintonvereins befolgt, der

diesen für alle offiziellen Plätze fordert. Von den Vorgaben

angeregt wurden dann auch der Wand des Podestes, den

Treppen, dem Eingangskorridor, Türen sowie jeglichen Brüs-

tungen und Handläufen dieselbe Farbe verliehen und diese

gegenüber dem Grau der Betonhalle und ihrer farbgleichen

Heraklithplatten-Isolation als Einbauten gekennzeichnet.

Was die Beleuchtung des Raums betrifft, so mussten merlini

& ventura ebenfalls die Vorgaben des Bundesverbands befol-

gen und ihn mit starkem weissen Licht ausleuchten. Im Trep-

penbereich und Gang finden hingegen orangefarbene Licht-

quellen Verwendung, die dem kalten Licht entgegenwirken

und einen gelungenen Kontrast zum blauen Farbton bilden.

Da über die Spielfelder hinaus keine Funktionen unterzubrin-

gen waren – Umkleiden befinden sich weiterhin im Klubhaus –

führt die blaue Tür am Ende der neuen Sporthalle lediglich

zur Nottreppe. Diese wurde in einen schmalen, hohen Raum

eingebettet, der zugleich als Schacht für eine natürliche

Belüftung der Sporthalle dient. Die Treppe endet in einem

kleinen Volumen von dreieckigem Aufriss, welches inmitten

der Tennisplätze herausragt. Auf der Aussenseite wurde das

abstrakte Volumen ockerrot angestrichen und verschmilzt

optisch mit dem roten Sand der umliegenden Spielfelder.

Kontinuität

Zwischen dem kleinen Volumen des Notausgangs und den

bestehenden Hallen ragt die lang gestreckte Überdachung

der Badminton- und Basketballhalle zwischen den Tennis-

plätzen auf. Von aussen betrachtet kommt sie einem Damm,

einer Aufschüttung oder eben einer Falte des Bodens gleich.

Das angehobene Terrain sollte eine Kontinuität mit den um-

liegenden Sportplätzen bilden. Diese Kontinuität wird in

der Realisierung einerseits durch die einheitliche Farb-

gebung – die Überdachung wurde mit einem vier Zentimeter

hohen Tartanbelag bedeckt, der den typischen ockerroten

Farbton der umliegenden Sandplätze aufnimmt –, anderer-

seits aber auch durch die Gebäudestruktur selbst gewährleis-

tet. In einer ersten Projektphase waren für die Dachstruktur

1 Das Dach der

Badmintonhalle

als Tribüne

(Fotos: Ariel Huber)

2 Situationsplan

3 Eingangsbereich

und Tribüne der

Halle

3