diplomarbeit islamistisches denken duisburg 1997

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Gerhard-Mercator-Universität-GH Duisburg Islamistisches Denken in der osmanischen und republikanischen Türkei 1865-1996 im Fach : Politische Wissenschaften Lehrgebiet : Politische Theorie u. Ideengeschichte Erstgutachterin : Prof. Dr. Marieluise Christadler Zweitgutachter : Prof. Dr. Fikret Adanir Vorgelegt von: im November 1997 F. Metin Ilhan Laaker Str. 10 47137 Duisburg Gliederung

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Gerhard-Mercator-Universität-GH Duisburg

Islamistisches Denken in der osmanischen und republikanischen Türkei

1865-1996

im

Fach : Politische Wissenschaften Lehrgebiet : Politische Theorie u. Ideengeschichte

Erstgutachterin : Prof. Dr. Marieluise Christadler Zweitgutachter : Prof. Dr. Fikret Adanir

Vorgelegt von: im November 1997 F. Metin Ilhan Laaker Str. 10 47137 Duisburg Gliederung

Seite Vorwort.......................................................................................8 Fragestellung..............................................................................9 Literaturrecherche.......................................................................9 Zur Methodik............................................................................. 10 I. Einleitung 1. Die historische Ausgangssituation...................................12 2. Reaktionen auf die Krise: erste Reformansätze und Umbesinnung im osmanischen Staat...............................12 II. Theoretischer Rahmen: 1. Die Osmanen vor der Erneuerungsproblematik..............13 2. Exkurs 1: Religion, Recht und Politik im Islam...............14 2.1. Quellen und Geltungsbereiche des islamischen Rechts........14 2.1.1. Das islamische Rechtssystem................................................14 2.1.2. Die islamischen Rechtsquellen...............................................14 3. Exkurs 2: Politisches Denken im Islam............................15 3.1. Göttliche Ordnung und menschliche Treuhänderschaft.........15 3.2. Islamische Regierungsform: Theokratie und Khalifat.............16 3.3. Die politische Realität und das Prinzip des Gemeinwohls......16 3.4. Erste islamische Staatstheorie und Bedeutung des Gewohnheitsrechts.................................................................16 3.5. Religion, Recht und Politik im osmanischen Staat..................17 4. Die Akkulturationsfrage im Islam.....................................17 4.1. Islamisches Recht und Akkulturation .............................17 4.2. Die negativen Erneuerungsbegriffe im Islam: bxd’at und teä ebbüh............................................................18 4.2.1. Die bxd’at..........................................................................18 4.2.2. Die teä ebbüh ..........................................................................18 4.3. Der positive Erneuerungsbegriff: tecdxt ..................................19 5. Erste Militärtechnische Erneuerungen und Reaktion......20 6. Die Akkulturationstheorie................................................20 6.1. Der Kulturbegriff....................................................................20 6.2. Die Akkulturation....................................................................21 6.3. Bereiche des Kulturwandels................................................. .21 6.4. Der Entwicklungsbegriff..........................................................21 6.5. Auslösungsmomente und Impulse für Kulturwandel...............22 6.6. Psychologische Reaktionen....................................................22 6.7. Die Typen der Akkulturation............................................23 6.7.1 Die passiv-imitative Akkulturation...................................23 6.7.2. Die aktiv-synkretistische Akkulturation............................23 7. Der disharmonische Kulturwandel:Entwicklungsdiktatur

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und dualistische Gesellschaft.........................................23 8. Der Nativismus................................................................24 8.1. Der Nativismus bei Behrendt...................................................24 8.2. Islamischer Nativismus bei Kandxl..........................................25 8.3. Der Nativismus und die islamisch-nativistische Ideologie.......25 8.4. Die Ikhwan-Ideologie und sein Einfluß auf die islamistische Bewegung in der Türkei.....................................26 III. Islamistisches Denken in der osmanischen Türkei (1): Die Jung-Osmanen (1865-1876) 1. Die Reformbewegungen bis zur Tanzimat (1789-1839) 1.1. Sultan Selim III. und die Neue Ordnung.................................26 1.2. Sultan Mahmuts II. Reformen.................................................27 1.3. Bewertung: passiv-imitative Akkulturation..............................27 1.4. Die Suche nach neuen Herrschaftsformen............................ 28 2. Die Tanzimat-Ära (1839-1876)........................................28 2.1. Der politische Hintergrund......................................................28 2.2. Der Tanzimat-Erlaß................................................................28 2.3. Einführung “fremder“ Rechtsinstitutionen und Gesetze führen zum gesellschaftlichen Dualismus...............................29 3. Der Zivilisationismus: Zeitgeist und Ideologie.................29 4. Die Rezeption des kulturellen und politischen Lebens in der “Zivilisation“ und der Zivilisations-Begriff..............30 4.1. Rezeption des kulturellen Lebens...................................30 4.1.1. Der erste Kulturschock...........................................................30 4.1.2. Die Eindrücke des Pariser Botschafters Halet Efendx...........31 4.1.3. Die Warnung des Historikers Ahmed Asim Efendx................31 4.1.4. Sadik Rifat Paä a über die “Zustände in Europa“.....................31 4.1.5. M.Samx Efendx über den Ursprung der Wissenschaften.........32 4.2. Der Zivilisations-Begriff....................................................32 4.2.1. Ist “Zivilisation“ sprachlich übersetzbar ?.................................32 4.2.2. Der Begriff Zivilisation in den Enzyklopädien...................... .33 4.2.3. Ein Begriff für Zivilisation ist gefunden: “medenxyet“ ...........33 4.2.4. Was wird mit “medenxyet“ bezeichnet ?................................33 4.3. Die Rezeption des politischen Lebens...........................34 4.3.1. Sadik Rifat Paä a über Freiheitsrechte...................................34 4.3.2. Mustafa Samx Efendx über die Vaterlandsliebe.....................34 5. Die jung-osmanische Bewegung...............................34 5.1. Die politischen Verhältnisse : die Geburt des Islamismus.....34 5.2. Über die soziale Herkunft der Jung-Osmanen.......................35 5.3. Die Gründung der “jung-osmanischen Gesellschaft“ und ihre Führungsköpfe.........................................................35 5.4. Die Jung-Osmanen: eine politische Organisation oder eine geistige Bewegung ? .............................................................35 6. Über die Ideologie der Jung-Osmanen..........................36

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6.1. Die politischen Ziele der Jung-Osmanen...............................36 6.2. Die Kritik an der Ulema und die Funktion der jung-osman. Intellektuellen.........................................................................36 6.3. Das Islam-Verständnis der Jung-Osmanen: Religion, Politik und Ethik..............................................................37 6.4 Über die Verwestlichung.................................................37 6 4.1. Die Verwestlichungskritik bei Zxya Paä a..............................37 6.4.2. Die Verwestlichungskritik bei Alx Suavx..............................38 6.5. Für neue Rechtsfindung auf der Grundlage des islamischen Rechts......................................................... 38 6.6. Das koranische “Naturrecht“ als die Basis für die Regierung..39 6.7. Die Ursachen des staatlichen Niedergangs.....................39 6.8. Namik Kemals Vorstellungen von Konstitutionalismus und Parlamentarismus.....................................................40 6.8.1. Für eine “islamische“ Verfassung............................................40 6.8.2. Für das Beratungsprinzip und die Gewaltenteilung.................40 6.8.3. Für ein Parlament....................................................................40 6.8.4. Die “meclxs-x ä ura-yi ümmet“: eine unzulässige Erneuerung? . .41 6.8.5. Die Volkssouveränität bei Kemal.......................................... 41 6.9. Über die Legitimation zur politischen Opposition.............41 6.10. Über die Zivilisations- und Fortschrittsfrage.....................42 7. Zusammenfassung...........................................................42 8. Sind die Jung-Osmanen Vorväter des türkischen Islamismus ?..................................................................43 8.1. Transformation des Islam in eine politische Ideologie...........43 8.2. Über die Herkunft des Ideologie-Begriffs...............................43 8.3. Die Religion als ein “ideologisches System“..........................44 8.4. Die “akkulturative“ Geburt des Islamismus.............................45 8.5 Die Unterschiede zwischen Islamismus und traditionellem Islam..........................................................45 8.6. Die “akkulturative“ Neuinterpretation des Islam......................45 9. Einordnung der Jung-Osmanen in die islamische Reformgeschichte...........................................................46 9.1. Die islamische Erneuerungsbewegung................................. 46 9.2. Der Stellenwert der Jung-Osmanen.......................................46 10. Vom kurzen Leben der I.Konstitutionellen Periode zur Autokratie Abdulhamids II...............................................47 11. Die Zeit bis zur Ausrufung der II. Konstitutionellen Periode (II.Meä rutxyet) 1908.............................................48 IV. Islamistisches Denken in der osmanischen Türkei (2) : Die II. Konstitutionelle Periode (1908-1920....................49 1. Die politischen Rahmenbedingungen.............................49 2. Das geistig-politische Klima der Zeit...............................49

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3. Die soziale Herkunft der Islamisten................................ 50 4. Die Sonderstellung der Ulema.........................................50 5. Die geistige Kontinuität zwischen Islamisten und Jung- Osmanen.........................................................................51 6. Die Merkmale des islamistischen Denkens.................... 51 7. Das Islam-Verständnis der Islamisten.............................52 7.1. Die Auffassung der Sebxlürreä ad-Redaktion...........................52 7.2. Die Auffassung Saxd Halxm Paä as.......................................53 8. Die politischen Ansichten der Islamisten........................53 8.1. Über das Wesen eines islamischen Staates........................53 8.2. Der islamische Konstitutionalismus...................................... 53 8.3. Der “islamische“ Parlamentarismus.......................................54 8.4. Zur Frage der Opposition.......................................................55 8.5. Saxd Halxm Paä as Gesellschaftsmodell...............................55 8.5.1. “Der Westen kennt keine sozial-ethischen Gesetze“........... .55 8.5.2. Die Souveränität der Äerxat steht über der nationalen Souveränität..........................................................................56 9. Zur Tecdit- und Idschtihad-Frage ..................................56 10. Die Islamisten über die Fortschritts-, Zivilisations-und Verwestlichungsfrage ....................................................57 10.1. Der Fortschrittsoptimismus der Islamisten.............................57 10.2. Das zivilisationsgeschichtliche Argument für die materielle Verwestlichung......................................................................57 10.3. Das religiöse Argument für die Verwestlichung.....................58 10.4. Die Ablehnung einer geistig-moralischen Verwestlichung.....58 10.5. Die Verwestlichungskritik bei Saxd Halxm Paä a.......................59 11. Über die Ursachen des gesellschaftlichen Niedergangs.......60 12. Definition des Islamismus..............................................60 V. Islamistisches Denken in der republikanischen Türkei (1923- 1996).............................................................................61 1. Die politischen Rahmenbedingungen.............................61 2. Das geistig-politische Klima...........................................63 3. Soziale Herkunft der Islamisten.....................................64 4. Merkmale des islamistischen Diskurses........................64 5. Das Islamverständnis der Islamisten........................... 67 6. Die politischen Ansichten der Islamisten......................68 6.1. Das “Bekenntnis“ zur Republik und zur Demokratie............68 6.2. Die Demokratiekritik Topqus.................................................68 7. Die Dauerkontroverse: wie ist der Laizismus “richtig“ zu interpretieren ?.........................................................69

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8. Von der Nationalen Anschauung zur Gerechten Ordnung der Wohlfahrtspartei......................................... 69 8.1. Die Nationale Anschauung...................................................69 8.2. Die Gerechte Ordnung (GO)................................................70 8.2.1. Die Väter der Gerechten Ordnung.......................................70 8.2.2. Das Legitimitätsprinzip der GO und seine Antithese............71 8.2.3. Islamischer Comtismus ?.....................................................72 8.2.4. Islamischer Etatismus ?.......................................................72 8.2.5. Ist die Gerechte Ordnung demokratisch ?............................72 9. Über die Ursachen der gesellschaftlichen Krise...........72 10. Zur Tecdid- und Idschtihad-Frage................................73 11. Zur Wissenschafts-, Technik- und Zivilisationsfrage....73 11.1. Die Sicht Erbakans.................................................................73 11.2. Die Sicht Topqus.............................................................74 11.3. Die Sicht Özels................................................................74 12. Der Islamismus ist eine Entwicklungsideologie.............75 VI. Zusammenfassung und Ausblick...................................76 Literaturverzeichnis.................................................................79 Anhang 1- Auszüge aus der “Gerechten Wirtschaftsordnung“ (deutsch) 2- Adil Düzen (türkisch) Vorwort

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Die Parlamentswahlen in der Türkei vom 24.12.1995 brachten eine wichtige Zäsur in der Geschichte dieses Landes: die pro-islamische Wohlfahrtspartei ( türk. RP-Refah Partisi ) wurde mit 21,38 % der Stimmen bzw. 158 von 550 Sitzen zur relativ stärksten politischen Kraft.1 Die ursprünglich vom westlich-laizistischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk ins Leben gerufene Republikanische Volkspartei (CHP-Cumhuriyet Halk Partisi) konnte nur knapp die 10%-Hürde mit 10,71% der Stimmen überspringen und gelangte als fünftstärkste Partei in die Große Türkische Nationalversammlung. Dieses Wahlergebnis wurde in der Öffentlichlichkeit unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert: Ob bei einer Regierungsbildung durch die “reaktionäre“ Wohlfahrtspartei die Türkei aus der Modernität heraus ins “Mittelalter“ zurückgeführt werde ? Ob sich die RP zu einer “Islamisch-Demokratischen Partei“ analog christlich-demokratischer Parteien in Europa hinentwickelte ? Oder ob jetzt das Verfassungsziel angetastet würde, “die türkische Gesellschaft über den modernen Zivilisationsstand hinauszuheben“2 ? Es scheint, als wollten die RP-Ideologen mit diesem Verfassungsziel, das auch offizielles Parteiprogramm3 ist, ein islamisches System verstehen, welches die Partei als “Gerechte (Wirtschafts)ordnung“4 propagiert. Fragestellung Die vorliegende Arbeit möchte den islamistischen Diskurs in der Türkei geistesgeschichtlich zurückverfolgen und darlegen, daß diese ideologisch-islamische Denkrichtung älter ist als die Geschichte der RP. Der Islamismus wird von mir einerseits interpretiert als eine politisch und zivilisatorisch-selbsterneuernde Antwort osmanischer Intellektueller auf die Krise der eigenen Gesellschaft bzw. die Überlegenheit des Westens. Andererseits beansprucht der Islamismus in der republikanischen Türkei ein umfasssendes und alternatives entwicklungspolitisches Konzept zu sein, das im Gegensatz zum “kemalistischen Entwicklungsmodell“ traditionale Werte berücksichtigt. Anders lautet die Fragestellung : welche Werte darf eine muslimische Gesellschaft in einem Akkulturationsprozeß von der “westlichen Zivilisation“ übernehmen und welche nicht ? In welchen Werten besteht eine Übereinkunft bzw. Dissenz bei den muslimischen Eliten ? Und auf welcher Grundlage und zu welchem Grad wird dieser Wertetransfer (“Verwestlichung“) von seinen Befürwortern legitimiert und (“islamistischen“) Kritikern abgelehnt ? Literaturrecherche Andreas Meier hat zwar in seiner Anthologie “Der politische Auftrag des Islam“1 Originaltexte von islamistischen Autoren arabischer, iranischer und pakistanischer

1Ergebnisse siehe: H.Kramer:Die türkischen Wahlen vom 24.12.1995. In Konrad-Adenauer-Stiftung Auslandsinformationen Nr.2/1996 S.3-26 2Türkische Verfassung vom 9.11.1982, Art.174, S.166 in: Beiträge zur Konfliktforschung, Nr.1/1983. Übersetzt von C.Rumpf 3Programm der Wohlfahrtspartei, Art.1:“Unser Grundziel ist, unsere Nation über den modernen Zivilisationsstand hinauszuheben.“ S.3. 4Siehe die Schrift des Parteiführers N.Erbakan: “Gerechte Wirtschaftsordnung“.Ankara 1991

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Herkunft vorgelegt, doch es fehlen darin Texte von islami-stischen Denkern aus der Türkei. Die erste wissenschaftliche Textstudie und bislang einzige Referenzquelle über den türkischen Islamismus bildete T. Zafer Tunayas (1915-1991) “Die islamistische Strömung“2. Hierin systematisiert Tunaya Gedankengut islamistischer Autoren anhand ihrer Zeitschriften im Zeitraum zwischen 1908 und 1960, insbesondere aber bis zur Republikgründung 1923. Er ist sich bewußt, daß es vor dieser Zeit islamistische Denkweisen gegeben hat. Doch erst in der osmanischen Zweiten Konstitutionellen Periode (1908-1918) hätte sich der Islamismus zu einer “wirklichen und homogenen Denkströmung“3 entwickelt. Für eine ausführliche Analyse und Eigeninterpretation islami-stischer Texte ist jedoch Tunayas Buch nicht geeignet: bei ihm finden sich nur kurze Originalzitate. Dieses Defizit behebt Ismail Kara (geb. 1955) mit seiner dreibändigen Anthologie unter dem Titel „Islamistisches Denken in der Türkei“ 4. Diese Publikation ist aus drei Gründen besonders hervorzuheben: Erstens, weil sie längere biographische Angaben macht und ein Schriftenverzeichnis der islamistischen Denker gibt. Zweitens enthält sie Texte, die thematisch miteinander vergleichbar sind. Und drittens weil sie islamistische Autoren bis in unsere Tage aufführt. Schließlich ist dem ersten Band ein theoretischer Essay über Islamismus vorangestellt. Von Kara stammt auch die Monographie über die “Politischen Ansichten der Islamisten“5 der Zweiten Konstitutionellen Periode. Die erste deutschsprachige Untersuchung speziell über die Autoren der einflußreichen Islamisten-Zeitschrift “Sebxlürreä ad“ hat Esther Debus6 vorgelegt. Sie verfolgt in ihrer Studie Kontinuität und Wandel in der Argumentation islamistischer Autoren in der vorrepublikanischen (1908-1924) bzw. nachkemalistischen Zeit (1948-1950) . Der Frage, ob es einen Islamismus vor 1908 gegeben hat, ist Mümtaz’er Türköne (geb. 1956) nachgegangen. Er hat mit seiner Dissertation “Die Geburt des Islamismus als politische Ideologie“7 die Geburtsstunde des türkischen Islamismus in die Zeit zwischen 1867-1873 verlegt. Bei der sozialwissenschaftlichen Fundierung des Islamismus stütze ich mich weitgehend auf die Akkulturationstheorie, die Richard D.Behrendt8 im entwicklungssoziologischen Kontext eigentlich für ehemals koloniale Länder als Erklärungsansatz herangezogen hat. Da jedoch die Modernisationsgeschichte der Türkei und einzelner Kolonialländer interessante Parallelen aufzeigt und heutige türkische islamistische Intellektuelle von “Autokolonisation“ sprechen, scheint es geboten, die analytischen Kategorien der Akkulturationstheorie für den türkischen Modernisierungsprozeß fruchtbar zu machen. Zur Methodik

1Untertitel:Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen.Originalstimmen aus der islamischen Welt. Wuppertal 1994 2türkisch: Islamcilik Akimi. Istanbul 1962. Ich benutze die Zweitauflage : Istanbul 1991 . 3T.Z.Tunaya a.a.O.S.31 4türk.:Türkxye’de Xslamcilik Düäüncesx. Xstanbul. Bde.I u.II : 1986-1987, Bd.III: 1994 5türk.: Xslamcilarin Sxyasx Görüälerx. Xstanbul 1994 6Sebxlürreäad-Eine Untersuchung zur islamischen Opposition der vor- und nachkemalistischen Ära. Frankfurt/Main u.a. 1991 7türk.:Sxyasx Xdeolojx olarak Xslamciliwin Dowuäu. Xstanbul 1991 8Soziale Strategie für Entwicklungsländer.Entwurf einer Entwicklungssoziologie.Frankfurt/M. 1965

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Die ideengeschichtliche Rekonstruktion des Islamismus in der Türkei erfolgt durch eine Inhaltsanalyse von islamisch-ideologischen Texten als “islamistisch“ charakterisierbarer Autoren in der vorgestellten Basisliteratur. Daneben wird auch teilweise ein begriffsgeschichtlicher Ansatz verfolgt.1 Da in diesem Rahmen eine vollständige Herausarbeitung von Denkkategorien islamistischer Weltanschauung nicht möglich ist, beschränke ich mich auf bestimmte Grundbegriffe wie Islamverständnis, politische Ansichten, Tecdit bzw. Idschtihad-Frage (Erneuerungs-frage), Fortschritts-, Zivilisations und Verwestlichungsfrage und Ursachen der gesellschaftlichen Krise, die zum ersten Verständnis des Themas genügen sollten. Überschneidungen zwischen diesen Begriffen sind dabei allerdings unvermeidbar. Die historischen Entwicklungsstadien des Islamismus werden im Kontext der politischen Rahmenbedingungen der behandelten Zeiträume betrachtet und in Beziehung zum politischen Zeitgeist gesetzt. Im Rahmen der Akkulturationstheorie soll eine soziologische Erklärung des Islamismus versucht werden. Darüber hinaus erfolgt eine Standortbestimmung dieser geistig-politischen Strömung sowohl in der politischen Ideengeschichte der Türkei als auch in der islamischen Geistesgeschichte. I. Einleitung 1. Die historische Ausgangssituation Im 19.Jh. ist in großen Teilen der islamischen Welt infolge militärischer Eroberungen europäischer Staaten eine “Herabwürdigung der islamischen Gesellschaften zu

1Der begriffsgeschichtliche Ansatz als Teilmethode der ideengeschichtlichen Analyse. Siehe K. von Beyme: Politische Ideengeschichte. S.44-46

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Objekten des europäischen Kolonialismus“1 zu beobachten. Für das Osmanische Reich beginnt der Niedergang mit den militärischen Niederlagen und Gebietsverlusten am Ende des 17.Jhs., die sich bis zum 20.Jh. fortsetzen. Parallel dazu erlebt die osmanische Gesellschaft einen kulturellen und staatlich-institutionellen Verfall. Nachhaltiger und verletzender als die ökonomische Kolonisierung empfinden die Muslime propagandistische Angriffe auf ihre Religion seitens bestimmter Orientalisten, die z.B. wie der Franzose Ernest Renan (1823-1892) behaupten, der Islam sei fortschrittshemmend.2 Die Kriegsniederlagen und die orientalistische Kritik am Islam rühren auch am Überlegenheitsgefühl der Muslime vor allen anderen Völkern und Religionen. Tief beunruhigt, aber auch zugleich fasziniert, erkennen die Muslime die technische, wirtschaftliche und kulturelle Dominanz der Europäer. Wie konnte es zu dieser für sie demütigenden Situation kommen, fragen sich die muslimischen Eliten ? Da doch der Koran zu den Muslimen spricht: “Ihr seid die beste Gemeinde, die für die Menschen erstand. Ihr heißet was Rechtens ist und ihr verbietet das Unrechte und glaubet an Allah.“3 Bis heute gilt über islamistische Kreise hinaus bei vielen Muslimen, was der ägyptische Rechtsgelehrte Rashid Rida (1865-1935) einmal formuliert hat: „Weicht ein Volk von der ursprünglichen Reinheit der wahren Religion ab, so gibt Gott dieses Volk dem Niedergang und der Knechtschaft preis.“4 Auf diese “historische Glaubenskrise“ und Kritik an der Entwicklungsfähigkeit der islamischen Kultur ist in der islamischen Geschichte verschieden reagiert worden, was noch zu zeigen sein wird. 2. Reaktionen auf die Krise: erste Reformansätze und Umbesinnnung im osmanischen Staat Daß es an Einsichten und Reformkonzepten nicht gefehlt hat, beweist z.B. die Denkschrift des Sultanberaters Kocabeg 16305. Doch die Osmanen können “den Schatten der religiösen und staatlichen Tradition nicht überspringen“6 und es bleibt bis zum Ende des 17.Jh. bei erfolglosen Versuchen, alte Institutionen zu erneuern Im 18.Jh. setzt ein folgenreicher Selbstbesinnungsprozeß ein: Einerseits wenden sich die Osmanen den Ursprüngen ihrer eigenen Zivilisation zu, indem sie Übersetzungen bedeutender arabischer/persischer Klassiker in Türkisch anfertigen.7 Aber andererseits entfaltet sich die Einsicht, Institutionen christlicher Staaten, insbesondere neue Wissenschaften und (Militär)tech-nologie einzuführen, um der staatsbedrohenden Gefahr aus dem Westen wirksam entgegenzutreten. Symbolhaft für diesen staatlichen Umbesinnungsprozeß ist die Abordnung von osmanischen Botschaftern in europäische Hauptstädte: Einer von ihnen ist Mehmed Said Efendi, der 1721 als Botschafter in Paris angewiesen wird, “Festungen und

1R. Schulze: Geschichte der islamischen Welt im 20.Jahrhundert. S.31 2Ders. a.a.O.S.31 3Der Koran: Sure3/Vers 106 , S.77. 4zit. bei:A.Hartmann: Der islamische “Fundamentalismus“ S.8 5siehe: W.F.A.Behrnauer:Kogabegs Abhandlung über den Verfall des osmanischen Staatsgebäudes seit Suleiman dem Großen. In: Zeitschrift d.Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 15(1861) S.272-332 6A.C.Schaendlinger:Die Entdeckung des Abendlandes als Vorbild,S.90. In:G.Heiss/G.Klingenstein:Das Osmanische Reich und Europa 1683 bis 1789:Konflikt, Entspannung und Austausch. München 1983 7Die Übersetzung des geschichtsphilosophischen Werkes “Muqadimma“-von Ibn Khaldun (1332-1406) regte an, über das Schicksal des eigenen Reiches nachzudenken. Siehe: Ibn Khaldun: Buch der Beispiele.Die Einführung al-Muqadima. Deutsch von M.Pätzold.Leipzig 1992

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Fabriken zu besuchen, die Mittel der Zivilisation und Erziehung sorgfältig zu studieren und über jene zu berichten, die (in der Türkei) anwendbar sind.“1 II. Theoretischer Rahmen 1. Die Osmanen vor der Erneuerungsproblematik Da sich die Unterlegenheit der Osmanen gegenüber westlichen Staaten zunächst im Militärwesen dokumentierte, stellte sich die Frage, ob man die überlegene Kriegskunst und -mittel der “Ungläubigen“ übernehmen dürfe ? Diese Frage jedoch berührte den Kern der Identität der sich “islamisch“ definierenden osmanischen Staats-und Gesellschaftsordnung. Denn hier ist die Frage des Kulturwandels in Form von “Neuheit bzw. Erneuerung“ im Islam gestellt, die einer legitimen Beantwortung im Rahmen des islamischen Rechts bedarf. Da die Reformnotwendigkeit im osmanischen Staat nicht auf den militärischen Bereich beschränkt bleibt, sondern später auch die gesamte politische Ordnung und das Rechtswesen umfaßt, müssen daher hier einige Exkurse unternommen werden. Dabei soll zum einen geprüft werden, wie flexibel sich das islamische Recht gegenüber sozio-kulturellen Veränderungen verhält. Und zum anderen soll das Spannungsfeld zwischen Religion, Recht und Politik im Islam im Grundsätzlichen dargestellt werden. Hiernach wird dieses Dreiecksverhältnis im osmanischen Kontext eine Konkretisierung erfahren. 2. Exkurs (1) : Religion, Recht und Politik im Islam 2.1. Quellen und Geltungsbereiche des islamischen Rechts Charakteristisch am Islam ist, daß er als Religion der Einheit (arab. tauhxd) eine Trennung zwischen dem Spirituellen und dem Weltlichen nicht macht.2 Er hat den Anspruch, die Ganzheit des menschlichen Lebens zu umfassen und Richtwerte vorzugeben. Betrachtet man den Inhalt des Koran, so findet man neben den das rituelle und gottesdienstliche Verhalten normierenden Gesetzen auch Vorschriften zum Familien-, Erb-,Sachen- und Obligationsrecht, ferner zum Strafrecht und Gerichtsverfahren, aber auch Grundsätze über die Regierung und Verwaltung des Staates sowie das Kriegsrecht.3 Die Gesetzgebende Gewalt soll nach dem Koran4 Gott, der Prophet und an-dere Befehlspersonen (wie die späteren Kalifen) sein. 2.1.1. Das islamische Rechtssystem

1E.Zxya Karal xn: Tanzxmat 1, Maarxf Vekxllxwx, Istanbul 1940.S.19. Zit. bei: B.Lewis:Die Welt der Ungläubigen.S.250 2S.H.Nasr:Ideal und Wirklichkeit des Islam.S.34 3G.Endress: Der Islam.Eine Einführung in seine Geschichte. S.73 4Der Koran: 4/62: „Oh, ihr die ihr glaubt, gehorchet Allah und gehorchet dem Gesandten und denen, die Befehl unter euch haben. Und so ihr in etwas uneins seid, so bringet es vor Allah und den Gesandten,...“,S.96

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Wie aus der zitierten Sure 4/62 hervorgeht, haben die Muslime bei Problemlösungen zuerst den Rat Gottes und des Propheten (Muhammed) zu suchen. Bei der späteren Konstituierung des islamischen Rechts sind demzufolge der Koran und die (gesammelten) Prophetenaussprüche (Hadisen) zu den beiden Hauptquellen erhoben worden. Da Muslime an den Abschluß der göttlichen Offenbarung mit dem Koran bzw. des Prophetentums mit Muhammed glauben, haben sie mit der Konsensusfindung und der Analogiemethode, die beide auf der (individuellen) selbständigen Meinungsbildung (al-Idschtihad) fußen, Instrumentarien geschaffen, um zukünftige gesellschaftliche Probleme anzugehen. Dabei gilt aber, daß die letztgenannten Rechtsfindungsmethoden nicht dem Koran und den Hadisen widersprechen dürfen. Somit ergibt sich folgende Rechtsordnung (Schari’a) im Islam: 2.1.2. Die islamischen Rechtsquellen1 1.) Die Hauptquellen, das sind a.) der Koran, das Heilige Buch des Islam; b.) die Sunna, die authentische Überlieferung dessen, was Muhammed gesagt, getan und gebilligt hat; c.) al-idschma, der Meinungs-Konsensus der Rechtsgelehrten; d.) al-qiyas, das Urteil aufgrund des juristischen Analogieschlusses 2.) Die ergänzenden Quellen, das sind a.) al-istihsan, die Abweichung von der Regel eines Präzedenzfal- les zugunsten einer anderen Regel, die sich unter gewissen Umständen aufgrund einer größeren rechtlichen Relevanz,als notwendig erweisen kann; b.) al-istislah, das Urteil, das nicht aufgrund eines Präzedenzfalles ergeht, sondern des öffentlichen Interesses wegen gefällt wird, ohne daß sich im Koran oder Sunna ein ausdrücklicher Bezug darauf findet; c.) al-’urf, Sitte und Brauch einer bestimmten Gesellschaft, die sowohl in Worten wie in Taten ihren Ausdruck finden. 3. Exkurs (2) : Politisches Denken im Islam 3.1. Göttliche Ordnung und menschliche Treuhänderschaft Als Wurzel islamischen politischen Denkens wird bei A.K.Brohi 2die Sure 4/Verse 61/62 zitiert.3 Hierin ist zu erkennen, daß die göttliche Ordnung vom Glauben und Vertrauen ausgeht als der Grundlage der Verantwortlichkeit jener Personen, die angewiesen sind, die Gemeinschaftsangelegenheiten auf gerechte Weise zu erledigen: Machtausübung versteht sich als Vertrauenssache.

1Entnommen aus: S.Ramadan:Das islamische Recht. Theorie und Praxis. S.31 2A.K.Brohi: Die Rechtsideen im Islam. S.13. 3Vers 61:“Siehe, Allah gebietet euch, wiederzugeben die Unterpfänder ihren Besitzern, und so ihr unter den Leuten richtet, in Billigkeit zu richten. ...“

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Für Brohi bildet diese Vorschrift “das erste und oberste Prinzip der Verfas-sung eines islamischen Staates (Gemeinwesens).“1Demgemäß wäre in der islamischen Regierungsform Allah die eigentliche und wirkliche souveräne Autorität, dem Loyalität und Gehorsam geschuldet wird. In der weiteren Rangfolge ergibt sich die Treuepflicht und Gehorsam gegenüber dem Propheten (Muhammed) und jenen, die mit Autorität unter den Gläubigen ausgestattet sind. Der arabische Ausdruck “ulu l’amr“ im Vers 62 für „die Befehl unter euch haben“umfaßt jene Personen, die mit der Leitung der Gemein-schaftsangelegenheiten sind, seien es Religionsgelehrte, politische Führer, Richter oder Verwaltungsbeamte.2 Zusammengefaßt: In einer islamisch legitimierten politischen Ordnung hat niemand “Macht oder Autorität aus eigener Vollkommenheit, sondern nur als Treuhänder in der Ausübung der Macht zugunsten derjenigen, die sie ihm zu ihren Gunsten übertragen haben.“3 3.2. Islamische Regierungsform: Theokratie und Khalifat Betrachtet man auch den öffentlichen Raum einschließenden Geltungsbereich des islamischen Rechts, so wäre eine “islamische Politik“ die Umsetzung des göttlichen Willens und die Befolgung seiner Rechtsnormen in einem gottgewollten Gemeinwesen.4 Hier läge es nahe von einer “Theokratie“ im Islam zu sprechen, die durch den Propheten Muhammed und den späteren Kalifen vermittelt würde.5 Muslimische Staatstheoretiker vermeiden zwar den Gebrauch des Begriffes “Theokratie“, weil er griechischer Herkunft ist und benutzen stattdessen den Terminius “Khalifat“ für die islamische Herrschaftsform. Doch mit der Ab-leitung dieses Begriffes aus der Koranstelle „...Siehe, ich will auf der Erde ei-nen einsetzen an meiner Statt...“6 gewinnt dieser wiederum eine theo-kratische Konnotation. Dieser Vers ist im Kontext des Prophetentums Mu-hammeds und seiner Nachfolger unterschiedlich interpretiert worden. Ei-nerseits wird “Khalif“ als “Herrscher“ wiedergegeben, nämlich als „Herr-schaftsgewalt, übertragen von Gott auf sein Geschöpf Adam (und folglich auf die gesamte Menschheit) mit der dieser die Herrschaft über andere Geschöpfe ausübt“7 Aber andererseits verstanden sich muslimische Machthaber ent-weder als „Statthalter des Propheten Gottes“ (Khalifat Rasul Allah) oder gar als “Stellvertreter Gottes auf Erden“ (Khalifat Allah). 3.3. Die politische Realität und das Prinzip des Gemeinwohls Die Epoche des Propheten Muhammed (“Asr-i Saadet“- Ära der Glückseligkeit) und die Regierungszeit der ersten vier sogenannten “rechtgeleiteten Khalifen“ (632-651 n.Chr.) werden in der islamischen Geschichte als Ideal eines religiösen Staatswesens angesehen. Während dieser Zeit ist der Khalif in einer Person

Vers 62: “O ihr, die ihr glaubt, gehorchet Allah und gehorchet dem Gesandten und denen, die Befehl unter euch haben.Und so ihr in etwas uneins seid, so bringet es vor Allah und den Gesandten, ... .“ 1A.K.Brohi: a.a.O.S.14 2A.K.Brohi:: a.a.O.S.15 3Ders.: a.a.O.S.15 4T.Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam.Bd.1.S.11 5G.Endreß:a.a.O.S.75 6Der Koran: Sure 2/28 . Im Arabischen steht für „ Statthalter“ das Wort “Khalif“ . 7S.Ramadan: a.a.O.S.52

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religiöser und politischer Entscheidungsträger. Hiernach zerfällt diese Personalunion und es kommt zur Polarisierung zwischen politischen Machtträgern und religiösen Autoritäten (islamische Geistlichkeit), wobei die ersteren bei den letzgenannten um Legitimation ihrer Herrschaft drängen. Um Anarchie und Bürgerkrieg zu vermeiden, haben islamische Rechtsgelehrte Konzessionen an tyrannische Machthaber oder Usurpatoren ge-macht, indem sie in die Staatstheorie das „Prxnzxp der maslaha“ (Gemeinwohl, öffentliches Interesse) aufgenommen haben.1 3.4. Erste Islamische Staatstheorie und Bedeutung des Gewohnheitsrecht Erst Hasan Al-Mawardi (974-1058) schuf in seinen “Richtlinien der Herrschaft“ (arab. Ahkamu’s-sultaniyya) eine erste islamische Staatstheorie. Der Rechtsgelehrte Al-Mawardi schreibt darin: „Gott hat für seine Gemeinde (umma) einen Führer bestellt, durch den er das Prophetenamt fortsetzen läßt, die (muslimische) Glaubensgemeinschaft behütet und dem er die Führung (der praktischen Regierungsgeschäfte) anvertraut, damit die Maßnahmen auf der Grundlage einer von Gott gestifteten Ordnung getroffen würden und das (herrscherliche) Wort in einer Einsicht zusammenfließe, der man folgt.“2 Der Khalif soll nach Al-Mawardi mittels einer Wahl durch ein Gremium von politisch-religiösen Persönlichkeiten, der “Leute des Bindens und Lösens“ (Ehl-i Hall ve’l akd) , in sein Amt kommen. Der gewählte Khalif wiederum kann seinen Nachfolger benennen, wie zur Zeit der ersten “rechtgeleiteten Khali-fen“, aber er muß einen Konsensus darüber bei den Gelehrten herbeiführen. Da weder im Koran noch in der Sunna (Praxis des Propheten Muhammed) politische Fragen detaillliert behandelt sind, entwickeln sich im Laufe der is-lamischen Geschichte muslimische Staatswesen, die auch auf vorislamisches Staats- und Gewohnheitsrecht zurückgreifen. 3.5. Religion, Recht und Politik im osmanischen Staat Der osmanische Staat war bis in die Reformära im 18. und 19.Jh. weit-gehend eine islamisch legitimierte Autokratie, in der der Sultan-Khalif auf der Grundlage des islamischen Rechts und des von ihm erlassenen Gewohnheitsrechts (“kanun“) herrschte. Die Kronprinzen wurden mit dem Bewußtsein erzogen, daß im Jenseits “(zwar) jeder nach seinen eigenen Taten befragt wird. Aber die Sultane über all die höheren und niederen kleinen und großen Männer und Frauen und Reichen und Armen in ihrem Herrschaftsbereich befragt werden und Rechenschaft ablegen werden. (Denn) all die Personen sind von Gott dem Sultan anvertraut worden.“3 Hierbei ist ausdrücklich zu bemerken, daß in der osmanischen Politik das Prinzip des Staatswohls dem Prinzip des religiösen Interesses oder Legitimität übergeordnet war.4 Das bedeutet: die islamische Geistlichkeit hatte nur einen begrenzten Einfluß auf die Staatspolitik. 4. Die Akkulturationsfrage im Islam 4.1. Islamisches Recht und Akkulturation

1E.Rosenthal:Politisches Denken im Islam. S.149/150 2Zit. bei T.Nagel: a.a.O.S.349 3E.Ziya Karal: Osmanli Tarihi Bd.V. S.142 4N.Berkes: Türkxye’de Qawdaälaäma.S.25

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Nachdem das Wesen des islamischen Rechts und des osmanischen Staates grundzughaft dargestellt worden ist, soll die Akkulturationsfrage im Islam näher problematisiert werden. Wenn man die Freiräume und die Dynamik des islamischen Rechts erkennt, und wie der muslimische Theologe S.Ramadan folgert, daß “jede Anweisung in der Schari’a für Handeln und Verhaltensweise des Menschen auf dem Prinzip der Nützlichkeit beruht“1 und auf der Grundlage des “al-istislah“ ein “öffentliches Interesse“ vorausgesetzt wird, so steht der Islam der “Übernahme all dessen, was sich als nützlich erweist, äußerst aufge-schlossen gegenüber, wobei der Ursprung keine Rolle spielt, solange das Übernommene nicht in Widerspruch zu den Vorschriften von Koran und Sunna steht.“2 4.2 Die negativen “Erneuerungs“-Begriffe im Islam: “bxd’at“ und “teä ebbüh“ Die Frage des kulturellen “Ursprungs des Nützlichen“ und der Verträglichkeit mit den bereits bestehenden Kulturmustern ist jedoch durch muslimische Gelehrte nicht undiskutiert geblieben. Denn die Ausbreitung des Islam bedeutete zugleich Kontakt mit anderen Kulturen und Traditionen. So, daß muslimische Gelehrte ständig zu überprüfen hatten, ob die “fremden“ geisti-gen und materiellen Werte als eine “nützliche Übernahme“ mit dem Glauben zu vereinbaren seien. Dieses Problem ist von muslimischen Theologen unter den Begriffen “bxd’at“ bzw. “teä ebbüh“ erörtert worden. 4.2.1. Die “ bid’at “ Hierbei wird auf ein Wort Muhammeds bezug genommen, wonach “Jede Erneuerung (bid’at) nach ihm eine verderbliche Abweichung ist“.3 Dieser Ausspruch ist jedoch unter den muslimischen Gelehrten entweder absolut oder differenziert interpretiert worden. Eine Gruppe unter ihnen lehnt radikal alles ab, das nach dem Tode des Propheten eine unzulässige Erneuerung zu sein schien bis zu Erfindungen und neuen Gegenständen des alltäglichen Lebens. Eine andere Gruppe dagegen unterscheidet nach “guter“ und “schlechter“ bid’at (Erneuerung), wonach ein neuer Brauch, Gegenstand oder Handlung, die nicht unmittelbar den religiösen Kern betreffen, als nützlich akzeptiert werden, insbesondere im Hinblick darauf, daß es die Muslime gegenüber Nicht-Muslimen stärkt.4 4.2.2. Die “ teä ebbüh “ Bei dem Begriff “teä ebbüh“, wobei wiederum auf ein Prophetenwort rekurriert wird, gilt es als verwerflich, wenn ein Muslim „willendlich einer oder mehre-ren spezifischen Charaktereigenschaften einer (islamisch gesehen) nichtigen Religion oder Ideologie zu ähneln trachtet.“5 Doch auch hier wird zwischen erlaubtem und unerlaubtem “teä ebbüh“ („Ähneln“ o. “Angleichen“) unterschieden. Und z.B.Wissenschaft bzw.Technik als „nicht religiös

1S.Ramadan: a.a.O.S.89 2S.Ramadan : a.a.O.S.65 3H.Karaman:Xslamin iäiwinda günün meselelerx.Bd.2.S.261 4Ders.: a.a.O.S.259 und 262/263 5A.R.Demxrcan: Xslam’da batila benzemenxn hükmü.S.26

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gebunden“ und „nicht gesellschaftsgebunden“ bewertet.1 Wissenschaft und Technik werden als Produkte der “Weisheit“ interpretiert, die nach dem Propheten Muhammed das „verlorene Gut der Muslime ist, das wieder gefunden, aufzulesen ist“. Die späteren Islamisten werden aber gegen westliche Kulturgüterimporte nicht anhand dieser Begriffe theologisch argumentieren, sondern historisch-soziologisch mit dem ähnlich gelagerten Begriff “taklxd“ (“Nachahmung“). 4.3 Der positive Erneuerungsbegriff: “Tecdid“ Der positive und damit legitime “Erneuerungs“-Begriff im Islam wird ebenso von einem Prophetenwort Muhammeds abgeleitet, der da lautet: “Kein Zweifel Allah wird zu Beginn eines jeden Jahrhunderts dieser Umma einen Mann schicken, um ihre Religion (religiöse Situation) zu erneuern.“2 Hieraus stammt der (arab.) Begriff “tecdid“ für Erneuerung bzw. “müceddid“ für den Erneuerer. Der türkische Theologe Hayrettin Karaman (ge. 1934) behelft sich mit einem weiteren Hadis, um die Aufgabe des “müceddid näher zu bestimmen. Und in diesem heißt es: “Dieses Wissen (die Religion,M.Ilhan) werden die Vortrefflichsten einer jeden Generation besitzen, die es vor Zerstörung durch Maßlose, vor Beimischung mit Aberglauben und vor fal-schen Auslegungen durch Unwissende schützen werden.“ Der tecdid-Bergriff, so Kahraman, sei zwar bei älteren Autoren noch beibe-halten worden, aber nicht mehr einheitlich bei zeitgenössischen Autoren. Die letzteren würden Termini wie z.B. “religiöse Reform (islahat)“, “Reform“ oder “Islamisierung“ benutzen. Als Beispiel zitiert er den osmanischen islamistischen Denker und Staatsmann Saxd Halxm Paäa3 (1863-1921), der sein religiöses und gesell-schaftliches Reformverständnis mit “Islamisierung“ umschrieb und darunter die “völlige Umsetzung der Grundsätze des Islam im Glauben, Ethik, Lebensweise und Politik“ verstand. Die Anwendung dieser Grundsätze sollte aber erst nach ihrer “der Zeit und den Umständen angemessenen Interpretation“ erfolgen.4 Und eben weil die “muslimischen Völker die ständig wandelnden Erfordernisse der Zeit nicht beachtet“ hätten, die “neue Bedürfnisse“ mit sich bringe, hätte man “nicht begriffen“, daß die Stillung der Bedürfnisse “nur mit einer hochgradigen und produktiven Interpretation ihrer Religion und Umsetzung zu ermöglichen“ gewesen wäre. Aus diesem Grunde wären die muslimischen Völker “rückständig“ geworden und “niedergegangen“.5 Abschließend resümiert der türkische Theologe Karaman, daß die islamischen Rechtsquellen den “sich wandelnden Seiten des Lebens Raum gelassen“ haben und keine “festen Vorschriften gesetzt“ haben, um mit dem tecdit-Prinzip und des Idschtihad (freie Rechtsfindung) die neuen Probleme zu lösen.6 Das Heranwachsen von religiösen “Erneuerern“ und “erfolgreicher Erneuerung“ unterläge gewissen psychologischen und gesellschaft-lichen Widerständen; auf der einen Seite z.B. Angst, Selbstzweifel und maßlose Kritik seitens der eigenen Fachkollegen und auf der anderen Seite innere Feinde.7

1Ders. : a.a.O.S.17 2Zitiert bei H.Karaman: Xslamin iäiwinda günün meselelerx.Bd.2.S.270 3Über ihn wird später als originellen islamistischen Denker der Zweiten Konstitutionellen Periode ausführlicher die Rede sein. 4S.H.Paäa: Buhranlarimiz.S.204 (Hrsg. M.E.Düzdaw) o.O. o.J. Zit. bex H.Karaman: a.a.O.S.271 5Ders.: a.a.O. S.178 Zit. bei Ders.: a.a.O.S.271 6H.Karaman: a.a.O.S.278 7Ders.: a.a.O.S.279

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5. Erste militärtechnologische Erneuerungen und Reaktionen Daß eine Übernahme bzw. Erneuerung von Dingen ungeachtet ihres Ursprungs, auch im Falle von Militärtechnologie und -ausbildung, keineswegs unproblematisch war, hat der osmanischer Historiker, Jurist und Staatsmann A.Cevdet Paä a (1822-1895) überliefert. Er kritisiert den Staatschronisten und Diplomaten A.Vasif Efendx (gest.1806) aus den Anfängen der osmanischen Militärreformzeit, weil dieser zu be-denken gab, daß die “türkische Armee sich nicht dazu erniedrigen darf, Kriegskunst und Ausbildung einer feindlichen Armee zu erlernen.“1 Cevdet Paä a argumentiert dagegen, daß der Prophet gemäß seines Wortes „die Weisheit ist das verlorene Gut der Muslime, das (wieder) zufinden ist“ einen Graben um die Stadt Medina ausheben ließ, ein Vorgehen, das zuvor als Kriegstechnik der (nichtmuslimischen) Perser bekannt war. Die Übernahme militärtechnologischer Güter, ja sogar Neuorganisation und Schulung der osmanischen Armee seitens christlicher Ausbilder, sollte im Laufe der Geschichte zwar Rückschläge erleiden, die aber aus Machtinteresssen her vordergründig als „gegen den Islam“ bekämpft wurden. Weiterhin legitimierten die oberen Religionsgelehrten westlich orientierte Militärreformen mit der Koranstelle:“So rüstet wider sie, was ihr vermögt an Kräften und Rossehaufen, damit in Schrecken zu setzen Allahs Feind und euern Feind...“2 6. Die Akkulturationstheorie Um den Kulturwandel in der osmanischen Gesellschaft zu erklären und die damit ausgelösten (“islamistischen“) Reaktionen zu begreifen, eignet sich die Akkulturationstheorie Richard F.Behrendts3. Sie soll im folgenden in ihren für unsere Studie relevanten Elementen und analytischen Kategorien dargestellt werden, um hiernach den Akkulturationsprozeß in der osmanischen Ge-sellschaft unter die Lupe zu nehmen. 6.1. Der Kulturbegriff Unter Kultur sollen nach Richard F.Behrendt “alle Normen, Zielsetzungen, Verhaltens- und Ordnungsformen, die sich Menschen selbst oder einander, individuell oder gesellschaftlich auferlegen, also sowohl Ideen, Ideale und Ideologien, die Menschen als Leitbilder oder Rechtfertigungen ihres Handels ersinnen wie auch dieses Handeln selbst“4 verstanden werden. Integrierende Bestandteile und Ausdrucksformen einer Kultur sind für ihn z.B. Religion, Sozialgebilde wie Nation, Technologie, wirtschaftliche oder militärische Gestaltungsfähigkeit. Behrendts Kulturdefinition können wir aber nur unter der Bedingung eines Zusatzes folgen: Nämlich, daß Normen, Ordnungsvorstellungen und gesellschaftliche Leitbilder bei Buchreligionen wie z.B. dem Islam “als von Gott in heiligen Büchern geoffenbart und den Menschen zur Befolgung auferlegt“ verstanden werden und nicht “als von Menschen ersonnen“ aufgefaßt wer-den.

1A.Cevdet Paäa: Tarxh-x Cevdet.Osmanli Tarxhx.Bd.2.S.641 2Koran: a.a.O.8/62 3R.F.Behrendt:Soziale Strategie für Entwicklungsländer.S.110-162 4Ders.:a.a.O..S.110

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6.2 Die Akkulturation Ein Kulturwandel kann endogen erfolgen, also infolge von Impulsen innerhalb des eigenen Kulturkreises, dann soll von “Enkulturation“1 gesprochen werden. Der Kulturwandel kann jedoch auch exogen entstehen, also von einer anderen, ursprünglich fremdartigen Kultur her ausgelöst und stark beeinflußt. In diesem Falle ist dann von “Akkulturation“ zu sprechen. Hierbei „vollzieht sich ein Prozeß der Nachahmung und Übernahme ur-sprünglich fremder Kulturelemente in die eigene Kultur durch deren Diffusion, wobei die eigene Kultur unter Umständen tiefreichende und umfassende Wandlungen durchmachen kann.2 6.3 Bereiche des Kulturwandels Bei den fremden Kulturelementen kann es sich um materielle und geistige Güter handeln. Das bedeutet, der Kulturwandel kann sich z.B. auf a) Werthaltungen, Richtungen der geistigen Interessen und religiösen Vorstellungen, Methoden und Institutionen der Erziehung und Bildung; b) technische Produkte und wirtschaftliche Verfahrensweisen und c) allgemeine Gesellschaftsordnung beziehen. Der Kulturwandel kann vom religiösen, naturwissenschaftlich-technischen, politischen oder wirtschaftlichen Teilbereich einer Gesellschaft ausgehen. Dies hätte zur Folge, daß die Beziehung zu anderen Kulturelementen gestört würde und hierdurch die Stabilität und das innere Gleichgewicht der Gesamtkultur gefährdet würde. In der Regel erweist sich nach Behrendt der technische und wirtschaftliche Sektor als adaptiver als der Bereich der gesellschaftlichen Leitideen und Normen, der Erziehung, Bildung und staatlicher Organisation. 6.4. Der Entwicklungsbegriff Der Kulturwandel kann durch natürliche Umstände oder geplante und sys-tematische Eingriffe mittels menschlicher Handlungen ausgelöst werden.3 Dieser bewußte Eingriff ist mit einer Entwicklungsforderung verknüpft. Hierbei soll unter Entwicklung ganz allgemein ein „gelenkter dynamischer Kulturwandel in einem Sozialgebilde, verbunden mit wachsender Beteiligung immer zahlreicher Mitglieder des Sozialgebildes an der Förderung und Lenkung dieses Wandels und an der Nutznießung seiner Ergebnisse.“4 verstanden werden. Entwicklung soll hier nicht einfach mit wirtschaftlichem Wachstum gleichgesetzt werden, sondern einen umfassenden kulturellen und gesellschaftsstrukturellen Wandel einschließen. 6.5 Auslösungsmomente und Impulse für Kulturwandel

1R.F.Behrendt:.: a.a.O.S.116 2Ders.: a.a.O.S.116 3Ders.: a.a.O.S.114 4R.F.Behrendt: a.a.O. s.130

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Die Träger der Entwicklungsforderungen und Initiatoren der Akkulturation sind definitionsgemäß in ihren Gefühls- und Denkprozessen nicht “traditions-geleitet“, sondern “außengeleitet“1. Dies bedeutet, daß die einheimischen Initiatoren des Kulturwandels aufgrund äußerer Erfahrungen, wie z.B. die überlegene militärische und politische Macht westlicher Länder, zu ihrem Handeln motiviert werden. Daneben sind als weitere exogene Impulse der Studienaufenthalt der späteren Träger des Kulturwandels zu nennen. Dabei werden Eindrücke und Beobachtungen in vielfältigen Feldern wie rechtsstaatliche Garantien, po-litische Lehren, rational-institutionale Verfahrensweisen in öffentlicher Ver-waltung, Rechtsprechung und Betrieben gewonnen. Als besonders prägend erweist sich z.B. der Glaube “an Fortschritt durch Ratio und wissen-schaftliche Erkenntnis“, die “Nation“ bzw. Nationalstaat“ als politische Orga-nisation und “Industrialisierung“ als wirksamste Wege zur gesellschaftlichen Entwicklung.2 Viele politische Führer der “Entwicklungsländer“ sind schließlich Absolventen westlicher Hochschulen. 6.6. Psychologische Reaktionen Die exogenen Einflüsse bewirken bei den Trägern des Entwicklungsprozesses auf der einen Seite ein Gefühl der Demütigung gegenüber der politisch-militärischen Überlegenheitshaltung westlicher Staaten und auf der anderen Seite ein Gefühl der Bewunderung bezüglich des zivilisatorischen Stands europäischer Völker, die den akkulturativen Prozeß auslöst.3 Infolge eines “Kulturschocks“4 und festgestellter Entwicklungsbedürftigkeit des eigenen Landes kann ein “Wandel in der Bewertung des irdischen Seins“5 mit weit-reichen Konsequenzen für die Gesellschaft bei den Befürwortern der Akkulturation einsetzen. 6.7 Typen der Akkulturation Behrendt unterscheidet in idealtypischer Weise zwei Formen der Akkulturation, die sich aber in der Realität wohl als Mischformen herauskristallisieren lassen. 6.7.1. Die passiv-imitative Akkulturation Bei diesem Akkulturationstyp wird seitens der Kulturerneuerer “Versuche einer praktisch vorbehaltlosen passiven Anpassung an die als überlegen empfundene Kultur“ unternommen, um “an deren Früchten in materieller und prestigemäßiger Hinsicht man möglichst schnell und entschieden teilzunehmen wünscht.“6 Charakteristisch für diese Art der Anpassung ist die oberflächliche Nachahmung fremdartiger gesellschaftlicher Spielregeln, die als zweckmäßig erwogen werden und keine gesinnungmäßige Identifizierung mit innerem Wandel zur Folge hat. So, daß die durch frühere Sozialisation und Eindrücke erworbenen Werte und Normen der eigenen Kultur nicht durch neue kulturelle Muster ersetzt werden. Während die eigenen Kulturwerte als “primitiv“ und daher als zerstörungswert empfunden werden,

1Ders.: a.a.O.S.167ff. 2Ders.: a.a.O.S.171/172 u.331 3Ders.: a.a.O.S.210 4Ders.: a.a.O.S.168 5Ders.:.a.a.O.S.176 6R.F.Behrendt: a.a.O.S.250/251

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werden die “fremden“ Kulturelemente als “progressiv“ eingestuft, die in der Aufnahmegesellschaft den gleichen Entwicklungserfolg erzeugen sollen.1 6.7.2. Die aktiv-synkretistische Akkulturation Diese Art der Akkulturation wird in kritischer Geisteshaltung und selektiver Auswahl geeigneter fremder Kulturelemente und ihrer aktiven Verarbeitung und Kombination mit noch wirksamen autochthonen Kulturelementen vollzogen.2 Hierbei wird angenommen, daß es zu keinem wesentlichen Bruch zwischen “eigen“ und “fremd“ kommt und die neuen Kulturelemente zügig internalisiert werden. 7. Der Disharmonische Kulturwandel: Entwicklungsdiktatur und dualistische Gesellschaft Behrendt unterscheidet zwar zwischen “harmonischem“ und „dishar-monischem“ Kulturwandel, wonach er aber selbstkritisch einräumt, daß für einen Kulturwandel kein einmütiger Konsens aller Gesellschaftsmitglieder zu erzielen sei.3 Daher kommt es in einer Gesellschaft, in der externe Kulturelemente eingeführt werden, zu ideologischen Spannungen und Machtkonflikten zwischen den neuen (westlichen) Eliten, die in den neuen (Bildungs)institutionen heranwachsen, und den traditionellen (z.B. religiösen) Eliten, deren gesellschaftliche Stellung und Einfluß zu schwinden droht. Bei diesem krisenhaften Übergangsprozeß können autoritäre Regime entstehen, was sich in der Machtkonzentration in der Hand einer schmalen, aber wirksam bestimmenden Schicht, administrativer Zentralisierung und keiner wirklichen Unabhängigkeit der gesetzgebenden und rechtsprechenden Gewalt ausdrückt.4 In solchen Regimen fungiert das Militär bei politischen Aus-einandersetzungen aufgrund seiner privillegierten staatsrechtlichen Stellung als “Schiedsrichter“ und “Zünglein an der Waage“5 Eine autoritär-oligarchische Herrschaft solchen Typs legitimiert sich, indem sie der Bevölkerungsmehrheit “Rückständigkeit“6 zuschreibt und eine “wohl-meinende Entwicklungsdiktatur“7 installiert, weil Erfahrungen und Verhaltensweisen zu einer sachlichen und gewaltlosen Lösung von Interessenkonflikten fehlen würden und pluralistische Freiheit (nicht zuletzt wirt-schaftliche) Entwicklung verlangsamen würde. In solchen Erziehungsregimen können “Subkulturen“ und “dualistische Gesellschaften“ entstehen, die von einer ideologischen und politischen Gegenbewegung getragen wer-den und von der im nächsten Abschnitt die Rede sein soll.8 8. Der Nativismus 8.1. Der Nativismus bei Behrendt Von den kritischen Befürwortern wird der Akkulturationsprozeß als eine Chance für “eine Rückbesinnung und Renaissance alter, jedoch verschütteter Werte und

1Ders.: a.a.O.S.252/253 2 Ders.: a.a.O.S.251 3Ders.: a.a.O.S.153 ff. 4Behrend:: a.a.O.S.426 ff. 5Ders: a.a.O.S.230 ff. 6Ders.:a.O.S.417 7Ders.: a.a.O.S.444 8Ders.: a.a.O. S.155 u.S.212

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Leistungen des eigenen Volkes“1 begriffen. In diesem Kontext spricht Beh-rendt vom “Nativismus“ und definiert diese Defensivgesinnung als “einseitige Verherrlichung der eigenen (wirklichen oder vermeintlichen) Traditionen und Charakteristiken, in oft unverbundenem Nebeneinander mit der Forderung nach Übernahme technischer und wirtschaftlicher Verfahrensweisen entwickelter Kulturen.. “2 Nativistische Strömungen treten nach Behrendt im Frühstadium eines “passiv-adaptiven“ Akkulturationsprozesses auf. Und auf die Türkei bezogen beschränkt er sich mit einem vagen Hinweis auf eine Gruppe, die nach eige-nem Verständnis, die durch die “radikal gerichteten Reformen Kemal Atatürks geschaffenen Entfremdung des Volkes von seiner Vergangenheit entgegenzuwirken“ 3 trachte und eine Renaissance des Islam unter staatlicher Dominanz anstrebe. Behrendt begnügt sich mit weiteren Beispielen für andere Länder und unterläßt eine differenzierte Analyse des nativistischen Phänomens als soziale Bewegung, das aber Thema des ägyptischen Soziologen Fuad Kandil ist. 8.2. Islamischer Nativismus bei Kandil Kandil4 untersucht das “nativistische“ Phänomen am Beispiel der von Hassan al-Banna (1906-1949) im Jahre 1928 gegründeten “Moslembruderschaft“ (Ikhwan Al-Muslimun) für die ägyptischen Verhältnisse. Doch -wie Kandil selbst anmerkt5-sind seine Ausführungen eher für arabische Länder verallgemeinerungsfähig, für die Türkei jedoch nicht. Ohnehin muß im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine Analyse der islamistischen Strömung als soziale und politische Bewegung unterbleiben. Dennoch sollen an dieser Stelle Kandils Aussagen lediglich zum Nativismus in Verknüpfung mit Kernstücken der islamisch-nativistischen Ideologie (der Moslembruderschaft) erwähnt werden. Und zwar mit dem Ziel, den islamischen Nativismus näher zu be-stimmen und mit diesem zusammenhängend, einige wichtige Vorbemerk-ungen über die islamistische Bewegung in der republikanischen Türkei zu machen. 8.3. Der Nativismus und die islamisch-nativistische Ideologie Kandil betrachtet in Anlehnung an R.Linton den “Wiederbelebungsaspekt“ von “nur bestimmten Kulturelementen“, und damit die “Bestrebung nach Wiederherstellung alter Traditionen“ als entscheidende Merkmale einer nati-vistischen Bewegung.6 Es werden jene eigenen Kulturelemente mit Symbolcharakter betont, die sich von der fremden Kultur deutlich abheben. Doch in der Ausformulierung der traditionalen Ideologie werden nach Kandil bewußt oder unbewußt “Synthe-sen bzw. Neu- und

1Ders.: a.a.O. S.361 2Ders.: a.a.O.S.362 3R.F.Behrendt: a.a.O.S.363 4Nativismus in der Dritten Welt. Wiederentdeckung der Tradition als Modell für die Gegenwart. Erschienen als Sonderband der Zeitschrift “Dritte Welt“.Nr.1/2.St.Michael 1983 5F.Kandil: a.a.O.S.89 6Der.: a.a.O.S.20 ff.

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Uminterpretationen im Licht der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse“ vorgenommen.1 Und zwar merklich unter Einwirkung “moderner“, d.h. der europäischen Kultur entliehenen Zielvorstellungen wie z.B. “wirtschaftliche Entwicklung“. Kandil sieht in der “Glorifizierung und Idealisierung der Vergangenheit“ konstitutive Momente im Denken der Nativisten. Daher seien in den Augen der Nativisten die gegenwärtigen Probleme nur entstanden, weil “man sich ziemlich von den Normen der traditionalen Kultur entfernt“2 habe und man um ihrer Bewältigung willen, wieder sich nach ihnen richten müsse. Im Kern einer islamisch-nativistischen Ideologie sieht Kandil den “Anspruch der Allzuständigkeit der Religion für die Regelung aller Lebensbereiche des Einzelnen und der Gesellschaft“3. Dieser Totalitätsanspruch findet in der Losung “Der Koran ist unsere Verfas-sung“ seinen prägnanten Ausdruck. Das Interesse an der westlichen Wis-senschaft und Technik beschreibt Kandil als “positiv“, ja sogar als “wissen-schaftsgläubig“ und unreflektiert.4 Die islamischen Nativisten nähmen eine “instrumentale“ Haltung gegenüber der westlichen Wissenschaft und Technik ein und würden sie als “neutral“ bewerten, da sie bei ihrer Übernahme keineswegs westliche Lebensmuster nach sich zögen. 8.3. Ikhwan-Ideologie und sein Einfluß auf die islamistische Bewegung in der Türkei Die Schriften al-Bannas und späterer islamistischer Ikhwan-Ideologen sind ab 1960 in der Türkei zwar rezipiert worden und haben auch maßgeblich zur geistig-ideologischen Islamisierung und Mobilisierung der Massen beigetragen. Doch aufgrund des staatsideologisch-rigorosen Laizismus im öffentlichen Leben der Türkei verbietet sich weitgehend eine klare Artikulation und Argumentation für islamistische Ziele. So, daß die “Gerechte Ordnung“ nur eine Umschreibung für das ist, was im “geheimen“ politischen Bewußtsein der Anhänger der islamistischen Bewegung der “Islamische Staat“ bedeutet. Nach dieser ersten theoretischen Grundlegung soll im folgenden der osmani-sche Akkulturationsprozeß (“Verwestlichung“) bis zu seinem vorläufigen Gipfel (Tanzimat-Epoche) nachgezeichnet werden, die eine islamisch-nativistische Bewegung in Gestalt der “Gesellschaft der Jung-Osmanen“ mit “islami-stischer“ Ideologie “gebiert“5. III. Islamistisches Denken in der osmanischen Türkei (1) : Die Jung-Osmanen (1865-1876) 1. Reformbewegungen bis zur Tanzimat (1789-1839) 1.1. Sultan Selim III. und die “Neue Ordnung“

1Ders.: a.a.O.S.21 2Ders: a.a.O.S.21 3Ders.: a.a.O.S.63 4Ders.: a.a.O..S.71 ff. 5So lautet die These des M.Türkönes in seiner “Geburt des Islamismus als politische Ideologie“ .

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Im späten 18.Jh. wird unter Sultan Selim III. (reg. 1789-1807), der schon als Kronprinz beim französischen König (Louis VI.) Rat1 eingeholt haben soll, ein ernsthaftes Reformkonzept mit dem Namen “Neue Ordnung“ (“nxzam-i cedxd“) in Anfgriff genommen. Der türkische Historiker E.Ziya Karal deutet die “Neue Ordnung“ im engeren Sinne als einen Plan, “ein europäisch geschultes Heer aufzustellen“, und im weiten Sinne als ein Vorhaben, die Macht der regulären Streitkräfte (die Janitscharen) und der Ulema zu brechen, um den “osmanischen Staat an den Fortschritten Europas in Wissenschaft, Handwerk, Land-wirtschaft, Handel und Zivilisation zu beteiligen“2. Es ist wohl eher dem englischen Historiker Stanford Shaw zuzustimmen, der in Selim III. einen “konservativen Reformer“ keinem umfassenden Reformwillen sieht.3 Und daher gelingt es Selim III. nur den militärischen Teil seines Reformprogrammes wirkungsvoll umzusetzen und neben den Janitscharen (durch französische u. schwedische Offiziere) westlich ausgebildete Kompanien aufzubauen sowie Ingenieurschulen und Geschützgießereien zu errichten. 1.2. Sultan Mahmuts II. Reformen Unter dem nachfolgenden reformorientierten Mahmut II. (reg.1808-1839) wer-den die Janitscharen gewaltsam aufgelöst und das neugeordneten Streitkräfte als die “Siegreichen Soldaten Muhammeds“ (Asakxr-x Mansure-x Muhammedxye) bezeichnet, um die reformkritischen Kreise zu besänftigen. Innerhalb der Staatsverwaltung werden nach westlichem Vorbild z.B. Ministerien eingerichtet, über ein neues Verwaltungsrecht gearbeitet und die Schulpflicht eingeführt.4 Als ein “aufgeklärter Absolutist“ schafft Mahmut II. “Regierungs-, Justiz- und Militärräte“, worin aber der oberste Geistliche, der Shaikh-ul-islam, nicht mehr vertreten sein wird.5Mit dieser Veränderung wird in der Folgezeit der Einflußbereich des islamischen Rechts (Scheriat) weiter eingeschränkt werden, so daß in der osmanischen Rechtsordnung Platz für die spätere Übernahme europäischer Gerichtshöfe bzw. europäischen Rechts gemacht wird. 1.3. Bewertung der Frühreformzeit : passiv-imitative Akkulturation Nach Karal hatte Mahmuts II.(und wohl auch Selims III.) Reformprogramm “mehr formalistischen“, als essentiellen“ Charakter6. Diese Tatsache drückte sich darin aus, daß die Staatsbediensteten und Militärangehörigen -wie bei Peter dem Großen- sich den Bart stutzen mußten europäisch eingekleidet wurden. Mahmut II. ließ wiederum nach westlichem Vorbild sein Porträt in Staatsgebäuden aufhängen und seinen Geburtstag feiern. Die Reaktionen: Im Volk galt Mahmut II. als “ungläubiger Sultan“ und die niederen Geistlichen predigten in den Moscheen, daß dem Sultan die göttliche Hilfe versagt bleibe, weil

1E.Zxya Karal: Osmanli Tarxhx.Bd. V.S.60/61 2Ders.: a.a.O.S.61. Diese “optimistische“ Beurteilung ist verständlich, da Karal als “Ord.Prof“ der staatlichen “Türkischen Gesellschaft für Geschichte“ die Politik Selim III. als einen wichtigen Schritt im Verwestlichungsprozeß der Türkei darzustellen versucht und dementsprechend jede Kritik und Gegenwehr als “Reaktion“ abstempelt. 3Sxna Akäxn (Hrsg.) : Türkxye Tarxhx 3. Osmanli Devletx 1600-1908. S.78 4Sxna Akäxn: a.a.O.S.114 ff. 5N.Berkes: Türkxye’de Qawdaälaäma.S.168/169 6E.Ziya Karal: a.a.O.S.144

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dieser “die (muslimischen,F.M.Ilhan) Soldaten in Hosen steckt und ihnen die Franken als Ausbilder vorsetzt.“1 Den sich dem europäischen Drill verweigernden Janitscharen wurde vom Staat erwidert: “Die neue Ausbildung entspricht der Schari’a, der Vernunft und der Logik. Alle haben mit der Erlaubnis der Ulema zugestimmt. Das Interesse und die Ehre des Reiches gebieten diese Ausbildung. Sich dem zu widersetzen, heißt nichts als Auflehnung gegen den Staat.“2 Für Karal sind die Reformanläufe auch deshalb nicht durchschlagend gewe-sen, weil das “Volk, so ungebildet war, seine Vorteile auszuloten; mal gleichgültig und mal für die Reformfeinde stimmte.“3 1.4. Die Suche nach neuen Herrschaftsformen Abschließend sollen die neuen Herrschaftsansätze am Vorabend der Tanzimat skizziert werden, um die dem türkischen Soziologen Niyazi Berkes (1908 -1988) zufolge bis zur Republikgründung ständig gestritten wird:

• Ein “Islamischer Staat“, gebunden an das islamische Recht; • eine Staatsordnung, der auf einem Vertrag zwischen der Istanbuler Zentralmacht

und anatolischen Lokalkräften basiert. • oder eine absolute Sultansherrschaft mit einer zentralistisch-bürokratischen

Oligarchie.4 Der letztere Ansatz unter Beschneidung der Sultansmacht hätte sich nach Berkes Meinung durchgesetzt und somit der “Tanzimat“ den Weg geebnet. 2. Die Tanzimat-Ära (1839-1876) 2.1. Der politische Hintergrund Seit dem Wiener Kongreß 1815 ist unter der “Orientfrage“ die Politik der eu-ropäischen Mächte zu verstehen, das Osmanische Reich aus Europa hin-auszudrängen und als Protektor die nationalistischen Unabhängigkeitsbe-strebungen der christlichen Balkanvölker bzw. Minderheiten im anatolischen Kernland zu fördern, um politische und wirtschaftliche Zugeständnisse zu erzielen.5 Von daher richtete sich der staatsrechtliche Tanzimat-Erlaß (Hatt-i Ä erxf von Gülhane) von 1839 sein besonderes Augenmerk auf die rechtliche Gleichstellung der nicht-muslimischen Untertanen. Und mit dem Reform-Edikt

1Ders.: a.a.O.S.78 2E.Z.Karal: a.a.O.S.147 Die Janitscharen wurden 1826 blutig ausgeschaltet. 3Ders.: a.a.o.S.143 . Hier drückt sich wieder die staatsideologische Sicht aus, die bis in unsere Tage andauert, daß der “Staat“ für das “Volk“ das Beste will, aber das Volk dies nicht einsieht. Aus Platzgründen kann außerdem nicht der Widerstand der einflußreichen Notabeln (ayan) und Lehnsherrren (derebeyleri) behandelt werden. 4Zit. bei N.Berkes: Türkxye’de Qawdaälaäma.S.163 5A. Meier: Der politische Auftrag des Islam.S.41-44

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( Islahat Fermani o.Hatt-i hümayun) von 1856 garantierte der osmanische Staat seinen Nichtmuslimen den gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Ämtern.1 Mit diesen Erlassen wird der reformerische Geist der vorangegangenen Modernisierungsbestrebungen staatsrechtlich dokumentiert. Von nicht minderer außenpolitischer Bedeutung ist hier weiter das prekäre Verhältnis Istanbuls zur autonomen Provinz Ägypten zu nennen, deren Statthalter nach mehr Unabhängigkeit verlangen und zeitweise das osmanische Heer bezwingen. 2.2. Der Tanzimat-Erlaß In der Einleitung wird die Ursache des Niedergangs des osmanischen Reiches seit 150 Jahren damit begründet, “daß man abließ, die erhabenen Vorschriften der Scheriat- und Kanungesetze zu befolgen, weshalb sich die frühere Macht und der einstige Wohlstand in das Gegenteil, nämlich in Schwäche und Armut, verwandelten.“2 Um durch eine “gute Regierung“ wieder “das Reich zur Blüte zu bringen und dem Volk, namentlich den Armen, zu Wohlstand und Glück zu verhelfen“, hält man die “Schaffung einiger neuer Gesetze für wichtig und notwendig“.3 Und weiter heißt es: “Die Grundbestimmungen dieser notwendigen Gesetze beziehen sich auf die Sicherheit des Lebens, den Schutz der Ehre und des Vermögens, die Fixierung der Steuern, die Art und Weise der Aushebung der nötigen Truppen und die Dauer ihrer Dienstzeit.“ Es wird betont, daß dieser “Begünstigungen alle unsere Untertanen, Muslime und Anhänger der übrigen Religionsgemeinschaften ohne Ausnahme teilhaftig werden.“ Zum Ende wird noch einmal beschworen, daß die “angeführten Gesetze das alte Regime von Grund auf reformieren und neu gestalten“ sollen, “um die Religion, den Staat, das Land und das Volk mit neuen Kräften zu füllen.“4 2.3. Die Einführung “fremder“ Rechtsinstitutionen und Gesetze Auf der quasi “verfassungsrechtlichen“ Grundlage der beiden Erlasse entsteht eine gesetzesbildende “Hohe Justizkammer“5 (Meclxs-x Vala-yi Ahkam-i Adlxyye); französisches Straf- und Handelsrecht6 mit dazugehörigen Gerichten werden übernommen und später ein Justizministerium nach europäischem Vorbild geschaffen. Diese neuen Institutionen ersetzen aber nicht die bisherigen islamischen Rechtseinrichtungen und Gesetze, so daß es zu Kompetenzstreitigkeiten kommt, bei der die islamische Seite zusehends Rechtsfelder abtreten muß. Die islamischen Rechtsgelehrten und breiten Schichten sind unzufrieden; kritisieren die neuen Gesetze. Sie empfinden die “alten“ Gesetze als gerechter, was mit der Formel ausgedrückt wird: “ein durch das islamische Gesetz abgeschnittener Finger schmerzt nicht !“.7

1Ders.: a.a.O.S.60/61 . Text liegt bei Meier übersetzt vor 2Ders.: a.a.O.S.56 . Text liegt bei Meier übersetzt vor. 3A.Meier: a.a.O.S.56 4Ders. a.a.O. S.59 5H.Yavuz: Osmanli Devletx ve Islamxyet.S.27-29 . Die neuen Justizinstitutionen gehen im Grunde auf Vorläufer aus der Zeit Mahmut II. zurück. 6M.Türköne: Sxyasx xdeolojx olarak Islamciliwin Dowuäu.S72/73 7H.Yavuz: a.a.O.S.49

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In der Tanzimat-Zeit kommt es nicht nur zu einem gesellschaftlichen Dualismus in Rechtsangelegenheiten: Durch die Errichtung von Schulen mit westlichen Bildungsinhalten neben den islamischen Medressen (Hochschulen) wird eine Konkurenzsituation zwischen eher “westlich“ und eher “islamisch“ orientierten Eliten geschaffen. 3. Der “Zivilisationismus“: Zeitgeist und Ideologie Infolge der Einwirkung der Berichte der seit dem Ende des 18.Jh. “ständigen“ osmanischen Botschaftern in europäischen Hauptstädten formiert sich bei den osmanischen Eliten eine schwärmerische Geisteshaltung für die dortige “Zivilisation“ . Der türkische Literaturhistoriker A.Hamdx Tanpinar bezeichnet diese überschwängliche Gesinnung als “Zivilisationismus“ und nennt ihn die “erste Ideologie der Tanzimat-Epoche“.1 Beim einflußreichsten Schriftsteller und Journalisten dieser Zeit, Xbrahxm Ä xnasx (1826-1871), entwickelt sich die “Zivilisation“ in Europa zu einer “neuen Religion“ mit einem “Propheten“, die er in den folgenden Versen zum Ausdruck bringt2: türkisch ......... Aceb mxdxr “medenxyet resulü“ dense sana Vücud-x mucxzxn eyler taasubu tahzxr ............. Bxr itiknamedxr xnsana senxn kanunun Bxldxrxr haddxnx sultana senxn kanunun deutsche Übersetzung ........... Nenne man dich wohl Prophet der Zivilisation Deine wunderbare Existenz ist eine Warnung an den Fanatismus .............. Ein Sklavenfreibrief für den Menschen ist dein Gesetz Den Sultan weist er in seine Schranken dein Gesetz *** Diese neue Religion hat auch ein Buch: das Gesetz. Es verkörpert Werte wie Gerechtigkeit, Weisheit und Recht. Mit dieser neuen Religion geht ein dunkles Zeitalter zu Ende und eine neue Ära der Glückseligkeit beginnt.3 Mit dem “Propheten“ ist der Staatsmann Mustafa Reä xd Paä a (1800-1857) und mit dem “Gesetz“ der Tanzimat-Erlaß gemeint, den M.Reä xd Paä a selbst verfaßt und öffentlich verlesen hatte. 4. Die Rezeption des kulturellen und politischen Lebens in der “Zivilisation“ und der Zivilisationsbegriff 4.1. Rezeption des kulturellen Lebens

1A.H.Tanpinar: 19 uncu Asir Türk Edebxyati Tarxhx.S.156 2In seiner Zeitung “Tercüman-i ahval“, Nr.6/1277 erschxenen. Auszugsweise zit. bei : A.H.Tanpinar:a.a.O.S.196 3Zu dieser treffenden Interpretation kommt A.H.Tanpinar: a.a.O.S.200

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Welche unterschiedlichen Wahrnehmungen und Bilder von der “Zivilisation“ vor und in der Tanzimat-Epoche vermittelt wurden, sollen die folgenden Bei-spiele belegen. 4.1.1 Der erste “Kulturschock“ Der erste osman. Botschafter in Paris des Jahres 1721, M.Saxd Efendx , hatte einen “Kulturschock“ erlitten, als er auf die prächtigen Gärten des Trianon blickte: „Diese Welt ist das Gefängnis der Gläubigen und das Paradies der Ungläubigen.“1 4.1.2. Die Eindrücke des Pariser Botschafters Halet Efendx Mit dem Aufkommen des Tanzimat verblassen im öffentlichen Bewußtsein die einst negativen Eindrücke des Botschafters in Paris Halet Efendx, der 1802 selbstbewußt geschrieben hatte, daß er “...noch nicht das Frankenland gesehen (habe), von dem manche Leute erzählen und das sie preisen.“2 Relativiert wird auch seine einseitige Beschreibung des Palais Royal als “eine Art Markt“, “...wo es Läden für verschiedene Waren an allen vier Seiten und über ihnen Zimmer mit 1500 Frauen und 1500 Jungen gibt, die sich ausschließlich der widernatürlichen Unzucht widmen.“3 4.1.3. Die Warnung des Historikers Ahmed Asim Efendx Und im Ohr klingt auch nicht mehr die Warnung des Geschichtsschreibers Ahmed Asim Efendx, der noch vor der Verbreitung französischer Ideen in Istanbul gewarnt hatte und jene kritisierte, die sich französische Lehrer nahmen, weil “...auf diese Weise konnten die Franzosen fränkische Bräuche in die Herzen schmuggeln und den Geist einiger Menschen von schwachem Verstand und seichtem Glauben für ihre Denkweise gewinnen.“4 4.1.4. Sadik Rifat Paä a über die “Zustände in Europa“ In der Tanzimatepoche weitet sich der geistige Horizont der Osmanen: So ist denn im Bericht “Über die Zustände in Europa“ des osman. Botschafters in Wien, Sadik Rifat Paä a, hingegen zu lesen: “Und weil die Straßen eben und ordentlich sind, werden Sachen und Ladungen auf Lastpferden und Handkarren transportiert, wodurch das menschenunwürdige Tragen auf dem Rücken wegfällt.“5 An anderer Stelle kehrt Sadik Rifat Paä a die Entwicklung in der Wissenschaft und der Technik Europas heraus: “Und weil sie (die Europäer, F.M.Ilhan) nebst den religiösen Wissenschaften, die Verstandeswissenschaften wie die Philosophie und die Astronomie, die Medizin und Musik und besonders die Kriegs- und Schiffstechnik und Methoden internationaler Politik sowie die übrigen

1M.S.Efendx: Parxs Sefaretnamesx. (Ed. Ebuzzxya) Xstanbul 1306 .S.199 Zit. bei B.Lewis: Die Welt der Ungläubigen.S.249 2E.Z.Karal: Halet Efendxnxn Parxs Büyük Elqxlxwx 1802-1806 . Istanbul 1940.S.32-34, 35 u. 62 Zit. bei B.Lewis: Die Welt der Ungläubigen.S.54 3Zit. in Ahmet Refik: Ahmet Refik .Hayati, seqme äxxr ve yazilari Ed.R.E.Koqu.Istanbul 1938.S.101 .A Zit. bei B.Lewis: a.a.O.S. 279 4Asim Tarxhx 1.Istanbul. o.J.S.374-376 . Zit. bei B.Lewis: a.a.O.S.54 5S.R.Paäa: Müntehebat-i Asar: Avrupa ahvalxne daxr rxsale.Istanbul 1858. Keine Seitenangabe.

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Bildungszweigen für sehr wichtig nehmen, lernen sie dieses Wissen auf geeignete Weise in den dafür eigenen Schulen...“1 4.1.5. Mustafa Samx Efendx über den Ursprung der Wissenschaften In der “Europa-Schrift“ des Pariser Botschaftssekretärs Mustafa Samx Efendx findet sich ein Passus, der die Übernahme westlichen Bildungsgutes legitimiert und später -nicht nur bei den Islamisten- ständig wiederkehrt. Und zwar, daß die Wissenschaften, mit denen sich die Europäer beschäftigen, “...nichts mit ihrer Tradition und Konfession zu tun hat, sondern in alten Zeiten von einigen muslimisch-arabischen Gelehrten erfunden worden ist, die die Europäer später in ihre Länder mitgenommen und ...fortentwickelt haben.“ 2 Und so hofft er, den wirtschaftlichen Vorteil im Auge, daß, wenn “...alle möglichen Ordnungen und Künste sich in kurzer Zeit im Volk ausbreiten..“, keine Gelder mehr für den Import von Sachgütern und Lebensmitteln erforderlich wären.3 4.2. Der “Zivilisations“-Begriff 4.2.1. Ist “Zivilisation“ sprachlich übersetzbar ? Den osmanischen Diplomaten bereitet es ziemliche Schwierigkeiten, die hohen kulturellen Standarts in Europa auf einen Begriff in der osmanisch-türkischen Sprache zu bringen. Sie hätten auf den osmanisch-arabischen Begriff für Zivilisation, nämlich “umran“ zurückgreifen können, den einst der Großvezir benutzt hatte, als er 1721 dem Paris-Botschafter M. Saxd Efendx anordnete, “...die Mittel der Zivilisation und Erziehung sorgfältig zu studieren und über jene zu berichten, die (in der Türkei) anwendbar sind.“4 Der türkische Kulturhistoriker Tuncer Baykara ist dieser begriffsgeschichtlichen Problematik nachgegangen. Er glaubt, daß der spätere Re-gierungschef Mustafa Reä xt Paä a5 (1800-1857) vermutlich erstmals das fran-zösische Wort “civilisation“ 1834 unübersetzt und in der osmanischen Schreibweise “sivilizasyon“ verwendet hat.6 Er habe die Modernisierungsbemühungen Sultan Mahmuts II. als Schritte auf dem Wege der “sivilizasyon“ bezeichnet.7

Fortsetzung von S.45.....Zit. bei: A.H.Tanpinar: 19 uncu Asir Türk Edebxyati Tarxhx.S.123 1S.R.Paäa: a.a.O.S.10/11 . Zit. bei M.Ä.Hanxowlu: Bxr Sxyasal örgüt olarak Osmanli Xttxhad ve Terakkx Cemxyetx ve Jön Türklük.S.17 2M.S.Efendx: Avrupa rxsalesx. S.36/37 Xstanbul 1840 . Zxt. bex: A.Kaygi: Türk düäüncesxnde qawdaälaäma.S.52 3M.S.Efendi: a.a.O. S.38/39 . Zit. bei A.Kaygi: a.a.O.S.52 4Zit. bei: E.Z.Karal: Osmanli Tarxhx Bd.V.S.56 .Übersetzt bex: B.Lewis: a.a.O.S.250 Im Original: “vesaxt’-x umran ve maarxfxne dahx layikiyla kesb-x ittila ederek kabxl-x tatbxk olanlarin takrxrx“ 5Reäxd Paäa war Botschafter in Paris und London sowie Außenminister. Hierdurch machte er Erfahrungen und setzte als Politiker Akzente und Präferenzen in der Umgestaltung des osman. Staates. 6M.Reäxd: Tarxh Vesxkalari 1/4, (Hrsg. C.Baysun), S.287 Zit. bei: T.Baykara : Osmanlilarda Medenxyet Kavrami.S.7 f. 7 Baykara zit. aber in seiner Arbeit auf S.13 aus A.Lutfx Efendx : Tarxh Bd.4,S.158 : “...Padxäah’in nxzamat-i askerxye ve her tarafta s x v x l x z a s y o n usul-x mergubesxnxn xcrasina ne veqhxle hxmmet etmekte olduwunu..“

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M.Reä xt Paä a definiert “sivilizasyon“ als “Erziehung des Menschen und Umsetzung von Ordnungen“1 4.2.2. Der Begriff “Zivilisation“ in Enzyklopädien Baykara hat ältere englisch-türkische und französisch-türkische Enzyklopädien dahingehend untersucht, was in ihnen unter “Zivilisation“ verstanden worden ist. Bis zur Tanzimat-Ausrufung (1839) wird “Civilisation“2 im türkischen z.B. mit “ Verfeinerung der Sitten“, “Bildung“, “Menschlichkeit“ oder “Erlernen von Anstand“ wiedergegeben.3 Es verwundert, daß bei den Definitionen geistig-sittliche Elemente akzentuiert werden und die Wissenschaften und die Technik fehlen. Diese Dimensionen der europäischen Kultur waren es doch, die die osmanischen Beobachter blendeten. Erst ab 1890 weitet sich die Definition um diese beiden Elemente. 4.2.3. Ein Begriff für “Zivilisation“ ist gefunden: “medeniyet“ Nach 1840 taucht als Entsprechung für “civilisation“ das Wort “medeniyet“ auf. Es ist ein Kunstwort mit der arabischen Stammbedeutung “in die Stadt kommen; sich niederlasen“ , das an das lateinische “civitas“ (“städtisch“). erinnert. “Medeniyet“ teilt gemeinsam mit dem Wort “temeddün“ die selbe Sprachwurzel, die in frühislamischer Zeit den Sinninhalt hatte: “der höchste Gipfel, den die Menschheit in vielerlei Hinsicht erreicht“.4 4.2.4. Was wird mit “medeniyet“ bezeichnet ? Baykara hat herausgefunden, daß der oben genannte Sadik Rifat Paä a das Wort “Medeniyet“ vermutlich erstmals verwendet hat.5 Baykara nimmt an, daß in den offiziellen osmanischen Schriften mit den mehrfach benutzten Wortbildungen wie z.B. “nxzamat-cedxde-x müstahsene“ (“von allen gelobte neue Ordnung/Gesetze“ oder “nxzamat-i hasene ve tanzxmat-mergube“ (“schöne Regelungen/Gesetze und ersehnte (Neu)Ordnung“) die Reformschritte in Richtung wetliche “Zivilisation“ umschrieben worden ist.6 Schließlich sei hier angemerkt, daß das osmanische Reformwerk nach 1839 den Titel “T a n z i m a t “ (“Neuordnung“) trägt. Hätte die westlich orientierte osmanische Staatsführung stattdessen etwa Bezeichnungen wie “Neue (europäische) zivilisatorische Ordnung“ gewählt, so hätte dies wohl die eu-ropaablehnende und konservative Ulema und andere Kreise direkt provoziert. Das Wort “medeniyet“ und seine umstrittene Definition sollten fortan im politischen Richtungsstreit der osmanischen und republikanischen Türkei -bis heute- nie an Aktualität einbüßen.

1Zit. bei Baykara: a.a.O.S.12 . Baykara gibt keine Quelle an. Im Originallaut: “terbxye-x nas ve xcra-yi nxzamat“ 2T.Baykara (a.a.O.S.1) gibt an, daß “civilisation“ 1835 in die “Dxctxonnaxre de l’Academxe Franqaxse“ Eingang gefunden hat.In England wäre es erstmals 1770 als “c i v i l i z a t i o n“ benutzt worden. 3T.Baykara: a.a.O.S.20/21 4Ders. : a.a.O.S.30-32 5Orxgxnal: “...usul-x menusxyet ve medenxyet...“. Sxehe:S.Rifat.Paäa: a.a.O.S.4 . Zxt. bei : T.Baykara: a.a.O.S.31 6T.Baykara: a.a.O.S.28

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4.3. Die Rezeption des politischen Lebens 4.3.1. Sadik Rifat Paä a über die Freiheitrechte Sadik Rifat Paä a, der zu den scharfsinnigsten Beobachtern des politischen Lebens europäischer Länder gehört und mit Prinz v.Metternich Gedanken austauscht, gewinnt die Erkenntnis, daß Europa seinen zivilisatorischen Stand und seine Produktivität der Tatsache verdanke, daß es z.B. die Freiheitsrechte seiner Bürger achte, Rechtssicherheit herrsche und die Untertanen nicht für den Staat erschaffen worden seien, sondern dem Staat in seiner gottgegebenen Aufgabe beim Aufbau des Landes nur eine Schutz- und Kontrollfunktion über die Bürger zukäme.1 Er hinterfragt aber nicht die Legitimität der von Gott dem Staat gegebenen treuhänderischen Regierungsgewalt. Der Staat habe sich nur an Gesetz und Ordnung zu halten, seinen Bürgern Bildung zu geben, damit nicht durch Gewalt über das Volk regiert würde und auch somit dem Gehorsam seiner Bürger sicher zu sein. 4.3.2. Mustafa Samx Efendx über die “Vaterlandsliebe“ Mustafa Samx Efendx spricht erstmals, merklich von den französischen Idealen beeinflußt, von der „Liebe zum Vaterland und zur Nation“ als emotionalen Antrieb für den gesellschaftlichen Aufstieg europäischer Länder2. Für das politische Denken der Osmanen sind aber Begriffe wie “persönliche Freiheitsrechte“ und Vaterlands- und Nationsliebe noch fremd, die aber später von den Jung-Osmanen aufgegriffen und als neues politisches Selbstgefühl und Identität konzeptionalisiert werden. Bei dem als konservativ einzuschätzenden Sadik Rifat Paä a waren noch keine direkten Hinweise zu einer konstitutionellen und parlamentarischen Re-gierungsform zu finden, aber darin sollten später die “Jung-Osmanen“ den Schlüssel für das Geheimnis des westlichen Fortschritts sehen.

5. Die jung-osmanische Bewegung 5.1. Die politischen Verhältnisse: Die Geburt des Islamismus Die in den Staatsedikten versprochenen Reformen, ausgenommen die nicht-muslimischen Untertanen betreffenden, werden in der Folgezeit aus bürokratischer Trägheit und staatspolitischer Unentschlossenheit nicht mit radikalen Maßnahmen umgesetzt. Eine effektive Kultur- und Bildungspolitik, die die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung fördern würde, wird nicht in Angriff genommen. Die verschwenderische Finanzpolitik, das Hineinregieren des ägyptischen Statthalters in die Regierungspolitik zugunsten weiterer politischer Privilegien und die allmähliche weitere Loslösung balkanischer Reichsgebiete führen zu wachsender Unzufriedenheit und Kritik an der osmanischen Regierungspolitik.3 5.2. Über die soziale Herkunft der Jung-Osmanen Die permanente Staatskrise beunruhigt auch zunehmends eine Gruppe von Söhnen höherer Beamte, die ebenfalls im Staatsdienst tätig sind und einen Einblick in die

1S.Rifat Paäa: a.a.O.S.4 f. Zxt.bex A.H.Tanpinar: a.a.O.S.121 2A.H.Tanpinar: a.a.O.S.126 3A.H.Tanpinar: 19 ncu Asir Türk Edebxyati,S.220 f.

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Regierungsgeschäfte haben. Es handelt sichbei ihnen um die dritte Tanzimat-Generation, die in den neuen Institutionen heranwächt, französisch spricht, neben der klassisch-islamischen Bildung auch die französischen Denker des 18.Jh. rezipiert. 5.3. Die Gründung der jung-osmanischen Gesellschaft und ihre Füh- rungsköpfe Aus diesem Kreis bildet sich 1865 die “Patriotische Allianz“ (Xttifak-i Hamxyet)“1, die nur kurzweilig als Geheimbund operieren kann. Ihr Ziel: “Umwandlung der absoluten Monarchie in ein konstitutionelles Regime“. Nachdem der Ge-heimbund auffliegt, fliehen ihre Mitglieder nach Frankreich. Die intellektuellen Köpfe sind Namik Kemal (1840-1888) , Zxya Paä a (1825-1880) und Alx Suavx2 (1839-1878) . Im europäischen Exil benennt sich die Gruppe in “Gesellschaft der Jungen Osmanen“ um. Finanziert wird ihre oppositionelle Arbeit durch Mustafa Fazil Paä a (1828-1875), der ebenfalls mit der Regierung unzufrieden ist, aber die “Jung-Osmanen“ im Grunde nur instrumentalisiert, um seinen Bruder als Statthalter von Ägypten ablösen zu können. 5.4. Die Jung-Osmanen: eine politische Organisation oder eine geisti- ge Bewegung ? Die Jung-Osmanen sind weniger eine politische Organisation, als vielmehr eine geistige Bewegung gewesen, die sich durch persönliche Intrigen, diffuse politische Vorstellungen und kontroverse Wege ihrer Umsetzung cha-rakterisieren läßt.3 Vorab ist über das politische Denken der Jung-Osmanen anzumerken, daß ihre Ideen nicht tiefen philosophischen Abhandlungen entstammen, sondern in Zeitungsartikeln entwickelt worden sind, die vom Gang der Tagespolitik bestimmt waren.4 Eigentümlich ist für das islamische Denken überhaupt, daß sich keine reine säkular-philosophische Reflexion und Denktradition durch-setzen konnte.5 Die “Denker“ der Jung-Osmanen sind also vielmehr journalistisch aktive Schriftsteller gewesen. 6. Über die Ideologie der Jungen Osmanen 6.1 Die politischen Ziele der Jung-Osmanen Der türkische Soziologe Mardin (geb. 1927), dessen Dissertation “The Gene-sis of Young Ottoman Thought“ für die jungosmanische Forschung grundlegend ist, unterscheidet vier Gruppen reformerischer Richtung unter den Jung-Osmanen.6 Doch für die vorliegende Arbeit sollen die politischen Ansichten der eher

1E.Tevfxk: Yenx Osmanlilar Tarxhx.S.77-82 . 2Obwohl Suavi über solide Kenntnisse im Islam verfügte, hatte er dieses Wissen nicht aufgrund eines ordentlichen theologischen Studiums an einer Medresse (Islam.Hochschule) erworben, sondern in Privatseminaren in Moschen und privaten Bildungszirkeln . Siehe dazu H.Küqük: Alx Suavx ve dö nemx.S.43ei erworbeni 3A.H.Tanpinar: 19 uncu asir Türk Edebxyati.S.226 Vgl. mxt Ä.Mardxn: The Genesxs...S.36 4Ä.Mardxn : The Genesis of Young Ottoman Thought.S.9 5Infolge der Rezeption der griechischen Philosophie durch Muslime gab es zwischen dem 9.-11..Jh.eine “islamische Philosophie“, deren auch im Westen bekannte Vertreter Avicenna und Averroes waren. Aber mit Muhammad al-Ghazali (1058-1111) und seinem Werk “Die Widerlegung der Philosophie“ wurde dem rationalen Denken ein Ende gesetzt. Im osman. Reich ist ebenfalls eine Widerlegungsschrift mit gleichem Titel verfaßt worden, die die Philosophie aus den islamischen Medressen (Hochschulen) fernhielt. 6Ä.Mardxn : a.a.O.S.78-80

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“islamistisch“ orientierten Namik Kemal, Zxya Paä a und Alx Suavx zur Sprache kommen. In ihrer Oppositionszeitung mit dem programmatischen Titel “Hürrxyet“ (Freiheit) wird in den politischen Richtlinien, in dem “nativistische“ Elemente unverkennbar sind, zunächst die “Vaterlandsliebe“ (gemäß eines Worts Muhammeds) beschworen und die goldene Regierungszeit des osmanischen Herrschers Kanunx Sultan Süleyman (1494-1566) herbeigesehnt, aber aller-dings im Rahmen einer “zeitgemäßen Ordnung und entsprechender zivilisa-torischen Atmosphäre“.1 Im weiteren wird an die früheren Beiträge muslimischer Gelehrter zur Wissenschaft erinnert und die “ewige Gerechtigkeit“, sprich die islamische, für das Land eingefordert, die aber nur mittels eines “konstitutionellen Systems“ umgesetzt werden könnte. In den nächsten Abschnitten sollen nun die wichtigsten nativistischen Elemente im Gesamtdenken, sprich die “islamistische Ideologie“ der Jung-Osmanen lokalisiert bzw. entfaltet werden. Eine Gesamtschau ihrer Ideologie zu vermitteln, würde jedoch über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen. 6.2. Die Kritik an der Ulema und die Funktion der jung-osmanischen Intellektuellen Kemal kritisiert die Ulema für ihr Versagen, nicht das islamische Recht geschützt zu haben. Denn wenn die Ulema die Geltung des islamischen Rechts bewahrt hätte, wäre es gar nicht zur Ausrufung der Tanzimat gekommen.2 Diese Aussage Kemals ist sehr folgenreich: Denn hierdurch erklärt Kemal die Ulema für unfähig, das islamische Gesetz zu schützen und in ihrer staatskritischen Rolle versagt zu haben. Alx Suavx, Angehöriger niederen geistlichen Stands, spricht sogar vom “Tod der Ulema“3. Gemeint ist die Machteinbuße der osmanischen Religionsgelehrten nach der Tanzimat, der sich wirtschaftlich in Verlust der religiösen Stiftungen durch Verstaatlichung und Übertragung ihrer Kompetenzen an weltliche Bürokraten im modernen Staatsapparat ausdrückte. Die Konsequenz daraus ist, daß die von der Bildung her eher säkularen Intellektuellen der Jung-Osmanen diese Funktion übernehmen müssen, was sich in ihrer Kritik gegen die Übernahme westlich-säkularer Gesetze auch zeigen sollte. Dieser Rollenwechsel ist sehr einschneidend in der islami-schen Ideengeschichte des 19.Jh. gewesen, der sich auch im nächsten Jh. fortsetzen sollte. 6.3. Das Islam-Verständnis der Jung-Osmanen: Religion, Politik und Ethik Namik Kemal versteht den Islam als “eine Religion, von der an den Menschen der Auftrag ergeht, einen Schöpfer anzubeten und sich den Gerechtig-keitsbestimmungen dieses Schöpfers zu unterstellen.“4Daraus folgt für Kemal, daß “die Politik immer der Religion unterliegt und die islamische Gemeinschaft den Gerechtigkeitsvorschriften der Religion für die weltliche Angelegenheiten folgezuleisten hat.“ Mit dem Wandel der Zeit würden sich lediglich die religiöse Bestimmungen sekundärer Bedeutung ändern. Auch die Ethik ist nach Kemal in den Islam integriert, denn ethische Bestimmungen seien nach dem islamischen Glauben “weise Vorstellungen“, die ei-nem

1Politisches Programm abgedruckt in: E.Tevfxk: Yenx Osmanlilar Tarxhx.S.225-230. 2N.Kemal: a.a.O. Zit. beim ders.: a.a.O.S.781/782 3In “Le Nr.19/1868 . Zit. bei H.Qekxk: Alx Suavx ve dönemx.S.603 4In der Zeitung “Muharrir“, Nr.3/1876 . Zit. bei Ihsan Sungu: a.a.O.S.813

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vorbildlichen Verhalten dienen sollen und aus dem Koran und den Aus-sprüchen Muhammeds herrührten. Es seien keine “philosophischen Erwägungen“, die über das Recht und das Unrecht Auskunft geben, sondern die “religiöse Eingebungen“, womit Kemal die göttliche Offenbarung meint.1 In diesen Aussagen Kemals kommt deutlich seine ganzheitliche Sicht des Islam als Glauben, Ethik und Politik zum Ausdruck. 6.4. Über die “Verwestlichung“ 6.4.1. Die Verwestlichungskritik bei Zxya Paä a Zxya Paä a kritisiert in einem Gedicht die Respektlosigkeit gegenüber der Religion bei einem Teil der osmanischen Intellektuellen, die nach Zxya Paä a “fränkischen Ideen anhängen“ und behaupten, daß der “Islam eine Fußfessel für den Fortschritt des Staates sei“.2 Diese religiöse Respektlosigkeit hat Zxya Paä a zufolge in den letzten 20-30 Jahren der Tanzimat die “nationale Moral“ zerstört. Als Beispiel nennt er die “areligiöse Mode“ der Regierungsleute, den religiösen Grundpflichten nicht nachzukommen. Und so würde in Volkskreisen, die ihnen nachahmten, die Überzeugung um sich greifen, Beten und Fasten sei eine Dummheit. Die zunehmende Säkularisierung des Lebensstils kann Zxya Paä a nicht als “Reform“ oder “Fortschritt“ gutheißen, sondern sieht darin eher einen “Rückschritt“. Statt an Europa in den Dingen wie Ge-setzestreue, Rechtsgarantien, Beratungsprinzip, Fortentwickeln der Künste und des Handels ein Beispiel zu nehmen, würde nach Zxya Paä a das andere Gesicht Europas (wie z.B. Bau von Theatern, auf Ball gehen) nachgeahmt werden (taklxd) .3 An dieser Stelle sollte auf eine Inkonsequenz jung-osmanischen Denkens aufmerksam gemacht werden. Denn in den von ihm kritisierten Theatern sollten die Stücke seines Weggenossen Namik Kemal aufgeführt werden, um die Freiheitsideale im Volk zu verankern und die patriotische Gefühle zu erwecken. Es ist im allgemeinen typisch für das islamisch-nativistische Denken, die westlich-kulturellen Ausdrucksformen bei den “verwestlichten“ Gegnern zu beanstanden, aber dieselben Mittel im Sinne des “Nützlichkeitsprinzips im Islam“ für die eigenen politischen Zwecke einzusetzen. Zxya Paä a setzt das ethische Ideal einer den Glauben praktizierenden Gesell-schaft und rückt die Nichtprazierenden in die Nähe von “Religionslosigkeit“. Hierbei urteilt er gewiß nicht islamisch, da z.B. unterlassenes rituelles Gebet “sündhaft“ ist, aber kein Zeichen von “Unglauben“ sein muß. Es ist bei Zxya Paä a wohl die Angst vor der kulturellen Pluralisierung und allmählichen Säkularisierung der muslimisch-osmanischen Gesellschaft im Zuge des Kulturwandels, den die Tanzimat mit sich brachte. 6.4.2. Die Verwestlichungskritik bei Alx Suavx

1In ders., Nr.2/1875 . Zit. bei I.Sungu: S.812 , 2Aus dem Gedicht “Terkib-i Bend“. Original siehe I.Sungu: a.a.O.S.813 f. 3Sein Weggenosse N.Kemal soll aber nach eigenen Angaben den englischen Likör geschätzt haben, weil es gut für die Verdauung gewesen sei. Zit. bei M.Türköne: siyasai ideoloji olarak ..... S.86

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Alx Suavx geht einen Schritt weiter und sieht in der “Nachahmungskrankheit“ ( taklxd marazi ) eine Bedrohung, die ernsthaft die “nationalen Wesenselemente der Osmanen“ verändern könnte.1 Gegen eine Übernahme von “nützlichen Dingen“ anderer Völker hat Suavx nichts einzuwenden. Doch dann bringt er den negativen Nachahmungsbegriff “teä ebbüh“ ins Spiel und argumentiert klassisch-religiös: “Aber jedes Volk hat seine religiösen und weltlichen Eigenarten, mit denen es sich von einem anderen Volk unterscheidet. Wenn es aber diese Erkennungszeichen aufgibt, dann hat es seinen Volks-Charakter verloren oder wenn es die Eigenarten eines anderen Volkes nachahmt, dann gehört es diesem Volk an.“2 Für Suavx ist die Nachahmung wie z.B. in der Bekleidung und in den Um-gangsformen weniger verwerflich, weil die eigentliche Nachahmung die Auflösung der religiösen und ethischen Identität bedeutet. Die Islamisten in der republikanischen Türkei sollten später in diesem Punkte von “Entfremdung“ sprechen. 6.5. Für eine neue Rechtsfindung auf der Grundlage des islamischen Rechts Bei seiner Kritik an der Einführung des französischen Straf- u.Handelsrechts erinnert Zxya Paä a daran, daß bis zum Tanzimat-Beginn nur e i n Gesetz geherrscht habe, und zwar das islamische Recht.3 Doch er gesteht ein, daß, seitdem das “Tor des Idschtihad“ ( neue Rechtsfindung) vor 700-800 Jahren geschlossen worden ist, das laufende islamische Gesetz nicht mehr den Erfordernissen des Zeitalters genüge. Aber der Fehler M.Reä xd Paä as sei es gewesen, nicht aus dem “endlosen Meer des islamischen Rechts“ die neuen und nötigen Gesetze geschöpft zu haben. Mit den neuen übernommenen Gesetzen habe man versucht das “weltliche Regiment“ des osmanischen Staates von seinem “religiösen Regiment“ zu trennen, um so das osmanische Land in den “Kreis der bestehenden Zivili-sation“ hineinzuführen.4 Hier weist Zxya Paä a wohl unbewußt auf eine Entwicklung hin, die mit dem Begriff “Säkularisierung“ umschrieben werden kann, also die Trennung des Rechts von göttlich gesetztem Recht. 6.6. Das koranische “Naturrecht“ als die Basis für die Regierung Namik Kemal sieht den Zusammenhalt einer jeden Gesellschaft im Vorhandensein eines politischen Gesetzeswerks, um die Gemeinschaft zu schützen und sie zu regieren. Und dies sei für die Muslime das von Gott gegebene Naturrecht im “Koran“.5 Die Einzelgesetze würden auf dem Wege des Konsenses der Rechtsgelehrten (das idschma) bestimmt werden. Kemal glaubt, daß die islamischen Gerichte gerechter urteilen würden und die islamischen Gesetze noch perfekter wären als die in der Tanzimat-Zeit aus dem Westen importierten Gerichte bzw. Gesetze.

1In “Le Mukhbir“, Nr.9/1868 . Zit. bei : H.Qelxk: Alx Suavx ve... S.606 . “national“ ist hier im Sinne von islamisch zu verstehen( Im Original heiß es: “Osmanlilarin anasir-i mxllxyesx““ 2In: ders. Zit. bei H.Qelxk: a.a.O.S.606/607 3In “Hürriyet, Nr.23/1868 Zit. bei I.Sungu.: a.a.O.800 4In der Zeitung “Ibret“, Nr. 24/1872 Zit. bei I.Sungu: a.a.o.S. 303 5In Hürriyet, Nr.23/1868 Zit. bei I.Sungu: a.a.O.S.803

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6.7. Die Ursachen des staatlichen Niedergangs Die schlechte Verfassung, in der sich der osman. Staat befindet, resultiert nach Ansicht Kemals daher, weil sich die Regierung nicht an die Bestim-mungen des islamischen Rechts gehalten hat. 1 Der Jung-Osmanen-Experte Mardxn erläutert, weshalb Kemal sich auf das Naturrecht beziehend, das islamische Recht zu legitimieren sucht. Er weist darauf hin, daß Kemal die Abhandlung “Die Ruinen von Palmyra“ des fran-zösischen Historikers C.F.Volney übersetzt und ihren Inhalt, der die Ursa-chen des Niedergangs von Imperien untersucht, sehr geschätzt habe.2 Vol-ney schreibt darin, daß das osmanische Reich deswegen seinem Nieder-gang entgegengehe, weil seine Herrscher das Naturrecht mißachteten und darum tyrannisch würden und ungerecht regierten. Doch Mardxn fügt hinzu, daß es zwischen dem islamischen und dem westlichen Naturrechtskonzept fundamentale Unterschiede gäbe und im 17.Jh. sich die westliche politische Philosophie von der Theologie gelöst habe.3 Mit diesem erhellenden Hinweis Mardxns sollte lediglich auf den für die vor-liegende Arbeit wichtigen “akkulturativen“ Aspekt und auf Denkkontext Kemals aufmerksam gemacht werden.4 6.8. Namik Kemals Vorstellungen vom Konstitutionalismus und Parlamentarismus 6.8.1. Für eine “islamische“ Verfassung Namik Kemal bemängelt an den Tanzimat-Edikten, daß es zwar persönliche Freiheiten auf der Grundlage des islamischen Rechts garantiert habe, doch wenn in diesen Erlaß Grundsätze wie “Meinungsfreiheit“, “Volksherrschaft“ (hakxmxyet-x ahalx) und Beratungsprinzip (usul-ü meä veret) aufgenommen worden wären, hätte man von einem “Grundsatz-Vertrag“ (ä artname-x esasx), sprich Verfassung, sprechen können.5 An anderer Stelle spricht er deutlicher von einem “Grundgesetz“ (wörtlich: kanun-i esasi), dessen einzelne Artikel allerdings mit dem islamischen Gesetz übereinstimmen müßten.6 6.8.2. Für das Beratungsprinzip und die Gewaltenteilung Kemal plädiert dafür, daß die verbrieften persönlichen Freiheiten noch um ein “politisches Recht“ erweitert werden, und zwar um die “Kontrolle der Re-gierungsgeschäfte durch das Volk“7 Und dieses Kontrollprinzip bezeichnet er als “usul-ü meä veret“, zu deutsch: das “Beratungsprinzip“ .

1In “Hürriyet“, Nr.9/1868 . Zit. bei I.Sungu: Tanzimat ve... S.808 2Ä.Mardxn: a.a.O.S.315-319 .Mardxn ergänzt,daß Kemal in ähnlicher Absicht Montesquies “Größe und Niedergang des Römischen Reiches“ übersetzt hat. 3Ders.: a.a.O.S.317 4Für den Versuch Kemals, Montesquieus Gesetzdefinition mit dem islamischen Gesetz zu harmonisieren, siehe Mardin: a.a.O.S.318-319 5In “Ibret“, Nr.46/1872 Zit. bei I.Sungu: a.a.O.S.845 6Zit. bei Ihsan Sungu: a.a.O.S.806 . Ohne Angabe der Originalquelle. 7In Hürriyet, Nr.1/1868 Zit. bei I.Sungu: a.a.O.S.846 . Im Original steht für Gemeinschaft=Ümmet. Sungu erklärt, daß Kemal darunter alle Bürger des Staates gemeint waren, also ohne konfessionellen Unterschied das gesamte Volk.

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Dieses Prinzip führt er auf den Koran zurück, wo es heißt: „Und die auf ihren Herrn hören und das Gebet verrichten und ihre Angelegenheiten in Beratung untereinander (erledigen) ...“1 Zur Begründung der Gewaltenteilung führt Kemal folgendes an: “Weil es die Pflicht der Regierung ist, unter dem Gesetz zu handeln. Das Gesetz muß, neben den für seine Umsetzung Zuständigen, in der Hand einer anderen Gruppe gemacht werden und vom Volk angenommen werden, damit es wahrhaft gerecht ist. Deshalb ist die Legislative sowohl im islamischen Recht als auch im neuzeitlichen Recht von der Exekutive getrennt.“2 Wenn in der Hand des Staates beide Gewalten vereinigt seien, so läge nach Kemal ein “absoluter Entscheidungswille“ vor. 6.8.3 Für ein Parlament Daher sei es erforderlich eine “Beratende Volksversammlung“ (Meclxs-x Äura-yi ümmet ), sprich Parlament, zu bilden.3 Dieses Parlament soll aus zwei Kammern bestehen; im Senat sollen u.a. der Shaikhulislam und andere Geistliche sitzen, die die Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit den islamischen Grundsätzen überprüfen.4 6.8.4. Die “Meclxs-x Äura-yi ümmet“ : eine unzulässige Erneuerung ? Kemal ist sich bewußt, daß seine Forderung nach einer “Meclxs-x Äura-yi üm-met“ eine Erneuerung im Islam bedeutet , die es so zur Zeit Muhammeds nicht gegeben hat. Und auf die Kritik konservativer Ulema, dies sei doch eine unzulässige “bxd’ at“ , antwortet er polemisch, daß auch z.B. “Dampfschiffe“ bid’at seien. Im Falle, daß man Dampfschiffe nicht benutzt, solle man dann zusehen, wie “griechische Zitronenboote“ Kreta erobern ?5 Mittels des islamisch-legitimen Beratungsprinzip könne doch die neue “Meclxs-x Äura-yi ümmet“ durch den Konsensus der Rechtgelehrten angenommen werden. 6.8.5. Die Volkssouveränität bei Kemal Kemal legitimiert das Prinzip der “Volksherrschaft“ mit der Vernunft und mit islamischen Argumenten. So wie das Individuum Verfügungsgewalt über sich habe, habe auch auch die “Gesamtheit der Individueen“ das Recht, über sich selbst zu herrschen.6Das islamische Argument liege darin, daß das Volk ein Recht auf eine (politische) Führung“7 habe. Und wenn ein Volk einer Person seinen Treueeid (akd-x bx’at) ausspreche, so sei diese Person der neue Khalif und der vorige Khalif sei ungültig. Das Volk habe zwar dem Herrscherhaus des Reichsgründers Osman den Treueeid geleistet, doch der Volkswille (xrade-x ümmet) solle sich mittels des Beratungsprinzips in einer Volks-versammlung (Meclxs-x Äura-yi ümmet) manifestieren. Die Janitscharen hätten bis zu ihrer Ausschaltung die Funktion einer

1Der Koran : a.a.O. Sure 42/36 .S.459 . Kemal stützt sich auf diesen Vers in einem Artikel in der Hürriyet, Nr. 4/1868 . Zit. bei M.Türköne : a.a.O.S.116 2In ders. Zit. bei: ders.: a.a.O.S.846 3In Hürriyet, Nr.4/1868 . Zit. bei I.Sungu: a.a.O.S.846 4In Hürriyet, Nr.18/1868 . Zit. bei I.Sungu: a.a.o.S.806 5In Hürriyet, Nr.12/1868 . Zit. bei I.Sungu:a.a.O.S.848 6In Hürriyet, Nr.4/1868 . Zit. bei I.Sungu: a.a.O.846 ff. 7In ders. Zit.bei ders. (Kemal benutzt hier den Begriff Imamat, der gleichbedeutend mit Khalifat ist)

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Volksversammlung ausgeübt, doch danach hätte die Regierung “autokratische“ Züge angenommen. 6.9. Über die Legitimation zur politischen Opposition Suavx vertritt die Aufassung, daß in einem islamischen Staat das “islamische Recht und Gesetz über dem Sultan und Khalifen steht. Die Regierung wird im Namen des Islamischen Rechts und Gesetzes ausgeübt.“1 Er ist strikt gegen eine Willkürherrschaft eines Menschen über andere Menschen. Denn nach einem von ihm zitierten Koranvers2 ist nur Gott die Urteilsgewalt vorbehalten; er ist der eigentliche Herrscher.3 Suavx lehnt daher den Begriff der “Volksherrschaft“ ab und tritt so in einen Widerspruch zu Namik Kemal . Da der Sultan nicht absoluter Herrscher sei, müsse er im besten Falle von der Ulema kontrolliert werden. 4 Dem Sultan schwöre man zwar Gehorsam (Treueeid), aber solange er “auf dem rechten Wege“ist, sprich eine gerechte islamische Führung ausübt.5 6.10. Über die Zivilisations- und Fortschrittsfrage Namik Kemal schlägt vor, den Begriff “Zivilisation“ (medenxyet) 6 auf einer an-deren Definitionsgrundlage als auf der früheren zu diskutieren, worunter “das Leben in menschlicher Gemeinschaft und materieller Vorsorge“ verstanden worden war. Nach neuzeitlichem Verständnis bedeute Zivilisation eine “völlige und gesicherte Ruhe und Ordnung“ . Er verteidigt europäische Erfindungen wie z.B. den Telegraphen oder die Eisenbahn gegen die selbstgenügsamen Zivilisationskritiker in der eigenen Gesellschaft und zählt deren Nutzen auf. Durch den Telegraphen z.B. könne man von der “scharfsinnigen Diagnose eines Arztes in der neuen Welt in Kenntnis gesetzt werden und davon für das eigene Leben und Glück profitieren.“7 Kemal sieht auch in der Aneignung zivilisatorischer Erfindungen eine Schutzfunktion für die politische Freiheit und Unabhängigkeit des eigenen Landes von den “zivilisierten Völkern“ und warnt vor dem Beispiel der kolonisierten Algerier. Deren Väter hätten nämlich auch zuvor diese und jene neuen Dinge als bxd’at verworfen und somit ihre Freiheit verspielt. Der Kritik, Zivilisation gebiere “unzüchtige Handlungen“, tritt Kemal damit entgegen,daß diese nicht von ihrem Wesen herrührten, sondern aus ihrer fehlerhaften Umsetzung. Ein Volk, das “Zivilisation zu erwerben sucht“ müsse ja nicht schließlich “Europa völlig und ganz nachahmen“ ? Kemal resumiert, wohl die westliche Wissenschaft und Technik meinend, daß es “wahrhaftes (echtes) Wissen“ gäbe, das nirgendwo auf der Welt negative Auswirkungen zeige. Und euphorisch sieht er schon die osmanischen Länder als strahlendes Zentrum der zukünftigen Zivilisation. Aber nur im dem Falle, wenn die “(zivilisatorische) Sache richtig angepackt“ werde und die heimischen ethischen

1In der Zeitung “Ulum“, Nr.16/1870 . Ziz. bei H.Küqük: Alx Suavx ve dönemx.S.551 2Der Koran: Sure 12/40: “...Das Gericht ist alein Allahs. .... “ Oder Sure: 33/36: “..., wenn Allah und sein Gesandter eine Sache entschieden,... .“ 3In der Zeitung “Ulum“, Nr.12 1870 . Zit. bei H.Küqük: Alx Suavx ve dönemx.S.551 4In “Le Mukhbir“, Nr.19/1868 . Zit. bei ders.: a.a.O.S.555 5H.Küqük: Alx Suavx ve dönemx.S.557 6Als gleichnamiger Artikel in der Zeitung Ibret, Nr.84/1873 erschienen. In : M.N.Özön:Namik Kemal ve Xbret Gazetesx.S.212-217 7M.N.Özön: a.a.O.S.215

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Impulse und die (wohl vor moralischen Verfehlungen) “errettenden“ islamischen Gesetze zu diesem Zweck aktiviert würden. Für Alx Suavx ist “Fortschritt“ zuerst eine “spirituelle“ Entwicklung und als solche sogar die Basis für den ökonomischen Aufstieg. Deshalb sei es erforderlich, in den Schulen Naturwissenschaften und spirituelle Wissenschaften (wohl islamische Werte meinend) gemeinsam zu unterrichten. Ein materiell starker Staat würde ohne spirituelle Fundierung eines Tages niedergehen.1 7. Zusammenfassung Der primäre Leitgedanke der jung-osmanistischen Intellektuellen ist ihre Sorge, den Zerfall des osmanischen Reiches im Angesicht des sie vielfältig bedrängenden Europas abzuwenden und die osmanische Gesellschaft “zivilisatorisch“ zu erneuern. Dies scheint aber nur möglich, indem das politische Regime reformiert wird. Namik Kemal und seine Freunde sind davon überzeugt, daß die “ewigen“ islamischen Richtwerte im Koran und in der Sunna immer noch gültig sind, aber die aktuelle Herrschaftsstruktur diese Werte nicht mehr verkörpert. Sie abstrahieren unkritisch die konstitutionell-parlamentarisch-demokratischen Regierungssysteme und das erreichte zivilisatorische Niveau Europas von dessen eigentümlichen politisch-kulturellen Geschichte und wollen diese Institutionen mit islamischen Geist füllen und ihnen eine islamische Richtung geben. In aktiv-synkretistischer scheingeistlicher Manier und im tecdid-Selbstverständnis verstricken sie sich in Widersprüche und Gegensätze zu ihrer islamischen Tradition. 8. Sind die Jung-Osmanen die Vorväter des türkischen Islamismus ? Es ist die These des türkischen Politologen Mümtaz’er Türkö ne, daß Namik Kemal und Alx Suavx die Vorväter des türkischen Islamismus sind. Zunächst verwirrt diese These, da besonders Namik Kemal im öffentlichen Bewußtsein der Türkei als “vaterländischer Dichter“ bekannt ist. Dies ist er es zwei-felsfrei, was in meiner Arbeit nur angedeutet werden konnte. Die heutigen Islamisten in der Türkei wird es wohl gleichermaßen verwundern, in den Ideen des osmanischen Intellektuellen Namik Kemals und seiner Freunde unbekannte ideologische Vorfahren und Vorkämpfer für eine Interpretation des Islam als eine untrennbare Einheit von Religion und Politik zu entdecken. Mit dieser These gelingt es Türkö ne die Rolle und die Bedeutung des islamischen Reformisten Cemaleddin Afghani (1838-1897)2, der sowohl in der westlichen als auch in der islamischen Welt als Begründer des “Islamismus“ gilt, zu relativieren. Türkö nes These behauptet lediglich, daß zeitlich gesehen die “Jungen Osmanen“ in ihrer politisch aktiven Hochphase zwischen 1867-1873 und unabhängig von Afghani islamistische Ideen “im Embryonalzustand“3 entwickelt haben. Forschungsgeschichtlich stimme ich der These unter Vor-behalt zu. Denn die Jung-Osmanen haben in ihrer Gesamtkonzeption, die ich nicht ausführlich darstellen konnte, “nationalistische“ Keime, die später unter anderen politischen Bedingungen ausreiften. Ob die heutigen türkischen Islamisten diese These annehmen werden, ist eine Entscheidung des ideologischen Selbstverständnisses, aber sie brächte ihnen einen historisch-argumentativen Vorteil und somit eine bodenständige Kontinuität.

1So faßt der Suavi-Forscher dessen wirtschaftliches Denken zusammen. Siehe H.Qelxk : Alx Suavx .. S.666 2Ihm hat Türköne seine erste wissenschaftliche Arbeit gewidmet: “Cemaleddxn Afganx“ . Dxyanet Vakfi Yay. Ankara 1994 . Darxn versucht er den “Afghani-Mythos“ aufzulösen. 3So der Ausdruck Türkönes in seinem Vorwort seines Buches: “Siyasi ideoloji olarak...“ .S.14

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8.1. Transformation des Islam in eine politische Ideologie Der zweite Teil der These Türkö ne lautet, daß der Islam in dem besagten Zeitraum zu einer “politischen Ideologie“ transformiert worden ist. Türkö ne erkennt zwar an, daß im Islam (Koran) auch theoretisch-politische Aussagen “über Rechte der Regierenden und Regierten ergehen“, aber der Lauf der islamischen Geschichte, also die Tradition, zeige eine diesen Bestim-mungen zuwiderlaufende Praxis. Die muslimischen Massen hätten in der islamischen Geschichte den Islam weniger als ein “politisches System“ wahr-genommen und nur der “Gehorsamspflicht“ genügt.1 8.2. Über die Herkunft des Ideologie-Begriffs Um die “Ideologisierung“ des Islam zu erklären, stützt sich Türkö ne auf den Ideologie-Begriff Clifford Geertz’. Dieser versteht unter Ideologie “ein symbolisches System, das von Individuen geschaffen wird oder..., um ihrer sozialen und politischen Umwelt einen Sinn zu geben.“2 Historisch gesehen ist der Ideologiebegriff aber nach Türkö ne nicht universell, sondern ist im Industrialisierungszeitalter Europas entstanden. Die Umplazierung der Individuen duch den sozialen Wandel und der Verlust der traditionellen Werte hätten eine Suche bei den Intellektuellen bewirkt, um diese Vorgänge mit einem “neuen Denksystem“, eben der “Ideologie“ zu er-klären. Die Ideologie habe eine neue, sinnstiftende und “rationale“ Weltsicht vermittelt. Der Intellektuelle sei so zum Sprachrohr der Massen geworden.3 8.3. Die Religion als ein “ideologisches System“ Obwohl die osmanische Gesellschaft die Entwicklungen Europas nicht durchgemacht hat, ist Türkö ne zufolge der Islam dennoch in eine Ideologie umgewandelt worden. Er geht nämlich davon aus, daß dem Islam an sich “ideologische Funktionen“4 innewohnen. Darin stimme ich ihm zu. Doch in diesem Zusammenhang scheint mir Eugen Lembergs Definition eines ideologischen Systems genauer: Es ist “ein Gefüge von Vorstellungen, Werten und Normen, die den Menschen in der Welt orientieren, ihm eine Rolle darin zuweisen, sein Handeln in Gang setzen und sein Verhalten steuern.“ 5 Allerdings muß hinzugefügt werden, daß die Anhänger des ideologischen Systems “Islam“ an einen transzendentalen Ursprung, sprich Gott, glauben, der den Menschen mittels einer Buchoffenbarung und eines Propheten “rechtleitet“. Im übrigen glaube ich mit Lemberg, daß ideologische Systeme ein an-thropologisches Grundphänomen sind, also dem Menschen charakteristisch und unentbehrlich sind. Der Islam spricht in diesem Kontext von einer natürlichen Veranlagung (fitra) und eines Bedürfnisses des Menschen nach Leitung und Orientierung.6

1M.Türköne: a.a.O.S.21 2C.Geertz: Ideology as cultural system“ in “Ideology and discontent“. Ed.D.Apter.New York 1964.S.47 .Zit. bei Türköne: a.a.O.S.22 f. 3M.Türköne: a.a.O.S.23 4M.Türköne: a.a.O.S.24 5E.Lemberg: Anthropologie der ideologischen Systeme.S.15 6S.Hossein Nasr: Ideal und Wirklichkeit des Islam.S.15

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Die Ideen- und Sozialgeschichte kann weiter mit Lemberg “in einem ständigen Auf und Ab von Entideologisierung der einen und Ideologisierung der anderen Grup-pe je nach deren sozialem Auf - oder Abstieg, Angriffs - oder Verteidigungsstatus“1 gesehen werden. Und dieser Prozeß heißt im interkulturellen Maßstab : “Akkulturation“ 2. Dem politischen und zivilisatorischen Aufstieg Europas steht eine Abstiegstendenz des osmanischen Reiches gegenüber. Europa hat sich durch die Aufklärung und die Ideale der Franzöischen Revolution vom christlichen Weltbild “entideologisiert, aber sich auch zugleich wieder mit einer rationalen Weltorientierung erneut ideologisch aufgeladen. Politisch und kulturell ist Europa dann in den Angriffsstatus (Kolonialismus) übergegangen. Die Reaktion der osmanischen Seite im Kontext der Jung-Osmanen ist aber sowohl eine verteidigende (das islamische Recht) als auch eine politisch-kulturelle Offensive (für demokratische Institutionen u. zivilisatorische Erneuerung) gewesen. Ideologisch im oberen Sinne gesehen, steht das osmanische Reich im allgemeinen Banne des “Zivilisationismus“, doch konkret betrachtet, wird das traditionell-ideologische System des Islam entideologisiert, aber wiederum unter Einwirkung vom westlichen Denken neu ideologisiert. 8.4. Die “akkulturative“ Geburt des Islamismus Durch den äußeren Kulturkontakt mit Europa hat der ohnehin “prä-ideologisch“3 aufgeladene Islam eine spezielle Ideologisierung erfahren. Die euro-päische Ideologieform des “Nationalismus“ ist als ein “akkulturatives Element“ mit dem “eigenkulturellen“ Islam verknüpft worden. Türkö ne deutet den somit entstandenen “ I s l a m i s m u s “ als eine “neue nationalistische Ideologie“.4 8.5. Die Unterschiede zwischen Islamismus und traditionellem Islam Den Unterschied zum traditionellen Islam betont Türkö ne dadurch, daß sich die Legitimationsgrundlage für diese Islam-Interpretation gändert hat. Während der “traditionelle Islam“ einen stärkeren transzendentalen Bezug im praktischen Leben in Form von ausgeprägtem “Gottvertrauen“, “Schicksalser-gebenheit“ und “Gehorsam“ (gegenüber Obrigkeiten) gezeigt habe, habe dem gegenüber der “Islamismus“ den Willen des Menschen und seine Vernunft akzentuiert und jene koranischen Bestimmungen reaktiviert, die zur Aktion aufrufen.5 Der Islamismus “verweltliche“ den Islam. 8.6. Die “akkulturative“ Neuinterpretation des Islam

1E.Lemberg: a.a.O.S.23 2Lemberg spricht von “Erscheinungen des Synkretismus“ durch “Übernahmen bestimmter Lehrern oder Riten eines System durch ein anderes, Akkulturationen...“. S.21 3Von Türköne benutztes Attribut in Anlehnung an Reinhard Bendix’ Unterscheidung von Prä-Ideologie und Ideologie..S.27 4M.Türköne: a.a.O.S.26 5Ders. a.a.O.S.28

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Das entscheidenste Merkmal am Islamismus ist jedoch nach Türkö ne, daß die Islamisten die traditionelle Systematisierung ablehnen, weil sie für die Lösung der Probleme des 19.Jh. nicht tauglich ist.1 Daher machen sich die Islamisten daran, die islamischen Quellen neu auszulegen und den islam “ideologisch“ neu zu systematisieren, aber allerdings unter dem maßgeblichen “akkulturativen“ Einfluß westlicher politischer Philosophie und mit der mit Übernahme demokratischer In-stitutionen. Für die Kennzeichnung westlicher Institutionen glaubt man aus der klassischen politischen Theorie des Islam die entsprechenden Termini gefunden zu haben oder erfindet einfach neue. Der Islamismus der Jung-Osmanen ist somit eine zivilisatorisch-selbsterneuernde Antwort osma-nischer Intellektueller auf die Krise der eigenen Gesellschaft bzw. die Überlegenheit des Westens. 9. Einordnung der Jung-Osmanen in die islamische Reformgeschichte 9.1. Die islamische Erneuerungsbewegung Der Anspruch der teilweise bei westlichen und muslimischen Autoren sogenannten “islamischen Erneuerungsbewegung“ (Islahat-, oder Tecdid-Bewegung)2 leitet sich aus der Kritik und der Ablehnung der geistigen und gesellschaftlichen Deformierung des Islam ab. Ihr Ziel ist, “...zu den originalen und definitiven Quellen des Islam (Koran und Sunna) zurückzugehen und auf dieser Grundlage die Idschtihad (neue Rechtsfindung) anzuwenden.“3 Das Leitbild der Muslime ist allerdings der Stadtstaat Medina des Propheten Muhammed und die vorbildliche Ära der “rechtgeleiteten“ Khalifen (632-661). Das Wort “islahat“, das verschiedentlich im Koran auftaucht, trägt die Bedeutung: “etwas verbessern“; “etwas auf seinen Ursprung zurückführen“. Es handelt sich bei der islamischen Erneuerungsbewegung um keine Reformation wie im christlichen Kontext mit weitreichenden Implikationen wie der Aufklärung und der religiösen Reformation. Der pauschal und in inflationärer Weise für verschiedene islamische Strömungen gebrauchte Begriff “Fundamentalismus“4, der aus der amerikanisch-protestantischen Kirchengeschichte zu Begin des 20.Jh. stammt und jegliche Bibelkritik ablehnt, trifft nicht an sich den Sachverhalt, wie Muslime mit dem Koran umgehen. Der Koran und die Sunna sind auf Interpretation angewiesen, um die Probleme der Muslime in ihrer jeweiligen Zeit zu lösen. Die “freie Rechtsfindung“ ist eine legitime Methode innerhalb der islamischen Rechtswissenschaft. Die Mehrheit der islamischen Strömungen steht dem Idschtihad aufgeschlossen gegenüber. 9.2. Der Stellenwert der Jung-Osmanen Der pakistanische Islamwissenschaftler Fazlur Rahman (1919-1988) stellt den Jung-Osmanen Namik Kemal 5 (1840-1888) neben die bekanntesten islamischen Reformer wie Cemaleddin Afghani6 (1839-1997) und Muhammed Abduh (1849-1905) und zählt sie zu den Vertretern des von ihm so bezeichneten “klassischen islamischen Modernismus“ des 19.Jh.

1M.Türköne: a.a.O.S.27 2So z.B. bei dem Pakistaner F.Rahman: Islam.S.193 . Oder R.Peters: “Erneuerungsbewegungen im Islam ...“. In: W.Ende/U.Steinbach: Der Islam in der Gegenwart.S.90 3F.Rahman: Islam and Modernity.S.142 4A.Hartmann: Der islamische “Fundamentalismus“ . S.4. In: Aus Politik u. Zeitgeschichte. Nr.B 28/1997. 5F.Rahman: Islam and Modernity.Transformation of an intellectual Tradition.S.50 6Zu Afghani s. Hani Srour:Die Staats- und Gesellschaftstheorie bei Sayyid Gamaladdin“Al Afgani“ . Freiburg 1977

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Er gibt dafür aber keine direkte Definition, sondern umschreibt damit die Geisteshaltung der Muslime gegenüber dem “modernen Wissen und der Technologie“ . Eine Gruppe von Muslimen habe die Meinung vertreten, daß der Erwerb des modernen Wissens auf den technologischen Bereich beschränkt bleiben solle. Westliches intellektuelles Wissen zu übernehmen, würde in den muslimischen Köpfen für ein Durcheinander sorgen. Eine andere Gruppe von Muslimen habe dafür plädiert, neben westlicher Technologie auch ohne Bedenken intellektuelle Produkte anzueignen, da doch Muslime im Mittelalter ohne Schaden mit Wissenschaft und theoretischem Wissen umgegangen seien bis die Europäer dieses Wissen übernommen hätten.1 Rahman vertritt die Meinung, daß Namik Kemal und Zxya Paä a eine von diesen Meinungen abweichenden Standpunkt eingenommen haben. Sie glaubten an eine politische, technologische und soziale Modernisierung ohne nachteilige Auswirkungen auf die kulturelle (islamische) Integrität der Nation.2 10. Vom kurzen Leben der 1. Konstitutionellen Periode zur Autokratie Abdulhamxds II. Die Mühe der Jung-Osmanen und anderer Befürworter einer konstitutionellen Monarchie bleibt nicht vergebens. Unter dem dynamischen Großvesir Mxthat Paä a wird unter der Mitwirkung von Zxya Paä a und Namik Kemal eine Verfassung (kanun-x esasx) gegen die konservative Mehrheit der Ulema ausgearbeitet, die 1876 verkündet wird.3 Der neue Sultan Abdulhamxd II. sieht sich aufgrund der schweren Balkankrise genötigt und “um das Wohlwollen der europäischen Mächte zu gewinnen, den absolutistischen Regierungsstil des Sultanats abzuschaffen und ein parlamentarisches System einzuführen“.4 Für Abdulhamxd II. ist die Verfassung eine weitere Wegmarke der Staatspolitik Mahmuts II., der dem osmanischen Reich “eine Tür für den Eintritt in die gegenwärtige europäische Zivilisation geöffnet...“ habe.5 Bisher habe man deswegen “..den Fortschritt der zivilisierten Welt nicht einholen können“, weil die nötigen Reformen und Gesetze ausgeblieben seien.6 Doch der Druck der außenpolitischen Entwicklungen (Aufstand der Balkanvölker, Krieg mit Rußland, weitere Gebietsverluste) veranlassen Abdulhamxd II., die ihm eigentlich ungeliebte Verfassung 1878 durch Auflösung des gewählten Parlaments praktisch wieder außer Kraft zu setzen. Bis 1908 wird er absolutistisch (xstxbdadx) herrschen. 11. Die Zeit bis zur Ausrufung der II. Konstitutionellen Periode ( II.Meä rutxyet) 1908 Obwohl Abdulhamxd II. mit eiserner Hand eine politische Alleinherrschaft ausübt, wird ungebrochen dem Zeitgeist des “Zivilisationismus“ gehuldigt und nicht vom

1F.Rahman: a.a.O.S.46/47 2Ders.:a.a.O.S.49 3N.Berkes: Türkxye’de qawdaälaäma.S.314/315 4A.Meier: Der politische Auftrag des Islam.S.71 . 5So Abdulhamid II. in seiner Parlamentseröffnungsrede. Redetext in S.Kxlx u. Ä.Gözübüyük: Türk anayasa metxnlerx.S.46 6Dies. : a.a.O.S.47

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Staatskurs “des Einholens des europäischen Fortschritts“ abgewichen. Die unter osmanischen Intellektuellen allgemein verbreitete Wissenschafts- und Technikgläubigkeit bekommt jedoch bei einem Teil von ihnen eine Legitimation auf der Basis von biologischem Materialismus und Darwinismus, die in dieser Zeit rezipiert werden.1Der ebenfalls rezipierte Positivismus gewinnt bei der zivil-militärischen und geheimen Opposi-tionsgruppe mit dem Namen “Osmanische Gesellschaft für Einheit und Fortschritt“ (Osmanli Xttxhad ve Terakkx Cemxyetx), die 1889 gegründet wird, zusehends an Einfluß. Ahmet Riza Bey (1859-1930), der Führer dieser Gruppe, hat in Frankreich studiert und dort die positivistische Lehre Auguste Comtes (1798-1857) kennengelernt und angenommen. Comte geht davon aus, daß die Menschheit historisch das theologische und metaphysische Stadium durchläuft und schließlich im positiv-wissenschaftlichen Stadium seine Erfüllung findet.2 Die Losung Comtes “L’ordre et progres“ findet sich leicht verändert im Namen der oben genannten Oppositionsgruppe wieder. Ahmet Riza Bey sieht im Islam kein göttliches Dogma, sondern einen “sozialen Kitt“, der die Gesell-schaft zusammenhält.3 In den jungtürkischen Exilzeitungen werden verschie-dene politische Konzepte und ihr Bezug zum Islam diskutiert. Bei den positi-vistisch gesinnten Jungtürken errodieren langsam islamische Überzeu-gungen, um schließlich in der Zeit nach 1908 zugunsten eines anti-religiösen Weltbildes und anderer westlicher Gesellschaftsphilosophien ersetzt zu wer-den. In dieser Zeit wachsen aber auch die späteren osmanischen “Islamisten“ auf, deren islamisches Weltbild und Wertegefüge stabil bleiben. Das geist-ge Erbe Namik Kemals und seiner Freunde, nämlich westlich-politische Institutionen unkritisch zu islamisieren, wird nicht von allen Islamisten angenommen werden. Was die unterschiedlich denkenden osmanischen Intellektuellen jedoch eint, ist ihre Opposition gegen Abdulhamxds II. Autokratie und ihr gemeinsames Ziel, wieder die suspendierte Verfassung einzusetzen und das Parlament wiederzuöffnen. Und nicht zuletzt den osmanischen Staat vor weiterem Nie-dergang zu erretten. IV. Islamistisches Denken in der osmanischen Türkei (2) : Die II. Konstitutionelle Periode (1908-1920) 1. Die politischen Rahmenbedingungen

1M.Ä.Hanxowlu: Bxr sxyasal örgüt olarak Osmanli Xttxhad ve Terakkx Cemxyetx ve Jön Türklük.S.24-26 2Siehe A.Comte: Rede über den Geist des Positivismus. (Hg. v. I.Fetscher) Hamburg 1966 3So dxe Interpretatxon von Ä.Mardxn: Jön Türklerxn sxyasx fxkxrlerx.S.136

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1908 kommt es zur sogenannten “jungtürkischen Revolution“, wodurch Abdulhamxd II. der Wiedereinführung der Verfassung und der Abhaltung von Parlamentswahlen zustimmen muß. Eine Fülle von Gründen führen aber zum Scheitern des konstitutionellen Regimes. Doch eine Ursache scheint mir wesentlich und auch charakteristisch für den weiteren Gang der Modernisierung bis hinein in die republikanische Türkei zu sein. Der türkische Historiker Fxkret Adanir (geb. 1941) sieht nämlich diesen Grund im Fehlen eines “muslimischen Bürgertums“ als Stütze des konstitutionellen Systems und in der “kulturellen Ent-fremdung“ der Reformer von den muslimischen Massen.1 Es sind die Militärs auf die letztendlich die Jungtürken und die späteren Kemalisten setzen. Und als positivistisch denkende Reformer glauben sie in der Religiösität des Volkes, das wahre Hemmnis für den gesellschaftlichen und zivilisatorischen Fortschritt gefunden zu haben. Als Mehmed Reä ad nach dem Sturz Abdulhamxds II. 1909 neuer Sultan wird, unterstreicht auch er, weitere Anstrengungen zu unternehmen, um den Ent-wicklungsgrad in den verschieden gesellschaftlichen Bereichen “gemäß des modernen Fortschritts“ zu erhöhen.2 2. Das geistig-politische Klima der Zeit Nach 1908 ist eine ideologische Polarisierung der geistigen Strömungen zu beobachten, die zwar in der politischen Literatur idealtypisch als “Osmanismus“, “Türkismus“, “Westlertum“ und “Islamismus“ kategorisiert werden, aber entsprechende Textanalysen zeigen flüssige Übergänge zwischen diesen politischen Lehren auf.3 So kritisieren z.B. die Islamisten, an den “nationalistisch“ und “westlich“ orientierten Autoren, daß sie in gesellschaftlichen Fragen die Idschtihad zu liberal anwenden und für ihre (anti)islamischen Ziele mißbrauchen.4 Nach der Republikgründung findet man manchen ehemaligen Islamisten im Lager der säkularen Kemalisten wieder Die “islamistischen“ Denker diskutieren ihre politischen und kulturellen Ansichten in den Wochenschriften wie z.B. “Sirat-i Mustakxm“ 5, “Sebxlürreä ad“ 6 , “Beyanü’l-Hak“ 7 oder “Hxkmet“ 8, deren Untertitel ein ganzheitliches Islam-verständnis verraten. 3. Soziale Herkunft der “Islamisten“

1F.Adanir: Geschxchte der Republxk Türkex. S.13 2Zit. aus seiner Thronbesteigungsrede. Text liegt vor bei S.Kxlx u. Ä.Gözübüyük: Türk anayasa metxnlerx.S.72-73 3E.Debus: Sebxlürreäad-Eine vergleichende Untersuchung zur islamischen Opposition der vor- und nach- kemalistischen Ära.S. 18/19 . 4E.Debus: a.a.O.S.49 5Benannt nach dem Koranvers 6/154: „Und dies ist mein rechter Weg (arab. sirat-i müstakim) ; so folget ihm und folget nicht den Pfaden (andrer),...“ Untertitel: “ Wochenzeitung für Religion, Philosophie, Literatur, Recht u. Wisenschaften“ . 6Benannt nach dem Koranvers 40/41: “O, mein folget mir, ich leite euch auf den richtigen Pfad (arab. sabila r-raäad).“ Ihre Nachfolgerin wird 1912 “Sebxlürreäad“ (“Der rechte Pfad“) mit dem Untertxtel : Islamische Wochenzeitschrift für Religion, Wissenschaft, Literatur u. Politik“, die bis 1925 erscheint. Siehe: E.Debus: a.a.O.S.27 7Zu deutsch: “Das Rechte verkünden“ . 8Z.dt.: “Weisheit“ . Untertitel: Islamische Zeitung .

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Die Autoren der islamistischen Zeitschriften sind intellektuelle Bürokraten, Schriftsteller, Lehrer an säkularen Schulen oder islamischen Medressen und Notabeln.1 Ihre unterschiedliche Ausbildung wirkt sich natürlich auf ihre Standpunkte ein. So, daß eine Unterscheidung zwischen “konservativen“ und “modernen“ Islamisten möglich ist, was sich in der Haltung zu bestimmten Fragen, z.B. die Idschtihad, deutlich macht. 4. Die Sonderstellung der Ulema Über die Gründe, weshalb auffällig viele Ulema politisch aktiv gewesen sind, läßt sich folgendes anführen. Die staatlichen Modernisierungsmaßnahmen haben die Ulema, die eigentlich die traditionellen Leitwerte in der Gesellschaft vertritt und somit potentieller Reformgegner ist, in ihren Kompetenzen zunehmend beschnitten. Die Sultane haben einen Teil von ihnen durch Privilegien für ihre Reformpolitik gewinnen können, wodurch ihre Reformen islamisch legimiert wurden.2 Nach der Auflösung der Janitscharen jedoch kommt es nicht nur zum Bruch dieser Koalition, sondern auch innerhalb der Ulema erfogt eine Spaltung. Es bildet sich hiernach einerseits eine staatsloyale Ulema und andererseits eine anti-reformerische Ulema heraus, die die westlichen Modernisierungsmaßnahmen als “Erfindungen der Ungläubigen“ ( “gavur xcadi“ ) abstempelt. Die “islamistische“ Ulema gehört zur ersten Gruppe, die angesichts ihres institutionellen Bedeutungsverlusts ihre Oppositionshaltung aufgibt und die politische und gesellschaftliche Modernisierung des Landes (mit)bestimmen will.3 Der konservativ-islamistische Geistliche und Shaikhulislam Mustafa Sabrx Efendx (1866-1954) begründet die Einmischung der Ulema als “Erben der Propheten“ in die Politik mit folgenden Worten : „ ... Wenn der Ulema die Mitwirkung an politischen Fragen untersagt wird, so wird sie ihrer besonders obliegenden Aufgabe, ‘das Gute zu gebieten und das Schlechte zu verwehren’, enthoben. Dieses Recht kann der Ulema nicht entzogen werden. Dies wird sie nicht hinnehmen. Denn die religiöse Wissenschaft ist mit Politik angefüllt. .„4 Die andere Gruppe von Islamisten, die nicht der Ulema angehört, sind die “Intellektuellen“. Sie sind mit den Jung-Osmanen vergleichbar, die den staatlichen Einflußverlust des Islam kompensieren wollen, weil die Ulema zurückgedrängt wird. In den Regierungen der II. Verfassungsperiode bekleiden die Islamisten politische sowie religiöse Ämter. 5. Die Geistige Kontinuität zwischen Islamisten und Jung-Osmanen Der These Türkö nes, daß Namik Kemal und seine Freunde “Väter des Islamismus“ seien, stimmt Kara teilweise zu, indem er den Jung-Osmanen eine “Hefe-Funktion“5 zuspricht. Doch für Kara sind die Jung-Osmanen vielmehr Avangardisten der türkischen Nationalisten, der Westler, ja sogar des Sä-kularismus. Wenn Kara mit “Säkularismus“ die Überbetonung der weltlich-politischen und zivilisatorischen Annehmlichkeiten meint, so ist ihm beizupflichten.

1E.Debus: a.a.O.S.47 2A.Levy: Osmanli Ulemasi ve Sultan II.Mahmud’un askerx islahati. In: Ebubekxr Bagader: Modern qawda ulema.S.29-30 3X.Kara: Xslamcilarin .. . S.49 4 In der Zextschrxft Beyanulhak, Bd. VI/131, 1911, S.2359-60 . Zit. bex X.Kara: Xslamcilarin... .S.57/58 5X.Kara: Xslamcilarin sxyasx görüälerx.S.22

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Was das geistige Erbe der Jung-Osmanen anbetrifft, haben die “Islamisten“ z.B. die islamische Legitimierung des Konstitutionalismus fortgeführt, doch bis auf wenige Ausnahmen sind sie sich über die politische Ideen und die Kultur Europas in ihrer Zeit weniger im Bilde als die Jung-Osmanen.1 Denn nur wenige Islamisten haben in Europa studiert oder westliche Länder bereist. Belege dafür, daß die Islamisten die Jung-Osmanen rezipiert haben, geht aus den namentlichen Referenzen in ihren politischen Schriften hervor.2 6. Die Merkmale des islamistischen Denkens

• Ismaxl Kara konstatiert für das “islamistische Denken“ zwar allgemein ein intellektuell

hohes Niveau, doch aus den Ansichten der Islamisten vermag er keine kohärente politische Philosophie und kein zukunftsträchtiges politisches Programm zu erkennen.3 Dies liegt darin begründet, daß sie den osmanischen Khalifatsstaat4 doch irgendwie als “islamisch“ begreifen und ihn nicht grundsätzlich in Frage stellen. Eine etwaige Abschaffung des Erbsultanats oder gar eine “islamische Republik“ sind kein Diskussionsgegenstand. Daher widmen sie sich vielmehr Problemen wie z.B. der Herrschaftspartizipation.

• Die Islamisten reden zwar als muslimische Reformer vom “Zurück zu den is-

lamischen Quellen“, doch ihr Reformwille bleibt -wie die “ersten Islamisten“ um Namik Kemal - auf die Legitimierung von westlichen politischen Einrichtungen mit dem islamischen Geist beschränkt.5

• Die Politisierung von Koranversen, Hadisen und ursprünglich ethischen Begriffen,

die schon bei den Jung-Osmanen begonnen hat, erreicht bei den Islamisten der Zweiten Verfassungsperiode ein beispielloses Ausmaß.6

• Esther Debus stellt für die Argumentationsweise der Islamisten fest, daß sie sich entgegen der klassisch-religiösen Apologetik, zunehmend auf “säkulare“, d.h. soziologische, pyschologische und humanistische Argumente stützen.7 Dieses ist durch ihr Studium und ihre Aneignung der “modernen“ Wissenschaften zu erklären.

• Zuletzt darf nochmals betont werden, daß die außen- und innenpolitisch instabilen Verhältnisse alle politischen Gruppen daran hindern, in Ruhe und mit eingehender Analyse über die Gesellschaft nachzudenken. Es sind eher eilige politische Maßnahmen gefragt, um eine weitere Desintegration des Reiches zu stoppen. 7. Das Islam-Verständnis der Islamisten

1I.Kara: Xslamcilarin sxyasx... .S.22 2Für Beispiele siehe I.Kara: a.a.O.S.22 und E.Debus: Sebxlürreäad. S.48 . 3I.Kara: a.a.O.S.6 f. 4Der osmanische Sultan ist seit 1517 zugleich auch islamischer Khalif, was eigentlich einer Führerschaft ddr islamischen Welt gleichkommt, doch erst seit 1870 versucht der osmanische Staat diese “Trumpfkarte“ gegen die europäischen Mächte als “Pan-Islamismus“ auszuspielen. 5I.Kara: Xslamcilarin sxyasx görüälerx. S.6/7 . 6Ders.:a.a.O..Sxehe S.39-45 7E.Debus: Sebxlürreäad... S.249

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Als beispielhaft für die Islam-Auffassung der Islamisten können folgende Versionen gelten: 7.1. Die Auffassung der Sebxlürreä ad-Redaktion Die Sebxlürreä ad-Redaktion argumentiert gegen säkularistische Interpretationen des Islam mit dem Hinweis, daß die Trennung von Religion und Politik dem christlichen Westen eigentümlich ist. Hierzu schreibt sie:„Tatsächlich be-stehen die religiösen Gebote des Islam nicht nur aus Glaubensartikeln und rituellen Pflichten, also nicht nur in der Beziehung zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf. Es gehören ebenso dazu die die Menschen betreffenden (hukuki ibad) Rechtskapitel1 ‘Muamelat’, ‘Münakehat und ‘Ukubat’. ..., so akzeptiert er (der Islam, F.M.I.) auch keinesfalls die Regel, ‘Gott das zu geben, was Gottes ist, und dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist’ . Alle die weltliche Herrschaft betreffenden Handlungen sind von der Religion entweder ge- oder verboten (...) Alle sind sie entweder direkte Befehle Gottes oder der Sunna des Propheten. (...) Deshalb ist das im letzten Jahrhundert in Europa zur Anwendung gekommene Prinzip, religiöse und politische Angelegenheiten zu trennen (separation de l’eglise et de l’etat), bei uns nicht anwendbar. So wie es bei uns eine religiöse Pflicht ist, das Rechte zu gebieten und das Verwerfliche zu untersagen, so gehören auch alle Belange wie die Errichtung einer Regierung, die Inkraftsetzung göttlicher Schranken (hudud) oder die Verwaltung politischer Angelegenheiten zum Religionsgesetz (türk. dxnxn ahkamindandir) .2 7.2. Die Auffassung Saxd Halxm Paä as Saxd Halxm Paä a (1863 -1921), der in der Schweiz Politologie studiert hat und seine politischen Schriften französisch verfaßt, entwickelt ein ganzheitliches Islambild aus den folgenden logischen Verknüpfungen:“Der Islam hat eine ihm eigentümlichen Glauben, hat seine auf diesen Glauben gegründete Moral, hat sein aus dieser Moral erwachsendes Gesellschaftsideal und hat zuletzt seine aus diesem Gesellschaftsideale geborene Politik.“3 8. Die politischen Ansichten der Islamisten 8.1. Über das Wesen eines “Islamischen Staates“ Die Islamisten leiten ihr Politik- und Staatsideal aus dem Koran ab. Hierbei fällt auf, daß z.B. der Philosoph Xzmxrlx Xsmaxl Hakki (1868-1946) die Begriffskonstruktion “islamischer Staat“ gebraucht, obwohl dieser sich in dieser eindeutigen Form nicht im Koran wiederfindet. Hakkis formale und abstrakte Definition ist typisch für die meisten Islamisten: „Der islamische Staat ist der Staat, den der erhabene Koran vorschreibt; er steht in Beziehung zur Politik des erhabenen Buches, zur Politik der erhabenen Sunna, welche jenes erhabene Buch auslegt und

1Hukuki ibad=gottesdienstliche Bestimmungen, Muamelat=zwischenmenschliche Verhaltensnormen, Münakehat=Eheschließung und Ukubat=Strafen . 2 Sebxlürreäad, Bd.XIV. 1915, S.70-72 . Zit. und übersetzt bei E.Debus: a.a.O.S.216 3S.H.Paäa: Buhranlarimiz. (Hg.E.Düzdaw) , S.203 . Unter Anlehnung an A.Muhiddins Übersetzung in seinem Buch “Die Kulturbewegung im modernen Türkentum“. S.67 von mir neu übersetzt.

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erläutert. Die Grundsteine, worauf sich der islamische Staat gründet, sind eine gerechte Politik und eine rechtschaffende Verwaltung. Der Islam verfolgt hin-sichtlich des Staates einen den Erfordernissen der Zeit vollkommen entsprechenden Weg.“1 Das islamische Staatsziel ergibt sich für Hakki aus dem Auftrag Gottes an die Gläubigen, nämlich “gerecht“ zu handeln und hiermit das Gemeinwohl zu schützen.2 Aus Hakkis Definitionsversuch geht hervor, daß der Islam keine bestimmte Regierungsform vorschreibt und der allgemein-ethische Grund-satz der “Gerechtigkeit“ die oberste Staatsmaxime ist. Der Philosophieprofessor Babanzade Ahmed Naxm (1872-1934) ist dazu geneigt, von einer “theokratischen Regierungsform im Islam“ zu sprechen, aber nur wenn darunter keine Klerikerherrschaft im westlichen Sinne verstanden wird.3 8.2. Der “islamische“ Konstitutionalismus (Meä rutxyet) Da der Koran nach Ansicht der Islamisten einen “Staat“ vorsieht, aber seine Ausformung den “Erfordernissen der Zeit“ überläßt, plädieren die Islamisten wie z.B. in der Person des Geistlichen Xskxlxplx Mehmed Atifs (1876-1926) gegen eine “absolute Herrschaft “(hükümet-x mutlaka) : in der der Herrscher einer Dynastie angehört, die Nachfolge erblich ist; der Herrscher durch kein Ge-setz eingeschränkt ist, nach seiner Willkür regiert und die gesetzgeberische Macht hat.4 Gemeint ist natürlich die Herrschaft Abdulhamxds II . Es ist die konstitutionelle Monarchie (meä rutxyet), die für die Islamisten eine “zeitgemäße“ Herrschaftsform ist. Die osmanische Verfassung wird von den Islamisten kritiklos als ein Gesetzeswerk begrüßt, “in der kein Artikel dem islamischen Recht und der Gerechtigkeit widerspricht.5 Hinter dieser Erklärung steht die Absicht, die Verfassung auf den Koran verpflichten zu wollen und die religiös-konservativen und ländlichen Bevölkerungskreise in das kon-stitutionelle Regime zu integrieren. Der Ulema-Islamist Mustafa Sabrx (1869-1954) versteht die konstitutionalistische Idee wohl als einen Gesellschaftsvertrag, wenn er schreibt: „Die Meä rutxyet ist ein Vertrag zwischen dem Volk und der Regierung, wonach das Volk ein Recht hat, von der Regierung Rechenschaft zu verlangen und auch das schwächste Individuum ein Recht hat, seine Rechte zu verteidigen. ..“ 6 8.3. Der “islamische“ Parlamentarismus Legitimiert wird die parlamentarische Herrschaftsform -wie bei den Jung-Osmanen- mit dem Koran (Sure 42/36): „...und die ihre Angelegenheiten in Beratung untereinander (erledigen).. .“ und weiteren fragwürdigen Analogieschlüssen.

1In Sebxlürreäad, Bd..XVI 1919 ,S.20-23 . Zit. u. übersetzt bei E.Debus: a.a.O.S.73/74 2Aus: “el-Cevabu’s-sedid fi beyani dini’t tevhid. S.236-242 . In: I.Kara: Türkxye’de Xslamcilik Düäüncesx. Bd.II. S.109 u. 105 . Hakki zit. z.B.die Koransure 5/11: „O ihr, die ihr glaubt, steht fest in Gerechtigkeit, ... .“ 3In Sebxlüreäad, Bd.XV., S.293-294, 1918. Zit. bei X.Kara: Türkxye’de Xslamcilik..Bd. 1. S.306 4In seinem Artikel ‘Medenxyet-x äer’xye, terakkxyat-i dxnxye’ in der “Beyanulhak“, Nr.VI/141 1911 . Zit. bei I.Kara: Xslamcilarin sxyasx... . S.101/102 . 5 So äußert sich der Islamist Manastirli Xsmaxl Hakki in einer Freitagpredigt. Zit. bei I.Kara: Islamcilarin.. S.182 6 In seinem Artikel “Talebe-i ulum’a“ in ‘Beyanul Hak’, Nr.II/33 1911 Zit. bei I.Kara: Xslamcilarin.. .S.104

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Das aus dem Koran entlehnte Wort für Beratung “Äura “ ist nach Auffassung Karas eines der höchst politisierten Begriffe. Im Koran taucht es direkt und indirekt nur an wenigen Stellen1 auf. Hierbei bemerkt Kara, daß in den älteren Koranauslegungen diese Stellen nur als eine moralische Empfehlung und keinesfalls als ein verbindliches religiös-politisches Gebot gedeutet worden sind.2 Die Umdeutung von klassisch-islamischer Polittermini wie “ehl-x hall ü akd“, mit der ursprünglich eine elitäre Gruppe gemeint war, die den Herrscher bestimmte, erfolgt in der Weise, daß jetzt darunter die Abgeordneten des osmanischen Parlaments zu verstehen sind.3 Das osmanische Parlament, das aus einer Abgeordnetenkammer und einem Senat besteht, wird von den Islamisten gutgeheißen, weil es angeblich zur Zeit des Propheten ein ähnliches Zwei-Kammer-System existiert hat.4 Von den Abgeordnetenkandidaten wird ein Charakterprofil gezeichnet, dem wohl nur ein elitärer Kreis von z.B. islamischen Gelehrten nachkommen kann.5 Debus glaubt, daß die Islamisten unter einer “Beratungskammer“ (Äura) weniger ein Parlament mit wettstreitenden Parteien verstanden haben, sondern vielmehr eine “Ratsversammlung der Ulema“.6 Dies ist mit den enttäuschenden Erfahrungen aus dem osmanischen Parlamentsbetrieb zu erklären. Noch deutlicher werden die Bedenken gegenüber einem westlichen Parlamentarismus bei Saxd Halxm Paä a , wenn man seine Prämissen kennt. 8.4. Zur Frage der Opposition Die Frage der Opposition ist bei den Islamisten mit dem koran’ischen Gehor-samsgebot7 verknüpft. Hierbei erfährt der Passus “die unter euch Befehl haben“ eine deutliche Aufwertung und Ausweitung, weil jetzt darunter auch die Minister und die Abgeordneten fallen, nicht zuletzt das konstitutionelle Regime, das nach Meinung der Islamisten grundsätzlich mit dem Koran übereinstimmt.8 So belegen denn die Islamisten die Regimegegner mit religiösen Bezeichnungen wie “Ungläubige“, “Heuchler“, “Freunde des Teufels“ oder auch “(Abdul)Hamidianer“ .9 8.5. Saxd Halxm Paä as Gesellschaftsmodell 8.5.1. “Der Westen kennt keine sozial-ethischen Gesetze“ Saxd Halxm Paä a geht davon aus, daß die westlich-politischen Institutionen christliche Auffassungen von Moral und Gesellschaft wiederspiegeln.10 Diese Behauptung bleibt aber unbegründet. Aufgrund des Strebens der “bürgerlichen Klasse“ im Westen nach Reichtum habe die ökonomische Frage die für das wahre Glück des Menschen wichtigen ethischen und sozialen Fragen verdrängt. Die “Arbeiterklasse“ wiederum versuche ihre Interessen der bürgerlichen Klasse aufzuzwingen, gar selbst in der Gesellschaft mächtig zu werden. Die westliche Gesell-schaftsordnung sei deshalb einem

X.Kara: Xslamcilarin sxyasx düäüncelerx. S.206/207

1Der Koran: z. B. die Suren 42/36; 3/153 oder 65/6 . 2I.Kara: a.a.O.S.165/166 3X.Kara: Xslamcilarin.. .S.172/173 4So der Islamist Ömer Zxyaeddxn in seinem Buch “Mir’at-i Kanun-i Esasi.Istanbul 1908. .S.57 Zit. bei I.Kara: Islamcilarin.. .S.191 5Für die Auswahlkriterien siehe: I.Kara: a.a.O.S.173-175 6E.Debus: a.a.O.S.78 7Sure 4/62: „...gehorchet Allah und gehorchet dem Gesandten und denen, die Befehl unter euch haben. ...“ 8

9Ders. a.a.O.S.196 10In “Sebxlürreäad“, Bd. XIX-XX, Nr.493-501 1924 .Zit. bei I.Kara: Türkxye’de Xslamcilik.. Bd. 1..S.80 ff.

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ständigem Wandel und einer Instabilität unterworfen, weil sie kein festes Ziel habe und sich nicht an ethisch-sozialen Wahrheiten orientiere. Daher seien die politischen Institutionen des Westens für die Muslime ungeeignet. Die Soziologie des Islam beruht nach Halxm Paä a auf der “absoluten Herrschaft des islamischen Rechts (ä erxat)“ . Das islamische Recht habe unveränderliche, ethische und soziale Gesetze, die nicht der Willkür des Menschen unterliegen. Der Mensch könne zwar dank seiner rationalen Erkenntnisgabe naturwissenschaftliche Gesetze erfassen, aber niemals ethisch-soziale und wahre Gesetze finden. Die westlichen Gesellschaften verfügten zwar über ein enormes Wissen um die Naturgesetze, doch über ethische und soziale Gesetze wüßten sie erstaunlich wenig. Der Prophet sei es, der diese Gesetze verkünde, weil die menschliche Natur unfähig sei, diese zu erkennen.1 8.5.2. “Die Souveränität der Ä erxat“ steht über der “nationalen Souveränität“ Halxm Paä a zufolge ist die “nationale Souveränität“ 2 im Westen in die Klassen-interessen gespalten, die durch die politischen Parteien im Parlament ver-treten werden. Die Gesetze, die dieses Parlament beschließe, könne nicht das Gemeinwohl vertreten. Er stellt dem westlichen Konzept der “nationalen Souveränität“ oder des “nationalen Willens“ die Idee der islamischen “Sou-veränität der Ä erxat“ gegenüber und behauptet, daß der “nationale Wille“ meistens die “Stimme einer starken Minderheit“ sei, die den schwachen Mehrheitswillen unterdrücke. Die “numerische Mehrheit“ könne nie der Ort sein, wo “das Recht und die Weisheit“ wirksam würden. Das repräsentative Prinzip im Islam gründet sich nach Meinung Halxm Paä as auf der Tatsache, daß zwischen den unterschiedlichen Klassen in der muslimischen Gesellschaft keine Interessengegensätze bestehen und diese die zuvor bestehende soziale Solidarität auf der politischen Ebene fortsetzen. Demnach würden in einem “muslimischen Abgeordnetenhaus weder Kommunisten, noch Sozialisten gesichtet werden, weder Anhänger der Republik noch eines Sultanats anwesend sein“.3Dort säßen Menschen mit nur einem Ziel, und zwar die Gebote des Äerxat umzusetzen. Komme es zu Meinungs-unterschieden, dann nur wegen der unterschiedlichen Methoden, das einträchtige Ziel zu erreichen. Das muslimische Parlament sei insofern keine Legislative im westlichen Sinne, sondern sei bestrebt, das bestehende (islamische) Gesetz (für die Umsetzung) weiter zu perfektionieren. Die Frage der Gesetzgebung sei keine “Sache der Mehrheit oder der Minderheit“, sondern eine Kompetenzfrage. So ähnlich wie ein Individium dem Arzt das Recht überträgt, seine Gesundheit zu schützen, so müßte es im Falle der “ethisch-sozialen Gesundheit des Volkes“ dieselbe Verfügungsgewalt einer kompetenten Institution zukommen. Dieser Gesetzgeber müsse aber die “Seele des Volkes“ und seinen Charakter bestens zu analysieren wissen. Den “islamischen Rechtsgelehrten“, die aufgrund ihres Wissens vom Volk geachtet würden, komme somit das legislative Recht zu. Im Geist dieser Gesetze sitze die ewige “absolute Weisheit und Gerechtigkeit“ des islamischen Rechts. Der “nationale Wille“ sei zwar als wichtiger Ausdruck gesellschaftlichen Bewußtseins zu respektieren, aber dieser doch letztendlich der Äerxat unterzuordnen.4

1In “Sebxlürreäad“, Bd. XIX-XX, Nr.493-501 1924 .Zit. bei I.Kara: Türkxye’de Xslamcilik..Bd. 1 .S.84 ff. 2Hier ist mit “nationaler Souverän o. Wille “ das Volk gemeint. 3Dieselbe Quelle. Zit. bei: dems: a.a.O.S.103 ff. 4Dieselbe Quelle. Zit. bei dems.: a.a.O.S.87

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Es kann angenommen werden, daß Halxm Paä a vielleicht ein berufsständisches Parlament (Korporativismus) im Auge hatte. Aber unzweifelhaft handelt es sich um eine politische Herrschaft, in der letztendlich die Ulema “im Namen Allahs“ den nationalen Willen ausinterpretiert. 9. Zur Tecdit- und Idschtihad-Frage Die einhellige Meinung der Islamisten ist, daß für den Niedergang der islamischen Gesellschaft/Welt die Schließung des “Tores der Idschtihad“ (neue Rechtsfindung) im 12 Jh. verantwortlich ist, wonach auf neue Fragen und Ent-wicklungen nicht mit zeitgemäßen Antworten und gesellschaftlichen Reformen (islah) reagiert werden konnte. Die Forderung nach Öffnung des Idschtihad-Tores wird z.B. vom Religionsphilosophen Fxlxbelx Ahmed Hxlmx (1865-1914) befürwortet. Er glaubt, daß die überkommenen Rechtsbestimmungen dem damaligen gesellschaftlichen Tempo eines “Ochsenwagens“ entspra-chen. Doch jetzt sei ein neues Denken gefragt, um mit dem gesellschaftlichen Tempo einer “Eisenbahn“ Schritt halten zu können.1 Ein “Hoher Idschtihad-Rat“ aus 40-50 Gelehrten soll Lösungen für neue Probleme ausarbeiten.2 Die Mitgliederzahl eines solchen Gremiums weist darauf hin, daß einzelne Rechtsgelehrten wohl nicht mehr alleine imstande sind, die “modernen“ Problemlagen zu bewältigen. Die Forderung nach neuen Rechtsentscheidungen wird aber unter den Islamisten leiser, als sich die politischen Kräfteverhältnisse zugunsten der Nationalisten und der Westler verschieben. Denn diese Denkrichtungen möchten islamisches Recht durch säkulares Recht ersetzen. 10. Die Islamisten über die Fortschritts-, Zivilisations- und Verwestlichungsfrage 10.1. Der Fortschrittsoptimismus der Islamisten Für die Islamisten bleibt die Überlegenheit des Abendlands auf technisch-wissenschaftlichem Gebiet unbestritten. Ihre Vorstellung von “Fortschritt“ und “Zukunft“ orientiert sich an den Errungenschaften des Westens . Der islamistische Intellektuelle und Texter der türkisch-republikanischen Nationalhymne Mehmed Akxf Ersoy (1873-1936) drückt seinen Glauben an eine bessere osmanische Zukunft mit folgenden Worten aus: “Man sollte wissen, daß es im Leben der Nationen kein Stehenbleiben gibt. Eine Nation sollte möglichst vorwärts kommem, möglichst den höchsten Punkt erreichen. Wenn sie aber aber an ihrem Platz stehenbleibt, geht sie zugrunde. ... Die Menschheit fließt möglichst wie ein Wildstrom zum Meer des Fortschritts (türk. umman-i terakkx), um sich darin zu ergießen. Dieser Flut kann man sich nicht entgegenstellen. Entweder werden wir in dieser Flut ertrinken oder von ihr mitgenommen.“ 3 Andererseits rechtfertigt Ahmed Hxlmx im evolutionistischen Zeitgeist die Anpassung an den “Fortschritt“ so : “Das Gesetz der Evolution, der Wandel der Zeit und der Umwelt zwingen sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft zur Auslese. Vor diesem Zwang zu flüchten, führt zur ideellen Stagnation, die zunächst eine Krankheit und später den Tod zur Folge hat.“ 4

1 F.Ahmed Hilmi: Islam Tarihi. .S.513 2Ders. : a.a.O.S.518 3In dem Sebxlürreäad-Artxkel Hutbe ve mevaxz“, Bd.IX., Nr.230/1915 . Zit. bei X.Kara: Türkxye’de Xslamcilik..S.XVIII 4A.Hxlmx:Islam Tarxhx. S.506 .

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10.2. Das zivilisationsgeschichtliche Argument für die materielle Verwestlichung Die Legitimierung für die Übernahme der materiellen Zivilisation Europas erfolgt wieder zivilisationsgeschichtlich. Nach der Auffassung des Ulema-Islamisten Mehmet Atif haben die westlichen Kreuzzügler von den Muslimen die “schönen Künste“ übernommen und diese zum industriellen Fortschritt Europas weiterentwickelt. Zuvor hätten aber die Muslime diese Wissenschaften und Künste von den Ägyptern und Griechen geerbt, um sie zu einem zivilisatorischen Höchstpunkt fortzuentwickeln. So gesehen, sei eigentlich die westliche Zivilisation “im Osten geboren“ .1 Daher erlaube der Islam auch aus den “materiellen Elementen der Zivilisation“ die “nützlichen und schönen Sachen “ auszusondern und hierin “die Völker dieser Erfindungen nachzuahmen“ . 10.3. Das religiöse Argument für die Verwestlichung Wie die meisten Islamisten beruft sich Babanzade Ahmed Naxm auf die Koran-sure 8/62 ( “Und rüstet wider sie, was ihr vermögt an Kräften....“ ), um die Übernahme von materiellen Gütern des Westens auch religiös abzusichern. Naxm möchte aber den “Kräfte“-Begriff in diesem Vers nicht auf das militärische Feld beschränkt wissen. Deshalb insistiert er auf eine umfassendere und die “Kräfte der Zeit“ berücksichtigende Auslegung. Diese seien z.B. die Landwirtschaft und der Handel.2 Der Ulema-Islamist Mehmet Atif erweitert den “Kräfte“-Katalog um die Ausbeutung von Bodenschätzen und den Einsatz moderner Kommunikationsmittel wie z.B. die Eisenbahn, Transportdampfer, Telefon und Telegraph, aber vornehmlich für militärpolitische Ziele.3 10.4. Die Ablehnung einer geistig-moralischen Verwestlichung Doch anders verhält es sich bei ethischen Fragen. Ahmed Naxm hält es für eine “sinnlose Imitation“ , die Ethik der Nicht-Muslime anzueignen, um dadurch vor den überlegenen Völkern Respekt zu erlangen. Die Muslime sollten stattdessen dem ethischen Vorbild Muhammeds folgen, der nach dem Koran für die Menschen das schönste Beispiel sei.4 Ahmed Hxlmx kritisiert den seiner Meinung nach in der politischen und gesell-schaftlichen Ethik des Westens herrschenden “Darwinismus“, wonach dem Schwachen die frühere Tugend des Mitleids verwehrt bleibt.5 Der Sozial-darwinismus habe den Sozialismus erzeugt, der aber kein Ziel kenne und zur Anarchie führen werde. Ahmed Hxlmx bekräftigt, daß die Muslime die “materielle Zivilisation“ Europas zwar bewundern, aber andererseits seine mathematisch berechnete und historisch beispielose “zivile Barbarei“ verurteilen.

1Xskxlxplx Mehmet Atif : Frenk mukallxtlxwx ve Xslam. S. 6/7 f. 2In seinem Artikel “Xslamxyetxn esaslari, mazxsx ve halx“ xn der Sebxlürreäad,Bd.XII, Nr.284 ,1917 Zit. bei X.Kara: Türkxye’de Xslamcilik..Bd. 1.S.301 ff. 3 Xskxlxplx Mehmet Atif : a.a.O.S.55/56 4Im denselben Artikel, Zit. bei I.Kara: a.a.O.S.303 5Äeyh Mxhrxdxn Arusx (A.Hxlmx): Yxrmxncx asirda alem-x Xslam.. o.O.1911 S.2-11 .Zxt. bex X.Kara: Türkxye’de Xslamcilik..Bd. 1 . S.19 f.

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Der “sicherste Weg“ von der europäischen Zivilisation zu profitieren, ist für Hxlmx die “eklektizistische Methode“1 . Mit ihr sollen von der “Ausstellung der Zivilisation“ die “nützlichen Materialien“ von den “gläzenden Giften“ getrennt werden. Mehmet Atif assoziiert unter den moralischen Verwerflichkeiten der westli-chen Zivilisation Dinge wie “Gastwirtschaft, Bordel, Tanz, Bar, Theater und andere schmutzige Einrichtungen“, die die islamischen Tugenden und moralischen Werte zerstörten und daher nicht nachgeahmt werden dürften.2 Für die Islamisten scheint es möglich, die westliche Zivilisation in seinen positiv-materiellen Aspekt und in seinen negativ-moralischen Aspekt zu zergliedern. Daß die “moralischen Fragwürdigkeiten“ des Westens auch zum Bild eines selbstverantwortlichen Individuums in einer pluralen Gesellschaft gehören, wollen die Islamisten nicht akzeptieren, da sie von einem absoluten und alle verpflichtenden ethischen Imperativ ausgehen. 10.5. Die Verwestlichungskritik bei Saxd Halxm Paä a Saxd Halxm Paä a konstatiert in der osmanischen Verwestlichungpolitik des letzten halben Jahrhunderts einen “methodischen Fehler“ : und zwar den Glauben, daß man durch “Import von fremden Gesetzen und Institutionen“ zum Fortschritt gelangen könne. Dabei habe man „den Westen imitiert (türk. taklid) , ohne ihn verstanden zu haben.3 Auf dem Gebiet der Rechtsreform habe man sich am Justizsystem Frankreichs ausgerichtet, obwohl die französische Gesellschaft “in ihren Grundlagen, in ihrem Geist, in ihren Bräuchen und Traditionen, in ihrer Bildung und ihrem Zivilisationsstand“ sich sehr von der osmanischen Gesellschaft unterscheide. Um diese verfehlte Politik auch objektiv-rational für falsch zu erklären, bedient sich Halxm Paä a folgender Analogie: Angenommen französische Staatsmänner würden die Gesetze Englands anwenden, was geschehe dann mit Frankreich, fragt er ? Und fiktiv läßt er einen Franzosen antworten: „Dies wäre verhängnisvoll für Frankreich !“ Denn dadurch würde der gesellschaftliche Entwicklungsfluß Frankreichs ge-stört werden und über sie das Todesurteil gesprochen. So ähnlich verhält es sich nach Halxm Paä a mit der osmanischen Staatsverfassung: sie vertrage sich nicht mit der “soziologischen Struktur, mit der geistigen Situation sowie mit den religiösen Überzeugungen und Traditionen des Landes“4. Was die osmanische Verfassung anbetrifft, gewähre sie angeblich aus “großer Freiheitsliebe“ bis in die “Wüsten Arabiens“ hinein allen Völkern in den osmanischen Ländern politische Rechte und Freiheiten, die selbst die fortgeschrittensten Nationen nicht hätten.5 Die Mehrheit der “osmanischen Nation“ stecke in einem “primitiven Gesellschaftsleben“; das Volk stehe immer noch blindlings unter dem Einfluß tatsächlicher oder geistiger Führer, die die Ignoranz des Volkes für ihren eigenen Vorteil ausnutzten. Wenn man Wahlen unter diesen Bedingungen abhielte, so setzte sich das osmanische Parlament aus “Großgrundbesitzern, Aristokraten, Shaikhs, Priestern oder deren Vertretern“

1A.Hxlmx: Hangx meslek-x felsefeyx kabul etmelxyxz ? o.O. 1913 . Zxt. bex X.Kara: a.a.O.S.36 2Xskxlxplx Mehmet Atif.: a.a.O.S.12 3S.H.Paäa: Buhranlarimiz. (Hg. E.Düzdaw) .S.52-67 . 4S.H.Pasa:a.a.O.S.56 5Ders.: a.a.O.S.57 f.

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zusammen. “Im Namen der nationalen Souveränität“ käme auf diesem Wege eine “feudale Herrschaft“ zustande. Die osmanische Verfassung harmoniert nach Auffasung von Halxm Paä a auch nicht mit der osmanischen Sozialstruktur, weil die “Bourgeoisie“ in der osma-nischen Gesellschaft völlig unbedeutend sei, die aber wiederum in der westlichen Welt das Schicksal der Nation bestimme. Die Bürokraten seien zwar in der osmanischen Gesellschaft das “aktivste und intellektuellste Element“, doch fehle es ihnen im Vergleich zur adligen und bür-gerlichen Klasse in Europa an “Handlungsautonomie“ und “Unternehmungs-geist“.1 Aus diesem Grund kann nach der Überzeugung Halxm Paä as die os-manische Bürokratie nicht die ökonomische Funktion der westlichen bürgerlichen Klasse übernehmen. Historisch deckt sich Halxm Paä as Analyse mit der Wirklichkeit: die osmanischen Muslime wählten in erster Linie den Staatsdienst; die osmanischen christlichen und jüdischen Bürger dominierten als Unternehmer in der Wirschaft. 11. Über die Ursachen des gesellschaftlichen Niedergangs Der Behauptung orientalistischer Kreise, der Islam sei die Ursache für die Rückständigkeit der muslimischen Welt, entgegnet der Ulema-Islamist Ham-dx Yazir (1878-1942) damit, daß hierfür der “Stolz auf den Glauben (gurur fx’d-dxn)“ schuld sei. Es sei die “Ansicht, mit dem Muslim-Sein erledige sich alles schon von selbst“.2 Diese selbstkritische Position wird von vielen Islamisten geteilt. S.Halxm Paä a gibt als besonderen Grund für den Niedergang an, daß sich die muslimischen Völker ihrer “islamischen Aufgaben“ nicht mehr bewußt sind und somit diese nicht erledigen können.3 Zu den “besonderen Aufgaben“ gehört nach S. Halxm Paä a, daß das ethische und geistige Niveau des Individuums erhöht werden sollte, um den Islam noch perfekter umzusetzen.4 Damit gibt er eine Definition des Islamismus, die auch heute noch gültig ist. 12. Definition des Islamismus Diese “perfekte Umsetzung“ nennt S. Halxm Paä a “Islamisierung“ (“Xslamlaä ma“) . 5 Sie besteht darin, daß “die Grundsätze des Glaubens, der Ethik, der Lebensweise und der Politik im Islam vollständig praktiziert werden.“ Dies soll aber erst nach der Interpretation dieser Aspekte gemäß den “Bedürfnissen der Zeit und der Umwelt immer angemessenen Weise“ erfolgen. Jemand, der sich als Muslim bezeichne, habe nach diesen Grundsätzen zu fühlen, zu denken und zu handeln, sonst bereite ihm das Muslimsein kein Glück. Abschließend soll hier eine längere Definition des Islamismus von Xsmaxl Kara gegeben werden, die die Charakteristiken des islamistischen Denkens zusammenfaßt : “Der Islamismus ist eine im Übergang vom 19. zum 20.Jh. entstandene Bewegung, die das Ziel hat, den Islam als eine Einheit aus Glauben, gottesdienstlichen Handlungen, Ethik, Philosophie, Erziehung und Politik zu verstehen. Diesem Islam soll wieder im Leben Geltung verschafft werden. Mit

1S.H.Pasa: a.a.O.S.60-61 2in seinem Artikel “Alem-x Xslamin esbab-i xnkirazi...“, Sebxlüreäad,Bd. XI,S.321-323, 1919. Zit. bei E.Debus: a.a.O.S.259 3S.Halxm Paäa: Buhranlarimiz ve son eserlerx.S.245 4Ders.: a.a.O.S.179 5Ders.: a.a.O.S.184 /185

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der rationaler Methode soll die islamische Welt vor westlicher Ausbeutung, tyrannischen Herrschern, Unfreiheit, Imitation und Aberglauben errettet werden. Der Islamismus ist die Gesamtheit aller politischen, geistigen und wissenschaftlichen Aktivitäten, um die islamische Welt zu zivilisieren, zu einen und zu entwickeln. Diese Tätigkeiten sind als aktivistisch, modernistisch und eklektizistisch zu charakterisieren.“1 V. Islamistisches Denken in der republikanischen Türkei (1923-1996) 1. Die politischen Rahmenbedingungen Nach der Gründung der Republik im Jahre 1923 entwickelt sich das islamistische Denken in der Türkei unter völlig veränderten politischen Bedin-gungen. Es hat sich nicht nur die Abschaffung des osmanischen Sultanats (1922) bzw. des Khalifats (1924) und seine Ersetzung durch eine neue Staatsform ereignet, sondern der Koexistenz zwischen westlich-modernen und traditionell-islamischen Institutionen wird ein Ende bereitet: 1924 werden die islamischen Gerichte abgeschafft . 1925 wird das italienische Strafrecht und 1926 das schweizerische Zivilrecht eingeführt.2 Alle islamischen Hochschulen werden 1924 als “dunkle Brutstätten“ ge-schlossen und erst 1949 wird die erste theologische Fakultät an der Universität Ankara eröffnet.3 Ab 1927 wird der wöchentliche 1-2 stündliche Religionsunterricht vom Wunsch der Eltern abhängig gemacht, um ihn dann von 1935-1948 aus den staatlichen Schulen zu verbannen.4 Mit dem 1924 verabschiedeten Gesetz über die “Vereinheitlichung der Schulbildung“ bedeutet dies, daß während dieser Zeit die religiöse Unterweisung außerhalb des Elternhauses als “illegal“ verfolgt werden wird. Ab 1928 ist der Islam in der Türkischen Republik zwar nicht mehr offiziell “Staatsreligion“, doch mit dem 1924 eingerichteten “Präsidium für geistliche Angelegenheiten“ (Dxyanet) und seinen beamteten Religionsdienern kontrolliert der angeblich “säkulare“ Staat die Religion bis heute. Was die türkischen Eigenheiten der Trennung von Staat und Religion, sprich Laizismus, bedeuten und worin sie sich rechtfertigt, geht aus einem Urteil des türkischen Verfassungsgerichts von 19715 hervor, dessen Inhalt und Geist aber bis heute gültig ist. Er drückt die Sicht des bevormundenden Staates gegenüber dem Islam und sein Mißtrauen gegenüber der mehrheitlich religiös-konservativen Bevölkerung aus. Weiter ist diesem Urteil zu entnehmen, wie doch eingestandenermaßen der Laizismus-Grundsatz künstlich-akkulturativer Herkunft ist und für die türkischen Verhältnisse erst uminterpretiert werden muß. Zunächst wird im Urteilstext der “Laizismus“ formal definiert als die “Trennung der Angelegenheiten der Religion und des Staates.“ 6 Dies bedeute, daß sich “die

1X.Kara: Türkxye’de Xslamcilik düäüncesx.Bd. 1.S.XV . 2G.Jäschke: Der Islam in der neuen Türkei. S.34-38 3Ders. a.a.O.S.121 u. S. 127 4Ders. a.a.O.S.27/28 5Das Urteil findet sich in : “Verfassungsgericht der Türkei: Was ist Laizismus ?“ Übersetzt von O.Oehring.CIBEBO-Dokumentation Nr.28/August 1986 (Frankfurt/M.) Dieses Urteil ist im Kontext einer Verfassungsklage der links-alewitischen “Einheitspartei“ (Birlik Partisi“) ergangen. Der Inhalt der Klage: “die Religionsdienste des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten sind laizismuswidrig“. Im Grunde wollte die Einheitspartei, das sunnitisch dominierte Religionspräsidium aus der Verfassung gestrichen haben, doch die Klage wurde abgelehnt. 6 Cibebo-Dokumentation: S.9/10

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Religion nicht in die Angelegenheiten des Staates und der Staat sich nicht in die Angelegenheiten der Religion einmischt.“ Dann wird auf den besonderen Umstand im Westen hingewiesen, daß dort “die Kirche eine religiöse Institution“ ist und es “im Christentum eine klerikale Klasse“ gibt. Weil es im Islam nichts Vergleichbares gebe und “die Regeln“ der beiden Religionen unterschiedlich seien, könne das Prinzip des Laizismus “nicht in gleichem Sinne und in der gleichen Form“ übernommen werden. Hiernach ist zu lesen: “Wie bereits zuvor ausgeführt wurde, stellt es unter Berücksichtigung der Besonderheiten der christlichen Religion keinen Nachteil dar, den Grundsatz der Trennung der Angelegenheiten des Staates und der Religion dahingehend zu interpretieren, daß die Kirche autonom ist. Weil in den westlichen Ländern die Ausbeutung und der Mißbrauch der Religion nicht die selben Folgen haben wie bei uns, stellt die Autonomie der Kirche vom Standpunkt der Trennung der Religion und des Staates keine Gefahr für den Staat dar. Aber der Islam begnügt sich nicht damit, lediglich denjenigen Bereich des Glaubens zu regeln, der die persönliche Überzeugung betrifft, sondern hat auch die gesellschaftlichen Beziehungen, die Angelegenheiten des Staates und das Recht geregelt. In einem solchen Falle bedeutet uneingeschränkte Religionsfreiheit in unserem Lande, daß die von der Verfassung vorgegebenen Grenzen überschritten werden, daß die Religion ausgebeutet und mißbraucht wird, daß man sich gegen die Staatsordnung, die auf dem Laizismus basiert, wendet. .. Aus diesen Gründen hat der Gesetzgeber hinsichtlich der in der Verfassung auf-genommenen laizistischen Ordnung und Prinzipien ein Konzept religiöser Freiheit, die den Personen, die die Gotteshäuser betreuen und die religiösen Angelegenheiten erledigen, Autonomie oder Unabhängigkeit, frei von jeder staatlichen Kontrolle, zugebilligt, nicht für angebracht erachtet.“1 Die Überwachung der Religionsfreiheit diene letztendlich dem Staatsziel, “...die Türkische Nation auf die Höhe der zeitgenössischen Zivilisation (zu) heben’ ..“2 Es findet also ein widersprüchlicher Prozeß statt: einerseits eine radikale Säkularisierung und andererseits eine neue Anbindung des Islam an den Staat. Die politischen Reformen, die das Ausmaß einer “Kulturrevolution“ haben, werden bis zum Übergang zur Demokratie im Jahre 1946 durch die Staatspartei CHP mit ihrer kemalistischen Ideologie3 durchgesetzt. Die rigide Religionspolitik der CHP führt 1950 zum Machtwechsel durch die Demo-kratische Partei, die die Religionspolitik revidiert und mit der forcierten Er-richtung von islamischen Imam-Prediger-Schulen den Boden für einen neuen Dualismus im Bildungssektor bereitet. Diese neue Entwicklung sollte zur “Re-Islamisierung“ der Gesellschaft entscheidend beitragen. Nach dem Machtverlust der CHP greift das türkische Militär dreimal in die Politik ein, um einer Aufweichung der kemalistischen Ideologie und ihres laizistischen Prinzips durch eine neue Verfassung entgegenzuwirken. 2. Das geistig-politische Klima Der hinter der türkischen Kulturrevolution stehende Geist ist der Positivismus mit seiner extremen Wissenschaftsgläubigkeit. Der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) führt im Grunde die Ideen des ideologischen Kopfes der Jungtürken, M. Zxya Gö kalp (1876-1924), aus. Gö kalp hat in seinem Reformprogramm mit dem

1 Dieselbe Quelle: S.14-15 2Dieselbe Quelle: S.16 3Die noch heute gültige Staats- und Verfassungsdoktrin umfaßt die folgenden sechs Grundsätze: Republikanismus, Nationalismus, Populismus, Reformismus, Laizismus, und Etatismus.

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Namen “Türkisierung-Islamisierung-Modernisierung“1 versucht, die ideologischen Strömungen seiner Zeit in ein neues staats- und gesellschaftstragendes Konzept zu verarbeiten. Die islamische Grundorientierung im Staat, in der Gesellschaft und in der Kultur wird also durch die “moderne Wissenschaft“ ersetzt und gegen den Willen breiter Bevölkerungsschichten durchgesetzt. Die kemalistische Kulturrevolution macht Schluß mit den Kompromissen an den Islam und befürwortet einen strikten westlich-zivilisatorischen Kurs. Für diese kompromißlose Geisteshaltung lassen sich folgende aussagekräftige Zitate aus den Reden Atatürks und den seines Nachfolgers Xsmet Xnö nü (1884-1973) anfüh-ren, die heute noch wirksam sind. 1924 verkündet Mustafa Kemal vor republikanischen Lehrern, daß nunmehr nicht der Islam, sondern die “Wissenschaft“ zum Leitfaden der Gesellschaft wird : “Für alles auf der Welt, ob für materielle Dinge, ob für geistige Dinge, für das Leben oder für den Erfolg, ist die Wissenschaft, die Naturwissenschaft, der wahre Wegführer; außerhalb der Wissenschaft und der Naturwissenschaft nach einem Wegführer zu suchen, ist Gedankenlosigkeit, Ignoranz und ein Abweg. “2 Das Endziel der Reformen bestimmt Mustafa Kemal 1925 folgenderweise: “Das Ziel der von uns durchgeführten Reformen ist, das Volk der Türkischen Republik ganz und gar zu einer modernen und in seinem vollen Sinne und Gestalt zivilisierten Gesellschaft zu machen. Das ist das Grundprinzip unserer Reformen. Die Geister, die diese Wahrheit nicht akzeptieren wollen, müssen zerschlagen werden. .. Die Türkische Republik kann nicht ein Land von Scheichen, Derwischen, Novizen und sonstigen Ordensleuten sein. Der richtigste und wahrste Orden ist der Orden der Zivilisation. Für das Menschsein reicht es aus, die Gebote und Erfordernisse der Zivilisation auszuführen.“ 3 Die Worte Ismet Inö nüs stehen für den antidemokratischen Geist der Refor-mer, die über die Köpfe des Volkes hinweg entscheiden: “Es ist für Staatsmänner eine Aufgabe, den Erfordernissen der Wissenschaft und dem neuzeitlichen Wissen nachzukommen, auch wenn es dem Volk nicht beliebt.“4 Der türkische Staat ist so gesehen bis 1946 eine politische “Entwicklungsdiktatur“ und kulturell eine “Erziehungsdiktatur“ gewesen. Die Verfassungen von 1961 und 1980 bestätigen den irriversiblen “zivilisatorischen“ Kurs der Türkei.5

1Siehe Ziya Gökalp:The Principles of Turkism. (Hg. Robert Devereux) Leiden 1968. Weiter auf S.96 und A.Muhiddin: Die Kulturbewegung im modernen Türkentum. bes. S.47-51 Türkische Originale: Z.Gö kalp: Türkqülüwün Esaslari. Mxllx Ewxtxm Bakanliwi. (Hg. Mehmet Kaplan) Xstanbul 1990 und Z.Gö kalp: Türkleä mek, Xslamlaä mak, Muasirlaä mak. (Hg.T.Fxkret Gö ncüler) Kadro Yay. Xstanbul 1977 2Atatürk Kültür, Dil ve Tarih Yüksek Kurumu: Atatürkün kültür ve medeniyet konusundaki sözleri. S.80 Im Türkischen steht für “Wegführer“ das Wort “mürä xd“. “Mürä xd“ heißt aber ursprünglich der geistige Führer eines islamischen Ordens. Die Orden werden im übrigen von den Kemalisten ebenfalls verboten. 3Atatürk Kültür.. : a.a.o..S.93/94 4 Dieses Wort Inönüs ist zitiert im Artikel “Yolumuz aydinlandi“ des “Westlers“ Abdullah Cevdet in seiner Zeitschrift “Xqtxhad“ vom 15.6.1925 . Rezitiert bei N.Mert: Laxklxk tartiämasina kavramsal bxr bakiä.S. 106 . 5In der Verfassung von 1961 ist im Art. 153 zu lesen:“ ... auf daß die türkische Gesellschaft den zeitgenössischen Stand der Zivilisation erreicht..“ Siehe S.Kili u.a.: a.a.O.S.224 . In der Verfassung von 1982 steht sogar in Art. 174: “.., welche das Ziel haben, die türkische Gesellschaft über den modernen Zivilisationsstand hinauszuheben.. .“ Siehe dazu C.Rumpf : a.a.O.S.166

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3. Soziale Herkunft der Islamisten Die Islamisten der republikanischen Türkei, die den islamistischen Diskurs bestimmt haben und ihn noch dominieren, sind die Autoren in Band 3 der Islamisten-Anthologie Ismaxl Karas. Der Name des Führers der islamistischen Wohlfahrtspartei Necmettxn Erbakan (geb.1926) findet sich hierin nicht. Diese Lücke ersetzend, werde ich in meiner Arbeit versuchen, ein ideologisches Profil des parteigebundenen Islamismus anhand bestimmter Quellen herauszuarbeiten. Bis auf Eä ref Edxp (1882-1971), dem Verleger und Herausgeber der Sebxl-ürreä ad1, kennen die übrigen Islamisten aus Altersgründen die Zeit der osmanischen Zweiten Konstitutionellen Periode nicht aus eigener Erfahrung und Anschauung. Bei diesen Islamisten handelt es sich mit der Ausnahme von dem Theologen Hayrettxn Karaman (geb.1934), um muslimische Dichter-Intellektuelle, von denen manche erst später zum Islam finden. Hier tritt wieder die Entwicklung zum Vorschein, daß die Wortführer des Islamismus Intellektuelle sind, die säkulare Bildungsinstitutionen durchlaufen und in die klassische Rolle der Ulema schlüpfen. 4. Merkmale des islamistischen Diskurses

• Zuerst stellt sich die Frage, was aus den Islamisten der osmanischen Zweiten Verfassungsperiode geworden ist: ein Teil von ihnen wird hingerichtet wie z.B. Mehmed Atif ; ein Teil wählt freiwillig das (ägyptische) Exil, wie z.B. Mehmed Akxf Ersoy2 (1873-1936) und der einstige Shaikhulislam Mustafa Sabrx (1869-1954); ein Teil verstirbt in den vierziger Jahren; arrangiert sich mit dem kemalistischen Regime oder zieht sich aus der aktiven Politik zurück. Dies hat eine Schwächung des islamistischen Denkens zur Folge.

• In den Jahren der politischen und religiösen Unterdrückung bis 1946 sind es

Geistliche wie z.B. Süleyman Hxlmx Tunahan3 (1888-1959) und Saxd Nursx4 (1876-1960) und die verbotenen islamischen Orden, die in der Illegalität länd-ich-konservativen Bevölkerungsschichten den Islam vermitteln und gegen die positivistische Kulturpolitik ankämpfen.

• Kara stellt die Frage, ob man überhaupt von einem Islamismus nach 1924 sprechen

kann, wenn man die ungünstigen politischen und kulturellen Rah-menbedingungen zumindest bis 1946 bedenkt.5 Aufgrund des türkischen Strafgesetzbuch-Artikels 163 ist die uneinge-schränkte und damit eindeutige religiös-politische Propaganda unmöglich gewesen. Denn dieser Gesinnungsstrafartikel lautete: “Wer dem Laizismus zuwider in der Absicht, die soziale, wirtschaftliche, politische oder rechtliche Grund-ordnung des Staates,

1Die Sebxlürreä ad wird 1925 verboten. Sie erscheint wieder von 1948-1965 . Siehe E.Debus: a.a.O.S.27 ff. 2Mehmet Akxf schreibt für die türkische Republik die Nationalhymne. Doch wegen der streng laizistischen Ausrichtung des neuen Staates verläßt er enttäuscht das Land. 3 Er hat nichts schriftlich verfaßt außer einer Koranlesefibel. Über seine sogenannte Süleymancilik-Bewegung siehe C.Rumpf: Laizismus und Religionsfreiheit in der Türkei. .S.86-88 bzw. Türkxye’de Xslamin yenxden xnkxäafi 1950-1960 (Die neuere Entwicklung des Islam in der Türkei).S.126-129 4 Siehe Auszüge aus seinen Schriften in I.Kara: Türkxye’de Xslamcilik.Bd.3.S.-311-399 und über die sich an ihn anlehnende und heute einflußreiche Nurculuk-Bewegung siehe C.Rumpf: a.a.O. .S.88-91 bzw. Ä.Sxtembölükbaäi: a.a.O. S.115-120 5X.Kara: Türkxye’de Xslamcilik..Bd. 3 . S.5

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sei es auch nur teilweise an religiöse Grundlagen und Glaubenssätze anzupassen, oder zu politischem Zweck oder mit dem Ziel der Sicherung oder Schaffung eines politischen Interesses unter Ausnutzung von Religion ... Propaganda macht .. .“1 Dieser Artikel ist zwar inzwischen aufgehoben, doch ein parteipolitisch or-ganisierter Islamismus ist offiziell immer noch nach dem Parteiengesetz verboten. Die gesetzlichen Einschränkungen haben daher eine ideologische Verzerrung und eine Verschiebung des Islamismus in Richtung “türkischer Nationalismus“ bewirkt. Unter diesem ideologischen Schutzdach, der auch offiziell mit dem kemalistischen Nationalismus-Grundsatz legitimiert war, und dem Begriff der “nationalen Kultur“ versuchten und versuchen die Islamisten heute noch einen politisch verstandenen Islam im politischen Diskurs wieder-zubeleben. Daher sind die Autoren, die man heute ideologisch als “islamistisch“ einordnen würde, in den 50er und 60er Jahren als “konservative Nationalisten“ oder als “nationalistisch-heiligtümlerisch“ bezeichnet worden.2 Nichts-destotrotz leben diese (Selbst)kennzeichnungen im öffentlich-politischen Diskurs der Türkei immer noch weiter. Die Nähe von Islamismus und türkischem Nationalismus ist überdies kein türkisch-republikanisches Phänomen, weil ihre Grundlagen bereits in der Zweiten Verfassungsperiode gelegt wurden und während des türkischen Unabhängigkeitskampfes (selbst von Islamisten wie Mehmet Akif ) und darüber hinaus akzentuiert worden ist.

• Die eigentliche ideologische Propaganda und politische Mobilisation des Islamismus (bei Wahlen) seit dem Beginn der sechziger Jahren erfolgt(e) aber im islamistischen Millieu nicht mittels “konservativ-nationalistischen“ Politjargons, sondern durch die Lektüre von arabischen, pakistanischen und später iranischen Autoren. Und in dieser Tatsache liegt eine widersprüchliche Eigenheit des islamistischen Diskurses in der Türkei. Hierfür gibt es die folgende Erklärung: um strafgesetzliche Verfolgung zu vermeiden, haben türkische Verlage die islamistischen Autoren anderer Länder ins Türkische übersetzt, die dann erheblich zur Ausbildung eines islamisch-ideologischen Bewußtseins beigetragen haben bzw. noch beitragen. Hier stellt sich zu-gleich die Frage, warum in der republikanischen Türkei nicht die Islamisten vor 1924 rezipiert worden sind ? Die Antwort hängt mit dem Umstand zusammen, daß mit der Schriftreform von 19283 und der Purifizierung4 der türkischen Sprache die Texte dieser Islamisten5 nicht mehr für die breiten Schichten zugänglich sind. Daher leidet der türkischer Islamismus an einem ideologischen Traditionsbruch.

1Zit. bei C.Rumpf : a.a.O.S.49/51 . Dieser Artikel ist 1926 in das türkische Strafrecht aufgenommen worden und erst 1991 aufgehoben worden. 2I.Kara: a.a.O.Bd. S.6 . Als das höchste “Heiligtum“ ist natürlich mit diesem Euphemismus der Koran und der Islam zu verstehen. (türk. Bezeichnung für “nationalistisch-heiligtümlerisch: mxllxyetqx-mukaddesatqi . Siehe dazu auch die Neuerscheinung aus islamistischer Sicht mit dem bezeichnenden Titel “Die nebligen Jahre des Islam“ (Muzaffer Taäyürek: Xslamin sxslx yillari. Xhtar Yay. Xstanbul 1995 . 3Das bis dahin gebräuchliche arabische Alphabet wurde durch die angeblich für die türkische Sprache angemessene Lateinschrift ohne eine Übergangszeit ersetzt. Doch hinter dieser Entscheidung mag eher ein kulturpolitisches Ziel gesteckt haben: nämlich die neuen Generationen vom islamischen Erbe abzuschneiden. 4Die Sprache der gebildeten osmanischen Kreise, das Osmanisch, hatte einen großen Anteil an Wörtern arabischer und persischer Herkunft, die im Zuge der Türkierung entfernt wurden. Dies hat aber nicht nur zur breiten Verständlichkeit der Sprache geführt, sondern auch zur Artikulationsarmut des heutigen Türkischs. 5Die Schriften einzelner Islamisten vor 1924 sind zwar in die neuen Buchstaben und ins Neutürkische übertragen worden, doch ihnen fehlt die aktionistische Motivationskraft im Vergleich zu den übersetzten nichttürkischen Islamisten.

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• Im islamistischen Denken und in seiner Argumentationsweise ist für die Zeit nach 1946 und bis heute eine Verflachung festzustellen. Dies kann aber nicht mit dem die politische Meinungsfreiheit einschränkenden Art. 163 allein erklärt werden. Hinter undurchsichtigen politischen Ereignissen, Entwicklungen und eigenem politischen Mißerfolg glauben die Islamisten Kommunisten und muslimische Judenkonvertiten (dö nme) (so in den 50er -70er Jahren) bzw. “Freimaurer“ und “Zionisten“ ausgemacht zu haben.1 Seriösere islamistische Denker wie Xsmet Özel (geb.1944) bedienen sich zwar keiner anonymen Kollektivfeindbilder, sprechen aber vom “System“ als der Wurzel gesellschaftlicher Mißstände. Einzigartig bleibt aber die islamistische Wohlfahrtspartei und ihr publizistisches Organ, die Mxllx Gazete2, mit ihrer Bezichtigung von politischen Gegnern als vermeintliche Freimauerer und Zionisten.3 5. Das Islamverständnis der Islamisten Die Unschärfe des Islamverständnisses bzw. -bekenntnisses der republikanischen Islamisten rührt nicht alleine vom Druck des Art. 163 her, sondern auch von ihrer individuellen Akzentuierung bestimmmter Dimensionen des Islam, aber ohne dabei ein ganzheitliches Islambild aufgeben zu wollen. Für die hier behandelten Autoren gilt sodann nach intensiver Lektüre und Identifizierung bestimmter Schlüsselbegriffe, daß sie eine gesellschaftliche Ordnung anstreben, die sich letztendlich auf allen Gebieten “göttlich“ legitimiert. Eine Ausnahme macht hierbei Eä ref Edxp (1882-1971). Nach seiner Überzeugung begleitet die Religion das Leben in all seinen Phasen: “Beim Sitzen, ..,Friedenschließen; in ethischer, sozialer, ökonomischer, religiöser, politischer, vaterländischer Hinsicht... .4 So wie der Fingernagel vom Fleisch untrennbar sei, könne auch die Religion von den weltlichen Angelegenheiten getrennt werden. Nurettxn Topqus5 (1909-1975) Islamanschauung ist aufgrund seiner islamisch-mystischen Anbindung an den Nakschibandi-Ordens Scheich Abdulazxz Bek-kxne (1895-1952) auf die islamische Ethik fixiert. Denn im mystischen Islam steht das Individuum und dessen ethische Vervollkommnung im Zentrum statt die gesellschaftliche und die politische Reform. Topqu geht daher davon aus, daß die Ethik “das wahre Wesen des Islam“ ist.6 Im Koran nehme die islamische Ethik im Vergleich zu den gesetzlichen Bestimmungen einen größeren Platz ein. Die

1Siehe dazu E.Debus: a.a.O. Kapitel “Feinde des Islam“.S.232-248 . 2Halb-offizielles Tagesblatt der Partei mit dem koranischen (Sure 17/83) Untertitel: “Gekommen ist die Wahrheit und vergangen das Nichtige. ..“ Die Zeitung wird ins Deutsche mit “Nationalzeitung“ übersetzt, wobei die Herausgeber jedoch das Wort “milli“ im ursprünglichen Sinne, nämlich “islamisch“ verstehen . Es ist ein Beispiel dafür, wie Islamisten gezwungenermaßen doppelsinnige sprachliche Nischen suchen, um ihr politisches Bekenntnis kund zu tun. 3 In islamistischen Kreisen kursieren Übersetzungen z.B.von den “Protokollen der Weisen von Zion“ von Felix Langer. München Wien 1923. Doch jüngere Autoren der Milli Gazete nehmen so langsam Abschied von dieser reduktionistischen, bequemen und die internationalen Beziehungen gefährdenden Denkhaltung. 4In seiner Zeitschrift, Bd.IV.Nr.84, 1950. Für den Artikel siehe: I.Kara: Türkye’de.. Bd. 3. S.79 5Er gehört zu jenen, die “später“ ihren Weg zum Islam gefunden haben. Er hat in Frankreich Philosophie studiert und promoviert Topqu ist in seinen Ideen von rechts-katholizistischen Maurice Blondel und vom französischen Philosophen Henri Bergson beeinflußt, dem er auch eine Monographie gewidmet hat. Außerdem ist Topqu xn den sechziger Jahren in seiner Zeitschrift “Hareket“ (Die Aktion/Bewegung) Verfechter eines “islamischen Sozialismus“ . 6In seinem Artikel “Xslam ahlakinin esaslari“ in Hareket, III/36 1968. Zit. bei I.Kara: Türkiye’de.. Bd. 3. S.170 ff.

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islamische Ethik gebiete Respekt1; allzuerst vor dem Koran (Gott), vor dem Menschen als dem “schönsten Geschöpf“ und vor dem Leben. Barmherzigkeit und Dienst am Menschen sind nach ihm die übrigen Grundsätze der Ethik im Islam. Topqus Credo ist: “Dem Volk dienen ist, Gott zu dienen“. Sein Credo ist heute in islamistischen Kreisen weit verbreitet und zeigt klar die religiöse Motivation der Islamisten für ihr politisches Handeln. Topqu gehört auch zu jenen Islamisten, die für den Islam als “wesentlicher Bestandteil der nationalen Kultur“ mehr gesellschaftspolitische Beachtung fordern.2 Die italienische Nation könne man ebensowenig vom Katholikentum trennen wie die Türken vom Islam. Was den originellsten islamistischen Denker der Türkei, Xsmet Özel, anbetrifft, so legt dieser nur ein allgemeines Bekenntnis zum “Koran und zur Sunna“ ab, betont aber im Kontext seiner Zivilisationskritik, daß der Islam eine “ganzheitliche Ordnung“ sei und lediglich mit der “islamischen Ethik“ den negativen Folgen der westlichen Zivilisation zu begegnen sei. 3 6. Die politischen Ansichten der Islamisten

6.1. Das “Bekenntnis“ zur Republik und zur Demokratie Anfänglich wird die “Republik“ wie früher die “konstitutionelle Monarchie“ von den

Islamisten der Sebxlürreä ad in voreiliger und unkritischer Weise mit den folgenden Worten begrüßt, aber auch zugleich ihre Anbindung an die traditionellen Werte, sprich Islam, gefordert: “Da unsere Nation eine fromme islamische Masse und unser Staat eine islamische Republik ist, müssen die gesellschaftlichen und gesetzlichen Prinzipien, .., notwendigerweise mit unseren Traditionen übereinstimmen.“4 Der frühere Islamist Ahmed Hamdx Aksekx5 (1887-1951) befürwortet den Übergang zur Demokratie nach 1946 damit, daß schon Prophet Muhammed angeblich “die Grundlagen einer demokratischen Regierung gelegt hat.“6 Doch diese Aussage sollte eher in dem Sinne verstanden werden, daß unter den neuen demokratisch-freiheitlichen Bedingungen der Islam wieder aufblühen werde. Diese Feststellung dürfte im Grundsätzlichen die Sicht der späteren und heutigen Islamisten wiedergeben. Für die türkischen Islamisten scheint die republikanische Staatsform an sich nicht hinterfragbar, wie das Beispiel auch im Iran zeigt. 6.2. Die Demokratiekritik Topqus Topqu kritisiert, daß die Demokratie wie alle anderen westlichen Ideen unkritisch dem Volke wie ein “Glaubensbekenntnis“ eingeprägt wird.7 Der wesentIiche Nachteil am demokratischen Regime sei es, daß es die “Wissenden mit den Unwissenden gleichstellt“, womit er sich auf einen Koranvers stützt. Je-der Staatsbürger habe

1Hierbei zitiert er den Phil. Immanuell Kant, der für Topqu den Respekt am Besten analysiert hat. 2In seinem Buch “Kültür ve medeniyet“ Istanbul 1970 . Zit. bei I.Kara: a.a.O.S.126 3X.Özel: Üq Mesele.S.102 und S.163 . 4So der Islamist Hasan Hikmet in seinem Artikel: „Halkin hxssxyatini taälamak da asrxlxk mx olur ?“ xn der Sebxlürreäad, Bd.XXIV.Nr. 104. 1924 Zit. bei E.Debus: a.a.O.S.72 5Akseki gehört zu jenen Islamisten, die sich mit dem kemalistischen Regime arrangieren und ein höheres religiöses Amt bekleiden, um “noch Schlimmeres zu vermeiden“ . Akseki wird 1939 stellvertretender Vorsitzender der Diyanet und sitzt der staatlichen Religionsbehörde später von 1947-1951 vor . Seine Berufung darf auch als Anbiederung der CHP an die religiös-konservativen Wähler verstanden werden. 6 In seinem Artikel “Islamiyet ve terakki“ in der Zeitschrift Selamet, Nr.38/1948 . Zit. bei I.Kara: Türkiye’de..Bd. 2 .S.259 7N.Topqu: Devlet ve demokrasx.(Staat und Demokratxe) Ist. 1969. S.7-10. Zxt. bex I.Kara: Türkxye’de..Bd. 3 .228-229

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nur eine Wahlstimme, ungeachtet des “Unterschiedes zwischen den Dummen und den Gelehrten, den Philosophen und den Arbeitern, den Übeltätern und den gottgeleiteten Personen“. Da in einer Gesellschaft stets die Zahl der “Ungebildeten und Eigennützigen“ höher sei als die der “reifen und tugendhaften Menschen“, würden immer die “Schlechten“ regieren. Topqu ist davon überzeugt, daß die Demokratie nicht das Regierungssystem eines “nationalistischen Regimes“ sein kann. Denn die politische “Verant-wortung“ soll nicht vom Volk übertragen werden, sondern an den “göttlichen Willen“ gebunden sein.1 Der Philosoph Topqu strebt wohl ein islamisches “Elitenkönigtum“ an. Und der islamistische Denker Xsmet Özel bringt ähnliche Einwände gegen die Demokratie vor.2 Im Elitedenken und Mißtrauen, ob das Volk das “Richtige“ wähle, zeigen sich interessante Parallelen zum kemalistischen Denken. 7. Die Dauerkontroverse: wie ist der Laizismus “richtig“ zu interpretieren ? Die politische Diskussion in den 50er und 60er Jahren ist durch die Kritik is-lamistisch-nationalistischer Kreise am widersprüchlichen Laizismus-Grund-satz und an seiner seiner Praktizierung bestimmt. Stellvertretend für diese Kritik steht Eä ref Edxp3 und seine wiedererscheinende Sebxlür-reä ad . Edxp kritisiert z.B, daß in der Vergangenheit “im Namen des Laizismus“ religiöse Schu-len verboten worden sind, daß der Religionsunterricht aufgehoben worden ist und daß der Diyanet-Vorsitzende vom Ministerpräsidenten ernannt wird.4 Diese Akte haben nach seiner Meinung gegen den Laizismus verstoßen. Doch für die Sebxlürreä ad und die heutigen Islamisten ist die Abschaffung des Laizismus kein Thema.5 Trotzdem wird ihre Kritik an dem zu abstrakt definierten Laizismus und seiner z.T. willkürlichen Praxis von den politischen Gegnern der Islamisten bzw. vom Staatsanwalt als eine heimliche Forderung nach Aufhebung der Trennung von Religion und Staat verstanden, an dessen Ende die Einführung des islamischen Rechts stehe. Aus diesem Grunde werden die türkischen Islamisten in der polemischen Auseinandersetzung auch als Schariah-Anhänger (ä erxatqilar) bezeichnet .6 Symbolisch für die Kritik vieler Islamisten stehen dagegen die Aussagen Erbakans, daß unter dem verfassungsmäßigen Laizismus “Religionsfeindlichkeit“ betrieben werde und dieser Grundsatz als ein “Recht zur Unterdückung der Muslime“ mißbraucht werde.7 8. Von der “Nationalen Anschauung“ zur “Gerechten Ordnung“ der Wohlfahrtspartei 8.1. Die Nationale Anschauung Für die islamistische Wohlfahrtspartei und ihren Populismus ist es bezeich-nend, daß sie bis 1991 kein geschlossenes Gesellschaftsmodell vorweisen konnte. Bis zu

1Ders.a.a.O.S.16-27 . Zit. bei dems. a.a.O.S.132 . 2X.Özel: Cuma Mektuplari (Frextagsbrxefe) Ist. 1992 . S.158-175 . Zxt. bex I.Kara:a.a.O.685 3Die Kritik am Laizismus bringt ihn öfters in Konflikt mit dem Art. 163. Siehe E.Debus: a.a.O.S.38 4In einem Artikel in seiner Zeitschrift, Bd.IV.Nr.84, 1950. Für den Artikel siehe: I.Kara: Türkiye’de.. Bd. 3. S.77 f. 5Dieselbe: a.a.O.S.224 6Diese Bezeichnung ist ungenau und irreführend, da schon die islamischen Grundpflichten wie z.B. das rituelle Gebet zum islamischen Recht , sprich Scharia, gehören . Was die Gegner jedoch meinen sind z.B. das islamische Strafrecht oder das Erbrecht, die nicht “modern“ sind . 7N.Erbakan: Islam ve Ilim.S.78

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diesem Jahr blieb das 1975 erschienene Buch von Erbakan, “Die Nationale Anschauung“ (Mxllx Gö rüä )1 , die einzige und verbindliche Ideologie-Quelle. Erbakan unterscheidet hierin drei politische Weltanschauun-gen: die Mxllx Gö rüä , die liberale Anschauung und die linke Anschauung, wobei die letzten beiden sich auf “fremde Quellen“ stützten.2 Die Mxllx Gö rüä sei jener “Geist und Ausdruck“ der Nation, der Istanbul erobert, Wien belagert und den türkischen Unabhängigkeitskampf zum Sieg geführt habe. Damit ist natürlich der Islam gemeint. Und das türkische Attribut “mxllx“ bedeutet hier nicht in seiner neu-türkischen Bedeutung “national“, sondern ist bezogen auf das Wort Mxllet, womit im Osmanischen Reich die religiös verfaßte mus-limische Gemeinschaft gemeint war. Es ist also der Islam, mit der die türkische Nation “seine geistige und materielle Entwicklung“ vollbringen soll. Erbakan interpretiert die ethischen Werte in der türkischen Verfassung als islamische Werte und bleibt so im Rahmen verfas-sungsrechtlicher Bestimmungen. Das Ziel der Mxllx Gö rüä ist, die Nation im “Zivilisationsrennen auf ein höchst wohlhabendes und entwickeltes Niveau zu heben.“3 , Hier bleibt die Formulierung des politischen Ziels wieder den Vorgaben der Verfassung treu, wobei sogar die offizielle Maßgabe des zivilisatorischen Levels erhöht wird: denn die Verfassung spricht nur vom “Erreichen des zeitgenösischen Zivilisationsstandes“. Was die politische Ordnung der Türkei anbetrifft, möchte Erbakan die Einführung eines dem “nationalen Charakter“ entsprechenden “Präsidialsystems“ , das heute auch außerhalb der Wohlfahrtspartei auf wachsende Zustimmung trifft.4 Mit dem Präsidialsystem sollen die Zuständigkeiten des Präsidenten und des Ministerpräsidenten um der politischen Effizienz willen vereinigt und auch somit eine “Verschmelzung von Staat und Nation“ erreicht werden. Im Zentrum des ökonomischen Teils der Mxllx Gö rüä steht die unbedingte Förderung der “Schwerindustrie“ und des “Maschinenbaus“ 5 , um dadurch wirtschaftliche Stärke und Unabhängigkeit vom Westen zu erreichen.6 Zusammengefaßt heißen die polit-ökonomischen Losungen der Mxllx Gö rüä also “zuerst Moral und geistige Werte“ (“ö nce ahlak ve manevxyat “) und hiernach “Aufbau einer Schwerindustrie“, wobei diese Konstellation an den Jung-Osmanen Alx Suavx erinnert. 8.2. Die Gerechte Ordnung (GO) 8.2.1. Die Väter der “Gerechten Ordnung“ Seit den frühen 90er Jahren heißt die Ideologie und das Gesellschaftsmodell der Wohlfahrtspartei “Gerechte Ordnung“ (“Adxl Düzen“) . In popularisierter Form liegt sie unter der Autorenschaft von Necmettxn Erbakan vor. Doch die Arbeiten über die “Gerechte Ordnung“ sind das Ergebnis der “Akevler“-Gruppe in Izmir . Die ideologischen Köpfe dieser Arbeitsgruppe sind der Elektro-ingenieur Süleyman Karagülle (geb.1928), der Rechtswissenschaftler Süleyman Akdemxr (geb.1952) und

1Die Mxllx Gö rüä ist bis 1980 die Parteiideologie der islamistischen “Nationalen Heilspartei“, die 1972 gegründet worden ist und die Erbakans 1971 verbotene “Nationale Ordnungspartei“ beerbt. 2N.Erbakan: Mxllx Görüä.S.25 ff. 3N.Erbakan. a.a.O.S.26 4Ders. a.a.O.S.44 5Erbakan hat in Aachen Maschinenbau studiert und scheint von der technisch-industriellen Entwicklung Deutschlands -wie die ersten Islamisten-stark beeindruckt zu sein. Die mit der Industrialisierung des Landes verbundene Umweltverschmutzung spielt im politischen Programm keine Rolle. 6Ders. a.a.O.S.222 und 208

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der Politikwissenschaftler Arxf Ersoy (geb.1948).1 Typisch für den modernen islamistischen Diskurs ist, daß dieser Intellektuellen-Gruppe kein ausgebildeter islamischer Geistlicher angehört. 8.2.2. Das Legitimitätsprinzip der “GO “und seine Antithese Das Legitimitätsprinzip der “Gerechten Ordnung“ liegt Akdemxr zufolge in der “Hoheit des Rechten“ (Hakkin üstünlüwü).2 Das vieldeutige türkische Wort “hak“ steht aber nicht nur im juristischen Sinne für “Recht“ sowie für “das Richtige“ oder “das Wahre“, sondern auch für die “einzig wahre Religion, Islam“ und es ist schließlich im Islam ein Name Gottes.3 Akdemxr nennt als Quelle des “hak“ den Koran4 und interpretiert diese Stelle dahingehend, daß “Gott für Gesellschaft, für Staat“ stehe und somit die Gesellschaft/der Staat im Namen Gottes handele.5 Das mutet sich nach “Theokratie“ an. In der deutschen Übersetzung der “Gerechten Ordnung“ wird “hak“ mit “unveränderlich, konstant“ und als “Terminus technicus“ mit “das unbedingt (immer) Richtige“ wiedergegeben.6 Das Gegenprinzip zum “Hak“ ist nach Akdemxr, daß “der Stärkere über die Schwachen herrscht“. Dieses Prinzip liege in der “Gewaltentheorie des alten Ägypten und der griechischen Sophisten“.7 Bei Erbakan taucht dieses Prinzip als “batil“, “das unbedingt Falsche“, auf. Der Westen fuße auf der “pharaonischen batil-Zivilisation“, deren Rechtsquellen die Stärke, das Mehrheitsprinzip, Anerkennung von Privilegien und Interessendenken seien. Bei der hak-Zivilisation sei dagegen “immer die Ge-rechtigkeit die Grundlage des gesellschaftlichen Denkens und Handels“ gewesen. Erbakan nennt als legitime Rechtsquelle die “Menschenrechte, die Gott allen Menschen gegeben hat“. Zu ihnen zählen: das Recht auf Leben, der Schutz der menschlichen Würde, Schutz des Besitzes, Schutz des Verstandes und Schutz des Glaubens.8 Es sind im Grunde die Rechte und Schutzrechte, die das islamische Recht beansprucht. Und das obige Prinzipienpaar ist ur-sprünglich aus dem Koran (Sure 17/83), woher auch die Begriffe stammen, abgeleitet: “Gekommen ist die Wahrheit (der Islam,F.M.I.) und vergangen das Nichtige. ..“ . Was den Laizismus im Sinne der “Gerechten Odnung“ anbetrifft, besteht dieser nach Akdemxr darin, daß die vier Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative, Kontrollgewalt) sich im Gleichgewicht halten.9 Der Religion kommt hier die Kontrollgewalt zu, die auch die sozialen Bedürfnisse feststellt . 8.2.3. Islamischer Comtismus ?

1Für eine eingehende Beschäftigung siehe die “Gerechte Ordnung“-Literatur: S.Karagülle: Alternatxf Faxzsxz Banka.Selem ve kredxleäme( Das alternatxve und zxnslose Banksystem) Xz Yay. Xstanbul 1993; S.Akdemxr: Devlet yapisinin tarxhx seyrx.(Die Staatsordnung in historischer Entwicklung) Xstanbul 1990 u. Devletxn unsurlari ve kuvvetler dengesx (Die Elemente des Staates und das Kräftegleichgewicht) Istanbul 1991; A. Ersoy: Sxlm sosyal yapilanma. (Silm-Soziale Ordnung) Istanbul 1995 . 2S.Akdemir: Devletin unsurlari..S.25 3Karl Steuerwald: Türkisch-Deutsches Wörterbuch. Wiesbaden 1972. S.356 4Sure 3/25: „O Allah, König des Königtums, du gibst das Königtum, wem du willst, und nimmst das Königtum, wem du willst,.. .“ 5S.Akdemir: a.a.O.S.124 6N.Erbakan: Gerechte Wirtschaftsordnung. S.8 7S.Akdemir: a.a.O.S.25/26 8N.Erbakan: a.a.O.S.9 9S.Akdemir: a.a.O.S.189 -191.

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Die Legislative soll nach Meinung Akdemxrs den Wissenschaftlern zukom-men. Weil die Naturwissenschaftler die Naturgesetze herausfänden, könnten auch nur sie “in analogischer Weise“ die sozialen Gesetze festlegen.1 Obwohl Akdemxr an mehreren Stellen in seinem Buch Auguste Comtes Gesellschaftstheorie ablehnt, kommt er ihm doch unbewußt sehr nahe. 8.2.4. Islamischer Etatismus ? Obwohl in der “gerechten“ Wirtschaftsordnung Privatpersonen als Träger der Wirtschaftsaktivitäten vorgegeben werden und der Zins abgeschafft ist, ist der Gesamteindruck aber ein anderer: nämlich, daß der Staat (nicht nur) die Wirtschaft lenkt.2 8.2.5. Ist die “Gerechte Ordnung“ demokratisch ? Akdemxr versucht trotzallem den Islam auf widersprüchliche Weise als eine “demokratische Anschauung“ mit der Volkssouveränität in Einklang zu bringen: der Khalif werde gewählt; der Staat sei keine direkte Idschtihad-Auto-rität und die Regierung übe lediglich die Idschtihad und die Idschma des Volkes aus. Diese Aktivitäten des “menschlichen kleinen Willens“ sollen aber in den Grenzen des “göttlichen großen Willens“ bleiben“.3 Ist aber nicht der Ko-ran Ausdruck des göttlichen Willens, in dem schon die Grundwerte der Gesellschaft vorgegeben sind ? Aber in einer Demokratie sind doch die Grundnormen zwischen den Menschen verhandelbar, prinzipiell veränderbar und beruhen auf einem säkularen Konsensus. 9. Über die Ursachen der gesellschaftlichen Krise Der Sebxlürreä ad-Islamist Eä ref Edxp siedelt die Ursachen der Gesellschaftskri-se in der Tanzxmat-Zext an, die er als eine “Absatzbewegung weg vom Islam“ versteht.4 Dabei zitiert er einen französischen Botschafter aus dieser Zeit, nach dem das Hauptziel der Reformen gewesen sei, “die islamische Gesellschaft an die christliche Gesellschaft anzunähern“ . Dieses Zitat erinnert natürlich den religiösen Leser an den illegitimen Erneuerungsbegriff des teä ebbüh im Islam. Die erfolgte Zurückdrängung des Islam im öffentlichen Leben in der II.Meä rutxyet lastet er dem Einfluß der “Freimaurer“ innerhalb der Jungtürken an.5 Für die Republikzeit nennt er verständlicherweise keine Namen. Edxps Geschichtszugang ist typisch für einen Teil der Islamisten und populären Historiker, die den Anstoß für gesellschaftliche Entwicklungen allein auf bestimmte Personen reduzieren. Für den populistischen Politiker Erbakan ist die Ursache für die “ungerechte Wirtschaftsordnung der Türkei“ eindeutig: “ Sie ist die Folge eines modernen Kolonialismus, der letztendlich ein Instrument des Imperialismus und des Zionismus ist.“6

1Ders.a.a.O.S.196 2Ders. a.a.O.S.11 3S.Akdemir: a.a.O.S.130-136 4In seinem Buch “Dinde Reformcular“, Istanbul 1959 . S.3-23 . Zit bei I.Kara: Türkiye’de.. .Bd. 3 .S.104/105 5Es ist richtig, daß einige Jungtürken freimaurerischen Logen angehörten, doch hier kann Edips Behauptung nicht beurteilt werden. 6N.Erbakan: Gerechte Wirtschaftsordnung. S.4

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Der Ethiker Nurettxn Topqu (1909-1975) benennt als Grund für die gesellschaftliche Krise die “Imitation der Kultur anderer Nationen“1, die zum Verlust der islamischen Ethik in der islamischen Welt geführt habe. Die Folgen: das Volk und die staatlich Verantwortlichen hätten keine Achtung mehr voreinander; die Muslime wähnten sich unbekümmert vor dem Elend des 20.Jh. mit dem Gebet und dem Vollzug der Wallfahrt auf dem “rechten Wege“ zu sein. An Barmherzigkeit fehle es überall: beim Vorgesetzten, beim Kaufmann und im eigenen Heim. 10. Zur Tecdid- und Idschtihad-Frage Der Adxl Düzen-Ideologe Akdemxr setzt sich für die Anwendung der Idsch-tihad-Methode ein. Die Abkehr von dieser Methode habe dazu geführt, daß man auf der Grundlage des älteren Idschtihad-Rechts Rechtsauskünfte (Fatwa) gegeben habe, die aber die Probleme der Zeit nicht wirklich haben lösen können.2 Die “Gerechte Ordnung“ ist nach einer jüngsten Stel-lungnahme eines Mitarbeiters der Akevler-Gruppe das “wissenschaftliche Produkt“ der Bemühungen, durch die Idschtihad-Methode den Islam in einen (neuen) argumentativen Einklang zwischen traditionellen (Koran-Sunna) Werten und der Vernunft zu bringen.3 11. Zur Wissenschafts-, Technik- und Zivilisationsfrage 11.1. Die Sicht Erbakans Erbakan steht für die altislamistische Position, daß der Westen seinen Auf-stieg der Rezeption von wissenschaftlichen Ergebnissen früherer muslimi-scher Wissenschaftler verdankt. Doch Erbakan zufolge haben die Europäer es unterlassen die benutzten Quellen anzugeben. Die westlichen Wissenschaften seien aber inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem es kein vorwärts mehr gebe. Einen Ausweg finde man nur mit dem “Licht des Koran“.4 11.2. Die Sicht Topqus Nurettxn Topqu kritisiert am Westen, daß dort die Technik den Menschen zu ihrem Gefangenen gemacht habe. Die Technik, die seit hundert Jahren Stück für Stück in die Türkei komme, sei eine “Frucht“ des westlichen “Kulturbaums“, die man nur konsumiert habe. Die eigene Kultur könne ihre Technik deswegen nicht erzeugen, weil sie zerstört worden sei. Im geistigen Bereich habe die Türkei ihren Platz neben den Kolonialländern eingenommen.5 Doch die Kultur, die die eigene tausendjährige Geschichte hervorgebracht habe, liege im Unterbewußtsein vergraben. Da man den göttlichen Geist des Islam inzwischen verloren habe und die muslimischen Gelehrten den Islam zu einem reinen Rechtssystem haben verkommen lassen, sei es nunmehr die Aufgabe der Philosophie, wieder diesen Geist zu wecken.6 Topqu kritisiert auch die Auffassung, daß man mit der westlichen Zivilisation zugleich auch ihre Kultur

1E.Edip: “Kültür ve Medeniyet“ a.a.O.S.8-22 und “Islam ve xnsan“ (Islam u. Mensch) ) Istanbul 1969 S. 49-73 . Zit. bei I.Kara: a.a.O.S.131 bzvv. S.179. 2S.Akdemir: a.a.O.S.63/64 oder S.136/137 3Kazim Erten xn exnem Leserbrxef xn der xslamxstxschen türkxschen Tageszextung “Yenx Äafak“ vom 17.10.1997 4N.Erbakan: Mxllx Görüä.S.71 u.89 5N.Topqu: Yarinkx Türkxye (Dxe Türkex der Zukunft) Ist. 1961.S.194-205 . Zxt. bex I.Kara: a.a.O.S.140 6Ders.: Kültür ve Medenxyet.S.8-22 . Zxt. bex I.Kara: a.a.O.S.127-130 .

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übernehmen müsse. Zur Zivilisation gehörten technische Produkte und Bräuche, die Bestandteile des materiellen Lebens seien und in der Menschheitsgeschichte von allen Gesellschaften gemeinsam geteilt würden. Die Kultur sei aber die Gesamtheit von geistigen Werten, die eine Gesellschaft im Laufe ihrer eigenen Geschichte schaffe. Hierzu zählt er die religiösen Werte, die Wissenschaft, die Kunst und die Moral. Wozu Topqu jedoch bereit ist, von einer fremden Kultur zu übernehmen, sind die wissenschaftlichen Methoden. Mit dem “metaphysischen Schrei Goethes in seinem Faust“ z.B. könne man das eigene Schicksal analysieren und später daraus eigene Wissenschaftsmethoden entwickeln. Das Denken soll aber bei den eigenen Geistesgrößen zunächst beginnen, was jedoch für Topqus intellektuelle Biographie nicht zutrifft. 1 Bei Topqus Griff zur Philosophie zeigt sich jener Typ muslimischer Intellektueller mit westlich-philosophischer Ausbildung, die nach einer geistigen Suche ihren islamischen Glauben (wieder)finden und ihn mit westlichen Philosophieansätzen mobilisieren wollen. 11.3. Die Sicht Xsmet Özels Der Dichter Xsmet Özel (geb.1944) gehört zu jenen islamistischen Intellektuellen, die sich in den frühen 70ern von der sozialistischen Bewegung losgesagt haben.2 Özel mahnt jene Islamisten, deren Kampf einer neuen “islamischen Zivilisation“ gilt. Begreife man den Islam in solch einer Kategorie, so gerate man in eine den Islam historisierende Bewertungsweise und wecke damit Assoziationen ähnlich wie bei den Sozialisten, die von einer zukünftigen “sozialistischen Gesellschaft“ träumen. Offensichtlich hat er seine enttäuschten Erwartungen als ehemaliger Linker hier verarbeitet. Das Handeln des Muslims solle von den religiösen Geboten und Verboten bestimmt sein und nicht vom menschlichen Planungsdenken.3 Die Begriffsbildung “islamische Zivilisation“ ist Özels Meinung nach eine Reaktion auf das Bestreben des Westens unter dem Vorwand “die Zivilisation zu bringen“, die Welt zu kolonialisieren. Die von Muslimen gerühmten vergangenen islamischen Zivilisationen und ihre Praktiken (z.B.Prunk) seien “wider dem islamischen Geist“ gewesen. Er be-wertet u.a. die dichotome Einteilung von Zivilisationen, wie sie auch in der “Gerechten Ordnung“ vorgenommen wird, als “leeres Geschwätz“4 . Özel stützt sich bei seiner Ablehnung, den Islam als eine Zivilisation wieder-zubegründen, auf den zivilisationspessimistischen muslimischen Ge-schichtsphilosophen Ibn Khaldun (1332-1406).5 Nach diesem führt die Zivilisation zur Klassenbildung, zu menschlicher Ausbeutung, fördert die menschliche Schwäche gegenüber dem Materiellen und verdirbt den menschlichen Charakter.6 Was Özels Technikkritik anbetrifft, so ist die Technik in seinen Augen der “konkrete Ausdruck einer Herrschaftsethik“, die in der Logik des Herrschens des Menschen über den Menschen steht. Als Muslim sieht Özel in der Tech-nik einen “Götzen“, der mit einer islamischen Lebensweise unvereinbar sei.7 Die “dritte Frage“ seiner philosophischen Betrachtungen gilt neben der Zivilisation und der Technik der “Entfremdung“. Die “Entfremdung“ des Menschen bestehe

1N.Topqu: Yarinkx Türkxye.S.194-205 . Zxt. bex I.Kara: Türkxye’de..Bd. 3.S.140-143 . 2Er hat 1974 mit einem Gedicht (Amentü, dt. Ich glaube) sein Bekenntnis zum Islam kundgetan. 3I.Özel:Üq Mesele.S.103-104 4I.Özel: a.a.O.S.117 5Ders. a.a.O.S113 6Siehe Ibn Khaldun: Buch der Beispiele. Leipzig 1992 7I.Özel: a.a.O.S.146

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darin, daß der Mensch annehme, im “Wissen und Handeln“ das höchste Wesen zu sein. Özels Hoffnung ist, zu der von Ibn Khaldun beschriebenen Gruppe zu gehören, die sich den schädlichen Einflüssen der Zivilisation entzieht und eine Bewegung einleitet, die der “Zivilisation den Tod bereitet“.1 Gegen die “Herrschaftstrinität“ (Zivilisation-Technik- Entfremdung) können sich die Muslime nach Özel nur mit der islamischen Ethik verteidigen.2 Özels Denken stellt in vielen Punkten eine Antipode zur Wissenschaftsgläubigkeit und der Technikbegeisterung der “Gerechten Ordnung“ dar. 12. Der Islamismus ist eine Entwicklungsideologie Der Islamismus der Wohlfahrtspartei und islamistischer Autoren läuft darauf hinaus, den Islam als ein Motor für die geistige und materielle Entwicklung der Gesellschaft einzusetzen. Analysiert man auch noch die “Gerechte Ordnung“, so z.B. seine “Wissenschaftsordnung“3, näher, so gibt es Überschneidungen mit dem kemalistischen Entwicklungsmodell, worauf schon der Etatismus hinweist. Doch im Gegensatz zum Kemalismus hinterfragt der Islamismus nach meiner Meinung wie der muslimische Soziologe Fuad Kandil das westlich-kulturzentristische Entwicklungsparadigma, ob es zwangsläufig sei, Entwicklungsgesellschaften einem den westlichen Industrieländern ähnlichen Transformationsprozeß auszusetzen und ob die ökonomische Entwicklung nicht zu meistern sei, ohne das eigene Wert-system aufgeben zu müssen.4 Im Kontext des Islamismus gibt es aber einen Wertekonflikt mit dem kemalistischen Verständnis von Säkularisierung, sprich Laizismus, der das ideologische Wesen des Islam verkennt und ihn durch eine Halbprivatisierung5, durch Rationalität und durch Wissenschaft ersetzen will. Zusammenfassend kann der Islamismus als eine politisch-zivilisatorische Konzeption der Mobilisierung und der Neuinterpretation traditionaler Werte mit dem Ziel wirtschaftlicher Entwicklung gedeutet werden. VI. Zusammenfassung und Ausblick Die türkische Modernisierungsgeschichte liest sich so, wie es der muslimische Geschichtsphilosoph Ibn Khaldun für “Besiegte“ beschrieben hat: „Der Besiegte ist stets darauf aus, den Sieger in seiner Erscheinung, seiner Kleidung sowie in allen übrigen Lebensformen und Gewohnheiten nachzuahmen.“6 Die vom osmanischen Reich eingeleitete und vom nationaltürkischen Staat fortgesetzte Verwestlichungspolitik hat bisher das selbstgesteckte Ziel, “den Stand der zeitgenössischen Zivilisation zu erreichen“, nicht verwirklichen können. Wenn man z.B. unter diesem Ziel den EU-Beitritt versteht. Der Islamismus erkennt die Überlegenheit des “Westens“ an, glaubt aber von seiner “Zivilisation und Technik“ in eklektizistischer Weise wieder das zurückholen zu können, worin er einmal führend gewesen ist. Dabei sehen die “Westler“ und die “Islamisten“ nicht, welchen geistigen und politischen Umbrüchen die zivilisatorischen Standarts geschuldet sind. Wie Ismet Özel hinweist, ist die westliche Technik selbst Ausdruck einer bestimmten Ethik, die die Islamisten in ihr nicht vermuten.

1Ders. a.a.O.S.116 2Ders. a.a.O.S.163 3S.Akdemir:a.a.O.S.82 Die “Wissenschaft“ als angeblich “objektive Institution“ soll die sozialen Prozesse begleiten. 4F.Kandil: Traditionale Werte im Entwicklungsprozeß. S.18 5Gemeint ist die Stellung der Diyanet als staatliches Amt und der Versuch den Islam nunmehr zu einer unverbindlichen Individualethik zu reduzieren. 6Ibn Khaldun: Buch der Beispiele.S.96

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Auf politischem Gebiet glaubten auch die osmanischen Islamisten durch ein dem Westen entliehenes parlamentarisches System das multiethnische und -religiöse Osmanische Reich vor dem Zerfall zu retten, indem sie aus einer traditionellen Ideologie (Islam) eine “moderne“ Ideologie (islamismus) machten. Sie konnten dies tun, weil sie in den Koran hineininterpretierten und mit der Idschtihad-Methode pragmatistisch umgingen. Saxd Halxm Paä a ist einer der ersten gewesen, der die scheinbare Vereinbarkeit von westlich-parlamentarischem Regierungssystem, vom demokratischen Mehrheitsprinzip und von Volkssouveränität mit dem Islam als eine Selbsttäuschung der Muslime entlarvte. Er zeichnete das Bild eines islamischen Parlaments mit korporativem Charakter. Und er sah das zukünftige Heil in einer “totalitär“ anmutenden “Islamisierung“ des Individuums. Die Islamisten der republikanischen Türkei stehen in ihrem elitären Prinzip und in ihrem szientistischen Denken den Kemalisten gar nicht nach;. nur ihre unumstößliche Referenzquelle bzw.-person ist eine andere. Die “Gerechte Ordnung“ wird selbst von einem überzeugten Islamisten wie Xsmet Özel nicht ernst genommen. Özel stellt sogar den für die GO beanspruchten “islamischen“ Charakter in Frage, wenn er sagt, daß es sich dabei nur um “eine Idealgesellschaft“1 handelt, die nach ihren Vätern angeblich auch “in der Mongolei und in Paraguay“ praktizierbar sei. Daß die islamistische Wohlfahrtspartei aus den Wahlen vom Dezember 1995 als stärkste Partei hervorgegangen ist, verdankt sie also nicht dem Glauben der Wähler an die Umsetzbarkeit der “Gerechten Ordnung“, sondern der Zersplitterung des politischen Spektrums und der chronischen Wirtschaftsmisere. Es geht hier nicht darum, die RP als “antidemokratisch“ und “anti-laizistisch“ darzustellen. Denn wie “laizistisch“ die Türkei ist, wurde in der Arbeit näher problematisiert. Und wie “demokratisch“ die anderen Parteien sind, hat man gesehen, als diese den Sturz der islamistisch-konservativen Regierung unter Erbakan und Qxller durch den Druck der Militärs wohlwollend hinnahmen. Der RP-Kritiker Özel verkündete schon vor dem Aus der ersten islamistisch geführten Regierung in der Republikgeschichte “das Ende des islamistischen Populismus“ 2. Derzeit muß sich die RP vor dem Verfassungsgericht gegen die Behauptung erwehren, “zum Zentrum von Aktivitäten gegen das in der Verfassung verankerte Prinzip des Laizismus“ geworden zu sein. Die Beweiskraft des vom Generalstaatsanwalt eingeleiteten Verfahrens ist nach Einschätzung eines FAZ-Kommentators “offenbar gering“ 3. Sollte ein Verbot erfolgen, was sehr wahrscheinlich ist, wäre diese Entscheidung wohl “politisch“ begründet. Das “Problem Wohlfahrtspartei“ wäre nicht gelöst. Und in der nächsten Zeit würde eine islamistische Folgepartei gegründet werden. Ob es je zur Ausbildung einer “Islamisch-Demokratischen Partei“ kommt, hängt von vielen Faktoren ab. Die politische Kultur der Türkei muß sich dahingehend verändern, daß ein demokratischer und alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen einbeziehender Wertekonsensus zustandekommt, der aber nicht vom Militär zustimmungspflichtig sein darf: z.B., ob die Diyanet abgeschafft werden soll oder nicht; welche Form des “Laizismus“ mehr religiöse Freiheiten garantiert.

1Özel in einem Interview mit der türkischen Tageszeitung “Hürriyet“ vom 7.7.1996 2So übertitelte er seine Kolumne in der unabhängigen islamistischen Tageszeitung Yenx Äafak vom 28.5.97 3Siehe Horst Bacia: Verbotsverfahren gegen Wohlfahrtspartei, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.11.97

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ANHANG 1-Auszüge aus der “Gerechten Wirtschaftsordnung“ (deutsch) 2-Adil Düzen (türkisch)

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