archithese 6.12 - architektur  / architecture

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archithese Jacques Blumer: «Yes, Anna, there is a Santa Claus» Luigi Snozzi: Es lebe der Widerstand Mario Botta: Architettura e Spazio Sacro Truman Show: Das Vermeintliche der Schweiz Georgien – Architektur der modernen Seidenstrasse Benedikt Boucsein: Architektur und Modus Hannes Stiefel: Der Auftrag Under Tomorrow’s Sky: A fictional city of the future Grafton: Approaching the unknown from the common The Dissimulating Façade Die gesellschaftliche Dimension der Architektur Erlösungs- und Verdammungsarchitekturen Markus Lüscher: Die Insel einer Insel Autonome und absolute Architektur Die Geschichte des IAUS, New York Ein Abschied mit Rückblick und Ausblick Restaurierung des Hauses Tugendhat, Brünn Eun Young Yi Stadtbibliothek Stuttgart 6. Architekturgespräch in Einsiedeln Anna Viebrock: Das Mansion am Südpol 6.2012 Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Architektur / Architecture

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architheseJacques Blumer: «Yes, Anna, there is a Santa Claus»

Luigi Snozzi: Es lebe der Widerstand

Mario Botta: Architettura e Spazio Sacro

Truman Show: Das Vermeintliche der Schweiz

Georgien – Architektur der modernen Seidenstrasse

Benedikt Boucsein: Architektur und Modus

Hannes Stiefel: Der Auftrag

Under Tomorrow’s Sky: A fictional city of the future

Grafton: Approaching the unknown from the common

The Dissimulating Façade

Die gesellschaftliche Dimension der Architektur

Erlösungs- und Verdammungsarchitekturen

Markus Lüscher: Die Insel einer Insel

Autonome und absolute Architektur

Die Geschichte des IAUS, New York

Ein Abschied mit Rückblick und Ausblick

Restaurierung des Hauses Tugendhat, Brünn

Eun Young Yi Stadtbibliothek Stuttgart

6. Architekturgespräch in Einsiedeln

Anna Viebrock: Das Mansion am Südpol

6.2012

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

International thematic review for architecture

Architektur / Architecture

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Page 2: archithese 6.12 - Architektur  / Architecture

E D I T O R I A L

Architektur

«Architektur und ...» Eines Tages stellten wir fest, dass wir als Redakteure an

Architektur interessiert sind, aber sie nie zum Thema machen. Dabei ist es Archi-

tektur, worüber wir schreiben und nachdenken wollen; Architektur ist, was wir

verändern, verbessern wollen, wofür wir uns verantwortlich fühlen. Wir sind

keine Anhänger der Idee einer autonomen Disziplin, aber wir sind auch nicht al-

lein am Digitalen, am Material, an einer Zeichnung, an einem Bild interessiert – es

sei denn, es geht eine intensive Beziehung mit der Architektur ein oder könnte

eine solche eingehen; könnte selbst zur Architektur werden.

Wir sind auf der Suche nach Impulsen, die den Weg der Architektur fortschrei-

ben. Dennoch – und da sind wir vielen Architekturzeitschriften ähnlich – fühlen

wir die ständige Notwendigkeit, bei der Themenwahl der Architektur etwas hin-

zuzufügen oder im Detail zu suchen: Architektur und Kunst, Architektur und

Biologie, Architektur und Ingenieur, Architektur und Alkohol, … Alternativ wird

das Thema auf ein Fragment oder Element, auf ein Material, Dächer, Scripting,

Farbe, eine Funktion reduziert – als ob die jeweiligen Elemente unabhängig be-

trachtet werden könnten. So entstand die Idee, ein Heft «nur» über die Architektur

zu machen, um unseren Enthusiasmus dafür zu verdeutlichen und das häufig

bemängelte Selbstbewusstsein unseres breit angelegten Metiers zu stärken.

Handelt es sich also um das ultimative Heft? Zumindest versuchen wir die

Profession in ihrer Gesamthaftigkeit zu verstehen, um der Verunsicherung durch

eine sich rasant entwickelnde Spezialisierung als Resultat einer fortschreitenden

Professionalisierung entgegenzuwirken. Zu beobachten ist hierbei eine konserva-

tive Tendenz, welche sich an den Begriff der Disziplin klammert und so den Her-

ausforderungen aus zwei Jahrzehnten Globalisierung zu begegnen versucht. Doch

kann diese Rückbesinnung auf den klassischen Begriff der Architektur die Ent-

wicklung aufhalten? Oder ist es möglicherweise allein eine Illusion, welche den

Fortschritt, die Macht der Veränderung zu kaschieren versucht – wie jüngst auf

der Biennale geschehen?

Architektonische Meisterwerke mögen dennoch eine Hilfestellung bieten,

denn sie verdeutlichen uns, dass Architektur tatsächlich berühren kann, die Wir-

kung der Architektur spürbar ist, einen Wert erhält und dass diese Qualität nicht

allein der Traum von nach Weltmacht strebenden Architekten ist. Das weist auf

die innige Beziehung von Mensch und Architektur hin und führt zur sozialen Di-

mension der Architektur, ohne die letztlich auch die Form ihre Legitimität verliert.

Hilfreich ist darüber hinaus der Blick auf das, was misslang, auf das schlecht

Bewertete – ermöglicht es doch oft Einblicke in das dahinterstehende, solche

«Leistungen» begünstigende System. Darüber hinaus werden unterschiedliche

Begriffe und Kategorien genauso wie die Kunst des Entwerfens untersucht. Letz-

tere wirft die Frage auf, was denn heute den Unterschied zwischen Bauen und

Architektur ausmacht.

Was und wer gehört also noch zur Profession der Architektur? Und welche

Rollen spielen dabei die Schulen, Universitäten und die Ausbildung? Bedeutet die

jungen Generationen zu unterrichten, einen Blick in die Zukunft zu erhaschen –

oder nur Wissensvermittlung? Findet man die Zukunft mittlerweile gar in der

Praxis, also am anderen Ende? archithese fragt, was Architektur ist und sein

könnte. Wo fängt die Architektur an und wo hört sie auf?

Die Redaktion

Allreal-Gruppe:Zürich,Basel,Bern,Cham,St.Gallenwww.allreal.chImmobilienProjektentwicklungRealisation

Kauf/Verkauf

Foto:LenaAmuat

8005 Zürich:Hier realisiert Allrealdas WohnhochhausEscher-Terrassen

www.escherterrassen.ch

4 archithese 6.2012

In eigener Sache:

Nach 15 Jahren verlässt unser Redaktor Hubertus Adam mit

diesem Heft die archithese, um seine neue Herausforderung

als Direktor des Schweizer Architekturmuseums anzuneh-

men. Auf Seite 86 blickt er auf seine Zeit bei der archithese

zurück. Trotz seines Abschieds wird er uns und Ihnen als

Autor der archithese erhalten bleiben. Wir danken Hubertus

für den langjährigen leidenschaftlichen Einsatz und wün-

schen ihm für die neue Aufgabe viel Kraft sowie weiterhin

Visionen und Scharfsicht für eine prägnante Themensetzung.

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12 archithese 6.2012

A R C H I T E K T U R A K T U E L L

Ich baue um der Architektur Willen

Elemente in Erscheinung: einem künstlichen Pla-

teau, einer Dachplatte über einer Stütze, einer

nichttragenden, membranhaft gespannten Milch-

glaswand sowie einem monumentalen Kamin-

schacht.

Gottfried Semper hatte in seinem Buch Die vier

Elemente der Baukunst die Elemente «Erdaufwurf

oder Terrasse», «Dach», «Wand» und «Herd» mit

jeweils unterschiedlichen Materialien in Beziehung

gesetzt. Auch wenn nicht zu klären ist, inwieweit

sich Mies mit dieser Theorie auseinandergesetzt

hatte, kann sie dennoch helfen, seine Architektur

zu analysieren. Auch bei der Neuen Nationalgalerie

sind Podium, Dach, Glaswand und Versorgungs-

schächte, welche durch Metallgitter wie zwei riesi-

ge Kamine erscheinen, klar voneinander abge-

setzt. Semper hob den nichttragenden Charakter

der Wand hervor. Dach und Tragwerk stellen das

gleiche Element dar, während das Wesen der

Wand einen textilen Ursprung habe. Semper

schrieb: «Die Ausdrücke Wand und Gewand sind

einer Wurzel entsprossen. Sie bezeichnen den ge-

webten oder gewirkten Stoff, der die Wand bildet.»1

Zum Wohngeschoss des Hauses führt eine

Treppe hinab. Dieser Weg führt zwar direkt auf ei-

ZUR RESTAURIERUNG DES HAUSES

TUGENDHAT

Das von Mies van der Rohe entworfene Haus

strahlt wieder in neuem Glanz – als sei es

gerade erst erbaut. Nach langem Ringen

hatte sich die Position durchgesetzt, sämt-

liche zerstörten Elemente akribisch nach-

zubilden, sodass nicht mehr erkennbar ist,

was neu und was alt ist. Die musealisierte

Architektur wird zur Ausstellung – und

sie stellt sich selbst aus.

Autor: Carsten Krohn

Das an einen steilen Hang gebaute Haus kehrt dem

öffentlichen Strassenraum den Rücken zu. Die

Öffnung des Bauwerks zum Garten ist so kompro-

misslos umgesetzt, dass sich die Zugangsseite

komplett vor Einblicken abschottet. Sogar die

Haustür liegt versteckt. Dennoch geht von der

Zugangssituation eine Sogwirkung aus, denn es

wird ein gerahmtes Panorama präsentiert, mit ei-

nem Ausblick über die Dächer der Stadt bis zur weit

entfernten Burg auf einem Berg am Horizont. Es

ist ein offenes Belvedere geschaffen. Der Bau tritt

durch unterschiedliche, klar voneinander getrennte

nen Tisch in der Bibliothek zu, der wie der Schreib-

tisch des Hausherrn erscheint, doch öffnet sich

plötzlich eine weiträumige Wohnlandschaft. Durch

die Möglichkeit, die Glaswände per Knopfdruck in

den Boden zu versenken, lässt sich auch dieser

zentrale Raum in eine offene Terrasse transformie-

ren. Der Raum erscheint als ein Gesamtkunstwerk,

da Haus und Möblierung als Einheit konzipiert

sind. Mies entwarf nicht nur speziell für diesen Bau

eigene Möbel wie den Brno-Stuhl und den Brno-

Sessel, sondern legte auch deren Platzierung fest.

Sogar der runde Esstisch ist im Boden verankert.

Über den Bauherrn äusserte sich Mies später:

«Er sagte, dass er den offenen Raum nicht möge;

es wäre zu störend; Menschen wären zugegen,

wenn er sich mit seinen wichtigen Gedanken in der

Bibliothek aufhielte. Er war ein Geschäftsmann,

glaube ich. Ich sagte, gut, wir werden es auspro-

bieren. Falls er es wünsche, könnten wir die Räume

auch wieder schließen. Wir könnten Glaswände

einbauen. Das wäre das gleiche. Und wir testeten

es. Wir bauten Holzgerüste auf. Er horchte in seiner

Bibliothek, und wir unterhielten uns in normaler

Lautstärke. Er hörte nichts. Später erklärte er mir:

‹Nun willige ich allem zu, nur nicht den Möbeln.› Ich

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standteil seiner Architektur begriff, sondern auch,

dass er das Architektonische für kaum vermittelbar

hielt. «Sprich nie mit einem Bauherren über Archi-

tektur», sagte er. «Ich baue nicht für mich selbst,

nicht für meine Bauherren. Ich baue um der Archi-

tektur willen.»3 Tatsächlich löste das Haus eine

Kontroverse über die Frage aus, ob man in ihm

wohnen könne, auch wenn sich die Bewohner ge-

gen den Vorwurf eines «Ausstellungswohnens»

wehrten. Nachdem sie nur wenige Jahre später aus

dem tschechischen Brünn emigrieren mussten und

der Bau den Plünderungen der Nationalsozialisten

zum Opfer fiel, wurde er unterschiedlich genutzt.

Die ursprüngliche Materialität und Farbigkeit ging

1 Zugangsseite (Alle Fotos: Carsten Krohn)

2 Blick aus der Bibliothek

als Einheit verloren. Als eine Ikone der Architektur

verbreitete sich das Haus hauptsächlich durch Fo-

tos und Texte: «Wand des Wohnraums goldgelber

und weißer Onyx; Wand des Essraums schwarzge-

streiftes und blassbraunes Makassar-Ebenholz;

Vorhänge schwarze und beigefarbene Rohseide;

weißer Samt; Teppich Schafwolle; Bodenbelag

weißes Linoleum; Stuhlbezüge weißes Pergament,

naturfarbenes Schweinsleder und blassgrünes

Rindsleder.»4

Das Haus Tugendhat präsentiert sich heute als

wäre es gerade erst erbaut. Von all dem, was es in

seiner über achtzigjährigen Geschichte durchma-

chen musste, sind kaum mehr Spuren zu sehen.

sagte, ‹das ist sehr schade›, und entschloss mich,

Möbel von Berlin nach Brünn zu schicken. Ich sag-

te meinem Lieferanten: ‹Warten Sie mit den Möbeln

bis kurz vor Mittag, und teilen Sie ihm dann mit, Sie

seien vor seinem Haus mit den Möbeln. Er wird

sehr aufgebracht sein, aber damit müssen Sie

rechnen.› Er sagte dann auch, ‹schaffen Sie diese

sofort wieder raus›, noch bevor er sie gesehen hat-

te. Nach dem Mittagessen gefielen sie ihm. Ich

denke, wir sollten unsere Bauherrn wie Kinder be-

trachten, und nicht wie Architekten.»2

Trotz des anekdotischen Charakters zeigt diese

Geschichte nicht nur, wie sehr Mies den offenen

Grundriss und die Möblierung als integralen Be-

2

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GEORGIA MIRACLEArchitektur der modernen Seidenstrasse Georgiens Aufschwung der letzten zehn Jahre gleicht einem

Rausch. Vehement untermauert der scheidende Präsident Saakaschwili sein Fortschrittsmantra mit einem

unermüdlichen Bauboom. Dieser konfrontiert das kaukasische Land mit hyperzeitgenössischer Architektur

– und unterstreicht Georgiens geopolitische Bedeutung als Transitland.

1

anderen Georgien künden. Analogien zu den schillernden

Bauten Chinas und den Tigerstaaten Asiens drängen sich

auf. Gleichzeitig erfährt man auf den Bautafeln, dass viele

Projekte mit europäischen Fördergeldern finanziert werden.

Die Flughafenstrasse wiederum trägt seit 2005 den Namen

des damaligen US-Präsidenten: President George W. Bush

Street. Georgien gibt sich als postsowjetischer Musterschü-

ler. Fragt man den italienischen Architekten Massimiliano

Fuksas, der hier wichtige Bauten realisiert, ob er Georgiens

architektonische Entwicklung dem Westen oder der asiati-

schen Welt zuordnet, antwortet er ohne zu zögern: «Asien!»

Sind es somit die gleichen Phänomene wie in den teils

autokratischen Staaten Asiens, wo Architektur als Imponier-

gehabe die eigentlichen Probleme im Land verschleiert und

mit spektakulären Bauten dem Volk Demokratisierung vor-

gaukelt? Oder wie in Russland, der Ukraine und Kasachstan,

wo Investoren ganze Stadtteile mit geistloser Glasarchitek-

tur überformen? Dies scheint nicht zur gemeinhin gelobten

Demokratie in Georgien zu passen. Was aber unterscheidet

Georgien und diese neue Architektur von seinen Nachbarn?

Blickt man zehn Jahre zurück, sieht man das Land am

Rande des Ruins: Die Armut ist gross, die Infrastruktur

desolat; Korruption und Politikverdrossenheit sind in der

Gesellschaft weit verbreitet. In dieser festgefahrenen Situa-

tion kam 2003 eine Bewegung auf, die mit der Rosenrevolu-

tion eine friedliche Ablöse der alten Riege erreichte – ange-

führt von jungen, im Westen ausgebildeten Exilgeorgiern.

Deren schillernde Führungsgestalt Michail Saakaschwili

wurde zum neuen Präsident. Saakaschwili lässt seit seinem

Amtsantritt keinen Zweifel daran, was seine politischen

Ziele sind: Fortschritt, Wachstum und der Westen! Der

Staatsapparat wurde gestrafft und in weiten Teilen von

Korruption befreit, was bereits an ein Wunder grenzt. Alte

Kader wurden ab gesetzt und in einem Mammutprojekt un-

ter anderem 12 000 Verkehrspolizisten fristlos entlassen.

Auf diese Weise gelang es Georgien im Korruptionswahr-

nehmungsindex vom 124. auf den 64. Rang vorzurücken und

wichtiges internationales Vertrauen als Partnerland zu

gewinnen. Russland steht im Vergleich auf Rang 143; die

Tendenz ist fallend.1

Staatsarchitektur und Nation Building

Der Architektur kommt in dieser Politik eine ungewöhnlich

grosse Bedeutung zu: Mit seinem Faible für zeitgenössische

Architektur hat Saakaschwili sie zur Chefsache erklärt und

gleichzeitig das Bauen ideologisch stark aufgeladen. Die

Autoren: Steffen Hägele und Moritz Hörnle

Fast immer liegt Georgien am äussersten Rand. Landkarten

von Europa enden meistens zwischen dem Schwarzen und

dem Kaspischen Meer. Karten aus Asien zeigen Georgien

sogar vom Erdrund verzerrt. Es lohnt sich allerdings, die kau-

kasische Region ins Zentrum zu rücken, um deren vermit-

telnde, aber auch trennende Bedeutung zu erkennen: zwi-

schen Asien und Europa, dem Orient und Okzident, der

islamischen und christlichen Hemisphäre. Historisch fällt

Georgien diese eurasische Mittlerrolle durchaus zu, denn der

nördlichste Arm der sagenumwobenen Seidenstrasse führte

durch das Land. Ein Umstand, der die georgische Kultur ent-

scheidend prägte. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion

erlangte Georgien erneut eine grosse Bedeutung als Transit-

land – nun nicht mehr für gemächliche Karawanen, sondern

als Güter- und Rohstoffbrücke für Öl und Gas zwischen

Europa und Zentralasien. Die jahrhundertealte Kultur bezie-

hungsweise der junge Staat Georgien sieht sich somit erneut

mit einem geopolitischen Tauziehen konfrontiert, bei dem es

um Macht, Rohstoffe und kulturelle Dominanz geht – und

strebt nach Bedeutung zwischen Asien, Russland und dem

Westen.

Wider das postsowjetische Trauma

Die Überschneidung der Einflüsse zeigt sich auf dem Weg

vom internationalen Flughafen Tiflis ins Zentrum der geor-

gischen Hauptstadt eindrücklich. In langen, grauen Zeilen

reihen sich die Wohnsilos als sowjetisches Erbe an der

Schnellstrasse auf. Dazwischen erstrahlen jedoch spektaku-

läre Neubauten, die in expressiver Formensprache von einem

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2

politischen Bestrebungen des Korruptionsabbaus, die Ab-

kehr von der Sowjetzeit und Russland sowie die Öffnung in

Richtung Westen und Asien werden im aktuellen Bauboom

in eine hyperzeitgenössische architektonische Formenspra-

che übersetzt, Architektur als Symbol der politischen Erneu-

erung verstanden. Umgekehrt soll die gesellschaftliche Er-

neuerung durch Architektur ebenfalls gefördert werden

– Architektur als Heilsbringerin.

Als am 26. Mai 2012 das georgische Parlament erstmals

unter der gläsernen Linse des Neubaus in Kutaissi tagte,

brachte es Saakaschwili auf den Punkt: «This new building

of a Parliament is also a perfect symbol of our country in

many respects. Just like the new Georgia – this building is

also modern, impressive and transparent. [...]This building

is a symbol of the open democracy, which we are building.»

Architektur als Sinnbild des Nation Building.

Es spricht Bände, dass Saakaschwili einen georgischen

König aus dem 12. Jahrhundert glorifiziert, der sich auf-

machte, das georgische Volk zu einen: David der Erbauer. Mit

diesem selbstgewählten Vergleich rechtfertigt Saakaschwili

seine Gestaltungswut, die sich in den neuen Gebäuden ma-

nifestiert. Die Liste der Neubauten – fast alles öffentliche

Bauten – entspricht so auch der Erneuerung des Staatsappa-

rats. Dies erinnert an die Neugestaltung Berlins als Haupt-

stadt des vereinigten Deutschlands. Im Unterschied dazu

geschieht der georgische Boom aber wesentlich schneller

und in seiner konsequenten Analogie von Form und Ideolo-

gie noch radikaler.

Martialisch erscheint der Umgang mit der bestehenden

Stadt. Im Herzen von Tiflis prallen Welten aufeinander. Dort

kontrastieren mehrere Neubauten die beschauliche Um-

gebung der topografisch sehr reizvoll gelegenen Altstadt. Mit

optimistischer Rücksichtslosigkeit erhebt sich seit diesem

Jahr die von Fuksas entworfene Public Service Hall am Fluss

Kura. Ein elfblättriges Dach spannt einen öffentlichen Raum

auf, der Saakaschwilis Wunsch nach Öffentlichkeit, Expressi-

vität und Transparenz eindrucksvoll nachkommt. Eine Fluss-

biegung stromabwärts verbindet die mehrfach geschwun-

gene Bridge of Peace von Michele de Lucchi die Ufer der Kura.

Zusammen mit einem angrenzenden Kasino überblendet

diese mit einem Inferno aus LED-Lichtverläufen – unter ande-

rem Morsenachrichten für den Weltfrieden – nachts die an-

grenzende Altstadt. Am anderen Brückenkopf befindet sich

mit dem Rhike-Park eine Mischung aus be gehbarer Skulptur

und Kirmes, zu der sich in Kürze das Tbilisi Music Theatre von

– erneut – Fuksas gesellt. Über dieser architektonischen Spiel-

wiese thront der neue Prä sidentenpalast – ein Abklatsch des

Berliner Reichstags, welcher an die groben Spritzgusspro-

dukte der Souvenirläden erinnert.

Bei Bauten wie dem Präsidentenpalast kippt die Symbol-

architektur ins Plumpe. Das Bestreben, den geläuterten,

transparenten Staat durch eine gläserne Architektur zu re-

präsentieren, wirkt unbeholfen, ja verdächtig. Man misstraut

diesem Heilversprechen – gerade mit Blick auf Nachbarländer

wie Aserbeidschan, obwohl in Georgien ein ernst zu nehmen-

der gesellschaftlicher Wandel zu beobachten ist. Fest steht

allerdings, dass die Besucher in Tiflis ihre helle Freude ha-

ben, sich an diesem glamourösen Stadtraum zu berauschen.

Theming am Schwarzen Meer

Der Rausch lässt sich auch in Batumi am Schwarzen Meer

leicht finden. «Batumi Miracle» lautet der Wahlspruch. Hin-

ter diesem verheissungsvollen Namen versteckt sich ein

Masterplan von Michele de Lucchi. Dieser sieht vor, das be-

1 Karte des Kaukasus

2 Blick über die Altstadt von Tiflis zu den Neubauten (© Studio Fuksas)

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UNDER TOMORROW’S SKYA fictional city of the future. Speculative architect Liam Young has assembled a think tank of scientists,

technologists, futurists, illustrators and science fiction authors to collectively develop this imaginary place,

the landscapes that surround it and the stories it contains. The city forms a stage set for a collection of

fictions, emerging infrastructures and design experiments. It is an imaginary landscape extrapolated from

the wonders and possibilities of emerging biological and technological research. A speculative fiction

as a critical tool, an extraordinary vision of tomorrow that is at the same time a provocative examination

of the pertinent questions facing us today.1

1

changes and expressways. What was once the imagined

landscape of a possible 1960 is now a dusty ruin, an archae-

ology of the social and technological ambitions of the time in

which it was made. She tells me she has seen this place be-

fore, in vintage YouTube clips, tinged with the quaint nostal-

gia of retro futurism and archive footage.

We walk on, past the rusted hulks of an Archigram Walk-

ing City, now propped up on blocks. Their massive metal

bodies have been stripped down to their frame by futurist

souvenir hunters and steel salvage yards. The dozers have

moved in on what remains of the cruciform foundations of the

Radiant City. Their concrete corners have been worn smooth

Author: Liam Young

We wander through the city. It has been a long time since we

have seen anyone else. Looking around I see a place I know

but at the same time find utterly unfamiliar. She asks me

where we are.

I reach down and pick up a small round badge from the

rubble. I pin it to her coat. It reads “I have seen the future”.

It was a souvenir once given to visitors after their voyage

through time onboard the General Motors’ Futurama ride at

the 1939 World Fair. Sitting on an automated conveyor belt,

visitors would travel through a model of the City of Tomor-

row, its skyscrapers, traffic lights, and tangles of inter-

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1+2 Urban Tectonics, Under Tomorrow’s Sky Concept Art, Daniel Dociu, 2012 Game concept artist Daniel Dociu was invited to join the Under Tomorrow’s Sky Think Tank and contributed digital paintings that developed with the design discussions

2

rently inhabit. Only in these accounts of the future are we

able to discern, “through the walls and towers destined to

crumble, the dreams to remain unfulfilled, the tracery of pat-

terns that we can follow through the unmappable.” Beyond

the dig sites of obsessive paleofuturists, the speculative city

has been abandoned for some time now. “It is a desperate

moment when we discover that this empire, which had

seemed to us the sum of all wonders, is an endless, formless

ruin.”3

Is our city still a city anymore?

We walk on and come to the edge of a new territory. We look

out across an evolving fragment, in endless construction.

There the traditional infrastructure of roads, buildings and

public squares are giving way to ephemeral digital networks,

biotechnologies and cloud computing connections. The

physical city we know is destroying itself. She asks, “Is our

city still a city anymore?” At the very least, the architect of

this city is being redefined. Architects once speculated on

the impacts of industrialisation and then mass production.

Walking through this history of futures suggests to us alter-

native forms of spatial practice whereby architects can again

play a critical role in speculating on the implications and con-

sequences of emerging technologies. We begin a short walk

through the landscapes of this Brave New Now. It is not clear

to her what is fact and what is fiction, the two intertwine.

from decades of skateboard grinds and graffiti removal

teams. We can make out the words “LC was here 1967”

amidst the scrawls and tags of an age of archi-tourists. The

players of New Babylon have closed their show, packed their

ladders and drawn the curtains. The endless grid of the

Superstudio’s super surface that once stretched beyond the

horizon has been pulled up and resurfaced. The blinding

white has mildewed and tree roots have skewed and cracked

the measured lines. The tiled landscape has been reclaimed

and now paves the food courts of distant strip malls, soaking

up spilt milkshakes.

I tell her we are walking through a city of failed utopias

and constructed dreams. It is a city of nowheres, a city of

follies, a city of our hopes and dreams, our most intimate

desires and our collective fears. As I tell her about the city

I once knew, I can tell she is listening but doesn’t really

believe everything I tell her. She has stopped trying to

recognise the cities I am describing. “There is melancholy

and relief as we give up any thought of knowing and under-

standing them.”2 They weren’t built for that purpose. They

weren’t designed to be constructed. Just to be explored, to

be discussed, to be loved and hated, fought over or wished

for. The cities of what’s to come do not just anticipate but

actively shape technological futures through their effects on

the collective imagination. They are one of the few places

that offer a critical view back to the familiar cities we cur-

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DIE GESELLSCHAFTLICHE DIMENSIONFragen zum Selbstverständnis von Entwerfenden «Don’t discuss politics and religion»: Das Politische ist heute ein

Thema, das man in der Architektur lieber meidet – an den Hochschulen ebenso wie in der Öffentlichkeit. Gesellschaftliche

Fragen auszusparen bedeutet jedoch kein ausreichendes Gespür für die Bedingungen und Konsequenzen der eigenen Arbeit

zu entwickeln. Begreifen wir Demokratie als etwas grundsätzlich Gefährdetes, dann stellt sich die Frage: Was kann die

Architektur für die Demokratie tun?

1 SAAL-Wohnan-lage Bouça in Porto, Álvaro Siza 1973–1977, renoviert und fertiggestellt 2001–2006 Einer der Wohnhöfe ist als dezidiert öffentlicher Raum ausgeformt, der an ein Theater oder Parlament erinnert. Man könnte sozusa-gen von jeder Wohnungstür aus eine Rede an die Öffentlichkeit halten (alle Fotos: Christian Gänshirt)

1

sign hingegen mag der Massstab zwar kleiner sein und

Entscheidungen mögen zunächst nur einzelne Personen

betreffen – manche Objekte werden jedoch millionenfach

multipliziert und können von daher enorme gesellschaftliche

Auswirkungen haben.

In der Architektur allerdings ist das Politische heute ein

Thema, das man lieber meidet. In der Öffentlichkeit umschif-

fen Architekten dergleichen, um potenzielle Auftraggeber

nicht zu vergraulen. Mitunter nicht zu Unrecht, denn politi-

sches Engagement kann durchaus einen hohen Preis haben.

Álvaro Sizas Einsatz für eine partizipatorische Form sozialen

Wohnungsbaus in der Zeit nach der Nelkenrevolution 1974

hat ihn nach dem politischen Machtwechsel 1976 auf Jahre

hinaus in der eigenen Stadt zur Persona non grata werden

Autor: Christian Gänshirt

Von allen Entwurfsdisziplinen scheint die Architektur ge-

genwärtig diejenige zu sein, die sich dem Ratschlag folgend

am wenigsten mit gesellschaftlichen Fragen beschäftigt.

Als die Zeitschrift Du einmal ein Heft über «Luigi Snozzi und

das Politische in der Architektur» veröffentlichte, machte

schon der Titel deutlich, wie ungewöhnlich es ist, dass ein

Architekt sich diesem Thema widmet.1 Im Städtebau und

sogar im Design ist eine politische Dimension präsenter.

Städtebauliche und landschaftsplanerische Entscheidungen

betreffen weitaus grössere gesellschaftliche Gruppen. Schon

allein die Ableitung des Begriffs vom griechischen Wort po-

lis, das Stadt und zugleich Staat bedeutet, verweist auf die

politische Dimension städtebaulichen Entwerfens. Im De-

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2 Plakatentwurf und Siebdruck von Harry Rosenbaum, basierend auf dem Gemälde von Jean Leon Gerome Ferris (1863–1930) Das Original zeigt Thomas Jefferson (rechts), Benjamin Franklin (links) und John Adams (Mitte) beim Verfassen der Unabhängigkeits-erklärung

2

lassen. Andererseits haben gerade diese Projekte ihm Glaub-

würdigkeit verliehen und erste internationale Anerkennung

verschafft.

Selbst an den Hochschulen gilt es mit Vorsicht zu agieren,

um nicht in Verdacht zu geraten, seinen Lehrauftrag für po-

litische Propaganda zu missbrauchen. «Oh, sind Sie sicher,

dass er keine politische oder soziale Agenda verfolgt? Wir

haben gehört, er liest mit seinen Studenten Texte von Ai

Weiwei. Ist das nicht ein Dissident?» Dass diese keineswegs

frei erfundene Frage ausgerechnet an einer US-amerikani-

schen Universität gestellt wurde, gibt zu denken.

Was bringt mich also dazu, mich diesem ungeliebten

Thema zu widmen? Im Rückblick auf mein bisheriges Berufs-

leben stelle ich fest, dass das Politische oft genug den Rah-

men meiner beruflichen Möglichkeiten definierte, ohne dass

mir dessen Bedeutung immer bewusst gewesen wäre – an-

gefangen bei meiner Mitarbeit an einem grossen Projekt für

das Madrider Verteidigungsministerium, welches durch den

Beginn des ersten Golfkriegs ein jähes Ende fand, bis zum

Ruf an eine Universität in Kairo kurz nach dem Fall Muba-

raks, den ich nicht anzunehmen wagte. Die aufregenden

Nachwendejahre in Berlin sind ohne die politische Verände-

rung, die sie mit sich brachten, nicht denkbar – genau wie

die bemerkenswerte Entwicklung Spaniens und Portugals

seit ihrem Beitritt zur Europäischen Union.

Sicher, das waren makropolitische Ereignisse, auf die ich

als einzelne Person keinen Einfluss hatte. Aber verbirgt sich

hier vielleicht etwas Grundlegendes, das sich unseren Bli-

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DAS ARCHITEKTONISCHE PROJEKTBildung und Kultur am Institute for Architecture and Urban Studies (New York, 1967 bis 1985) Wie kaum eine andere

Einrichtung in den USA ist das Institute, nicht zuletzt wegen Oppositions, in die Architekturgeschichte als eine Denkfabrik,

als Geburtsort einer US-amerikanischen Architekturdebatte eingegangen. Unter der Leitung von Peter Eisenman hat es

vor allem mit seiner Arbeit als Architekturschule und Kultureinrichtung die kulturellen Konfigurationen einer postmodernen

Architektur geprägt.

1 Blick von der Empore in die Haupthalle des Institute in der 8 West 40th Street, Anfang der 1970er (Fotos 1+2: Suzanne Frank)

2 Die Haupthalle des Institute

aufgrund seines charismatischen Führungsstils, der unter-

nehmerischen Haltung und dem intellektuellen Anspruch,

schon früh als eine Dienstleistungseinrichtung, als Mittler

zwischen verschiedenen Interessengruppen positionieren.

Anfang 1970 erhielt das Institute dann einen hoch dotierten

Auftrag des US-Department for Housing and Urban Develop-

ment zur Analyse und Gestaltung der innerstädtischen

Stras se – ein entscheidendes Projekt, das darin resultierte,

dass die Strukturen des Institute professionalisiert wurden.

Es überraschte sicher nicht, dass sich Eisenman nicht

zuletzt wegen seiner Begeisterung für Publikationen wie

Paraphernalien der Architekturmoderne der Strategien von

Avantgardebewegungen durchaus bewusst war. Bemer-

kenswert war jedoch, inwiefern er bereits in der Anfangszeit

das Institute als einen Arbeitskontext zu nutzen wusste, um

sich parallel zur Lehre und Forschung der Neubewertung der

Architektur als einem formalen Spiel und der Verbreitung

eines theoretisch Ansatzes zu widmen: sei es mit seinen

Houses, der Cardboard Architecture, den analytischen Zeich-

nungen zu ausgewählten Gebäuden von Giuseppe Terragni

oder den beiden Versionen der «Notes on Conceptual Archi-

tecture», mit denen er sich, ganz Agent Provocateur, mit der

blossen Angabe bibliografischer Referenzen als Theoretiker

gab und gleichzeitig für das Institute warb.

Eine Zeit lang organisierte Eisenman parallel zum Insti-

tute auch die CASE-Untergruppe New York, eine lose Grup-

pierung junger Architekten, die sich 1965 als Conference of

Architects for the Study of the Environment zusammenge-

funden hatte – mit der Ambition, erstmals eine genuin US-

amerikanische Architekturvantgarde zu begründen. Mit der

Publikation von Five Architects stand Eisenmans Karriere

1972 schliesslich vor dem grossen Durchbruch. Die Publika-

tion, ein eindrucksvolles Zeitdokument des formalistischen

Ansatzes und der gezielten Fehlinterpretation, richtete das

internationale Interesse auf New York und führte zur Lager-

bildung in der Architekturszene.

Diese inszenierte, bewusst herbeigeführte Polemik zwi-

schen den Whites (um Peter Eisenman) und den Grays (um

Robert Venturi oder Robert Stern), das heisst, die Gegen-

überstellung einer sich radikal gebenden, formalistischen

und einer populär argumentierenden, historistischen Hal-

tung hat Anfang der Siebzigerjahre die Architekturdebatte

in den USA massgeblich geprägt. Strategisch gesehenen

Autor: Kim Förster

Das Institute wurde im Herbst 1967 gegründet, nachdem Ei-

senman eine Festanstellung in Princeton verwehrt worden

war. Tatkräftige Unterstützung erhielt er von Arthur Drexler,

damals Leiter der Architektur- und Designabteilung des

Museum of Modern Art und Colin Rowe, der zu diesem Zeit-

punkt das Urban Design Studio an der Cornell University

leitete. Mit seiner Anerkennung als Bildungseinrichtung war

das Institute institutionell gut verankert, anfangs wurde es

gar als Ableger des MoMA gesehen: als Vorsitzender beab-

sichtigte Drexler nach der The New City. Architecture and

Urban Renewal-Ausstellung vom Frühjahr 1967 über das

Institute Einfluss auf das lokale Baugeschehen auszuüben;

Eisenman dagegen ging es als Institutsleiter darum, in New

York einen neuen institutionellen Rahmen aufzubauen, um

überhaupt als Architekt arbeiten zu können. Der Name des

Institute, mit dem Anspruch auf Expertise in zwei Diszi-

plinen erhoben wurde, war bewusst gewählt. So forderte

Eisenman Anfang Oktober 1967 in The New York Times von

Architekten eine aktivere Rolle ein, um gesellschaftliche

Missstände anzugehen. Das Institute sei, so Eisenman da-

mals, gegründet worden, «to make architecture more relevant

to social ideas and problems». Dabei sollte jedoch Eisenmans

strategisches Kalkül nie vergessen werden; später koket-

tierte er gern mit einer apolitischen Haltung. Seit Beginn

seiner intellektuellen Karriere, zunächst in seiner Disserta-

tion The Formal Basis of Modern Architecture (1963), hatte

sich Eisenman ausschliesslich für das architektonische Ob-

jekt interessiert, ihm ging es, ob als Architekt oder Autor,

vornehmlich um die Generierung von Formen.

Architecture und Urban Studies

Kurze Zeit nach der Gründung machte Eisenman das Insti-

tute schnell zu seinem eigenen Projekt; zunächst arbeitete

er mit nur wenig Personal und Studenten als Forschungs-

assistenten an urbanistischen Projekten im Auftrag von

städtischen, staatlichen und bundesstaatlichen Behörden.

Die Architekturausbildung konnte sich anfänglich dadurch

auszeichnen, dass durch die Mitarbeit an konkreten For-

schungsprojekten Theorie und Praxis zumindest im Ansatz

auf innovative Weise miteinander verbunden wurden. Eisen-

mans Akquise für Forschungs- und Entwurfsprojekte war

breit angelegt, und so konnte er das Institute, nicht zuletzt

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2

Neubewertung der Architektur als Kunstform, das mit der

Selbstermächtigung einer neuen Architekturelite in New

York und an den Ivy League-Universitäten einherging und

später auch auf eine Debatte über die Autonomie der Diszip-

lin bzw. des Entwurfs umschwenkte, lässt sich allerdings

nicht nur architektur- und kunsthistorisch oder allein psy-

choanalytisch, ideengeschichtlich oder medienwissen-

schaftlich erklären. In institutioneller Hinsicht stellte das

Institute einen neuen epistemischen Raum in der Architek-

tur dar, der sich durch komplexe Akteurnetzwerke und trans-

atlantische Wissenskulturen auszeichnete.

Der Erfolg des Institute, der Einfluss auf Architektur-

debatten und -ausbildung war langfristig darin begründet,

dass Eisenman es als Direktor vermochte, den Kreis an Insti-

tutsmitgliedern, Mitarbeitern und Studierenden gezielt zu

unterschieden sich die beiden Positionen allerdings kaum

voneinander. Der Selbstbezug der Architektur mit der für die

Postmoderne typischen Mischung aus Selbstreferenzialität

und Selbstbewusstsein war ein prominente narrative Strate-

gie in der Architektur der Siebzigerjahre. Eisenman verstand

es dabei als Publizist und Impressario auf eindrucksvolle

Art, seine Rollen als Institutsdirektor und Architekt mitein-

ander zu verbinden. Mit seiner architektonischen wie textu-

ellen Praxis setzte er auf eine Intellektualisierung der De-

batte und war darauf bedacht, von sich das Bild eines

Künstler-Architekten zu zeichnen – was ihm angesichts der

eingeforderten Bewunderung, die ihm seine Fans bereitwil-

lig zuteil werden liessen, auch gelang.

Das architektonische Projekt der Siebzigerjahre, das Auf-

kommen eines Formalismus bzw. eines Historismus und die

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