göttliches und menschliches denken bei themistios, rheinisches museum 151 (2008) 181-221

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GÖTTLICHES UND MENSCHLICHES DENKEN BEI THEMISTIOS 1 Themistios ist eine zu facettenreiche Persönlichkeit, als daß man ihm ohne gewisse Schwierigkeiten einen genauen Platz in der Philosophiegeschichte des 4. Jahrhunderts n. Chr. zuweisen könn- te. Da ist einerseits der pagane Rhetorik- und Philosophielehrer, der zugleich als Panegyriker Erfolg am Hofe mehrerer christlicher Kaiser hatte, trotz veränderter Religionspolitik. Da sind anderer- seits seine Paraphrasen zu einigen Aristoteles-Werken, die in die Jahre vor seiner eigentlichen politischen Tätigkeit fallen, ungefähr zwischen 337 und 357. 2 In einer Zeit, in der philosophiegeschicht- lich mit Porphyrios das Paradigma der Harmonisierung von Pla- ton und Aristoteles bestimmend geworden war, 3 steht Themistios aufgrund seiner Paraphrasen und ihrer weitgehenden Überein- stimmung mit dem Aristoteles-Text anscheinend dem philosophi- schen Zeitgeist entgegen, ja er erklärt sich sogar selbst als Aristo- teliker 4 und wird von daher zumeist als Peripatetiker angesehen, sogar als „the last major figure in antiquity who was a genuine fol- lower of Aristoteles“ (Blumenthal 1990, 123). 5 Allerdings hat The- 1) Für wertvolle Hinweise und Anmerkungen danke ich Matthias Perkams und Christian Tornau, jenem insbesondere für die Erklärung einiger Stellen in der hebräischen Übersetzung von Themistios’ Paraphrase zu Metaphysik 12 (vgl. Anm. 65). 2) Zu den Daten vgl. Blumenthal 1990, 113. 3) Vgl. dazu P.Hadot, The harmony of Plotinus and Aristotle according to Porphyry, in: R. Sorabji (Hrsg.), Aristotle transformed: the ancient commentators and their influence, London 1990, 125–140 und G. Karamanolis, Plato and Aristot- le in Agreement? Platonists on Aristotle from Antiochus to Porphyry, Oxford 2006. 4) Or. 2, 26d7–8: [. . .] ριστοτλους, ν προυταξμην το βου τε κα τς σοφας [. . .]. 5) Vgl. auch Praechter 1953, 655–658, Todd 1981. Allerdings weist Todd 1990, 34 Anm. 114 zu Recht darauf hin, daß es von Themistios – anders als von Alexander v. Aphrodisias – keine explizite Zustimmung zu Lehrmeinungen des Aristoteles gibt und daß er allen Anzeichen nach seiner Schule keine institutionelle Anbindung an an- dere Schulen gegeben hat. Seine Beziehung zu Platon und Aristoteles, so folgert er, sei „unusually free from scholasticism“, geschuldet der intellektuellen Unabhängig- keit des Aristokraten, dessen Lehrtätigkeit ein kurzes Vorspiel zu einer öffentlichen Karriere und keine lebenslange professionelle Beschäftigung gewesen sei.

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GOumlTTLICHES UND MENSCHLICHESDENKEN BEI THEMISTIOS1

Themistios ist eine zu facettenreiche Persoumlnlichkeit als daszligman ihm ohne gewisse Schwierigkeiten einen genauen Platz in derPhilosophiegeschichte des 4 Jahrhunderts n Chr zuweisen koumlnn-te Da ist einerseits der pagane Rhetorik- und Philosophielehrerder zugleich als Panegyriker Erfolg am Hofe mehrerer christlicherKaiser hatte trotz veraumlnderter Religionspolitik Da sind anderer-seits seine Paraphrasen zu einigen Aristoteles-Werken die in dieJahre vor seiner eigentlichen politischen Taumltigkeit fallen ungefaumlhrzwischen 337 und 3572 In einer Zeit in der philosophiegeschicht-lich mit Porphyrios das Paradigma der Harmonisierung von Pla-ton und Aristoteles bestimmend geworden war3 steht Themistiosaufgrund seiner Paraphrasen und ihrer weitgehenden Uumlberein-stimmung mit dem Aristoteles-Text anscheinend dem philosophi-schen Zeitgeist entgegen ja er erklaumlrt sich sogar selbst als Aristo -teliker4 und wird von daher zumeist als Peripatetiker angesehensogar als bdquothe last major figure in antiquity who was a genuine fol-lower of Aristotelesldquo (Blumenthal 1990 123)5 Allerdings hat The-

1) Fuumlr wertvolle Hinweise und Anmerkungen danke ich Matthias Perkamsund Christian Tornau jenem insbesondere fuumlr die Erklaumlrung einiger Stellen in der hebraumlischen Uumlbersetzung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Metaphysik 12 (vglAnm 65)

2) Zu den Daten vgl Blumenthal 1990 1133) Vgl dazu P Hadot The harmony of Plotinus and Aristotle according to

Porphyry in R Sorabji (Hrsg) Aristotle transformed the ancient commentatorsand their influence London 1990 125ndash140 und G Karamanolis Plato and Aristot-le in Agreement Platonists on Aristotle from Antiochus to Porphyry Oxford 2006

4) Or 2 26d7ndash8 [ ] ριστοτλους ν προυταξμην το βου τε κα τςσοφας [ ]

5) Vgl auch Praechter 1953 655ndash658 Todd 1981 Allerdings weist Todd 199034 Anm 114 zu Recht darauf hin daszlig es von Themistios ndash anders als von Alexanderv Aphrodisias ndash keine explizite Zustimmung zu Lehrmeinungen des Aristoteles gibtund daszlig er allen Anzeichen nach seiner Schule keine institutionelle Anbindung an an-dere Schulen gegeben hat Seine Beziehung zu Platon und Aristoteles so folgert ersei bdquounusually free from scholasticismldquo geschuldet der intellektuellen Unabhaumlngig-keit des Aristokraten dessen Lehrtaumltigkeit ein kurzes Vorspiel zu einer oumlffentlichenKarriere und keine lebenslange professionelle Beschaumlftigung gewesen sei

mistios auch Platon-Paraphrasen verfaszligt die uns verloren sindund seine Reden enthalten viele Platon-Zitate mit denen er PlatonsAnliegen einer Begruumlndung der Politik in der Metaphysik zuzu-stimmen scheint6

Die Darlegungen die Themistios zu De an 35 zum νοςποιητικς macht nehmen in mehrererlei Hinsicht eine Sonderstel-lung in seinen der Philosophie gewidmeten Werken ein Zunaumlchstsind sie keine Paraphrase im gewoumlhnlichen Sinne sondern bieteneine systematische Eroumlrterung der Aristotelischen Intellektlehremit Einleitung Problemstellung und Loumlsung unter Zuhilfenahmevieler Zitate aus Aristoteles Platon und Theophrast Auch quanti-tativ unterscheiden sie sich mit knapp elf CAG-Seiten von insge-samt 126 fuumlr den gesamten De anima-Text deutlich von Paraphra-sen zu anderen Aristoteles-Texten7 Auszligerdem enthalten die Dar-legungen einige neuplatonische Termini und weisen Parallelen zuPlotin auf uumlber deren Stellenwert Uneinigkeit besteht WaumlhrendMahoney und Balleacuteriaux dezidiert fuumlr eine neuplatonische Deu-tung der Intellektlehre des Themistios eingetreten sind8 lehnenBlumenthal und Todd eine neuplatonische Lesart des Textes eben-so entschieden ab9

182 Michae l Schramm

6) Vgl Blumenthal 1990 114 Es gibt aber auch die Ablehnung des Philoso-phenkoumlnig-Satzes aus der Republik zugunsten von Aristotelesrsquo Politikansatz daszligder Herrscher nicht selber Philosoph sein solle sondern dem ratgebenden Philoso-phen zuhoumlren und ihm gehorsam sein muumlsse (vgl Or 8 107c2ndashd3 und Arist Frg982 Gigon) D OrsquoMeara hat in seinem Versuch die neuplatonische politische Phi-losophie der Spaumltantike nachzuzeichnen (D OrsquoMeara Platonopolis Platonic Poli-tical Philosophy in Late Antiquity Oxford 2003) Themistios ausdruumlcklich ausge-klammert weil seine Betonung der politischen Handlung als Nachahmung goumltt -lichen Handelns etwa im Gegensatz steht zu der neuplatonischen Ansicht daszlig dasLeben der theoretischen Schau Vorrang genieszlige vor dem der politischen Handlung(206ndash208) Zu den Platon-Zitaten in den Reden vgl Colpi 1987 85ndash93

7) Vgl Balleacuteriaux 1989 201 Schroeder Todd 1990 36 sprechen von einembdquoexcursusldquo aumlhnlich auch Moraux 1978 308 und Blumenthal 1990 118

8) I Hadot (bdquoDer fortlaufende philosophische Kommentarldquo in W Geer-lings Ch Schulze [Hrsg] Der Kommentar in Antike und Mittelalter Beitraumlge zuseiner Erforschung Leiden Boston Koumlln 2002 183ndash199) hat sich dieser Ansichtangeschlossen (186 Anm 12)

9) Blumenthal 1990 119 sieht die Intellektlehre als bdquofundamentally free ofPlatonism ndash except of course in so far as Aristotle himself was notldquo Schroeder Todd 1990 konzedieren bdquoPlotinian parallels and echoes that indicate an interest inNeoplatonism otherwise absent from his worksldquo (34 mit Anm 115) meinen aberdaszlig Themistios bdquomay have resisted contemporary trends towards a systematic Neo-platonic readingldquo (39) aumlhnlich Todd 1996 2 und 10

Im folgenden sollen die aufgewiesenen Parallelen zu Plotin10

systematisch und im Zusammenhang interpretiert werden um zuentscheiden ob es sich dabei um bloszlige terminologische Assozia-tionen11 oder um tatsaumlchliche inhaltliche Uumlbereinstimmungen han-delt Zugleich sollen Themistiosrsquo Ansichten in Abgrenzung zuAlexander v Aphrodisias untersucht werden der nicht nur fuumlr Plotin12 sondern auch fuumlr Themistios maszliggeblich bei der Formu-lierung seiner Intellekttheorie war Leitend fuumlr die Verhaumlltnisbe-stimmung von Platonismus oder Aristotelismus bei Themistiossollen einige Fragen sein bei deren Beantwortung signifikantedogmatische Unterschiede bestehen 1) Gibt es ein apriorischesIdeenwissen unabhaumlngig von der durch Sinneswahrnehmung ver-mittelten Erfahrung 2) Gibt es eine Wiedererinnerung an diesesIdeenwissen 3) Wie ist das Verhaumlltnis von Selbst- und Objekter-kenntnis bestimmt 4) In welchem Verhaumlltnis stehen der goumlttlicheund der menschliche Intellekt zueinander

1 Der νοῦς ποιητικός und das Wesen des Menschen

Maszliggeblicher Gegner und zugleich intellektueller Hinter-grund fuumlr Themistiosrsquo eigene Interpretation der Aristotelischen Intellekttheorie ist Alexander v Aphrodisias13 Zwar nennt The-mistios Alexander nicht namentlich doch seine Kritik an der In-terpretation wonach der νος ποιητικς entweder der Erste Gottoder die ersten Praumlmissen und die daraus aufgebauten Wissen-schaften seien zielt deutlich auf Alexander Dieser hatte den νοςποιητικς mit dem Intellekt des Unbewegten Bewegers identifi-ziert der bdquoersten Ursacheldquo des Seins und der Intelligibilitaumlt von allem (Alex De an 891ndash11) Dagegen fuumlhrt Themistios zunaumlchst

183Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

10) Vgl dazu Schroeder Todd 1990 34 Anm 11511) So Blumenthal 1990 120ndash123 und Todd 1996 186 Anm 112) Vgl Merlan 1963 13ndash16 39f und Szlezaacutek 1979 135ndash14313) Vertraut scheint Themistios nur mit Alexanders Abhandlung De anima

nicht aber mit De intellectu zu sein (vgl Schroeder Todd 1990 35 Anm 117 undTodd 1996 1) Ein Indiz gegen diese Einschaumltzung ist eine Formulierung bei The-mistios die parallel in Alex De int 11218ndash20 vorkommt (vgl unten Anm 16) Im folgenden wird aufgrund der Probleme die hinsichtlich der Einheitlichkeit undAutorschaft von De intellectu auftreten (vgl Schroeder Todd 1990 6ndash31) zumVergleich mit Alexander nur sein De anima-Traktat (CAG Suppl 211ndash100) her-angezogen

einige Aristotelesstellen an die implizieren daszlig der gesamte Intel-lekt und damit auch der νος ποιητικς in der menschlichen Seelesein muszlig14 So wird in De anima 35 die Dichotomie in eine mate-rielle Ursache die alles wird und eine wirkende die alles hervor-bringt bdquonotwendigerweise auch in der Seele bestehenldquo (Arist Dean 35 430a13f) Anderswo wird vom bdquotheoretischen Intellektldquoals einer bdquoanderen Art der Seeleldquo (ψυχς γνος τερον) gesprochen(22 413b24ndash27) Als Argument fuumlhrt Themistios zweierlei an1) Nach De anima soll bdquoalleinldquo der νος ποιητικς bdquounsterblichund ewigldquo (35 430a23) sein Das koumlnne nur auf die menschlicheSeele und nicht auf den Ersten Gott der Metaphysik bezogen seinweil dort auch die Gestirne unsterbliche und ewig bewegte Koumlrperseien (Them In De an 10236ndash10315) 2) Einen potentiellen In-tellekt koumlnne es nur in der menschlichen Seele geben (9731) weilder goumlttliche Intellekt ja voumlllig frei von Potentialitaumlt sei

Anstatt wie Alexander die Rolle des goumlttlichen Intellekts fuumlrdas menschliche Denken zu betonen betrachtet Themistios Po-tentialitaumlt und Aktualitaumlt als zwei Seiten des menschlichen Den-kens und betont so dessen Einheit Alexander hatte den Intellekt indrei Arten unterteilt den potentiellen bzw materiellen Intellekt(δυνμει νος bzw λικς νος) den alle Menschen insbesonde-re die Kinder haben den habituellen bzw erworbenen Intellekt(καθrsquo ξιν νος bzw πκτητος νος) den man als Erwachsener mit einem gewissen Wissen uumlber die Dinge erworben hat undschlieszliglich den aktuellen Intellekt (νεργεamp νος) der auch als derbdquovon auszligen kommende Intellektldquo (θραθεν νος) bezeichnet wirdund den einfachen immer aktuellen Intellekt Gottes meint15 DieUnterscheidung von habituellem und potentiellem Intellekt findetsich nicht woumlrtlich bei Aristoteles Aber sie kann sich auf eineGrundunterscheidung des Aristoteles von zwei Graden der Poten-tialitaumlt (δναμις) bzw Aktualitaumlt (ντελχεια) berufen die dieser

184 Michae l Schramm

14) Die neuplatonischen De anima-Kommentare des 6 Jh verfahren genau-so Ammonios etwa tadelte die Einteilungen sowohl des Alexander als auch desPlutarch v Athen weil beide als eine Art des Intellekts den aktuellen von auszligenkommenden Intellekt Gottes ins Spiel bringen wo Aristoteles in De anima nur vommenschlichen Intellekt handle Und von den Seelenteilen sei nur dieser ewig (Ps-Philop In De an 51832ndash51915)

15) Vgl Alex De an 8113ndash826 und 8823ndash8912 zusammengefaszligt Ps-Phi-lop In De an 5188ndash18 Zu θραθεν νος vgl Arist De gen an 736b28 und Deresp 472a22

am Beispiel des Wissens eingefuumlhrt hat Der Mensch ist der Moumlg-lichkeit nach wissend weil er generell zu den Lebewesen gehoumlrtdie sich Wissen aneignen koumlnnen die sogenannte erste Potentia-litaumlt Er kann sich bereits ein Wissen erworben haben das er alsHabitus besitzt aber gerade nicht anwendet Dieses Wissen wirdzweite Potentialitaumlt bzw erste Aktualitaumlt genannt Und schlieszliglichdie zweite Aktualitaumlt Jemand wendet ein gelerntes Wissen geradein praxi an (Arist De an 25 417a21ndashb16 vgl auch 34 429b5ndash9)Die Seele ist nach Aristoteles bekanntlich wie ein erlerntes aber gerade nicht ausgeuumlbtes Wissen und ihrer Definition nach einebdquoerste ντελχειαldquo bzw ein angeborener Habitus (21 412a19ndash28)Und auch im Hinblick auf den Intellekt wendet schon Aristotelesdie beiden verschiedenen Grade von Potentialitaumlt und Aktualitaumltan (34 429a21f und b5ndash8)16

Von Alexander der diese allgemeine Einteilung verschiedenerAktualitaumlts- und Potentialitaumltsgrade als erster ausdruumlcklich auf denIntellekt angewandt hat uumlbernimmt Themistios die Terminologieund die Einteilung des νος-Begriffs nach Potentialitaumlt und Ak-tualitaumlt So gibt es bei ihm a) den potentiellen Intellekt (δυνμεινος) b) den habituellen Intellekt (νος ( καθrsquo ξιν) und c) den ak-tuellen Intellekt (νεργεamp νος) bzw den aktiven Intellekt (νοςποιητικς) Daneben gibt es d) den bdquogemeinsamenldquo oder passivenIntellekt (κοινς νος νος παθητικς) der fuumlr ihn mit der Erin-nerung den Affekten und dem diskursiven Denken verbunden istFuumlr Themistios ist einzig der passive Intellekt nicht vom Koumlrpertrennbar der potentielle und aktuelle Intellekt sind hingegen ab-trennbar (Them In De an 10526ndash30)17 waumlhrend fuumlr Alexandernur der aktuelle bzw aktive Intellekt abgetrennt vom Koumlrper exi-stiert und die beiden Intellektformen des Menschen mit dessen

185Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

16) Balleacuteriaux 1989 203 weist fuumlr die Terminologie auszligerdem auf Alkinooshin Dieser unterscheidet νος ( ν δυνμει und ( κατrsquo νργειαν νος (Didaskali-kos 16419 Hermann) Allerdings geht es hier nicht um den menschlichen Intellektsondern um die Prinzipien der platonischen Theologie

17) Ob der habituelle Intellekt abtrennbar ist oder nicht dazu bezieht The-mistios nicht explizit Stellung Da jedoch der Habitus die 2 Potentialitaumlt bzw1 Aktualitaumlt darstellt denkt ihn Themistios vermutlich ebenso als abtrennbar wieden potentiellen und den aktuellen Intellekt Das bedeutet nicht daszlig die mensch -liche Seele nach ihrem Tod auch erworbenes Wissen bdquomitnehmenldquo koumlnnte Viel-mehr handelt es sich bei dem Habitus nur um die Auspraumlgung der im Menschen an-gelegten von seinem Denken unabhaumlngigen Begriffe der Gegenstaumlnde der Welt

Koumlrper vergaumlnglich sind (Alex De an 9013ndash20) Der habituelleIntellekt hat bei Themistios nicht mehr denselben Stellenwert wiebei Alexander weil er den gesamten Intellekt im Menschen veror-tet und damit den habituellen Intellekt nicht mehr als letzte Stufedes allein dem Menschen zugehoumlrigen Denkens auszeichnet

Gegen Alexanders theologische Deutung des νος ποιητικςvertritt Themistios die These bdquoWir sind der νος ποιητικςldquo(Them In De an 10037f) Das bedeutet allerdings nicht das je-weilige Individuum sondern den kollektiven Intellekt der aus dergemeinsamen Artnatur des Menschen folgt So unterscheidet The-mistios sorgsam zwischen dem einzelnen Ich (γ)) und dem all -gemeinen Ich-Sein (τ μο εναι) bzw dem Wesen des Ich Das je-weilige Ich ist bdquoder Intellekt der zusammengesetzt ist aus dem po-tentiellen und dem aktuellen Intellektldquo (γ+ [ ] ( συγκεμενοςνος κ το δυνμει κα το νεργεamp)18 das allgemeine Wesen desIch besteht lediglich bdquoaus dem aktuellen Intellektldquo (10018ndash20)Das individuelle Ich ist damit in seinem Wesen nicht wie seit derNeuzeit bestimmt durch die Subjektivitaumlt und Individualitaumlt des jeweiligen seelischen Erlebens das sich in einem Leib vollziehtsondern vielmehr als ein unkoumlrperlicher uumlberindividueller undrein intellektueller Prozeszlig19 Daher spricht Themistios auch ohneUnterschied von bdquoIchldquo wie von bdquoWirldquo20

Die Quelle fuumlr Themistiosrsquo Unterscheidung zwischen demWir und dem Wesen des Wir ist Plotin der ebenfalls von einem

186 Michae l Schramm

18) Eine parallele Formulierung findet sich in dem Alexander zugeschriebe-nen Traktat De intellectu bdquoUnser Intellekt ist zusammengesetzt aus der Poten -tialitaumlt welche das Werkzeug des goumlttlichen Intellekts ist und die Aristoteles den potentiellen Intellekt nennt und aus der Aktualitaumlt von jenem (sc dem goumlttlichenIntellekt)ldquo (( -μτερος νος σνθετς στιν κ τε τς δυνμεως 0τις 1ργανν στιτο θεου νο ν δυνμει νον ( ριστοτλης καλε2 κα τς κενου νεργεαςAlex De an mant 11218ndash20) Die Autorschaft insbesondere der Passage in derdieses Zitat eingebettet ist (1125ndash11324) ist unklar Waumlhrend Moraux 1967 und1984 fuumlr diesen und den vorangegangenen Abschnitt ab 1104 Aristoteles v Mytile-ne als Autor ausmacht sehen Schroeder Todd 1990 26 und 31 hierin das Fragmenteines unidentifizierbaren Autors Dieser Ansicht folgt R Sharples (Hrsg) Alexan-der Supplement to bdquoOn the Soulldquo Ithaca New York 2004 38 Anm 92

19) Themistios steht hier in einer langen Tradition beginnend mit Ps-Pla-tons Alkibiades I (128endash130c) die das bdquowahre Selbstldquo des Menschen in der Seeleoder im Intellekt sieht Vgl die Zusammenstellung der relevanten Stellen und Au-toren bei Moraux 1978 323 Anm 136

20) Vgl 10336f 3παντες 4ναγμεθα ο5 συγκεμενοι κ το δυνμει κανεργεamp

bdquoWirldquo21 in zwei Bedeutungen spricht einerseits als der belebteLeib den wir mit dem Tier gemeinsam haben und durch den wirwahrnehmen andererseits der bdquowahreldquo oder bdquoinnere Menschldquo ((4ληθ6ς 7νθρωπος ( νδον 7νθρωπος) der vom Koumlrper abgetrenntist und zu dem die Seele insbesondere das bdquoreineldquo Denken und die durch Vernunft vermittelten Tugenden gehoumlren (Plot 11105ndash15)22 Der Unterschied ist offensichtlich daszlig Themistios das kon-krete Wir nicht als Koumlrper und das wahre Wir nicht als Seele be-stimmt Jedoch aumlhnelt Themistios Plotin darin daszlig auch diesermeint daszlig der Mensch das gleiche ist wie die Denkseele (λογικ6ψυχ8) und daszlig er den Intellekt besitzt der dem bdquoWirldquo der Seele ontologisch vorgeordnet ist Die Seele besitzt den Intellekt eben-falls auf zwei Arten als allen Menschen bdquogemeinsamenldquo (κοινς)Intellekt insofern als er bdquounteilbar einer und uumlberall derselbeldquo istund als individuellen bdquoeigentuumlmlichenldquo (9διος) Intellekt insofernals ihn auch jeder einzelne als ganzen in seinem obersten Seelenteilhat (11721ndash86) ndash genauso verhaumllt sich auch der Intellekt des Themistios der als bdquoWir-Seinldquo als intellektuelles Wesen des Men-schen uumlberall identisch ist und in einem konkreten Ich als ganzerund ungeteilt wirksam ist Aumlhnlich werden auch die intelligiblenFormen von beiden bestimmt Sie sind fuumlr Plotin bdquoin der Seelegleichsam entfaltet (οον 4νειλιγμνα) und voneinander abgesondert(οον κεχωρισμνα) im Intellekt alles zugleich ((μο τ πντα)ldquo (6ndash8) Themistios kennzeichnet den aktuellen Intellekt als den Bereichin dem alle Formen bdquozugleich zusammenldquo sind waumlhrend er den Be-

187Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

21) Das -με2ς ist bei Plotin der Ausdruck fuumlr das bdquoIchldquo (vgl 11[53]) Esmeint das was Platon den bdquoinneren Menschenldquo nennt (Szlezaacutek 1979 184) Zu Plo-tins Gebrauch von -με2ς vgl W Himmerich Eudaimonia Die Lehre des Plotin vonder Selbstverwirklichung des Menschen (= Forschungen zur neueren Philosophieund ihrer Geschichte 13) Wuumlrzburg 1958 92ndash100 Zu Plotins Theorie vom dop-pelten Ich vgl 641416ndash31 dazu C Tornau Plotin Enneaden 64ndash5 (22ndash23) einKommentar Stuttgart Leipzig 1998 266ndash276 und allgemein OrsquoDaly 1973

22) Auch Plotin sieht das wahre Selbst des Menschen nicht im Leib oder imbeseelten Leib sondern allein in der Seele (Plot 47124f) Er unterscheidet termi-nologisch das Selbst (αltτς) des Menschen oder unser Wir (-με2ς) und die Seele imSinne der Seelenhypostase welche die Weltseele genauso wie die Einzelseelen derLebewesen umfaszligt und Prinzip des Lebens unkoumlrperlich (5121ndash6) und ein bdquoBilddes Geistesldquo (ε=κ+ν νο) (5137ndash8) ist Das eigentliche Selbst des Menschen ndash derbdquowahreldquo oder bdquoinnere Menschldquo (( 4ληθ6ς 7νθρωπος ( νδον 7νθρωπος) (11105ndash15) ndash ist nun nichts anderes als die rationale oder diskursiv denkende Seele (λογικ6ψυχ8) (53320)

reich der voneinander getrennten Formen nicht der Seele sonderndem potentiellen Intellekt zuweist (Them In De an 1004ndash10) AlsMaterie des aktuellen Intellekts nimmt er bdquogeteiltldquo auf was jenerbdquoungeteiltldquo denkt (22f) ndash wie etwa die allgemeine Qualitaumlt bdquoweiszligldquodie an sich ungeteilt ist an verschiedenen Koumlrpern bdquogeteiltldquo d h ineinzelnen Instanzen der Farbe bdquoweiszligldquo vorkomme (22ndash26)

Themistios uumlbernimmt also ein plotinisches Denkmuster undmodifiziert es fuumlr seine Zwecke 1) Er kann damit die aristotelischeDichotomie von aktuellem und potentiellem Intellekt genauer er-klaumlren und den Vorgang wie der aktuelle Intellekt bdquoalles machtldquowas der potentielle Intellekt bdquowirdldquo der aktive Intellekt ist das Reservoir allgemeiner Begriffe waumlhrend der potentielle Intellektindividuelle Begriffe besitzt aus denen erst allgemeine Begriffe ge-bildet werden koumlnnen 2) Mit dieser Deutung uumlbt er implizit Kri-tik an Plotin fuumlr die ungenaue Ausdrucksweise von der bdquoTeilungldquoder intelligiblen Formen in der Seele die im Intellekt ungeteilt ge-dacht wuumlrden weil er damit die bdquogeteiltenldquo und die bdquoungeteiltenldquoFormen auf zwei Stufen seiner Seinshierarchie verteilt die in Wirk-lichkeit zur selben gehoumlren Denn fuumlr Themistios werden einzelneInstanzen eines allgemeinen Begriffs wie auch dieser Begriff selbstvom Intellekt erkannt potentiell sind die Einzelfaumllle deshalb weilsie nur im Hinblick auf das Allgemeine gedacht werden koumlnnenMit seiner aristotelisierenden Transformation der plotinischenEinteilung fuumlhrt er Potentialitaumlt und Aktualitaumlt als zwei Seiten desBegriffsdenkens zusammen wobei die Aktualitaumlt wesentlicher Be-standteil des menschlichen Denkens ist ja sogar den Menschen inseinem Wesen ausmacht und nicht auf einen goumlttlichen Intellektwie Alexander oder auf einen universalen wahrhaft seienden In-tellekt wie Plotin rekurriert Zugleich trennt er das Begriffsdenkenan sich von der Wahrnehmung und dem wahrnehmenden Koumlrper

2 Der potentielle Intellekt und die Stufen der Erkenntnis

Um das Verhaumlltnis von potentiellem und aktuellem Intellektbesser verstehen und zugleich erklaumlren zu koumlnnen wie sich die intellektive Erkenntnis aus der Wahrnehmung entwickelt ist esnuumltzlich Themistiosrsquo Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zuRate zu ziehen welche sich vornehmlich in seiner Analytica pos -teriora-Paraphrase findet Eine Erkenntnislehre in der Art der

188 Michae l Schramm

platonischen Anamnesis-Lehre die auch von allen Neuplatonikernvertreten wurde wonach jede Erkenntnis eine Wiedererinnerungan das Ideenwissen der Seele vor ihrer bdquoEinkoumlrperungldquo sei23 lehnter explizit ab (In An Post 427ndash33) Vielmehr legt er wie schonAlexander im Ausgang von Aristotelesrsquo Analytica posteriora 219einen Stufenbau der Erkenntnis zugrunde der als fortlaufende In-duktion (παγωγ8) von der Partikularitaumlt der einzelnen Wahrneh-mung uumlber Erinnerung und Erfahrung zur Allgemeinheit von Wis-sen und Prinzipienerkenntnis fuumlhrt

Alexander konzipiert diese Induktion als fortlaufenden Ab-straktionsprozeszlig in dem die intelligible Form nach und nach auseiner Materie herausgehoben wird Zunaumlchst hat der MenschWahrnehmungen bzw Sinneseindruumlcke (τποι) die er als Phantas-mata in der Erinnerung aufbewahrt Anschlieszligend schreitet erdurch Erfahrung von den in der Erinnerung bewahrten Einzel -eindruumlcken zu allgemeinen Gedanken fort indem er mehrmaligwiederholte Einzeleindruumlcke auf ihre Aumlhnlichkeit hin miteinandervergleicht (Alex De an 833ndash13) Der Intellekt erkennt in den verschiedenen Einzeleindruumlcken die allgemeine Form die nur inverschiedenen Materien verschieden konkretisiert ist und loumlst die-se gedanklich von der Materie (8511ndash20) Dabei kommt die Drei-teilung des Intellekts nach Alexander folgendermaszligen zum TragenDer potentielle Intellekt ist die Disposition (πιτηδειτης) zurAufnahme der intelligiblen Formen vergleichbar einer unbe-schriebenen Wachstafel (8424) und enthaumllt diese der Moumlglichkeitnach bevor sie wirklich gedacht werden (21ndash24) der habituelle Intellekt besitzt sie bdquozusammengedraumlngtldquo (4θρα) und in sich bdquoru-hendldquo (gtρεμοντα) (865f) und der aktuelle Intellekt ist schlieszlig-lich nichts anderes als die gedachte Form selbst (8615) Abstrak -tion bedeutet nicht das Herausgreifen e iner Eigenschaft unterAbzug einer Vielzahl von anderen Eigenschaften sondern dasHerausheben der intelligiblen Form aus einer Materie bdquoDer Intel-lekt macht die wahrnehmbaren [Eindruumlcke] fuumlr sich intelligibel in-dem er sie von der Materie abtrennt und das theoretisch betrach-tet was ihr jeweiliges Sein istldquo (8419ndash21) Erkenntnis hat also fuumlrAlexander zwei Quellen die Wahrnehmung durch die das erken-nende Wesen externer Gegenstaumlnde gewahr wird und den Intel-

189Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

23) Platon skizziert die Anamnesis-Lehre Men 81cndashd zur neuplatonischenAnamnesis-Lehre vgl z B Plot 291647 48430 59532

lekt der durch Abstraktion die innere Form dieser Gegenstaumlndeerkennt Der Abstraktionsprozeszlig beginnt daher nicht nur bdquountenldquobei den einzelnen Sinnenseindruumlcken von denen zu abstrahierenist sondern auch bdquoobenldquo bei der an sich gleichbleibenden und mitsich selbst identischen Wesensform auf die sich die Abstraktion alsZiel hinbewegt

Im Anschluszlig an Alexander ist auch fuumlr Themistios der Fort-gang von der Wahrnehmung zur Prinzipienerkenntnis des Intel-lekts ein Abstraktions- und Induktionsprozeszlig Schon bei der Wahr-nehmung von Einzeleindruumlcken gibt es eine aumlhnliche Verknuumlpfungvon Individualitaumlt und Allgemeinheit wie bei der gemeinsamenTaumltigkeit von potentiellem und aktuellem Intellekt indem dieWahrnehmung bdquodieses Weiszligenldquo die gleichzeitige Wahrnehmung(συναισθνεσθαι) des allgemeinen Eindrucks bdquoweiszligldquo impliziert(Them In An Post 642ndash4) Individualitaumlt und Allgemeinheit sindnun das maszliggebliche Kriterium fuumlr die Unterscheidung von Wahr-nehmung und begrifflichem Denken Die Wahrnehmungen sindPrinzipien und Ursachen der partikularen Annahmen die Aufgabedes Intellekts ist die Verallgemeinerung dh mit einer Anspielungauf Platon (Phlb 27d) bdquodie Vielen zur Einheit zu machen und [ ]die Unbegrenzten mit einer Grenze zusammenzubindenldquo (τπολλ νον κα τ 7πειρα [ ] πρατι συνδ8σασθαι) (Them InAn Post 6417ndash20) Aus den partikularen Annahmen der Wahr-nehmung bdquoerschlieszligtldquo (συμπερανεται) der Intellekt d h das diskursive Denken das Allgemeine (24ndash26) waumlhrend er als dasschlechthin einfache Denkorgan das bdquogleichsam wie eine Art nicht-rationaler und ungeschiedener24 Blick der Seeleldquo (σπερ 7λογς τιςκα 7κριτος τς ψυχς 1ψις) wirkt (6514f) die bdquoPrinzipienldquo(4ρχς) bzw die bdquoallgemeinen und unmittelbaren Praumlmissenldquo (τςκαθλου κα 4μσους προτσεις) denkt (2f 9f)

190 Michae l Schramm

24) bdquoNicht-rationalldquo bedeutet nicht schlechthin bdquoirrationalldquo sondern eherbdquonicht-diskursivldquo Dieser Ausdruck betont die Einfachheit des intuitiv-noetischenDenkens das ohne λγος und κρσις dem in Saumltzen mitteilbaren Urteil auskommtbeides Kennzeichen des diskursiv-dianoetischen Denkens Im unmittelbaren Kon-text der Stelle ist mit λγος das Sprechen und Denken des Menschen in Saumltzen ge-meint das ihm als Wesen das den λγος besitzt (λογικν ζBον) eigentlich zukommt(65151719) Dieser traditionellen Sicht wonach bdquonicht-diskursivldquo als bdquonicht-pro -p ositionalldquo gedeutet wird widerspricht R Sorabji Some myths about non-prop -ositional thought in ders Time creation and the continuum theories in antiquityand the early Middle Ages London 1983 137ndash156

Themistios deutet die fortschreitende Verallgemeinerung vonder Wahrnehmung zum Prinzip in seiner Analytica posteriora-Pa-raphrase nicht wie Alexander explizit als Herausheben einer intel-ligiblen Form aus einer Materie vermutlich weil Aristoteles selbstin den Analytica posteriora die Form-Materie-Unterscheidungnicht anwendet In seiner De anima-Paraphrase hingegen unter-scheidet er zwischen Formen in der Materie (νυλα ε9δη) und im-materiellen Formen (7υλα ε9δη) zu denen man gelangt indem mandie intelligible Form von der Materie bdquoabtrenntldquo (χωρζων) (In Dean 1156f) Die Objekte des Intellekts sind schon in der Analyti-ca posteriora-Paraphrase die Prinzipien das sind die ersten Begrif-fe bzw Definitionen einer Wissenschaft (Cροι) und die bdquogemein -samen Gedankenldquo (κοινα ννοιαι) bzw Axiome (4ξι)ματα)25 alsunmittelbare Voraussetzungen eines Beweises ohne die kein Ler-nen moumlglich ist (In An Post 71ndash3 2233f) und diese beiden bil-den schon fuumlr Aristoteles die beiden Prinzipien einer Wissenschaft(Arist An post 110 76a37ndashb2) Dabei laumlszligt sich zeigen daszlig fuumlrThemistios ebenso wie fuumlr Alexander die intelligible Form das eigentliche Aumlquivalent fuumlr das Prinzip ist

So fuumlhrt er zur Erklaumlrung des Begriffs bdquoAxiomldquo die Defini tionTheophrasts an ein Axiom sei bdquoeine Meinung die entweder bei Be-griffen gleicher Gattung (ν το2ς (μογενσιν) z B wenn Gleichesvom Gleichen [scil abgezogen wird bleibt Gleiches erhalten] oderschlechthin bei allen gilt wie daszlig es entweder die Affirmation oderdie Negation gibtldquo d i der Satz vom ausgeschlossenen Drittenwobei der Ausdruck bdquogemeinsame Gedankenldquo im eigentlichen Sin-ne von der zweiten Bedeutung gelte und von da auf die erste uumlber-gegangen sei (Them In An Post 73ndash5)26 Das Axiom in diesen

191Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

25) Seit Euklid werden die mathematischen Axiome als κοινα ννοιαι be-zeichnet In der Stoa bezeichnen κοινα ννοιαι Ideen oder Begriffe die allen Men-schen vor jeder Erfahrung innewohnen und notwendige Bedingung fuumlr jede Erfah-rung sind (Chrysipp SVF II 154) Spaumltestens seit den Aristoteles-Kommentatorenwerden die κοινα ννοιαι aumlquivalent zu dem Aristotelischen Ausdruck 4ξι)ματαgebraucht (z B Alex In Top 18a20f In Met 317a34f Philop In An Pr 30619fIn An Post 3410)

26) Themistios hat in einer Paraphrase zur Topik von der nur Zeugnisse bei Boethius (vgl De diff top II 1186Cndash1194B) und Averroes erhalten sind sogardie Topoi der Topik mit den Aristotelischen Axiomen identifiziert (vgl S EbbesenCommentators and Commentaries on Aristotlersquos Sophistici Elenchi A Study ofPost-Aristotelian Ancient and Medieval Writings on Fallacies vol IndashIII [CLCAGVII] Leiden 1981 106ndash119)

beiden Bedeutungen haumlngt nun sachlich von den Begriffen ab bdquoDiePrinzipien des Beweises sind in der Tat keine Beweise sondernselbstevidente unmittelbare Praumlmissen (προτσεις αltτθενναργε2ς τε κα 7μεσοι) deren Prinzip wiederum der Intellekt istmit dem wir die Begriffe aufspuumlren (τοDς Cρους θηρεομεν) auswelchen die Axiome zusammengesetzt sindldquo (97ndash10) Die Axiomesind λγοι die sich aus formallogischen Begriffen wie GleichheitAffirmation Negation o auml zusammensetzen welche wiederumeine logische Gesetzmaumlszligigkeit bestimmen z B daszlig etwas nichtzugleich bejaht und verneint werden kann In konkreten Argu-mentationen werden die Axiome auf die eigentuumlmlichen Gegen-staumlnde einer speziellen Wissenschaft angewandt und die variablenBegriffe durch die jeweiligen eigentuumlmlichen Begriffe dieser Wis-senschaft ersetzt (2424ndash28) Das Denken des Intellekts der in denAxiomen die ihnen zugrundeliegenden formallogischen Begriffeoder die Begriffe einer bestimmten Wissenschaft erkennt fuumlhrtalso letztlich auf die immaterielle intelligible Form die dem Ge-genstand einer Wissenschaft innewohnt Dabei ndash und das ist eineklare anti-platonische Position27 ndash ist die jeweils zugrundeliegendeGattung nur ein Gedanke ohne reale Existenz der aufgrund derAumlhnlichkeit der Individuen gebildet wurde waumlhrend allein derArtbegriff das Eidos das tatsaumlchliche Wesen und die Form derDinge ausmacht (In De an 332ndash35)

Eine weitere Uumlbereinstimmung mit Alexander ist die Anwen-dung verschiedener lebensgeschichtlicher Entwicklungsstufen aufdie verschiedenen Intellektstufen Fuumlr Alexander haben den poten-tiellen Intellekt alle Menschen von Geburt an den habituellen Intellekt erwirbt hingegen nur der bdquotreffliche Menschldquo (σπουδα2ος)durch Unterricht und Uumlbung indem er zunaumlchst den an kontin-genten Gegenstaumlnden des praktischen Lebens geschulten Intellekt(πρακτικς κα δοξαστικς νος) und spaumlter den fuumlr die notwendi-gen Gegenstaumlnde der Wissenschaft zustaumlndigen theoretischen In-tellekt ausbildet (Alex De an 8120ndash823) Mit der Entwicklungder intellektuellen Faumlhigkeiten vom Kind zum Erwachsenen vompraktischen zum theoretischen Interesse geht fuumlr Alexander die Be-griffsbildung einher das allmaumlhliche induktive Fortschreiten vomEinzelfall zum Allgemeinbegriff Auch Themistios behauptet daszlig

192 Michae l Schramm

27) Darauf hat R Sorabji hingewiesen vgl Todd 1996 2 Anm 12

schon der kindliche Intellekt in den Wahrnehmungen bzw Phan-tasmata Aumlhnlichkeiten und Unterschiede registriert und danach all-maumlhlich sein Wissen aufbaut das er immer weiter vervollkommnenkann (Them In De an 959ndash21) Er ist damit die Vorstufe zur Ent-wicklung des bdquoerworbenenldquo Intellekts der die Begriffe besitzt

In seiner Analytica posteriora-Paraphrase betont Themistiosdaszlig der Prozeszlig der begrifflichen Verallgemeinerung Zeit braucht(In An Post 6421ndash24) und mit der Entwicklung des Menschenvoranschreitet bdquoWaumlhrend wir Fortschritte machen waumlchst und gedeiht der Intellekt immer mit uns mit (συναυξνεται [ ] κασυνεπιδδωσι) und zwar zuerst im Hinblick auf die einfachen Setzungen (θσεις) der nicht-zusammengesetzten einfachsten Bestandteile der Sprache die wir Begriffe (Cρους) nennen und aufdie einfachen Vorstellungen (4ντιλ8ψεις)ldquo (6515ndash18) EinfacheBegriffe wie bdquoMenschldquo oder bdquoweiszligldquo denken und sagen schon dieKinder wenn sie Sprechen und Denken (λγος) lernen (18ndash20) Beifortschreitender Sprach- und Denkentwicklung tritt die Faumlhigkeithinzu aus den einfachen Begriffen und Vorstellungen Aussagen zubilden und Fragen nach dem Wesen der Dinge zu stellen etwa wasder Mensch ist (20f) Auf einer noch houmlheren Entwicklungsstufewenn eine houmlhere Faumlhigkeit zum Denken des Allgemeinen ausge-bildet ist erlangt der menschliche Intellekt schlieszliglich seine volleDenkfaumlhigkeit (λογικ6 ξις) und damit sein eigentliches Wesen alsvernunftbegabtes Lebewesen (21ndash24) Wenn der Intellekt in dieseseine Vollendungsstufe gelangt ist und die zweite Potentialitaumlt odererste Aktualitaumlt erreicht hat besitzt er die Kraft zur eigenen vonaumluszligerer Anregung unabhaumlngigen Taumltigkeit (24ndash28) d h die zwei-te Aktualitaumlt des Denkens Zusammenfassend gesagt kann der Intellekt zuerst nur Namen verwenden und die mit den Namen gemeinten Dinge denken diese kann er dann diskursiv d h in Zusammensetzungen und Trennungen denken und schlieszliglich in-dem er gewisse Urteile in ihren begrifflichen Konstituentien denktdie allgemeinen Begriffe in sich festhalten (6528ndash663)

Wie Alexander koppelt auch Themistios den fortschreitendenErkenntnisweg vom Einzelnen zum Allgemeinen an die ontogene-tische Entwicklung des Menschen vom Kind zum ErwachsenenEin bezeichnender Unterschied zu Alexander duumlrfte aber darin bestehen daszlig Themistios den potentiellen Intellekt in gewisserWeise mit dem fruumlhkindlichen Spracherwerb identifiziert und demVerstehen der Namensbedeutung eine einfache intellektuelle Ein-

193Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

sicht in das Wesen der Dinge gleichstellt Er koumlnnte sich dafuumlr aufAristoteles berufen fuumlr den das Wissen um die Bedeutung derWorte eine notwendige Voraussetzung jeden Wissens uumlberhauptist insbesondere bei den Prinzipien einer Wissenschaft (Arist Anpost 11 71a12f 10 76a32f) Wenn die einfache noetische Ein-sicht in das Wesen der Dinge erst nach einem Durchgang durch dasdiskursive Denken das stets in Zusammensetzungen und Tren-nungen einfacher Begriffe operiert als dessen Vollendung mit demvollen Begriff erreicht ist dann hat nach Themistios der kindlicheIntellekt mit dem einfachen Sprachgebrauch bereits einen Vor-Be-griff des Wesens der Dinge erworben Der Uumlbergang vom potenti-ellen zum aktuellen Intellekt ist damit nach der De anima-Para-phrase einerseits der Uumlbergang vom individuellen zum allgemeinenBegriff andererseits nach der Analytica posteriora-Paraphrase derUumlbergang vom einzelnen Wort bzw Vor-Begriff zum wissen-schaftlichen Begriff der ein systematisches Wissen um die Verbin-dungen mit den anderen Begriffen impliziert

Daher bezeichnet Themistios den potentiellen Intellekt auchals bdquoVorlaumlufer (πρδρομος) des aktiven Intellektsldquo vergleichbardem Verhaumlltnis der Strahlen der Sonne zum Licht oder der Bluumltezur Frucht (Them In De an 10530ndash32) Der potentielle Intellektist fuumlr den aktiven Intellekt zugleich Materie und Vorlaumlufer in derSeele indem er diese auf das Denken des aktiven Intellekts vorbe-reitet Der potentielle Intellekt wird durch den aktuellen Intellektnur vollendet (9829f) indem dieser wie das Licht im Hinblick aufdas moumlgliche Sehen und die moumlglichen Farben 1) den potentiellenIntellekt zu einem aktuellen Intellekt und 2) die potentiell gedach-ten Inhalte das sind die immateriellen Formen bzw die aus denEinzelwahrnehmungen gebildeten allgemeinen Begriffe zu aktuellgedachten macht (9835ndash994) Der potentielle Intellekt ist damitein bdquoSchatzhausldquo oder eine bdquoVielheit an Gedankenldquo (θησαυρςbzw πλθος τEν νοημτων) und als solcher enthaumllt er die aus der Wahrnehmung und der Phantasie gewonnenen in der Erinne-rung bewahrten Eindruumlcke (τποι) bdquowie eine Materieldquo (σπερ Fλη)(6ndash8 21f) Dem potentiellen Intellekt liegen die Phantasmata alsMaterie zugrunde (10030) wie dieser wiederum fuumlr den aktivenIntellekt als Materie dient Er selbst enthaumllt die Gedanken als indi-viduelle Begriffe oder Vor-Begriffe die erst durch die Aktualitaumltdes aktiven Intellekts als allgemeine Begriffe gedacht werden Sokann der potentielle Intellekt an sich selbst auch nicht diskursiv

194 Michae l Schramm

denken dh er kann nicht die immateriellen Formen bzw Begrif-fe voneinander unterscheiden (διακρ2ναι) von einem zum andernuumlbergehen (μετιναι) sie verbinden (συντιθναι) oder trennen(διαιρε2ν) (995f) Erst wenn der aktive Intellekt die Materie derim potentiellen Intellekt enthaltenen Gedanken uumlbernimmt undder potentielle Intellekt auf diese Weise mit dem aktiven eins wirdwird er auch faumlhig die Taumltigkeiten des diskursiven Denkens aus-zufuumlhren (8ndash10)

Ein Unterschied zu Alexander wie auch zu Aristoteles bestehtdarin daszlig Themistios die Phantasmata zur Materie fuumlr den poten-tiellen Intellekt macht (10030) Wie die Wahrnehmung nicht ohneWahrnehmungsgegenstaumlnde aktualisiert wird so auch nicht derpotentielle Intellekt ohne Phantasmata (11318ndash20 mit 9833ndash35)Zwar betont Aristoteles mehrmals daszlig die (dianoetische) Seeleniemals ohne Phantasien denkt die ihr wie Wahrnehmungen zu-kommen (Arist De an 37 431a14ndash17) bzw daszlig sie die intelli-giblen Formen in den Phantasien denkt (431b2 8 432a3ndash5) Dochnirgendwo laumlszligt sich aus Aristoteles ableiten daszlig es der potentielleIntellekt ist der in Phantasmata denkt Der Grund fuumlr diese Zu-ordnung ist Themistiosrsquo Konzeption des potentiellen Intellekts Erist nicht wie bei Alexander reine Potentialitaumlt und eine Dispositionzur Aufnahme intelligibler Formen sondern selbst schon aktivetwa indem durch ihn bereits die Kinder Aumlhnlichkeiten und Un-terschiede in den Sinneseindruumlcken sehen und Vor-Begriffe bildenoder indem sie die Worte ihres gewoumlhnlichen Sprachgebrauchs vongewissen Vorstellungen der Phantasie begleiten lassen Der aktuel-le Intellekt verallgemeinert dann nur was im potentiellen Intellektals seinem Vorlaumlufer schon enthalten war Wenn sich in der Phan-tasie aus vielen Sinneseindruumlcken ein Bild einer Sache oder Qualitaumlteinstellt enthaumllt der potentielle Intellekt davon einen individuellenBegriff oder einen den Vorstellungen zugeordneten Vor-Begriff(bdquodieses Weiszligeldquo bdquoMenschldquo) den der aktuelle Intellekt allgemeinoder in seinem Wesen denkt (bdquoweiszligldquo Wesen von bdquoMenschldquo) We-gen dieser Zusammengehoumlrigkeit des individuellen und des all -gemeinen Begriffs ist auch der potentielle Intellekt nach dem Toddes Koumlrpers dauerhaft mit dem aktiven Intellekt verbunden undgenauso vom Koumlrper abgetrennt (Them In De an 10529f) wo-bei der aktive Intellekt bdquomehrldquo (μGλλον) abgetrennt ist als der potentielle (10534ndash10614 10832ndash34) Dieses bdquomehrldquo bezieht sichlediglich auf die Universalitaumlt des aktiven Intellekts die die Indivi-

195Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

dualitaumlt des potentiellen Intellekts mitumfaszligt Dieser ist daherauch bdquomehrldquo mit der menschlichen Seele bdquoverwachsenldquo (συμφυ8ς)als jener (9834) weil er zeitlich fruumlher in uns wirkt und ontolo-gisch von geringerem Rang ist (1069ndash11) Die Unvergaumlnglichkeitdieses Intellekts beruht auf einer (Fehl-)Deutung von De an 34wo Aristoteles den νος bdquoabgetrenntldquo (χωριστς) nennt Er meintden νος als solchen aber Theophrast und Themistios nehmen andaszlig sich bereits 34 ausschlieszliglich auf den δυνμει νος bezieht

Ebenso wie fuumlr Alexander hat Erkenntnis fuumlr Themistios zweiQuellen die Wahrnehmung die in aumluszligeren Sinneseindruumlcken dieintelligiblen Formen in einer individuellen Materie wahrnimmtund den Intellekt der nach einer gewissen Entwicklung des Spre-chens und Denkens die Allgemeinheit und Einheit der intelligiblenForm in der Vielheit der Sinneseindruumlcke herausstellt Die An -nahme eines angeborenen Ideenwissens ist fuumlr Themistios offenbarnicht noumltig da der Intellekt die Gegenstaumlnde seines Denkens ausder Wahrnehmung und aus dem Spracherwerb erhaumllt Angeborenist allerdings die menschliche Befaumlhigung zur Sprache und zu kon-zeptionellem Denken die ein implizites Wissen um formale Denk-prinzipien wie etwa den Satz vom Widerspruch mitumfaszligt Da-durch ist es moumlglich aus den einfachen Anfangsgruumlnden der erstenVorstellungen und durch das Erlernen der Worte die Einsicht indas Wesen der Dinge und ein zusammenhaumlngendes wissenschaft -liches Wissen zu entwickeln

3 Einheit und Vielheit des νοῦς ποιητικός

Einen offenkundigen Bezug auf Plotin nimmt Themistiosmit der Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts denn wenn er sagt daszlig es schoumlner sei die Frage zu stellenob alle Intellekte einer seien als die ob alle Seelen eine seien(10414ndash16) nimmt er woumlrtlich die Uumlberschrift von Plotins En-neade 49 Περ το ε= πGσαι α5 ψυχα μα wieder auf28 Themisti-os ist der erste der Kommentatoren der diese fuumlr Plotin typischeFrage nach dem Verhaumlltnis von Einheit und Vielheit innerhalb einer Hypostase explizit auf den aktiven Intellekt uumlbertraumlgt und

196 Michae l Schramm

28) Vgl Balleacuteriaux 1989 218

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

mistios auch Platon-Paraphrasen verfaszligt die uns verloren sindund seine Reden enthalten viele Platon-Zitate mit denen er PlatonsAnliegen einer Begruumlndung der Politik in der Metaphysik zuzu-stimmen scheint6

Die Darlegungen die Themistios zu De an 35 zum νοςποιητικς macht nehmen in mehrererlei Hinsicht eine Sonderstel-lung in seinen der Philosophie gewidmeten Werken ein Zunaumlchstsind sie keine Paraphrase im gewoumlhnlichen Sinne sondern bieteneine systematische Eroumlrterung der Aristotelischen Intellektlehremit Einleitung Problemstellung und Loumlsung unter Zuhilfenahmevieler Zitate aus Aristoteles Platon und Theophrast Auch quanti-tativ unterscheiden sie sich mit knapp elf CAG-Seiten von insge-samt 126 fuumlr den gesamten De anima-Text deutlich von Paraphra-sen zu anderen Aristoteles-Texten7 Auszligerdem enthalten die Dar-legungen einige neuplatonische Termini und weisen Parallelen zuPlotin auf uumlber deren Stellenwert Uneinigkeit besteht WaumlhrendMahoney und Balleacuteriaux dezidiert fuumlr eine neuplatonische Deu-tung der Intellektlehre des Themistios eingetreten sind8 lehnenBlumenthal und Todd eine neuplatonische Lesart des Textes eben-so entschieden ab9

182 Michae l Schramm

6) Vgl Blumenthal 1990 114 Es gibt aber auch die Ablehnung des Philoso-phenkoumlnig-Satzes aus der Republik zugunsten von Aristotelesrsquo Politikansatz daszligder Herrscher nicht selber Philosoph sein solle sondern dem ratgebenden Philoso-phen zuhoumlren und ihm gehorsam sein muumlsse (vgl Or 8 107c2ndashd3 und Arist Frg982 Gigon) D OrsquoMeara hat in seinem Versuch die neuplatonische politische Phi-losophie der Spaumltantike nachzuzeichnen (D OrsquoMeara Platonopolis Platonic Poli-tical Philosophy in Late Antiquity Oxford 2003) Themistios ausdruumlcklich ausge-klammert weil seine Betonung der politischen Handlung als Nachahmung goumltt -lichen Handelns etwa im Gegensatz steht zu der neuplatonischen Ansicht daszlig dasLeben der theoretischen Schau Vorrang genieszlige vor dem der politischen Handlung(206ndash208) Zu den Platon-Zitaten in den Reden vgl Colpi 1987 85ndash93

7) Vgl Balleacuteriaux 1989 201 Schroeder Todd 1990 36 sprechen von einembdquoexcursusldquo aumlhnlich auch Moraux 1978 308 und Blumenthal 1990 118

8) I Hadot (bdquoDer fortlaufende philosophische Kommentarldquo in W Geer-lings Ch Schulze [Hrsg] Der Kommentar in Antike und Mittelalter Beitraumlge zuseiner Erforschung Leiden Boston Koumlln 2002 183ndash199) hat sich dieser Ansichtangeschlossen (186 Anm 12)

9) Blumenthal 1990 119 sieht die Intellektlehre als bdquofundamentally free ofPlatonism ndash except of course in so far as Aristotle himself was notldquo Schroeder Todd 1990 konzedieren bdquoPlotinian parallels and echoes that indicate an interest inNeoplatonism otherwise absent from his worksldquo (34 mit Anm 115) meinen aberdaszlig Themistios bdquomay have resisted contemporary trends towards a systematic Neo-platonic readingldquo (39) aumlhnlich Todd 1996 2 und 10

Im folgenden sollen die aufgewiesenen Parallelen zu Plotin10

systematisch und im Zusammenhang interpretiert werden um zuentscheiden ob es sich dabei um bloszlige terminologische Assozia-tionen11 oder um tatsaumlchliche inhaltliche Uumlbereinstimmungen han-delt Zugleich sollen Themistiosrsquo Ansichten in Abgrenzung zuAlexander v Aphrodisias untersucht werden der nicht nur fuumlr Plotin12 sondern auch fuumlr Themistios maszliggeblich bei der Formu-lierung seiner Intellekttheorie war Leitend fuumlr die Verhaumlltnisbe-stimmung von Platonismus oder Aristotelismus bei Themistiossollen einige Fragen sein bei deren Beantwortung signifikantedogmatische Unterschiede bestehen 1) Gibt es ein apriorischesIdeenwissen unabhaumlngig von der durch Sinneswahrnehmung ver-mittelten Erfahrung 2) Gibt es eine Wiedererinnerung an diesesIdeenwissen 3) Wie ist das Verhaumlltnis von Selbst- und Objekter-kenntnis bestimmt 4) In welchem Verhaumlltnis stehen der goumlttlicheund der menschliche Intellekt zueinander

1 Der νοῦς ποιητικός und das Wesen des Menschen

Maszliggeblicher Gegner und zugleich intellektueller Hinter-grund fuumlr Themistiosrsquo eigene Interpretation der Aristotelischen Intellekttheorie ist Alexander v Aphrodisias13 Zwar nennt The-mistios Alexander nicht namentlich doch seine Kritik an der In-terpretation wonach der νος ποιητικς entweder der Erste Gottoder die ersten Praumlmissen und die daraus aufgebauten Wissen-schaften seien zielt deutlich auf Alexander Dieser hatte den νοςποιητικς mit dem Intellekt des Unbewegten Bewegers identifi-ziert der bdquoersten Ursacheldquo des Seins und der Intelligibilitaumlt von allem (Alex De an 891ndash11) Dagegen fuumlhrt Themistios zunaumlchst

183Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

10) Vgl dazu Schroeder Todd 1990 34 Anm 11511) So Blumenthal 1990 120ndash123 und Todd 1996 186 Anm 112) Vgl Merlan 1963 13ndash16 39f und Szlezaacutek 1979 135ndash14313) Vertraut scheint Themistios nur mit Alexanders Abhandlung De anima

nicht aber mit De intellectu zu sein (vgl Schroeder Todd 1990 35 Anm 117 undTodd 1996 1) Ein Indiz gegen diese Einschaumltzung ist eine Formulierung bei The-mistios die parallel in Alex De int 11218ndash20 vorkommt (vgl unten Anm 16) Im folgenden wird aufgrund der Probleme die hinsichtlich der Einheitlichkeit undAutorschaft von De intellectu auftreten (vgl Schroeder Todd 1990 6ndash31) zumVergleich mit Alexander nur sein De anima-Traktat (CAG Suppl 211ndash100) her-angezogen

einige Aristotelesstellen an die implizieren daszlig der gesamte Intel-lekt und damit auch der νος ποιητικς in der menschlichen Seelesein muszlig14 So wird in De anima 35 die Dichotomie in eine mate-rielle Ursache die alles wird und eine wirkende die alles hervor-bringt bdquonotwendigerweise auch in der Seele bestehenldquo (Arist Dean 35 430a13f) Anderswo wird vom bdquotheoretischen Intellektldquoals einer bdquoanderen Art der Seeleldquo (ψυχς γνος τερον) gesprochen(22 413b24ndash27) Als Argument fuumlhrt Themistios zweierlei an1) Nach De anima soll bdquoalleinldquo der νος ποιητικς bdquounsterblichund ewigldquo (35 430a23) sein Das koumlnne nur auf die menschlicheSeele und nicht auf den Ersten Gott der Metaphysik bezogen seinweil dort auch die Gestirne unsterbliche und ewig bewegte Koumlrperseien (Them In De an 10236ndash10315) 2) Einen potentiellen In-tellekt koumlnne es nur in der menschlichen Seele geben (9731) weilder goumlttliche Intellekt ja voumlllig frei von Potentialitaumlt sei

Anstatt wie Alexander die Rolle des goumlttlichen Intellekts fuumlrdas menschliche Denken zu betonen betrachtet Themistios Po-tentialitaumlt und Aktualitaumlt als zwei Seiten des menschlichen Den-kens und betont so dessen Einheit Alexander hatte den Intellekt indrei Arten unterteilt den potentiellen bzw materiellen Intellekt(δυνμει νος bzw λικς νος) den alle Menschen insbesonde-re die Kinder haben den habituellen bzw erworbenen Intellekt(καθrsquo ξιν νος bzw πκτητος νος) den man als Erwachsener mit einem gewissen Wissen uumlber die Dinge erworben hat undschlieszliglich den aktuellen Intellekt (νεργεamp νος) der auch als derbdquovon auszligen kommende Intellektldquo (θραθεν νος) bezeichnet wirdund den einfachen immer aktuellen Intellekt Gottes meint15 DieUnterscheidung von habituellem und potentiellem Intellekt findetsich nicht woumlrtlich bei Aristoteles Aber sie kann sich auf eineGrundunterscheidung des Aristoteles von zwei Graden der Poten-tialitaumlt (δναμις) bzw Aktualitaumlt (ντελχεια) berufen die dieser

184 Michae l Schramm

14) Die neuplatonischen De anima-Kommentare des 6 Jh verfahren genau-so Ammonios etwa tadelte die Einteilungen sowohl des Alexander als auch desPlutarch v Athen weil beide als eine Art des Intellekts den aktuellen von auszligenkommenden Intellekt Gottes ins Spiel bringen wo Aristoteles in De anima nur vommenschlichen Intellekt handle Und von den Seelenteilen sei nur dieser ewig (Ps-Philop In De an 51832ndash51915)

15) Vgl Alex De an 8113ndash826 und 8823ndash8912 zusammengefaszligt Ps-Phi-lop In De an 5188ndash18 Zu θραθεν νος vgl Arist De gen an 736b28 und Deresp 472a22

am Beispiel des Wissens eingefuumlhrt hat Der Mensch ist der Moumlg-lichkeit nach wissend weil er generell zu den Lebewesen gehoumlrtdie sich Wissen aneignen koumlnnen die sogenannte erste Potentia-litaumlt Er kann sich bereits ein Wissen erworben haben das er alsHabitus besitzt aber gerade nicht anwendet Dieses Wissen wirdzweite Potentialitaumlt bzw erste Aktualitaumlt genannt Und schlieszliglichdie zweite Aktualitaumlt Jemand wendet ein gelerntes Wissen geradein praxi an (Arist De an 25 417a21ndashb16 vgl auch 34 429b5ndash9)Die Seele ist nach Aristoteles bekanntlich wie ein erlerntes aber gerade nicht ausgeuumlbtes Wissen und ihrer Definition nach einebdquoerste ντελχειαldquo bzw ein angeborener Habitus (21 412a19ndash28)Und auch im Hinblick auf den Intellekt wendet schon Aristotelesdie beiden verschiedenen Grade von Potentialitaumlt und Aktualitaumltan (34 429a21f und b5ndash8)16

Von Alexander der diese allgemeine Einteilung verschiedenerAktualitaumlts- und Potentialitaumltsgrade als erster ausdruumlcklich auf denIntellekt angewandt hat uumlbernimmt Themistios die Terminologieund die Einteilung des νος-Begriffs nach Potentialitaumlt und Ak-tualitaumlt So gibt es bei ihm a) den potentiellen Intellekt (δυνμεινος) b) den habituellen Intellekt (νος ( καθrsquo ξιν) und c) den ak-tuellen Intellekt (νεργεamp νος) bzw den aktiven Intellekt (νοςποιητικς) Daneben gibt es d) den bdquogemeinsamenldquo oder passivenIntellekt (κοινς νος νος παθητικς) der fuumlr ihn mit der Erin-nerung den Affekten und dem diskursiven Denken verbunden istFuumlr Themistios ist einzig der passive Intellekt nicht vom Koumlrpertrennbar der potentielle und aktuelle Intellekt sind hingegen ab-trennbar (Them In De an 10526ndash30)17 waumlhrend fuumlr Alexandernur der aktuelle bzw aktive Intellekt abgetrennt vom Koumlrper exi-stiert und die beiden Intellektformen des Menschen mit dessen

185Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

16) Balleacuteriaux 1989 203 weist fuumlr die Terminologie auszligerdem auf Alkinooshin Dieser unterscheidet νος ( ν δυνμει und ( κατrsquo νργειαν νος (Didaskali-kos 16419 Hermann) Allerdings geht es hier nicht um den menschlichen Intellektsondern um die Prinzipien der platonischen Theologie

17) Ob der habituelle Intellekt abtrennbar ist oder nicht dazu bezieht The-mistios nicht explizit Stellung Da jedoch der Habitus die 2 Potentialitaumlt bzw1 Aktualitaumlt darstellt denkt ihn Themistios vermutlich ebenso als abtrennbar wieden potentiellen und den aktuellen Intellekt Das bedeutet nicht daszlig die mensch -liche Seele nach ihrem Tod auch erworbenes Wissen bdquomitnehmenldquo koumlnnte Viel-mehr handelt es sich bei dem Habitus nur um die Auspraumlgung der im Menschen an-gelegten von seinem Denken unabhaumlngigen Begriffe der Gegenstaumlnde der Welt

Koumlrper vergaumlnglich sind (Alex De an 9013ndash20) Der habituelleIntellekt hat bei Themistios nicht mehr denselben Stellenwert wiebei Alexander weil er den gesamten Intellekt im Menschen veror-tet und damit den habituellen Intellekt nicht mehr als letzte Stufedes allein dem Menschen zugehoumlrigen Denkens auszeichnet

Gegen Alexanders theologische Deutung des νος ποιητικςvertritt Themistios die These bdquoWir sind der νος ποιητικςldquo(Them In De an 10037f) Das bedeutet allerdings nicht das je-weilige Individuum sondern den kollektiven Intellekt der aus dergemeinsamen Artnatur des Menschen folgt So unterscheidet The-mistios sorgsam zwischen dem einzelnen Ich (γ)) und dem all -gemeinen Ich-Sein (τ μο εναι) bzw dem Wesen des Ich Das je-weilige Ich ist bdquoder Intellekt der zusammengesetzt ist aus dem po-tentiellen und dem aktuellen Intellektldquo (γ+ [ ] ( συγκεμενοςνος κ το δυνμει κα το νεργεamp)18 das allgemeine Wesen desIch besteht lediglich bdquoaus dem aktuellen Intellektldquo (10018ndash20)Das individuelle Ich ist damit in seinem Wesen nicht wie seit derNeuzeit bestimmt durch die Subjektivitaumlt und Individualitaumlt des jeweiligen seelischen Erlebens das sich in einem Leib vollziehtsondern vielmehr als ein unkoumlrperlicher uumlberindividueller undrein intellektueller Prozeszlig19 Daher spricht Themistios auch ohneUnterschied von bdquoIchldquo wie von bdquoWirldquo20

Die Quelle fuumlr Themistiosrsquo Unterscheidung zwischen demWir und dem Wesen des Wir ist Plotin der ebenfalls von einem

186 Michae l Schramm

18) Eine parallele Formulierung findet sich in dem Alexander zugeschriebe-nen Traktat De intellectu bdquoUnser Intellekt ist zusammengesetzt aus der Poten -tialitaumlt welche das Werkzeug des goumlttlichen Intellekts ist und die Aristoteles den potentiellen Intellekt nennt und aus der Aktualitaumlt von jenem (sc dem goumlttlichenIntellekt)ldquo (( -μτερος νος σνθετς στιν κ τε τς δυνμεως 0τις 1ργανν στιτο θεου νο ν δυνμει νον ( ριστοτλης καλε2 κα τς κενου νεργεαςAlex De an mant 11218ndash20) Die Autorschaft insbesondere der Passage in derdieses Zitat eingebettet ist (1125ndash11324) ist unklar Waumlhrend Moraux 1967 und1984 fuumlr diesen und den vorangegangenen Abschnitt ab 1104 Aristoteles v Mytile-ne als Autor ausmacht sehen Schroeder Todd 1990 26 und 31 hierin das Fragmenteines unidentifizierbaren Autors Dieser Ansicht folgt R Sharples (Hrsg) Alexan-der Supplement to bdquoOn the Soulldquo Ithaca New York 2004 38 Anm 92

19) Themistios steht hier in einer langen Tradition beginnend mit Ps-Pla-tons Alkibiades I (128endash130c) die das bdquowahre Selbstldquo des Menschen in der Seeleoder im Intellekt sieht Vgl die Zusammenstellung der relevanten Stellen und Au-toren bei Moraux 1978 323 Anm 136

20) Vgl 10336f 3παντες 4ναγμεθα ο5 συγκεμενοι κ το δυνμει κανεργεamp

bdquoWirldquo21 in zwei Bedeutungen spricht einerseits als der belebteLeib den wir mit dem Tier gemeinsam haben und durch den wirwahrnehmen andererseits der bdquowahreldquo oder bdquoinnere Menschldquo ((4ληθ6ς 7νθρωπος ( νδον 7νθρωπος) der vom Koumlrper abgetrenntist und zu dem die Seele insbesondere das bdquoreineldquo Denken und die durch Vernunft vermittelten Tugenden gehoumlren (Plot 11105ndash15)22 Der Unterschied ist offensichtlich daszlig Themistios das kon-krete Wir nicht als Koumlrper und das wahre Wir nicht als Seele be-stimmt Jedoch aumlhnelt Themistios Plotin darin daszlig auch diesermeint daszlig der Mensch das gleiche ist wie die Denkseele (λογικ6ψυχ8) und daszlig er den Intellekt besitzt der dem bdquoWirldquo der Seele ontologisch vorgeordnet ist Die Seele besitzt den Intellekt eben-falls auf zwei Arten als allen Menschen bdquogemeinsamenldquo (κοινς)Intellekt insofern als er bdquounteilbar einer und uumlberall derselbeldquo istund als individuellen bdquoeigentuumlmlichenldquo (9διος) Intellekt insofernals ihn auch jeder einzelne als ganzen in seinem obersten Seelenteilhat (11721ndash86) ndash genauso verhaumllt sich auch der Intellekt des Themistios der als bdquoWir-Seinldquo als intellektuelles Wesen des Men-schen uumlberall identisch ist und in einem konkreten Ich als ganzerund ungeteilt wirksam ist Aumlhnlich werden auch die intelligiblenFormen von beiden bestimmt Sie sind fuumlr Plotin bdquoin der Seelegleichsam entfaltet (οον 4νειλιγμνα) und voneinander abgesondert(οον κεχωρισμνα) im Intellekt alles zugleich ((μο τ πντα)ldquo (6ndash8) Themistios kennzeichnet den aktuellen Intellekt als den Bereichin dem alle Formen bdquozugleich zusammenldquo sind waumlhrend er den Be-

187Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

21) Das -με2ς ist bei Plotin der Ausdruck fuumlr das bdquoIchldquo (vgl 11[53]) Esmeint das was Platon den bdquoinneren Menschenldquo nennt (Szlezaacutek 1979 184) Zu Plo-tins Gebrauch von -με2ς vgl W Himmerich Eudaimonia Die Lehre des Plotin vonder Selbstverwirklichung des Menschen (= Forschungen zur neueren Philosophieund ihrer Geschichte 13) Wuumlrzburg 1958 92ndash100 Zu Plotins Theorie vom dop-pelten Ich vgl 641416ndash31 dazu C Tornau Plotin Enneaden 64ndash5 (22ndash23) einKommentar Stuttgart Leipzig 1998 266ndash276 und allgemein OrsquoDaly 1973

22) Auch Plotin sieht das wahre Selbst des Menschen nicht im Leib oder imbeseelten Leib sondern allein in der Seele (Plot 47124f) Er unterscheidet termi-nologisch das Selbst (αltτς) des Menschen oder unser Wir (-με2ς) und die Seele imSinne der Seelenhypostase welche die Weltseele genauso wie die Einzelseelen derLebewesen umfaszligt und Prinzip des Lebens unkoumlrperlich (5121ndash6) und ein bdquoBilddes Geistesldquo (ε=κ+ν νο) (5137ndash8) ist Das eigentliche Selbst des Menschen ndash derbdquowahreldquo oder bdquoinnere Menschldquo (( 4ληθ6ς 7νθρωπος ( νδον 7νθρωπος) (11105ndash15) ndash ist nun nichts anderes als die rationale oder diskursiv denkende Seele (λογικ6ψυχ8) (53320)

reich der voneinander getrennten Formen nicht der Seele sonderndem potentiellen Intellekt zuweist (Them In De an 1004ndash10) AlsMaterie des aktuellen Intellekts nimmt er bdquogeteiltldquo auf was jenerbdquoungeteiltldquo denkt (22f) ndash wie etwa die allgemeine Qualitaumlt bdquoweiszligldquodie an sich ungeteilt ist an verschiedenen Koumlrpern bdquogeteiltldquo d h ineinzelnen Instanzen der Farbe bdquoweiszligldquo vorkomme (22ndash26)

Themistios uumlbernimmt also ein plotinisches Denkmuster undmodifiziert es fuumlr seine Zwecke 1) Er kann damit die aristotelischeDichotomie von aktuellem und potentiellem Intellekt genauer er-klaumlren und den Vorgang wie der aktuelle Intellekt bdquoalles machtldquowas der potentielle Intellekt bdquowirdldquo der aktive Intellekt ist das Reservoir allgemeiner Begriffe waumlhrend der potentielle Intellektindividuelle Begriffe besitzt aus denen erst allgemeine Begriffe ge-bildet werden koumlnnen 2) Mit dieser Deutung uumlbt er implizit Kri-tik an Plotin fuumlr die ungenaue Ausdrucksweise von der bdquoTeilungldquoder intelligiblen Formen in der Seele die im Intellekt ungeteilt ge-dacht wuumlrden weil er damit die bdquogeteiltenldquo und die bdquoungeteiltenldquoFormen auf zwei Stufen seiner Seinshierarchie verteilt die in Wirk-lichkeit zur selben gehoumlren Denn fuumlr Themistios werden einzelneInstanzen eines allgemeinen Begriffs wie auch dieser Begriff selbstvom Intellekt erkannt potentiell sind die Einzelfaumllle deshalb weilsie nur im Hinblick auf das Allgemeine gedacht werden koumlnnenMit seiner aristotelisierenden Transformation der plotinischenEinteilung fuumlhrt er Potentialitaumlt und Aktualitaumlt als zwei Seiten desBegriffsdenkens zusammen wobei die Aktualitaumlt wesentlicher Be-standteil des menschlichen Denkens ist ja sogar den Menschen inseinem Wesen ausmacht und nicht auf einen goumlttlichen Intellektwie Alexander oder auf einen universalen wahrhaft seienden In-tellekt wie Plotin rekurriert Zugleich trennt er das Begriffsdenkenan sich von der Wahrnehmung und dem wahrnehmenden Koumlrper

2 Der potentielle Intellekt und die Stufen der Erkenntnis

Um das Verhaumlltnis von potentiellem und aktuellem Intellektbesser verstehen und zugleich erklaumlren zu koumlnnen wie sich die intellektive Erkenntnis aus der Wahrnehmung entwickelt ist esnuumltzlich Themistiosrsquo Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zuRate zu ziehen welche sich vornehmlich in seiner Analytica pos -teriora-Paraphrase findet Eine Erkenntnislehre in der Art der

188 Michae l Schramm

platonischen Anamnesis-Lehre die auch von allen Neuplatonikernvertreten wurde wonach jede Erkenntnis eine Wiedererinnerungan das Ideenwissen der Seele vor ihrer bdquoEinkoumlrperungldquo sei23 lehnter explizit ab (In An Post 427ndash33) Vielmehr legt er wie schonAlexander im Ausgang von Aristotelesrsquo Analytica posteriora 219einen Stufenbau der Erkenntnis zugrunde der als fortlaufende In-duktion (παγωγ8) von der Partikularitaumlt der einzelnen Wahrneh-mung uumlber Erinnerung und Erfahrung zur Allgemeinheit von Wis-sen und Prinzipienerkenntnis fuumlhrt

Alexander konzipiert diese Induktion als fortlaufenden Ab-straktionsprozeszlig in dem die intelligible Form nach und nach auseiner Materie herausgehoben wird Zunaumlchst hat der MenschWahrnehmungen bzw Sinneseindruumlcke (τποι) die er als Phantas-mata in der Erinnerung aufbewahrt Anschlieszligend schreitet erdurch Erfahrung von den in der Erinnerung bewahrten Einzel -eindruumlcken zu allgemeinen Gedanken fort indem er mehrmaligwiederholte Einzeleindruumlcke auf ihre Aumlhnlichkeit hin miteinandervergleicht (Alex De an 833ndash13) Der Intellekt erkennt in den verschiedenen Einzeleindruumlcken die allgemeine Form die nur inverschiedenen Materien verschieden konkretisiert ist und loumlst die-se gedanklich von der Materie (8511ndash20) Dabei kommt die Drei-teilung des Intellekts nach Alexander folgendermaszligen zum TragenDer potentielle Intellekt ist die Disposition (πιτηδειτης) zurAufnahme der intelligiblen Formen vergleichbar einer unbe-schriebenen Wachstafel (8424) und enthaumllt diese der Moumlglichkeitnach bevor sie wirklich gedacht werden (21ndash24) der habituelle Intellekt besitzt sie bdquozusammengedraumlngtldquo (4θρα) und in sich bdquoru-hendldquo (gtρεμοντα) (865f) und der aktuelle Intellekt ist schlieszlig-lich nichts anderes als die gedachte Form selbst (8615) Abstrak -tion bedeutet nicht das Herausgreifen e iner Eigenschaft unterAbzug einer Vielzahl von anderen Eigenschaften sondern dasHerausheben der intelligiblen Form aus einer Materie bdquoDer Intel-lekt macht die wahrnehmbaren [Eindruumlcke] fuumlr sich intelligibel in-dem er sie von der Materie abtrennt und das theoretisch betrach-tet was ihr jeweiliges Sein istldquo (8419ndash21) Erkenntnis hat also fuumlrAlexander zwei Quellen die Wahrnehmung durch die das erken-nende Wesen externer Gegenstaumlnde gewahr wird und den Intel-

189Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

23) Platon skizziert die Anamnesis-Lehre Men 81cndashd zur neuplatonischenAnamnesis-Lehre vgl z B Plot 291647 48430 59532

lekt der durch Abstraktion die innere Form dieser Gegenstaumlndeerkennt Der Abstraktionsprozeszlig beginnt daher nicht nur bdquountenldquobei den einzelnen Sinnenseindruumlcken von denen zu abstrahierenist sondern auch bdquoobenldquo bei der an sich gleichbleibenden und mitsich selbst identischen Wesensform auf die sich die Abstraktion alsZiel hinbewegt

Im Anschluszlig an Alexander ist auch fuumlr Themistios der Fort-gang von der Wahrnehmung zur Prinzipienerkenntnis des Intel-lekts ein Abstraktions- und Induktionsprozeszlig Schon bei der Wahr-nehmung von Einzeleindruumlcken gibt es eine aumlhnliche Verknuumlpfungvon Individualitaumlt und Allgemeinheit wie bei der gemeinsamenTaumltigkeit von potentiellem und aktuellem Intellekt indem dieWahrnehmung bdquodieses Weiszligenldquo die gleichzeitige Wahrnehmung(συναισθνεσθαι) des allgemeinen Eindrucks bdquoweiszligldquo impliziert(Them In An Post 642ndash4) Individualitaumlt und Allgemeinheit sindnun das maszliggebliche Kriterium fuumlr die Unterscheidung von Wahr-nehmung und begrifflichem Denken Die Wahrnehmungen sindPrinzipien und Ursachen der partikularen Annahmen die Aufgabedes Intellekts ist die Verallgemeinerung dh mit einer Anspielungauf Platon (Phlb 27d) bdquodie Vielen zur Einheit zu machen und [ ]die Unbegrenzten mit einer Grenze zusammenzubindenldquo (τπολλ νον κα τ 7πειρα [ ] πρατι συνδ8σασθαι) (Them InAn Post 6417ndash20) Aus den partikularen Annahmen der Wahr-nehmung bdquoerschlieszligtldquo (συμπερανεται) der Intellekt d h das diskursive Denken das Allgemeine (24ndash26) waumlhrend er als dasschlechthin einfache Denkorgan das bdquogleichsam wie eine Art nicht-rationaler und ungeschiedener24 Blick der Seeleldquo (σπερ 7λογς τιςκα 7κριτος τς ψυχς 1ψις) wirkt (6514f) die bdquoPrinzipienldquo(4ρχς) bzw die bdquoallgemeinen und unmittelbaren Praumlmissenldquo (τςκαθλου κα 4μσους προτσεις) denkt (2f 9f)

190 Michae l Schramm

24) bdquoNicht-rationalldquo bedeutet nicht schlechthin bdquoirrationalldquo sondern eherbdquonicht-diskursivldquo Dieser Ausdruck betont die Einfachheit des intuitiv-noetischenDenkens das ohne λγος und κρσις dem in Saumltzen mitteilbaren Urteil auskommtbeides Kennzeichen des diskursiv-dianoetischen Denkens Im unmittelbaren Kon-text der Stelle ist mit λγος das Sprechen und Denken des Menschen in Saumltzen ge-meint das ihm als Wesen das den λγος besitzt (λογικν ζBον) eigentlich zukommt(65151719) Dieser traditionellen Sicht wonach bdquonicht-diskursivldquo als bdquonicht-pro -p ositionalldquo gedeutet wird widerspricht R Sorabji Some myths about non-prop -ositional thought in ders Time creation and the continuum theories in antiquityand the early Middle Ages London 1983 137ndash156

Themistios deutet die fortschreitende Verallgemeinerung vonder Wahrnehmung zum Prinzip in seiner Analytica posteriora-Pa-raphrase nicht wie Alexander explizit als Herausheben einer intel-ligiblen Form aus einer Materie vermutlich weil Aristoteles selbstin den Analytica posteriora die Form-Materie-Unterscheidungnicht anwendet In seiner De anima-Paraphrase hingegen unter-scheidet er zwischen Formen in der Materie (νυλα ε9δη) und im-materiellen Formen (7υλα ε9δη) zu denen man gelangt indem mandie intelligible Form von der Materie bdquoabtrenntldquo (χωρζων) (In Dean 1156f) Die Objekte des Intellekts sind schon in der Analyti-ca posteriora-Paraphrase die Prinzipien das sind die ersten Begrif-fe bzw Definitionen einer Wissenschaft (Cροι) und die bdquogemein -samen Gedankenldquo (κοινα ννοιαι) bzw Axiome (4ξι)ματα)25 alsunmittelbare Voraussetzungen eines Beweises ohne die kein Ler-nen moumlglich ist (In An Post 71ndash3 2233f) und diese beiden bil-den schon fuumlr Aristoteles die beiden Prinzipien einer Wissenschaft(Arist An post 110 76a37ndashb2) Dabei laumlszligt sich zeigen daszlig fuumlrThemistios ebenso wie fuumlr Alexander die intelligible Form das eigentliche Aumlquivalent fuumlr das Prinzip ist

So fuumlhrt er zur Erklaumlrung des Begriffs bdquoAxiomldquo die Defini tionTheophrasts an ein Axiom sei bdquoeine Meinung die entweder bei Be-griffen gleicher Gattung (ν το2ς (μογενσιν) z B wenn Gleichesvom Gleichen [scil abgezogen wird bleibt Gleiches erhalten] oderschlechthin bei allen gilt wie daszlig es entweder die Affirmation oderdie Negation gibtldquo d i der Satz vom ausgeschlossenen Drittenwobei der Ausdruck bdquogemeinsame Gedankenldquo im eigentlichen Sin-ne von der zweiten Bedeutung gelte und von da auf die erste uumlber-gegangen sei (Them In An Post 73ndash5)26 Das Axiom in diesen

191Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

25) Seit Euklid werden die mathematischen Axiome als κοινα ννοιαι be-zeichnet In der Stoa bezeichnen κοινα ννοιαι Ideen oder Begriffe die allen Men-schen vor jeder Erfahrung innewohnen und notwendige Bedingung fuumlr jede Erfah-rung sind (Chrysipp SVF II 154) Spaumltestens seit den Aristoteles-Kommentatorenwerden die κοινα ννοιαι aumlquivalent zu dem Aristotelischen Ausdruck 4ξι)ματαgebraucht (z B Alex In Top 18a20f In Met 317a34f Philop In An Pr 30619fIn An Post 3410)

26) Themistios hat in einer Paraphrase zur Topik von der nur Zeugnisse bei Boethius (vgl De diff top II 1186Cndash1194B) und Averroes erhalten sind sogardie Topoi der Topik mit den Aristotelischen Axiomen identifiziert (vgl S EbbesenCommentators and Commentaries on Aristotlersquos Sophistici Elenchi A Study ofPost-Aristotelian Ancient and Medieval Writings on Fallacies vol IndashIII [CLCAGVII] Leiden 1981 106ndash119)

beiden Bedeutungen haumlngt nun sachlich von den Begriffen ab bdquoDiePrinzipien des Beweises sind in der Tat keine Beweise sondernselbstevidente unmittelbare Praumlmissen (προτσεις αltτθενναργε2ς τε κα 7μεσοι) deren Prinzip wiederum der Intellekt istmit dem wir die Begriffe aufspuumlren (τοDς Cρους θηρεομεν) auswelchen die Axiome zusammengesetzt sindldquo (97ndash10) Die Axiomesind λγοι die sich aus formallogischen Begriffen wie GleichheitAffirmation Negation o auml zusammensetzen welche wiederumeine logische Gesetzmaumlszligigkeit bestimmen z B daszlig etwas nichtzugleich bejaht und verneint werden kann In konkreten Argu-mentationen werden die Axiome auf die eigentuumlmlichen Gegen-staumlnde einer speziellen Wissenschaft angewandt und die variablenBegriffe durch die jeweiligen eigentuumlmlichen Begriffe dieser Wis-senschaft ersetzt (2424ndash28) Das Denken des Intellekts der in denAxiomen die ihnen zugrundeliegenden formallogischen Begriffeoder die Begriffe einer bestimmten Wissenschaft erkennt fuumlhrtalso letztlich auf die immaterielle intelligible Form die dem Ge-genstand einer Wissenschaft innewohnt Dabei ndash und das ist eineklare anti-platonische Position27 ndash ist die jeweils zugrundeliegendeGattung nur ein Gedanke ohne reale Existenz der aufgrund derAumlhnlichkeit der Individuen gebildet wurde waumlhrend allein derArtbegriff das Eidos das tatsaumlchliche Wesen und die Form derDinge ausmacht (In De an 332ndash35)

Eine weitere Uumlbereinstimmung mit Alexander ist die Anwen-dung verschiedener lebensgeschichtlicher Entwicklungsstufen aufdie verschiedenen Intellektstufen Fuumlr Alexander haben den poten-tiellen Intellekt alle Menschen von Geburt an den habituellen Intellekt erwirbt hingegen nur der bdquotreffliche Menschldquo (σπουδα2ος)durch Unterricht und Uumlbung indem er zunaumlchst den an kontin-genten Gegenstaumlnden des praktischen Lebens geschulten Intellekt(πρακτικς κα δοξαστικς νος) und spaumlter den fuumlr die notwendi-gen Gegenstaumlnde der Wissenschaft zustaumlndigen theoretischen In-tellekt ausbildet (Alex De an 8120ndash823) Mit der Entwicklungder intellektuellen Faumlhigkeiten vom Kind zum Erwachsenen vompraktischen zum theoretischen Interesse geht fuumlr Alexander die Be-griffsbildung einher das allmaumlhliche induktive Fortschreiten vomEinzelfall zum Allgemeinbegriff Auch Themistios behauptet daszlig

192 Michae l Schramm

27) Darauf hat R Sorabji hingewiesen vgl Todd 1996 2 Anm 12

schon der kindliche Intellekt in den Wahrnehmungen bzw Phan-tasmata Aumlhnlichkeiten und Unterschiede registriert und danach all-maumlhlich sein Wissen aufbaut das er immer weiter vervollkommnenkann (Them In De an 959ndash21) Er ist damit die Vorstufe zur Ent-wicklung des bdquoerworbenenldquo Intellekts der die Begriffe besitzt

In seiner Analytica posteriora-Paraphrase betont Themistiosdaszlig der Prozeszlig der begrifflichen Verallgemeinerung Zeit braucht(In An Post 6421ndash24) und mit der Entwicklung des Menschenvoranschreitet bdquoWaumlhrend wir Fortschritte machen waumlchst und gedeiht der Intellekt immer mit uns mit (συναυξνεται [ ] κασυνεπιδδωσι) und zwar zuerst im Hinblick auf die einfachen Setzungen (θσεις) der nicht-zusammengesetzten einfachsten Bestandteile der Sprache die wir Begriffe (Cρους) nennen und aufdie einfachen Vorstellungen (4ντιλ8ψεις)ldquo (6515ndash18) EinfacheBegriffe wie bdquoMenschldquo oder bdquoweiszligldquo denken und sagen schon dieKinder wenn sie Sprechen und Denken (λγος) lernen (18ndash20) Beifortschreitender Sprach- und Denkentwicklung tritt die Faumlhigkeithinzu aus den einfachen Begriffen und Vorstellungen Aussagen zubilden und Fragen nach dem Wesen der Dinge zu stellen etwa wasder Mensch ist (20f) Auf einer noch houmlheren Entwicklungsstufewenn eine houmlhere Faumlhigkeit zum Denken des Allgemeinen ausge-bildet ist erlangt der menschliche Intellekt schlieszliglich seine volleDenkfaumlhigkeit (λογικ6 ξις) und damit sein eigentliches Wesen alsvernunftbegabtes Lebewesen (21ndash24) Wenn der Intellekt in dieseseine Vollendungsstufe gelangt ist und die zweite Potentialitaumlt odererste Aktualitaumlt erreicht hat besitzt er die Kraft zur eigenen vonaumluszligerer Anregung unabhaumlngigen Taumltigkeit (24ndash28) d h die zwei-te Aktualitaumlt des Denkens Zusammenfassend gesagt kann der Intellekt zuerst nur Namen verwenden und die mit den Namen gemeinten Dinge denken diese kann er dann diskursiv d h in Zusammensetzungen und Trennungen denken und schlieszliglich in-dem er gewisse Urteile in ihren begrifflichen Konstituentien denktdie allgemeinen Begriffe in sich festhalten (6528ndash663)

Wie Alexander koppelt auch Themistios den fortschreitendenErkenntnisweg vom Einzelnen zum Allgemeinen an die ontogene-tische Entwicklung des Menschen vom Kind zum ErwachsenenEin bezeichnender Unterschied zu Alexander duumlrfte aber darin bestehen daszlig Themistios den potentiellen Intellekt in gewisserWeise mit dem fruumlhkindlichen Spracherwerb identifiziert und demVerstehen der Namensbedeutung eine einfache intellektuelle Ein-

193Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

sicht in das Wesen der Dinge gleichstellt Er koumlnnte sich dafuumlr aufAristoteles berufen fuumlr den das Wissen um die Bedeutung derWorte eine notwendige Voraussetzung jeden Wissens uumlberhauptist insbesondere bei den Prinzipien einer Wissenschaft (Arist Anpost 11 71a12f 10 76a32f) Wenn die einfache noetische Ein-sicht in das Wesen der Dinge erst nach einem Durchgang durch dasdiskursive Denken das stets in Zusammensetzungen und Tren-nungen einfacher Begriffe operiert als dessen Vollendung mit demvollen Begriff erreicht ist dann hat nach Themistios der kindlicheIntellekt mit dem einfachen Sprachgebrauch bereits einen Vor-Be-griff des Wesens der Dinge erworben Der Uumlbergang vom potenti-ellen zum aktuellen Intellekt ist damit nach der De anima-Para-phrase einerseits der Uumlbergang vom individuellen zum allgemeinenBegriff andererseits nach der Analytica posteriora-Paraphrase derUumlbergang vom einzelnen Wort bzw Vor-Begriff zum wissen-schaftlichen Begriff der ein systematisches Wissen um die Verbin-dungen mit den anderen Begriffen impliziert

Daher bezeichnet Themistios den potentiellen Intellekt auchals bdquoVorlaumlufer (πρδρομος) des aktiven Intellektsldquo vergleichbardem Verhaumlltnis der Strahlen der Sonne zum Licht oder der Bluumltezur Frucht (Them In De an 10530ndash32) Der potentielle Intellektist fuumlr den aktiven Intellekt zugleich Materie und Vorlaumlufer in derSeele indem er diese auf das Denken des aktiven Intellekts vorbe-reitet Der potentielle Intellekt wird durch den aktuellen Intellektnur vollendet (9829f) indem dieser wie das Licht im Hinblick aufdas moumlgliche Sehen und die moumlglichen Farben 1) den potentiellenIntellekt zu einem aktuellen Intellekt und 2) die potentiell gedach-ten Inhalte das sind die immateriellen Formen bzw die aus denEinzelwahrnehmungen gebildeten allgemeinen Begriffe zu aktuellgedachten macht (9835ndash994) Der potentielle Intellekt ist damitein bdquoSchatzhausldquo oder eine bdquoVielheit an Gedankenldquo (θησαυρςbzw πλθος τEν νοημτων) und als solcher enthaumllt er die aus der Wahrnehmung und der Phantasie gewonnenen in der Erinne-rung bewahrten Eindruumlcke (τποι) bdquowie eine Materieldquo (σπερ Fλη)(6ndash8 21f) Dem potentiellen Intellekt liegen die Phantasmata alsMaterie zugrunde (10030) wie dieser wiederum fuumlr den aktivenIntellekt als Materie dient Er selbst enthaumllt die Gedanken als indi-viduelle Begriffe oder Vor-Begriffe die erst durch die Aktualitaumltdes aktiven Intellekts als allgemeine Begriffe gedacht werden Sokann der potentielle Intellekt an sich selbst auch nicht diskursiv

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denken dh er kann nicht die immateriellen Formen bzw Begrif-fe voneinander unterscheiden (διακρ2ναι) von einem zum andernuumlbergehen (μετιναι) sie verbinden (συντιθναι) oder trennen(διαιρε2ν) (995f) Erst wenn der aktive Intellekt die Materie derim potentiellen Intellekt enthaltenen Gedanken uumlbernimmt undder potentielle Intellekt auf diese Weise mit dem aktiven eins wirdwird er auch faumlhig die Taumltigkeiten des diskursiven Denkens aus-zufuumlhren (8ndash10)

Ein Unterschied zu Alexander wie auch zu Aristoteles bestehtdarin daszlig Themistios die Phantasmata zur Materie fuumlr den poten-tiellen Intellekt macht (10030) Wie die Wahrnehmung nicht ohneWahrnehmungsgegenstaumlnde aktualisiert wird so auch nicht derpotentielle Intellekt ohne Phantasmata (11318ndash20 mit 9833ndash35)Zwar betont Aristoteles mehrmals daszlig die (dianoetische) Seeleniemals ohne Phantasien denkt die ihr wie Wahrnehmungen zu-kommen (Arist De an 37 431a14ndash17) bzw daszlig sie die intelli-giblen Formen in den Phantasien denkt (431b2 8 432a3ndash5) Dochnirgendwo laumlszligt sich aus Aristoteles ableiten daszlig es der potentielleIntellekt ist der in Phantasmata denkt Der Grund fuumlr diese Zu-ordnung ist Themistiosrsquo Konzeption des potentiellen Intellekts Erist nicht wie bei Alexander reine Potentialitaumlt und eine Dispositionzur Aufnahme intelligibler Formen sondern selbst schon aktivetwa indem durch ihn bereits die Kinder Aumlhnlichkeiten und Un-terschiede in den Sinneseindruumlcken sehen und Vor-Begriffe bildenoder indem sie die Worte ihres gewoumlhnlichen Sprachgebrauchs vongewissen Vorstellungen der Phantasie begleiten lassen Der aktuel-le Intellekt verallgemeinert dann nur was im potentiellen Intellektals seinem Vorlaumlufer schon enthalten war Wenn sich in der Phan-tasie aus vielen Sinneseindruumlcken ein Bild einer Sache oder Qualitaumlteinstellt enthaumllt der potentielle Intellekt davon einen individuellenBegriff oder einen den Vorstellungen zugeordneten Vor-Begriff(bdquodieses Weiszligeldquo bdquoMenschldquo) den der aktuelle Intellekt allgemeinoder in seinem Wesen denkt (bdquoweiszligldquo Wesen von bdquoMenschldquo) We-gen dieser Zusammengehoumlrigkeit des individuellen und des all -gemeinen Begriffs ist auch der potentielle Intellekt nach dem Toddes Koumlrpers dauerhaft mit dem aktiven Intellekt verbunden undgenauso vom Koumlrper abgetrennt (Them In De an 10529f) wo-bei der aktive Intellekt bdquomehrldquo (μGλλον) abgetrennt ist als der potentielle (10534ndash10614 10832ndash34) Dieses bdquomehrldquo bezieht sichlediglich auf die Universalitaumlt des aktiven Intellekts die die Indivi-

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dualitaumlt des potentiellen Intellekts mitumfaszligt Dieser ist daherauch bdquomehrldquo mit der menschlichen Seele bdquoverwachsenldquo (συμφυ8ς)als jener (9834) weil er zeitlich fruumlher in uns wirkt und ontolo-gisch von geringerem Rang ist (1069ndash11) Die Unvergaumlnglichkeitdieses Intellekts beruht auf einer (Fehl-)Deutung von De an 34wo Aristoteles den νος bdquoabgetrenntldquo (χωριστς) nennt Er meintden νος als solchen aber Theophrast und Themistios nehmen andaszlig sich bereits 34 ausschlieszliglich auf den δυνμει νος bezieht

Ebenso wie fuumlr Alexander hat Erkenntnis fuumlr Themistios zweiQuellen die Wahrnehmung die in aumluszligeren Sinneseindruumlcken dieintelligiblen Formen in einer individuellen Materie wahrnimmtund den Intellekt der nach einer gewissen Entwicklung des Spre-chens und Denkens die Allgemeinheit und Einheit der intelligiblenForm in der Vielheit der Sinneseindruumlcke herausstellt Die An -nahme eines angeborenen Ideenwissens ist fuumlr Themistios offenbarnicht noumltig da der Intellekt die Gegenstaumlnde seines Denkens ausder Wahrnehmung und aus dem Spracherwerb erhaumllt Angeborenist allerdings die menschliche Befaumlhigung zur Sprache und zu kon-zeptionellem Denken die ein implizites Wissen um formale Denk-prinzipien wie etwa den Satz vom Widerspruch mitumfaszligt Da-durch ist es moumlglich aus den einfachen Anfangsgruumlnden der erstenVorstellungen und durch das Erlernen der Worte die Einsicht indas Wesen der Dinge und ein zusammenhaumlngendes wissenschaft -liches Wissen zu entwickeln

3 Einheit und Vielheit des νοῦς ποιητικός

Einen offenkundigen Bezug auf Plotin nimmt Themistiosmit der Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts denn wenn er sagt daszlig es schoumlner sei die Frage zu stellenob alle Intellekte einer seien als die ob alle Seelen eine seien(10414ndash16) nimmt er woumlrtlich die Uumlberschrift von Plotins En-neade 49 Περ το ε= πGσαι α5 ψυχα μα wieder auf28 Themisti-os ist der erste der Kommentatoren der diese fuumlr Plotin typischeFrage nach dem Verhaumlltnis von Einheit und Vielheit innerhalb einer Hypostase explizit auf den aktiven Intellekt uumlbertraumlgt und

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28) Vgl Balleacuteriaux 1989 218

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

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31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Im folgenden sollen die aufgewiesenen Parallelen zu Plotin10

systematisch und im Zusammenhang interpretiert werden um zuentscheiden ob es sich dabei um bloszlige terminologische Assozia-tionen11 oder um tatsaumlchliche inhaltliche Uumlbereinstimmungen han-delt Zugleich sollen Themistiosrsquo Ansichten in Abgrenzung zuAlexander v Aphrodisias untersucht werden der nicht nur fuumlr Plotin12 sondern auch fuumlr Themistios maszliggeblich bei der Formu-lierung seiner Intellekttheorie war Leitend fuumlr die Verhaumlltnisbe-stimmung von Platonismus oder Aristotelismus bei Themistiossollen einige Fragen sein bei deren Beantwortung signifikantedogmatische Unterschiede bestehen 1) Gibt es ein apriorischesIdeenwissen unabhaumlngig von der durch Sinneswahrnehmung ver-mittelten Erfahrung 2) Gibt es eine Wiedererinnerung an diesesIdeenwissen 3) Wie ist das Verhaumlltnis von Selbst- und Objekter-kenntnis bestimmt 4) In welchem Verhaumlltnis stehen der goumlttlicheund der menschliche Intellekt zueinander

1 Der νοῦς ποιητικός und das Wesen des Menschen

Maszliggeblicher Gegner und zugleich intellektueller Hinter-grund fuumlr Themistiosrsquo eigene Interpretation der Aristotelischen Intellekttheorie ist Alexander v Aphrodisias13 Zwar nennt The-mistios Alexander nicht namentlich doch seine Kritik an der In-terpretation wonach der νος ποιητικς entweder der Erste Gottoder die ersten Praumlmissen und die daraus aufgebauten Wissen-schaften seien zielt deutlich auf Alexander Dieser hatte den νοςποιητικς mit dem Intellekt des Unbewegten Bewegers identifi-ziert der bdquoersten Ursacheldquo des Seins und der Intelligibilitaumlt von allem (Alex De an 891ndash11) Dagegen fuumlhrt Themistios zunaumlchst

183Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

10) Vgl dazu Schroeder Todd 1990 34 Anm 11511) So Blumenthal 1990 120ndash123 und Todd 1996 186 Anm 112) Vgl Merlan 1963 13ndash16 39f und Szlezaacutek 1979 135ndash14313) Vertraut scheint Themistios nur mit Alexanders Abhandlung De anima

nicht aber mit De intellectu zu sein (vgl Schroeder Todd 1990 35 Anm 117 undTodd 1996 1) Ein Indiz gegen diese Einschaumltzung ist eine Formulierung bei The-mistios die parallel in Alex De int 11218ndash20 vorkommt (vgl unten Anm 16) Im folgenden wird aufgrund der Probleme die hinsichtlich der Einheitlichkeit undAutorschaft von De intellectu auftreten (vgl Schroeder Todd 1990 6ndash31) zumVergleich mit Alexander nur sein De anima-Traktat (CAG Suppl 211ndash100) her-angezogen

einige Aristotelesstellen an die implizieren daszlig der gesamte Intel-lekt und damit auch der νος ποιητικς in der menschlichen Seelesein muszlig14 So wird in De anima 35 die Dichotomie in eine mate-rielle Ursache die alles wird und eine wirkende die alles hervor-bringt bdquonotwendigerweise auch in der Seele bestehenldquo (Arist Dean 35 430a13f) Anderswo wird vom bdquotheoretischen Intellektldquoals einer bdquoanderen Art der Seeleldquo (ψυχς γνος τερον) gesprochen(22 413b24ndash27) Als Argument fuumlhrt Themistios zweierlei an1) Nach De anima soll bdquoalleinldquo der νος ποιητικς bdquounsterblichund ewigldquo (35 430a23) sein Das koumlnne nur auf die menschlicheSeele und nicht auf den Ersten Gott der Metaphysik bezogen seinweil dort auch die Gestirne unsterbliche und ewig bewegte Koumlrperseien (Them In De an 10236ndash10315) 2) Einen potentiellen In-tellekt koumlnne es nur in der menschlichen Seele geben (9731) weilder goumlttliche Intellekt ja voumlllig frei von Potentialitaumlt sei

Anstatt wie Alexander die Rolle des goumlttlichen Intellekts fuumlrdas menschliche Denken zu betonen betrachtet Themistios Po-tentialitaumlt und Aktualitaumlt als zwei Seiten des menschlichen Den-kens und betont so dessen Einheit Alexander hatte den Intellekt indrei Arten unterteilt den potentiellen bzw materiellen Intellekt(δυνμει νος bzw λικς νος) den alle Menschen insbesonde-re die Kinder haben den habituellen bzw erworbenen Intellekt(καθrsquo ξιν νος bzw πκτητος νος) den man als Erwachsener mit einem gewissen Wissen uumlber die Dinge erworben hat undschlieszliglich den aktuellen Intellekt (νεργεamp νος) der auch als derbdquovon auszligen kommende Intellektldquo (θραθεν νος) bezeichnet wirdund den einfachen immer aktuellen Intellekt Gottes meint15 DieUnterscheidung von habituellem und potentiellem Intellekt findetsich nicht woumlrtlich bei Aristoteles Aber sie kann sich auf eineGrundunterscheidung des Aristoteles von zwei Graden der Poten-tialitaumlt (δναμις) bzw Aktualitaumlt (ντελχεια) berufen die dieser

184 Michae l Schramm

14) Die neuplatonischen De anima-Kommentare des 6 Jh verfahren genau-so Ammonios etwa tadelte die Einteilungen sowohl des Alexander als auch desPlutarch v Athen weil beide als eine Art des Intellekts den aktuellen von auszligenkommenden Intellekt Gottes ins Spiel bringen wo Aristoteles in De anima nur vommenschlichen Intellekt handle Und von den Seelenteilen sei nur dieser ewig (Ps-Philop In De an 51832ndash51915)

15) Vgl Alex De an 8113ndash826 und 8823ndash8912 zusammengefaszligt Ps-Phi-lop In De an 5188ndash18 Zu θραθεν νος vgl Arist De gen an 736b28 und Deresp 472a22

am Beispiel des Wissens eingefuumlhrt hat Der Mensch ist der Moumlg-lichkeit nach wissend weil er generell zu den Lebewesen gehoumlrtdie sich Wissen aneignen koumlnnen die sogenannte erste Potentia-litaumlt Er kann sich bereits ein Wissen erworben haben das er alsHabitus besitzt aber gerade nicht anwendet Dieses Wissen wirdzweite Potentialitaumlt bzw erste Aktualitaumlt genannt Und schlieszliglichdie zweite Aktualitaumlt Jemand wendet ein gelerntes Wissen geradein praxi an (Arist De an 25 417a21ndashb16 vgl auch 34 429b5ndash9)Die Seele ist nach Aristoteles bekanntlich wie ein erlerntes aber gerade nicht ausgeuumlbtes Wissen und ihrer Definition nach einebdquoerste ντελχειαldquo bzw ein angeborener Habitus (21 412a19ndash28)Und auch im Hinblick auf den Intellekt wendet schon Aristotelesdie beiden verschiedenen Grade von Potentialitaumlt und Aktualitaumltan (34 429a21f und b5ndash8)16

Von Alexander der diese allgemeine Einteilung verschiedenerAktualitaumlts- und Potentialitaumltsgrade als erster ausdruumlcklich auf denIntellekt angewandt hat uumlbernimmt Themistios die Terminologieund die Einteilung des νος-Begriffs nach Potentialitaumlt und Ak-tualitaumlt So gibt es bei ihm a) den potentiellen Intellekt (δυνμεινος) b) den habituellen Intellekt (νος ( καθrsquo ξιν) und c) den ak-tuellen Intellekt (νεργεamp νος) bzw den aktiven Intellekt (νοςποιητικς) Daneben gibt es d) den bdquogemeinsamenldquo oder passivenIntellekt (κοινς νος νος παθητικς) der fuumlr ihn mit der Erin-nerung den Affekten und dem diskursiven Denken verbunden istFuumlr Themistios ist einzig der passive Intellekt nicht vom Koumlrpertrennbar der potentielle und aktuelle Intellekt sind hingegen ab-trennbar (Them In De an 10526ndash30)17 waumlhrend fuumlr Alexandernur der aktuelle bzw aktive Intellekt abgetrennt vom Koumlrper exi-stiert und die beiden Intellektformen des Menschen mit dessen

185Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

16) Balleacuteriaux 1989 203 weist fuumlr die Terminologie auszligerdem auf Alkinooshin Dieser unterscheidet νος ( ν δυνμει und ( κατrsquo νργειαν νος (Didaskali-kos 16419 Hermann) Allerdings geht es hier nicht um den menschlichen Intellektsondern um die Prinzipien der platonischen Theologie

17) Ob der habituelle Intellekt abtrennbar ist oder nicht dazu bezieht The-mistios nicht explizit Stellung Da jedoch der Habitus die 2 Potentialitaumlt bzw1 Aktualitaumlt darstellt denkt ihn Themistios vermutlich ebenso als abtrennbar wieden potentiellen und den aktuellen Intellekt Das bedeutet nicht daszlig die mensch -liche Seele nach ihrem Tod auch erworbenes Wissen bdquomitnehmenldquo koumlnnte Viel-mehr handelt es sich bei dem Habitus nur um die Auspraumlgung der im Menschen an-gelegten von seinem Denken unabhaumlngigen Begriffe der Gegenstaumlnde der Welt

Koumlrper vergaumlnglich sind (Alex De an 9013ndash20) Der habituelleIntellekt hat bei Themistios nicht mehr denselben Stellenwert wiebei Alexander weil er den gesamten Intellekt im Menschen veror-tet und damit den habituellen Intellekt nicht mehr als letzte Stufedes allein dem Menschen zugehoumlrigen Denkens auszeichnet

Gegen Alexanders theologische Deutung des νος ποιητικςvertritt Themistios die These bdquoWir sind der νος ποιητικςldquo(Them In De an 10037f) Das bedeutet allerdings nicht das je-weilige Individuum sondern den kollektiven Intellekt der aus dergemeinsamen Artnatur des Menschen folgt So unterscheidet The-mistios sorgsam zwischen dem einzelnen Ich (γ)) und dem all -gemeinen Ich-Sein (τ μο εναι) bzw dem Wesen des Ich Das je-weilige Ich ist bdquoder Intellekt der zusammengesetzt ist aus dem po-tentiellen und dem aktuellen Intellektldquo (γ+ [ ] ( συγκεμενοςνος κ το δυνμει κα το νεργεamp)18 das allgemeine Wesen desIch besteht lediglich bdquoaus dem aktuellen Intellektldquo (10018ndash20)Das individuelle Ich ist damit in seinem Wesen nicht wie seit derNeuzeit bestimmt durch die Subjektivitaumlt und Individualitaumlt des jeweiligen seelischen Erlebens das sich in einem Leib vollziehtsondern vielmehr als ein unkoumlrperlicher uumlberindividueller undrein intellektueller Prozeszlig19 Daher spricht Themistios auch ohneUnterschied von bdquoIchldquo wie von bdquoWirldquo20

Die Quelle fuumlr Themistiosrsquo Unterscheidung zwischen demWir und dem Wesen des Wir ist Plotin der ebenfalls von einem

186 Michae l Schramm

18) Eine parallele Formulierung findet sich in dem Alexander zugeschriebe-nen Traktat De intellectu bdquoUnser Intellekt ist zusammengesetzt aus der Poten -tialitaumlt welche das Werkzeug des goumlttlichen Intellekts ist und die Aristoteles den potentiellen Intellekt nennt und aus der Aktualitaumlt von jenem (sc dem goumlttlichenIntellekt)ldquo (( -μτερος νος σνθετς στιν κ τε τς δυνμεως 0τις 1ργανν στιτο θεου νο ν δυνμει νον ( ριστοτλης καλε2 κα τς κενου νεργεαςAlex De an mant 11218ndash20) Die Autorschaft insbesondere der Passage in derdieses Zitat eingebettet ist (1125ndash11324) ist unklar Waumlhrend Moraux 1967 und1984 fuumlr diesen und den vorangegangenen Abschnitt ab 1104 Aristoteles v Mytile-ne als Autor ausmacht sehen Schroeder Todd 1990 26 und 31 hierin das Fragmenteines unidentifizierbaren Autors Dieser Ansicht folgt R Sharples (Hrsg) Alexan-der Supplement to bdquoOn the Soulldquo Ithaca New York 2004 38 Anm 92

19) Themistios steht hier in einer langen Tradition beginnend mit Ps-Pla-tons Alkibiades I (128endash130c) die das bdquowahre Selbstldquo des Menschen in der Seeleoder im Intellekt sieht Vgl die Zusammenstellung der relevanten Stellen und Au-toren bei Moraux 1978 323 Anm 136

20) Vgl 10336f 3παντες 4ναγμεθα ο5 συγκεμενοι κ το δυνμει κανεργεamp

bdquoWirldquo21 in zwei Bedeutungen spricht einerseits als der belebteLeib den wir mit dem Tier gemeinsam haben und durch den wirwahrnehmen andererseits der bdquowahreldquo oder bdquoinnere Menschldquo ((4ληθ6ς 7νθρωπος ( νδον 7νθρωπος) der vom Koumlrper abgetrenntist und zu dem die Seele insbesondere das bdquoreineldquo Denken und die durch Vernunft vermittelten Tugenden gehoumlren (Plot 11105ndash15)22 Der Unterschied ist offensichtlich daszlig Themistios das kon-krete Wir nicht als Koumlrper und das wahre Wir nicht als Seele be-stimmt Jedoch aumlhnelt Themistios Plotin darin daszlig auch diesermeint daszlig der Mensch das gleiche ist wie die Denkseele (λογικ6ψυχ8) und daszlig er den Intellekt besitzt der dem bdquoWirldquo der Seele ontologisch vorgeordnet ist Die Seele besitzt den Intellekt eben-falls auf zwei Arten als allen Menschen bdquogemeinsamenldquo (κοινς)Intellekt insofern als er bdquounteilbar einer und uumlberall derselbeldquo istund als individuellen bdquoeigentuumlmlichenldquo (9διος) Intellekt insofernals ihn auch jeder einzelne als ganzen in seinem obersten Seelenteilhat (11721ndash86) ndash genauso verhaumllt sich auch der Intellekt des Themistios der als bdquoWir-Seinldquo als intellektuelles Wesen des Men-schen uumlberall identisch ist und in einem konkreten Ich als ganzerund ungeteilt wirksam ist Aumlhnlich werden auch die intelligiblenFormen von beiden bestimmt Sie sind fuumlr Plotin bdquoin der Seelegleichsam entfaltet (οον 4νειλιγμνα) und voneinander abgesondert(οον κεχωρισμνα) im Intellekt alles zugleich ((μο τ πντα)ldquo (6ndash8) Themistios kennzeichnet den aktuellen Intellekt als den Bereichin dem alle Formen bdquozugleich zusammenldquo sind waumlhrend er den Be-

187Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

21) Das -με2ς ist bei Plotin der Ausdruck fuumlr das bdquoIchldquo (vgl 11[53]) Esmeint das was Platon den bdquoinneren Menschenldquo nennt (Szlezaacutek 1979 184) Zu Plo-tins Gebrauch von -με2ς vgl W Himmerich Eudaimonia Die Lehre des Plotin vonder Selbstverwirklichung des Menschen (= Forschungen zur neueren Philosophieund ihrer Geschichte 13) Wuumlrzburg 1958 92ndash100 Zu Plotins Theorie vom dop-pelten Ich vgl 641416ndash31 dazu C Tornau Plotin Enneaden 64ndash5 (22ndash23) einKommentar Stuttgart Leipzig 1998 266ndash276 und allgemein OrsquoDaly 1973

22) Auch Plotin sieht das wahre Selbst des Menschen nicht im Leib oder imbeseelten Leib sondern allein in der Seele (Plot 47124f) Er unterscheidet termi-nologisch das Selbst (αltτς) des Menschen oder unser Wir (-με2ς) und die Seele imSinne der Seelenhypostase welche die Weltseele genauso wie die Einzelseelen derLebewesen umfaszligt und Prinzip des Lebens unkoumlrperlich (5121ndash6) und ein bdquoBilddes Geistesldquo (ε=κ+ν νο) (5137ndash8) ist Das eigentliche Selbst des Menschen ndash derbdquowahreldquo oder bdquoinnere Menschldquo (( 4ληθ6ς 7νθρωπος ( νδον 7νθρωπος) (11105ndash15) ndash ist nun nichts anderes als die rationale oder diskursiv denkende Seele (λογικ6ψυχ8) (53320)

reich der voneinander getrennten Formen nicht der Seele sonderndem potentiellen Intellekt zuweist (Them In De an 1004ndash10) AlsMaterie des aktuellen Intellekts nimmt er bdquogeteiltldquo auf was jenerbdquoungeteiltldquo denkt (22f) ndash wie etwa die allgemeine Qualitaumlt bdquoweiszligldquodie an sich ungeteilt ist an verschiedenen Koumlrpern bdquogeteiltldquo d h ineinzelnen Instanzen der Farbe bdquoweiszligldquo vorkomme (22ndash26)

Themistios uumlbernimmt also ein plotinisches Denkmuster undmodifiziert es fuumlr seine Zwecke 1) Er kann damit die aristotelischeDichotomie von aktuellem und potentiellem Intellekt genauer er-klaumlren und den Vorgang wie der aktuelle Intellekt bdquoalles machtldquowas der potentielle Intellekt bdquowirdldquo der aktive Intellekt ist das Reservoir allgemeiner Begriffe waumlhrend der potentielle Intellektindividuelle Begriffe besitzt aus denen erst allgemeine Begriffe ge-bildet werden koumlnnen 2) Mit dieser Deutung uumlbt er implizit Kri-tik an Plotin fuumlr die ungenaue Ausdrucksweise von der bdquoTeilungldquoder intelligiblen Formen in der Seele die im Intellekt ungeteilt ge-dacht wuumlrden weil er damit die bdquogeteiltenldquo und die bdquoungeteiltenldquoFormen auf zwei Stufen seiner Seinshierarchie verteilt die in Wirk-lichkeit zur selben gehoumlren Denn fuumlr Themistios werden einzelneInstanzen eines allgemeinen Begriffs wie auch dieser Begriff selbstvom Intellekt erkannt potentiell sind die Einzelfaumllle deshalb weilsie nur im Hinblick auf das Allgemeine gedacht werden koumlnnenMit seiner aristotelisierenden Transformation der plotinischenEinteilung fuumlhrt er Potentialitaumlt und Aktualitaumlt als zwei Seiten desBegriffsdenkens zusammen wobei die Aktualitaumlt wesentlicher Be-standteil des menschlichen Denkens ist ja sogar den Menschen inseinem Wesen ausmacht und nicht auf einen goumlttlichen Intellektwie Alexander oder auf einen universalen wahrhaft seienden In-tellekt wie Plotin rekurriert Zugleich trennt er das Begriffsdenkenan sich von der Wahrnehmung und dem wahrnehmenden Koumlrper

2 Der potentielle Intellekt und die Stufen der Erkenntnis

Um das Verhaumlltnis von potentiellem und aktuellem Intellektbesser verstehen und zugleich erklaumlren zu koumlnnen wie sich die intellektive Erkenntnis aus der Wahrnehmung entwickelt ist esnuumltzlich Themistiosrsquo Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zuRate zu ziehen welche sich vornehmlich in seiner Analytica pos -teriora-Paraphrase findet Eine Erkenntnislehre in der Art der

188 Michae l Schramm

platonischen Anamnesis-Lehre die auch von allen Neuplatonikernvertreten wurde wonach jede Erkenntnis eine Wiedererinnerungan das Ideenwissen der Seele vor ihrer bdquoEinkoumlrperungldquo sei23 lehnter explizit ab (In An Post 427ndash33) Vielmehr legt er wie schonAlexander im Ausgang von Aristotelesrsquo Analytica posteriora 219einen Stufenbau der Erkenntnis zugrunde der als fortlaufende In-duktion (παγωγ8) von der Partikularitaumlt der einzelnen Wahrneh-mung uumlber Erinnerung und Erfahrung zur Allgemeinheit von Wis-sen und Prinzipienerkenntnis fuumlhrt

Alexander konzipiert diese Induktion als fortlaufenden Ab-straktionsprozeszlig in dem die intelligible Form nach und nach auseiner Materie herausgehoben wird Zunaumlchst hat der MenschWahrnehmungen bzw Sinneseindruumlcke (τποι) die er als Phantas-mata in der Erinnerung aufbewahrt Anschlieszligend schreitet erdurch Erfahrung von den in der Erinnerung bewahrten Einzel -eindruumlcken zu allgemeinen Gedanken fort indem er mehrmaligwiederholte Einzeleindruumlcke auf ihre Aumlhnlichkeit hin miteinandervergleicht (Alex De an 833ndash13) Der Intellekt erkennt in den verschiedenen Einzeleindruumlcken die allgemeine Form die nur inverschiedenen Materien verschieden konkretisiert ist und loumlst die-se gedanklich von der Materie (8511ndash20) Dabei kommt die Drei-teilung des Intellekts nach Alexander folgendermaszligen zum TragenDer potentielle Intellekt ist die Disposition (πιτηδειτης) zurAufnahme der intelligiblen Formen vergleichbar einer unbe-schriebenen Wachstafel (8424) und enthaumllt diese der Moumlglichkeitnach bevor sie wirklich gedacht werden (21ndash24) der habituelle Intellekt besitzt sie bdquozusammengedraumlngtldquo (4θρα) und in sich bdquoru-hendldquo (gtρεμοντα) (865f) und der aktuelle Intellekt ist schlieszlig-lich nichts anderes als die gedachte Form selbst (8615) Abstrak -tion bedeutet nicht das Herausgreifen e iner Eigenschaft unterAbzug einer Vielzahl von anderen Eigenschaften sondern dasHerausheben der intelligiblen Form aus einer Materie bdquoDer Intel-lekt macht die wahrnehmbaren [Eindruumlcke] fuumlr sich intelligibel in-dem er sie von der Materie abtrennt und das theoretisch betrach-tet was ihr jeweiliges Sein istldquo (8419ndash21) Erkenntnis hat also fuumlrAlexander zwei Quellen die Wahrnehmung durch die das erken-nende Wesen externer Gegenstaumlnde gewahr wird und den Intel-

189Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

23) Platon skizziert die Anamnesis-Lehre Men 81cndashd zur neuplatonischenAnamnesis-Lehre vgl z B Plot 291647 48430 59532

lekt der durch Abstraktion die innere Form dieser Gegenstaumlndeerkennt Der Abstraktionsprozeszlig beginnt daher nicht nur bdquountenldquobei den einzelnen Sinnenseindruumlcken von denen zu abstrahierenist sondern auch bdquoobenldquo bei der an sich gleichbleibenden und mitsich selbst identischen Wesensform auf die sich die Abstraktion alsZiel hinbewegt

Im Anschluszlig an Alexander ist auch fuumlr Themistios der Fort-gang von der Wahrnehmung zur Prinzipienerkenntnis des Intel-lekts ein Abstraktions- und Induktionsprozeszlig Schon bei der Wahr-nehmung von Einzeleindruumlcken gibt es eine aumlhnliche Verknuumlpfungvon Individualitaumlt und Allgemeinheit wie bei der gemeinsamenTaumltigkeit von potentiellem und aktuellem Intellekt indem dieWahrnehmung bdquodieses Weiszligenldquo die gleichzeitige Wahrnehmung(συναισθνεσθαι) des allgemeinen Eindrucks bdquoweiszligldquo impliziert(Them In An Post 642ndash4) Individualitaumlt und Allgemeinheit sindnun das maszliggebliche Kriterium fuumlr die Unterscheidung von Wahr-nehmung und begrifflichem Denken Die Wahrnehmungen sindPrinzipien und Ursachen der partikularen Annahmen die Aufgabedes Intellekts ist die Verallgemeinerung dh mit einer Anspielungauf Platon (Phlb 27d) bdquodie Vielen zur Einheit zu machen und [ ]die Unbegrenzten mit einer Grenze zusammenzubindenldquo (τπολλ νον κα τ 7πειρα [ ] πρατι συνδ8σασθαι) (Them InAn Post 6417ndash20) Aus den partikularen Annahmen der Wahr-nehmung bdquoerschlieszligtldquo (συμπερανεται) der Intellekt d h das diskursive Denken das Allgemeine (24ndash26) waumlhrend er als dasschlechthin einfache Denkorgan das bdquogleichsam wie eine Art nicht-rationaler und ungeschiedener24 Blick der Seeleldquo (σπερ 7λογς τιςκα 7κριτος τς ψυχς 1ψις) wirkt (6514f) die bdquoPrinzipienldquo(4ρχς) bzw die bdquoallgemeinen und unmittelbaren Praumlmissenldquo (τςκαθλου κα 4μσους προτσεις) denkt (2f 9f)

190 Michae l Schramm

24) bdquoNicht-rationalldquo bedeutet nicht schlechthin bdquoirrationalldquo sondern eherbdquonicht-diskursivldquo Dieser Ausdruck betont die Einfachheit des intuitiv-noetischenDenkens das ohne λγος und κρσις dem in Saumltzen mitteilbaren Urteil auskommtbeides Kennzeichen des diskursiv-dianoetischen Denkens Im unmittelbaren Kon-text der Stelle ist mit λγος das Sprechen und Denken des Menschen in Saumltzen ge-meint das ihm als Wesen das den λγος besitzt (λογικν ζBον) eigentlich zukommt(65151719) Dieser traditionellen Sicht wonach bdquonicht-diskursivldquo als bdquonicht-pro -p ositionalldquo gedeutet wird widerspricht R Sorabji Some myths about non-prop -ositional thought in ders Time creation and the continuum theories in antiquityand the early Middle Ages London 1983 137ndash156

Themistios deutet die fortschreitende Verallgemeinerung vonder Wahrnehmung zum Prinzip in seiner Analytica posteriora-Pa-raphrase nicht wie Alexander explizit als Herausheben einer intel-ligiblen Form aus einer Materie vermutlich weil Aristoteles selbstin den Analytica posteriora die Form-Materie-Unterscheidungnicht anwendet In seiner De anima-Paraphrase hingegen unter-scheidet er zwischen Formen in der Materie (νυλα ε9δη) und im-materiellen Formen (7υλα ε9δη) zu denen man gelangt indem mandie intelligible Form von der Materie bdquoabtrenntldquo (χωρζων) (In Dean 1156f) Die Objekte des Intellekts sind schon in der Analyti-ca posteriora-Paraphrase die Prinzipien das sind die ersten Begrif-fe bzw Definitionen einer Wissenschaft (Cροι) und die bdquogemein -samen Gedankenldquo (κοινα ννοιαι) bzw Axiome (4ξι)ματα)25 alsunmittelbare Voraussetzungen eines Beweises ohne die kein Ler-nen moumlglich ist (In An Post 71ndash3 2233f) und diese beiden bil-den schon fuumlr Aristoteles die beiden Prinzipien einer Wissenschaft(Arist An post 110 76a37ndashb2) Dabei laumlszligt sich zeigen daszlig fuumlrThemistios ebenso wie fuumlr Alexander die intelligible Form das eigentliche Aumlquivalent fuumlr das Prinzip ist

So fuumlhrt er zur Erklaumlrung des Begriffs bdquoAxiomldquo die Defini tionTheophrasts an ein Axiom sei bdquoeine Meinung die entweder bei Be-griffen gleicher Gattung (ν το2ς (μογενσιν) z B wenn Gleichesvom Gleichen [scil abgezogen wird bleibt Gleiches erhalten] oderschlechthin bei allen gilt wie daszlig es entweder die Affirmation oderdie Negation gibtldquo d i der Satz vom ausgeschlossenen Drittenwobei der Ausdruck bdquogemeinsame Gedankenldquo im eigentlichen Sin-ne von der zweiten Bedeutung gelte und von da auf die erste uumlber-gegangen sei (Them In An Post 73ndash5)26 Das Axiom in diesen

191Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

25) Seit Euklid werden die mathematischen Axiome als κοινα ννοιαι be-zeichnet In der Stoa bezeichnen κοινα ννοιαι Ideen oder Begriffe die allen Men-schen vor jeder Erfahrung innewohnen und notwendige Bedingung fuumlr jede Erfah-rung sind (Chrysipp SVF II 154) Spaumltestens seit den Aristoteles-Kommentatorenwerden die κοινα ννοιαι aumlquivalent zu dem Aristotelischen Ausdruck 4ξι)ματαgebraucht (z B Alex In Top 18a20f In Met 317a34f Philop In An Pr 30619fIn An Post 3410)

26) Themistios hat in einer Paraphrase zur Topik von der nur Zeugnisse bei Boethius (vgl De diff top II 1186Cndash1194B) und Averroes erhalten sind sogardie Topoi der Topik mit den Aristotelischen Axiomen identifiziert (vgl S EbbesenCommentators and Commentaries on Aristotlersquos Sophistici Elenchi A Study ofPost-Aristotelian Ancient and Medieval Writings on Fallacies vol IndashIII [CLCAGVII] Leiden 1981 106ndash119)

beiden Bedeutungen haumlngt nun sachlich von den Begriffen ab bdquoDiePrinzipien des Beweises sind in der Tat keine Beweise sondernselbstevidente unmittelbare Praumlmissen (προτσεις αltτθενναργε2ς τε κα 7μεσοι) deren Prinzip wiederum der Intellekt istmit dem wir die Begriffe aufspuumlren (τοDς Cρους θηρεομεν) auswelchen die Axiome zusammengesetzt sindldquo (97ndash10) Die Axiomesind λγοι die sich aus formallogischen Begriffen wie GleichheitAffirmation Negation o auml zusammensetzen welche wiederumeine logische Gesetzmaumlszligigkeit bestimmen z B daszlig etwas nichtzugleich bejaht und verneint werden kann In konkreten Argu-mentationen werden die Axiome auf die eigentuumlmlichen Gegen-staumlnde einer speziellen Wissenschaft angewandt und die variablenBegriffe durch die jeweiligen eigentuumlmlichen Begriffe dieser Wis-senschaft ersetzt (2424ndash28) Das Denken des Intellekts der in denAxiomen die ihnen zugrundeliegenden formallogischen Begriffeoder die Begriffe einer bestimmten Wissenschaft erkennt fuumlhrtalso letztlich auf die immaterielle intelligible Form die dem Ge-genstand einer Wissenschaft innewohnt Dabei ndash und das ist eineklare anti-platonische Position27 ndash ist die jeweils zugrundeliegendeGattung nur ein Gedanke ohne reale Existenz der aufgrund derAumlhnlichkeit der Individuen gebildet wurde waumlhrend allein derArtbegriff das Eidos das tatsaumlchliche Wesen und die Form derDinge ausmacht (In De an 332ndash35)

Eine weitere Uumlbereinstimmung mit Alexander ist die Anwen-dung verschiedener lebensgeschichtlicher Entwicklungsstufen aufdie verschiedenen Intellektstufen Fuumlr Alexander haben den poten-tiellen Intellekt alle Menschen von Geburt an den habituellen Intellekt erwirbt hingegen nur der bdquotreffliche Menschldquo (σπουδα2ος)durch Unterricht und Uumlbung indem er zunaumlchst den an kontin-genten Gegenstaumlnden des praktischen Lebens geschulten Intellekt(πρακτικς κα δοξαστικς νος) und spaumlter den fuumlr die notwendi-gen Gegenstaumlnde der Wissenschaft zustaumlndigen theoretischen In-tellekt ausbildet (Alex De an 8120ndash823) Mit der Entwicklungder intellektuellen Faumlhigkeiten vom Kind zum Erwachsenen vompraktischen zum theoretischen Interesse geht fuumlr Alexander die Be-griffsbildung einher das allmaumlhliche induktive Fortschreiten vomEinzelfall zum Allgemeinbegriff Auch Themistios behauptet daszlig

192 Michae l Schramm

27) Darauf hat R Sorabji hingewiesen vgl Todd 1996 2 Anm 12

schon der kindliche Intellekt in den Wahrnehmungen bzw Phan-tasmata Aumlhnlichkeiten und Unterschiede registriert und danach all-maumlhlich sein Wissen aufbaut das er immer weiter vervollkommnenkann (Them In De an 959ndash21) Er ist damit die Vorstufe zur Ent-wicklung des bdquoerworbenenldquo Intellekts der die Begriffe besitzt

In seiner Analytica posteriora-Paraphrase betont Themistiosdaszlig der Prozeszlig der begrifflichen Verallgemeinerung Zeit braucht(In An Post 6421ndash24) und mit der Entwicklung des Menschenvoranschreitet bdquoWaumlhrend wir Fortschritte machen waumlchst und gedeiht der Intellekt immer mit uns mit (συναυξνεται [ ] κασυνεπιδδωσι) und zwar zuerst im Hinblick auf die einfachen Setzungen (θσεις) der nicht-zusammengesetzten einfachsten Bestandteile der Sprache die wir Begriffe (Cρους) nennen und aufdie einfachen Vorstellungen (4ντιλ8ψεις)ldquo (6515ndash18) EinfacheBegriffe wie bdquoMenschldquo oder bdquoweiszligldquo denken und sagen schon dieKinder wenn sie Sprechen und Denken (λγος) lernen (18ndash20) Beifortschreitender Sprach- und Denkentwicklung tritt die Faumlhigkeithinzu aus den einfachen Begriffen und Vorstellungen Aussagen zubilden und Fragen nach dem Wesen der Dinge zu stellen etwa wasder Mensch ist (20f) Auf einer noch houmlheren Entwicklungsstufewenn eine houmlhere Faumlhigkeit zum Denken des Allgemeinen ausge-bildet ist erlangt der menschliche Intellekt schlieszliglich seine volleDenkfaumlhigkeit (λογικ6 ξις) und damit sein eigentliches Wesen alsvernunftbegabtes Lebewesen (21ndash24) Wenn der Intellekt in dieseseine Vollendungsstufe gelangt ist und die zweite Potentialitaumlt odererste Aktualitaumlt erreicht hat besitzt er die Kraft zur eigenen vonaumluszligerer Anregung unabhaumlngigen Taumltigkeit (24ndash28) d h die zwei-te Aktualitaumlt des Denkens Zusammenfassend gesagt kann der Intellekt zuerst nur Namen verwenden und die mit den Namen gemeinten Dinge denken diese kann er dann diskursiv d h in Zusammensetzungen und Trennungen denken und schlieszliglich in-dem er gewisse Urteile in ihren begrifflichen Konstituentien denktdie allgemeinen Begriffe in sich festhalten (6528ndash663)

Wie Alexander koppelt auch Themistios den fortschreitendenErkenntnisweg vom Einzelnen zum Allgemeinen an die ontogene-tische Entwicklung des Menschen vom Kind zum ErwachsenenEin bezeichnender Unterschied zu Alexander duumlrfte aber darin bestehen daszlig Themistios den potentiellen Intellekt in gewisserWeise mit dem fruumlhkindlichen Spracherwerb identifiziert und demVerstehen der Namensbedeutung eine einfache intellektuelle Ein-

193Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

sicht in das Wesen der Dinge gleichstellt Er koumlnnte sich dafuumlr aufAristoteles berufen fuumlr den das Wissen um die Bedeutung derWorte eine notwendige Voraussetzung jeden Wissens uumlberhauptist insbesondere bei den Prinzipien einer Wissenschaft (Arist Anpost 11 71a12f 10 76a32f) Wenn die einfache noetische Ein-sicht in das Wesen der Dinge erst nach einem Durchgang durch dasdiskursive Denken das stets in Zusammensetzungen und Tren-nungen einfacher Begriffe operiert als dessen Vollendung mit demvollen Begriff erreicht ist dann hat nach Themistios der kindlicheIntellekt mit dem einfachen Sprachgebrauch bereits einen Vor-Be-griff des Wesens der Dinge erworben Der Uumlbergang vom potenti-ellen zum aktuellen Intellekt ist damit nach der De anima-Para-phrase einerseits der Uumlbergang vom individuellen zum allgemeinenBegriff andererseits nach der Analytica posteriora-Paraphrase derUumlbergang vom einzelnen Wort bzw Vor-Begriff zum wissen-schaftlichen Begriff der ein systematisches Wissen um die Verbin-dungen mit den anderen Begriffen impliziert

Daher bezeichnet Themistios den potentiellen Intellekt auchals bdquoVorlaumlufer (πρδρομος) des aktiven Intellektsldquo vergleichbardem Verhaumlltnis der Strahlen der Sonne zum Licht oder der Bluumltezur Frucht (Them In De an 10530ndash32) Der potentielle Intellektist fuumlr den aktiven Intellekt zugleich Materie und Vorlaumlufer in derSeele indem er diese auf das Denken des aktiven Intellekts vorbe-reitet Der potentielle Intellekt wird durch den aktuellen Intellektnur vollendet (9829f) indem dieser wie das Licht im Hinblick aufdas moumlgliche Sehen und die moumlglichen Farben 1) den potentiellenIntellekt zu einem aktuellen Intellekt und 2) die potentiell gedach-ten Inhalte das sind die immateriellen Formen bzw die aus denEinzelwahrnehmungen gebildeten allgemeinen Begriffe zu aktuellgedachten macht (9835ndash994) Der potentielle Intellekt ist damitein bdquoSchatzhausldquo oder eine bdquoVielheit an Gedankenldquo (θησαυρςbzw πλθος τEν νοημτων) und als solcher enthaumllt er die aus der Wahrnehmung und der Phantasie gewonnenen in der Erinne-rung bewahrten Eindruumlcke (τποι) bdquowie eine Materieldquo (σπερ Fλη)(6ndash8 21f) Dem potentiellen Intellekt liegen die Phantasmata alsMaterie zugrunde (10030) wie dieser wiederum fuumlr den aktivenIntellekt als Materie dient Er selbst enthaumllt die Gedanken als indi-viduelle Begriffe oder Vor-Begriffe die erst durch die Aktualitaumltdes aktiven Intellekts als allgemeine Begriffe gedacht werden Sokann der potentielle Intellekt an sich selbst auch nicht diskursiv

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denken dh er kann nicht die immateriellen Formen bzw Begrif-fe voneinander unterscheiden (διακρ2ναι) von einem zum andernuumlbergehen (μετιναι) sie verbinden (συντιθναι) oder trennen(διαιρε2ν) (995f) Erst wenn der aktive Intellekt die Materie derim potentiellen Intellekt enthaltenen Gedanken uumlbernimmt undder potentielle Intellekt auf diese Weise mit dem aktiven eins wirdwird er auch faumlhig die Taumltigkeiten des diskursiven Denkens aus-zufuumlhren (8ndash10)

Ein Unterschied zu Alexander wie auch zu Aristoteles bestehtdarin daszlig Themistios die Phantasmata zur Materie fuumlr den poten-tiellen Intellekt macht (10030) Wie die Wahrnehmung nicht ohneWahrnehmungsgegenstaumlnde aktualisiert wird so auch nicht derpotentielle Intellekt ohne Phantasmata (11318ndash20 mit 9833ndash35)Zwar betont Aristoteles mehrmals daszlig die (dianoetische) Seeleniemals ohne Phantasien denkt die ihr wie Wahrnehmungen zu-kommen (Arist De an 37 431a14ndash17) bzw daszlig sie die intelli-giblen Formen in den Phantasien denkt (431b2 8 432a3ndash5) Dochnirgendwo laumlszligt sich aus Aristoteles ableiten daszlig es der potentielleIntellekt ist der in Phantasmata denkt Der Grund fuumlr diese Zu-ordnung ist Themistiosrsquo Konzeption des potentiellen Intellekts Erist nicht wie bei Alexander reine Potentialitaumlt und eine Dispositionzur Aufnahme intelligibler Formen sondern selbst schon aktivetwa indem durch ihn bereits die Kinder Aumlhnlichkeiten und Un-terschiede in den Sinneseindruumlcken sehen und Vor-Begriffe bildenoder indem sie die Worte ihres gewoumlhnlichen Sprachgebrauchs vongewissen Vorstellungen der Phantasie begleiten lassen Der aktuel-le Intellekt verallgemeinert dann nur was im potentiellen Intellektals seinem Vorlaumlufer schon enthalten war Wenn sich in der Phan-tasie aus vielen Sinneseindruumlcken ein Bild einer Sache oder Qualitaumlteinstellt enthaumllt der potentielle Intellekt davon einen individuellenBegriff oder einen den Vorstellungen zugeordneten Vor-Begriff(bdquodieses Weiszligeldquo bdquoMenschldquo) den der aktuelle Intellekt allgemeinoder in seinem Wesen denkt (bdquoweiszligldquo Wesen von bdquoMenschldquo) We-gen dieser Zusammengehoumlrigkeit des individuellen und des all -gemeinen Begriffs ist auch der potentielle Intellekt nach dem Toddes Koumlrpers dauerhaft mit dem aktiven Intellekt verbunden undgenauso vom Koumlrper abgetrennt (Them In De an 10529f) wo-bei der aktive Intellekt bdquomehrldquo (μGλλον) abgetrennt ist als der potentielle (10534ndash10614 10832ndash34) Dieses bdquomehrldquo bezieht sichlediglich auf die Universalitaumlt des aktiven Intellekts die die Indivi-

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dualitaumlt des potentiellen Intellekts mitumfaszligt Dieser ist daherauch bdquomehrldquo mit der menschlichen Seele bdquoverwachsenldquo (συμφυ8ς)als jener (9834) weil er zeitlich fruumlher in uns wirkt und ontolo-gisch von geringerem Rang ist (1069ndash11) Die Unvergaumlnglichkeitdieses Intellekts beruht auf einer (Fehl-)Deutung von De an 34wo Aristoteles den νος bdquoabgetrenntldquo (χωριστς) nennt Er meintden νος als solchen aber Theophrast und Themistios nehmen andaszlig sich bereits 34 ausschlieszliglich auf den δυνμει νος bezieht

Ebenso wie fuumlr Alexander hat Erkenntnis fuumlr Themistios zweiQuellen die Wahrnehmung die in aumluszligeren Sinneseindruumlcken dieintelligiblen Formen in einer individuellen Materie wahrnimmtund den Intellekt der nach einer gewissen Entwicklung des Spre-chens und Denkens die Allgemeinheit und Einheit der intelligiblenForm in der Vielheit der Sinneseindruumlcke herausstellt Die An -nahme eines angeborenen Ideenwissens ist fuumlr Themistios offenbarnicht noumltig da der Intellekt die Gegenstaumlnde seines Denkens ausder Wahrnehmung und aus dem Spracherwerb erhaumllt Angeborenist allerdings die menschliche Befaumlhigung zur Sprache und zu kon-zeptionellem Denken die ein implizites Wissen um formale Denk-prinzipien wie etwa den Satz vom Widerspruch mitumfaszligt Da-durch ist es moumlglich aus den einfachen Anfangsgruumlnden der erstenVorstellungen und durch das Erlernen der Worte die Einsicht indas Wesen der Dinge und ein zusammenhaumlngendes wissenschaft -liches Wissen zu entwickeln

3 Einheit und Vielheit des νοῦς ποιητικός

Einen offenkundigen Bezug auf Plotin nimmt Themistiosmit der Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts denn wenn er sagt daszlig es schoumlner sei die Frage zu stellenob alle Intellekte einer seien als die ob alle Seelen eine seien(10414ndash16) nimmt er woumlrtlich die Uumlberschrift von Plotins En-neade 49 Περ το ε= πGσαι α5 ψυχα μα wieder auf28 Themisti-os ist der erste der Kommentatoren der diese fuumlr Plotin typischeFrage nach dem Verhaumlltnis von Einheit und Vielheit innerhalb einer Hypostase explizit auf den aktiven Intellekt uumlbertraumlgt und

196 Michae l Schramm

28) Vgl Balleacuteriaux 1989 218

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

einige Aristotelesstellen an die implizieren daszlig der gesamte Intel-lekt und damit auch der νος ποιητικς in der menschlichen Seelesein muszlig14 So wird in De anima 35 die Dichotomie in eine mate-rielle Ursache die alles wird und eine wirkende die alles hervor-bringt bdquonotwendigerweise auch in der Seele bestehenldquo (Arist Dean 35 430a13f) Anderswo wird vom bdquotheoretischen Intellektldquoals einer bdquoanderen Art der Seeleldquo (ψυχς γνος τερον) gesprochen(22 413b24ndash27) Als Argument fuumlhrt Themistios zweierlei an1) Nach De anima soll bdquoalleinldquo der νος ποιητικς bdquounsterblichund ewigldquo (35 430a23) sein Das koumlnne nur auf die menschlicheSeele und nicht auf den Ersten Gott der Metaphysik bezogen seinweil dort auch die Gestirne unsterbliche und ewig bewegte Koumlrperseien (Them In De an 10236ndash10315) 2) Einen potentiellen In-tellekt koumlnne es nur in der menschlichen Seele geben (9731) weilder goumlttliche Intellekt ja voumlllig frei von Potentialitaumlt sei

Anstatt wie Alexander die Rolle des goumlttlichen Intellekts fuumlrdas menschliche Denken zu betonen betrachtet Themistios Po-tentialitaumlt und Aktualitaumlt als zwei Seiten des menschlichen Den-kens und betont so dessen Einheit Alexander hatte den Intellekt indrei Arten unterteilt den potentiellen bzw materiellen Intellekt(δυνμει νος bzw λικς νος) den alle Menschen insbesonde-re die Kinder haben den habituellen bzw erworbenen Intellekt(καθrsquo ξιν νος bzw πκτητος νος) den man als Erwachsener mit einem gewissen Wissen uumlber die Dinge erworben hat undschlieszliglich den aktuellen Intellekt (νεργεamp νος) der auch als derbdquovon auszligen kommende Intellektldquo (θραθεν νος) bezeichnet wirdund den einfachen immer aktuellen Intellekt Gottes meint15 DieUnterscheidung von habituellem und potentiellem Intellekt findetsich nicht woumlrtlich bei Aristoteles Aber sie kann sich auf eineGrundunterscheidung des Aristoteles von zwei Graden der Poten-tialitaumlt (δναμις) bzw Aktualitaumlt (ντελχεια) berufen die dieser

184 Michae l Schramm

14) Die neuplatonischen De anima-Kommentare des 6 Jh verfahren genau-so Ammonios etwa tadelte die Einteilungen sowohl des Alexander als auch desPlutarch v Athen weil beide als eine Art des Intellekts den aktuellen von auszligenkommenden Intellekt Gottes ins Spiel bringen wo Aristoteles in De anima nur vommenschlichen Intellekt handle Und von den Seelenteilen sei nur dieser ewig (Ps-Philop In De an 51832ndash51915)

15) Vgl Alex De an 8113ndash826 und 8823ndash8912 zusammengefaszligt Ps-Phi-lop In De an 5188ndash18 Zu θραθεν νος vgl Arist De gen an 736b28 und Deresp 472a22

am Beispiel des Wissens eingefuumlhrt hat Der Mensch ist der Moumlg-lichkeit nach wissend weil er generell zu den Lebewesen gehoumlrtdie sich Wissen aneignen koumlnnen die sogenannte erste Potentia-litaumlt Er kann sich bereits ein Wissen erworben haben das er alsHabitus besitzt aber gerade nicht anwendet Dieses Wissen wirdzweite Potentialitaumlt bzw erste Aktualitaumlt genannt Und schlieszliglichdie zweite Aktualitaumlt Jemand wendet ein gelerntes Wissen geradein praxi an (Arist De an 25 417a21ndashb16 vgl auch 34 429b5ndash9)Die Seele ist nach Aristoteles bekanntlich wie ein erlerntes aber gerade nicht ausgeuumlbtes Wissen und ihrer Definition nach einebdquoerste ντελχειαldquo bzw ein angeborener Habitus (21 412a19ndash28)Und auch im Hinblick auf den Intellekt wendet schon Aristotelesdie beiden verschiedenen Grade von Potentialitaumlt und Aktualitaumltan (34 429a21f und b5ndash8)16

Von Alexander der diese allgemeine Einteilung verschiedenerAktualitaumlts- und Potentialitaumltsgrade als erster ausdruumlcklich auf denIntellekt angewandt hat uumlbernimmt Themistios die Terminologieund die Einteilung des νος-Begriffs nach Potentialitaumlt und Ak-tualitaumlt So gibt es bei ihm a) den potentiellen Intellekt (δυνμεινος) b) den habituellen Intellekt (νος ( καθrsquo ξιν) und c) den ak-tuellen Intellekt (νεργεamp νος) bzw den aktiven Intellekt (νοςποιητικς) Daneben gibt es d) den bdquogemeinsamenldquo oder passivenIntellekt (κοινς νος νος παθητικς) der fuumlr ihn mit der Erin-nerung den Affekten und dem diskursiven Denken verbunden istFuumlr Themistios ist einzig der passive Intellekt nicht vom Koumlrpertrennbar der potentielle und aktuelle Intellekt sind hingegen ab-trennbar (Them In De an 10526ndash30)17 waumlhrend fuumlr Alexandernur der aktuelle bzw aktive Intellekt abgetrennt vom Koumlrper exi-stiert und die beiden Intellektformen des Menschen mit dessen

185Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

16) Balleacuteriaux 1989 203 weist fuumlr die Terminologie auszligerdem auf Alkinooshin Dieser unterscheidet νος ( ν δυνμει und ( κατrsquo νργειαν νος (Didaskali-kos 16419 Hermann) Allerdings geht es hier nicht um den menschlichen Intellektsondern um die Prinzipien der platonischen Theologie

17) Ob der habituelle Intellekt abtrennbar ist oder nicht dazu bezieht The-mistios nicht explizit Stellung Da jedoch der Habitus die 2 Potentialitaumlt bzw1 Aktualitaumlt darstellt denkt ihn Themistios vermutlich ebenso als abtrennbar wieden potentiellen und den aktuellen Intellekt Das bedeutet nicht daszlig die mensch -liche Seele nach ihrem Tod auch erworbenes Wissen bdquomitnehmenldquo koumlnnte Viel-mehr handelt es sich bei dem Habitus nur um die Auspraumlgung der im Menschen an-gelegten von seinem Denken unabhaumlngigen Begriffe der Gegenstaumlnde der Welt

Koumlrper vergaumlnglich sind (Alex De an 9013ndash20) Der habituelleIntellekt hat bei Themistios nicht mehr denselben Stellenwert wiebei Alexander weil er den gesamten Intellekt im Menschen veror-tet und damit den habituellen Intellekt nicht mehr als letzte Stufedes allein dem Menschen zugehoumlrigen Denkens auszeichnet

Gegen Alexanders theologische Deutung des νος ποιητικςvertritt Themistios die These bdquoWir sind der νος ποιητικςldquo(Them In De an 10037f) Das bedeutet allerdings nicht das je-weilige Individuum sondern den kollektiven Intellekt der aus dergemeinsamen Artnatur des Menschen folgt So unterscheidet The-mistios sorgsam zwischen dem einzelnen Ich (γ)) und dem all -gemeinen Ich-Sein (τ μο εναι) bzw dem Wesen des Ich Das je-weilige Ich ist bdquoder Intellekt der zusammengesetzt ist aus dem po-tentiellen und dem aktuellen Intellektldquo (γ+ [ ] ( συγκεμενοςνος κ το δυνμει κα το νεργεamp)18 das allgemeine Wesen desIch besteht lediglich bdquoaus dem aktuellen Intellektldquo (10018ndash20)Das individuelle Ich ist damit in seinem Wesen nicht wie seit derNeuzeit bestimmt durch die Subjektivitaumlt und Individualitaumlt des jeweiligen seelischen Erlebens das sich in einem Leib vollziehtsondern vielmehr als ein unkoumlrperlicher uumlberindividueller undrein intellektueller Prozeszlig19 Daher spricht Themistios auch ohneUnterschied von bdquoIchldquo wie von bdquoWirldquo20

Die Quelle fuumlr Themistiosrsquo Unterscheidung zwischen demWir und dem Wesen des Wir ist Plotin der ebenfalls von einem

186 Michae l Schramm

18) Eine parallele Formulierung findet sich in dem Alexander zugeschriebe-nen Traktat De intellectu bdquoUnser Intellekt ist zusammengesetzt aus der Poten -tialitaumlt welche das Werkzeug des goumlttlichen Intellekts ist und die Aristoteles den potentiellen Intellekt nennt und aus der Aktualitaumlt von jenem (sc dem goumlttlichenIntellekt)ldquo (( -μτερος νος σνθετς στιν κ τε τς δυνμεως 0τις 1ργανν στιτο θεου νο ν δυνμει νον ( ριστοτλης καλε2 κα τς κενου νεργεαςAlex De an mant 11218ndash20) Die Autorschaft insbesondere der Passage in derdieses Zitat eingebettet ist (1125ndash11324) ist unklar Waumlhrend Moraux 1967 und1984 fuumlr diesen und den vorangegangenen Abschnitt ab 1104 Aristoteles v Mytile-ne als Autor ausmacht sehen Schroeder Todd 1990 26 und 31 hierin das Fragmenteines unidentifizierbaren Autors Dieser Ansicht folgt R Sharples (Hrsg) Alexan-der Supplement to bdquoOn the Soulldquo Ithaca New York 2004 38 Anm 92

19) Themistios steht hier in einer langen Tradition beginnend mit Ps-Pla-tons Alkibiades I (128endash130c) die das bdquowahre Selbstldquo des Menschen in der Seeleoder im Intellekt sieht Vgl die Zusammenstellung der relevanten Stellen und Au-toren bei Moraux 1978 323 Anm 136

20) Vgl 10336f 3παντες 4ναγμεθα ο5 συγκεμενοι κ το δυνμει κανεργεamp

bdquoWirldquo21 in zwei Bedeutungen spricht einerseits als der belebteLeib den wir mit dem Tier gemeinsam haben und durch den wirwahrnehmen andererseits der bdquowahreldquo oder bdquoinnere Menschldquo ((4ληθ6ς 7νθρωπος ( νδον 7νθρωπος) der vom Koumlrper abgetrenntist und zu dem die Seele insbesondere das bdquoreineldquo Denken und die durch Vernunft vermittelten Tugenden gehoumlren (Plot 11105ndash15)22 Der Unterschied ist offensichtlich daszlig Themistios das kon-krete Wir nicht als Koumlrper und das wahre Wir nicht als Seele be-stimmt Jedoch aumlhnelt Themistios Plotin darin daszlig auch diesermeint daszlig der Mensch das gleiche ist wie die Denkseele (λογικ6ψυχ8) und daszlig er den Intellekt besitzt der dem bdquoWirldquo der Seele ontologisch vorgeordnet ist Die Seele besitzt den Intellekt eben-falls auf zwei Arten als allen Menschen bdquogemeinsamenldquo (κοινς)Intellekt insofern als er bdquounteilbar einer und uumlberall derselbeldquo istund als individuellen bdquoeigentuumlmlichenldquo (9διος) Intellekt insofernals ihn auch jeder einzelne als ganzen in seinem obersten Seelenteilhat (11721ndash86) ndash genauso verhaumllt sich auch der Intellekt des Themistios der als bdquoWir-Seinldquo als intellektuelles Wesen des Men-schen uumlberall identisch ist und in einem konkreten Ich als ganzerund ungeteilt wirksam ist Aumlhnlich werden auch die intelligiblenFormen von beiden bestimmt Sie sind fuumlr Plotin bdquoin der Seelegleichsam entfaltet (οον 4νειλιγμνα) und voneinander abgesondert(οον κεχωρισμνα) im Intellekt alles zugleich ((μο τ πντα)ldquo (6ndash8) Themistios kennzeichnet den aktuellen Intellekt als den Bereichin dem alle Formen bdquozugleich zusammenldquo sind waumlhrend er den Be-

187Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

21) Das -με2ς ist bei Plotin der Ausdruck fuumlr das bdquoIchldquo (vgl 11[53]) Esmeint das was Platon den bdquoinneren Menschenldquo nennt (Szlezaacutek 1979 184) Zu Plo-tins Gebrauch von -με2ς vgl W Himmerich Eudaimonia Die Lehre des Plotin vonder Selbstverwirklichung des Menschen (= Forschungen zur neueren Philosophieund ihrer Geschichte 13) Wuumlrzburg 1958 92ndash100 Zu Plotins Theorie vom dop-pelten Ich vgl 641416ndash31 dazu C Tornau Plotin Enneaden 64ndash5 (22ndash23) einKommentar Stuttgart Leipzig 1998 266ndash276 und allgemein OrsquoDaly 1973

22) Auch Plotin sieht das wahre Selbst des Menschen nicht im Leib oder imbeseelten Leib sondern allein in der Seele (Plot 47124f) Er unterscheidet termi-nologisch das Selbst (αltτς) des Menschen oder unser Wir (-με2ς) und die Seele imSinne der Seelenhypostase welche die Weltseele genauso wie die Einzelseelen derLebewesen umfaszligt und Prinzip des Lebens unkoumlrperlich (5121ndash6) und ein bdquoBilddes Geistesldquo (ε=κ+ν νο) (5137ndash8) ist Das eigentliche Selbst des Menschen ndash derbdquowahreldquo oder bdquoinnere Menschldquo (( 4ληθ6ς 7νθρωπος ( νδον 7νθρωπος) (11105ndash15) ndash ist nun nichts anderes als die rationale oder diskursiv denkende Seele (λογικ6ψυχ8) (53320)

reich der voneinander getrennten Formen nicht der Seele sonderndem potentiellen Intellekt zuweist (Them In De an 1004ndash10) AlsMaterie des aktuellen Intellekts nimmt er bdquogeteiltldquo auf was jenerbdquoungeteiltldquo denkt (22f) ndash wie etwa die allgemeine Qualitaumlt bdquoweiszligldquodie an sich ungeteilt ist an verschiedenen Koumlrpern bdquogeteiltldquo d h ineinzelnen Instanzen der Farbe bdquoweiszligldquo vorkomme (22ndash26)

Themistios uumlbernimmt also ein plotinisches Denkmuster undmodifiziert es fuumlr seine Zwecke 1) Er kann damit die aristotelischeDichotomie von aktuellem und potentiellem Intellekt genauer er-klaumlren und den Vorgang wie der aktuelle Intellekt bdquoalles machtldquowas der potentielle Intellekt bdquowirdldquo der aktive Intellekt ist das Reservoir allgemeiner Begriffe waumlhrend der potentielle Intellektindividuelle Begriffe besitzt aus denen erst allgemeine Begriffe ge-bildet werden koumlnnen 2) Mit dieser Deutung uumlbt er implizit Kri-tik an Plotin fuumlr die ungenaue Ausdrucksweise von der bdquoTeilungldquoder intelligiblen Formen in der Seele die im Intellekt ungeteilt ge-dacht wuumlrden weil er damit die bdquogeteiltenldquo und die bdquoungeteiltenldquoFormen auf zwei Stufen seiner Seinshierarchie verteilt die in Wirk-lichkeit zur selben gehoumlren Denn fuumlr Themistios werden einzelneInstanzen eines allgemeinen Begriffs wie auch dieser Begriff selbstvom Intellekt erkannt potentiell sind die Einzelfaumllle deshalb weilsie nur im Hinblick auf das Allgemeine gedacht werden koumlnnenMit seiner aristotelisierenden Transformation der plotinischenEinteilung fuumlhrt er Potentialitaumlt und Aktualitaumlt als zwei Seiten desBegriffsdenkens zusammen wobei die Aktualitaumlt wesentlicher Be-standteil des menschlichen Denkens ist ja sogar den Menschen inseinem Wesen ausmacht und nicht auf einen goumlttlichen Intellektwie Alexander oder auf einen universalen wahrhaft seienden In-tellekt wie Plotin rekurriert Zugleich trennt er das Begriffsdenkenan sich von der Wahrnehmung und dem wahrnehmenden Koumlrper

2 Der potentielle Intellekt und die Stufen der Erkenntnis

Um das Verhaumlltnis von potentiellem und aktuellem Intellektbesser verstehen und zugleich erklaumlren zu koumlnnen wie sich die intellektive Erkenntnis aus der Wahrnehmung entwickelt ist esnuumltzlich Themistiosrsquo Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zuRate zu ziehen welche sich vornehmlich in seiner Analytica pos -teriora-Paraphrase findet Eine Erkenntnislehre in der Art der

188 Michae l Schramm

platonischen Anamnesis-Lehre die auch von allen Neuplatonikernvertreten wurde wonach jede Erkenntnis eine Wiedererinnerungan das Ideenwissen der Seele vor ihrer bdquoEinkoumlrperungldquo sei23 lehnter explizit ab (In An Post 427ndash33) Vielmehr legt er wie schonAlexander im Ausgang von Aristotelesrsquo Analytica posteriora 219einen Stufenbau der Erkenntnis zugrunde der als fortlaufende In-duktion (παγωγ8) von der Partikularitaumlt der einzelnen Wahrneh-mung uumlber Erinnerung und Erfahrung zur Allgemeinheit von Wis-sen und Prinzipienerkenntnis fuumlhrt

Alexander konzipiert diese Induktion als fortlaufenden Ab-straktionsprozeszlig in dem die intelligible Form nach und nach auseiner Materie herausgehoben wird Zunaumlchst hat der MenschWahrnehmungen bzw Sinneseindruumlcke (τποι) die er als Phantas-mata in der Erinnerung aufbewahrt Anschlieszligend schreitet erdurch Erfahrung von den in der Erinnerung bewahrten Einzel -eindruumlcken zu allgemeinen Gedanken fort indem er mehrmaligwiederholte Einzeleindruumlcke auf ihre Aumlhnlichkeit hin miteinandervergleicht (Alex De an 833ndash13) Der Intellekt erkennt in den verschiedenen Einzeleindruumlcken die allgemeine Form die nur inverschiedenen Materien verschieden konkretisiert ist und loumlst die-se gedanklich von der Materie (8511ndash20) Dabei kommt die Drei-teilung des Intellekts nach Alexander folgendermaszligen zum TragenDer potentielle Intellekt ist die Disposition (πιτηδειτης) zurAufnahme der intelligiblen Formen vergleichbar einer unbe-schriebenen Wachstafel (8424) und enthaumllt diese der Moumlglichkeitnach bevor sie wirklich gedacht werden (21ndash24) der habituelle Intellekt besitzt sie bdquozusammengedraumlngtldquo (4θρα) und in sich bdquoru-hendldquo (gtρεμοντα) (865f) und der aktuelle Intellekt ist schlieszlig-lich nichts anderes als die gedachte Form selbst (8615) Abstrak -tion bedeutet nicht das Herausgreifen e iner Eigenschaft unterAbzug einer Vielzahl von anderen Eigenschaften sondern dasHerausheben der intelligiblen Form aus einer Materie bdquoDer Intel-lekt macht die wahrnehmbaren [Eindruumlcke] fuumlr sich intelligibel in-dem er sie von der Materie abtrennt und das theoretisch betrach-tet was ihr jeweiliges Sein istldquo (8419ndash21) Erkenntnis hat also fuumlrAlexander zwei Quellen die Wahrnehmung durch die das erken-nende Wesen externer Gegenstaumlnde gewahr wird und den Intel-

189Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

23) Platon skizziert die Anamnesis-Lehre Men 81cndashd zur neuplatonischenAnamnesis-Lehre vgl z B Plot 291647 48430 59532

lekt der durch Abstraktion die innere Form dieser Gegenstaumlndeerkennt Der Abstraktionsprozeszlig beginnt daher nicht nur bdquountenldquobei den einzelnen Sinnenseindruumlcken von denen zu abstrahierenist sondern auch bdquoobenldquo bei der an sich gleichbleibenden und mitsich selbst identischen Wesensform auf die sich die Abstraktion alsZiel hinbewegt

Im Anschluszlig an Alexander ist auch fuumlr Themistios der Fort-gang von der Wahrnehmung zur Prinzipienerkenntnis des Intel-lekts ein Abstraktions- und Induktionsprozeszlig Schon bei der Wahr-nehmung von Einzeleindruumlcken gibt es eine aumlhnliche Verknuumlpfungvon Individualitaumlt und Allgemeinheit wie bei der gemeinsamenTaumltigkeit von potentiellem und aktuellem Intellekt indem dieWahrnehmung bdquodieses Weiszligenldquo die gleichzeitige Wahrnehmung(συναισθνεσθαι) des allgemeinen Eindrucks bdquoweiszligldquo impliziert(Them In An Post 642ndash4) Individualitaumlt und Allgemeinheit sindnun das maszliggebliche Kriterium fuumlr die Unterscheidung von Wahr-nehmung und begrifflichem Denken Die Wahrnehmungen sindPrinzipien und Ursachen der partikularen Annahmen die Aufgabedes Intellekts ist die Verallgemeinerung dh mit einer Anspielungauf Platon (Phlb 27d) bdquodie Vielen zur Einheit zu machen und [ ]die Unbegrenzten mit einer Grenze zusammenzubindenldquo (τπολλ νον κα τ 7πειρα [ ] πρατι συνδ8σασθαι) (Them InAn Post 6417ndash20) Aus den partikularen Annahmen der Wahr-nehmung bdquoerschlieszligtldquo (συμπερανεται) der Intellekt d h das diskursive Denken das Allgemeine (24ndash26) waumlhrend er als dasschlechthin einfache Denkorgan das bdquogleichsam wie eine Art nicht-rationaler und ungeschiedener24 Blick der Seeleldquo (σπερ 7λογς τιςκα 7κριτος τς ψυχς 1ψις) wirkt (6514f) die bdquoPrinzipienldquo(4ρχς) bzw die bdquoallgemeinen und unmittelbaren Praumlmissenldquo (τςκαθλου κα 4μσους προτσεις) denkt (2f 9f)

190 Michae l Schramm

24) bdquoNicht-rationalldquo bedeutet nicht schlechthin bdquoirrationalldquo sondern eherbdquonicht-diskursivldquo Dieser Ausdruck betont die Einfachheit des intuitiv-noetischenDenkens das ohne λγος und κρσις dem in Saumltzen mitteilbaren Urteil auskommtbeides Kennzeichen des diskursiv-dianoetischen Denkens Im unmittelbaren Kon-text der Stelle ist mit λγος das Sprechen und Denken des Menschen in Saumltzen ge-meint das ihm als Wesen das den λγος besitzt (λογικν ζBον) eigentlich zukommt(65151719) Dieser traditionellen Sicht wonach bdquonicht-diskursivldquo als bdquonicht-pro -p ositionalldquo gedeutet wird widerspricht R Sorabji Some myths about non-prop -ositional thought in ders Time creation and the continuum theories in antiquityand the early Middle Ages London 1983 137ndash156

Themistios deutet die fortschreitende Verallgemeinerung vonder Wahrnehmung zum Prinzip in seiner Analytica posteriora-Pa-raphrase nicht wie Alexander explizit als Herausheben einer intel-ligiblen Form aus einer Materie vermutlich weil Aristoteles selbstin den Analytica posteriora die Form-Materie-Unterscheidungnicht anwendet In seiner De anima-Paraphrase hingegen unter-scheidet er zwischen Formen in der Materie (νυλα ε9δη) und im-materiellen Formen (7υλα ε9δη) zu denen man gelangt indem mandie intelligible Form von der Materie bdquoabtrenntldquo (χωρζων) (In Dean 1156f) Die Objekte des Intellekts sind schon in der Analyti-ca posteriora-Paraphrase die Prinzipien das sind die ersten Begrif-fe bzw Definitionen einer Wissenschaft (Cροι) und die bdquogemein -samen Gedankenldquo (κοινα ννοιαι) bzw Axiome (4ξι)ματα)25 alsunmittelbare Voraussetzungen eines Beweises ohne die kein Ler-nen moumlglich ist (In An Post 71ndash3 2233f) und diese beiden bil-den schon fuumlr Aristoteles die beiden Prinzipien einer Wissenschaft(Arist An post 110 76a37ndashb2) Dabei laumlszligt sich zeigen daszlig fuumlrThemistios ebenso wie fuumlr Alexander die intelligible Form das eigentliche Aumlquivalent fuumlr das Prinzip ist

So fuumlhrt er zur Erklaumlrung des Begriffs bdquoAxiomldquo die Defini tionTheophrasts an ein Axiom sei bdquoeine Meinung die entweder bei Be-griffen gleicher Gattung (ν το2ς (μογενσιν) z B wenn Gleichesvom Gleichen [scil abgezogen wird bleibt Gleiches erhalten] oderschlechthin bei allen gilt wie daszlig es entweder die Affirmation oderdie Negation gibtldquo d i der Satz vom ausgeschlossenen Drittenwobei der Ausdruck bdquogemeinsame Gedankenldquo im eigentlichen Sin-ne von der zweiten Bedeutung gelte und von da auf die erste uumlber-gegangen sei (Them In An Post 73ndash5)26 Das Axiom in diesen

191Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

25) Seit Euklid werden die mathematischen Axiome als κοινα ννοιαι be-zeichnet In der Stoa bezeichnen κοινα ννοιαι Ideen oder Begriffe die allen Men-schen vor jeder Erfahrung innewohnen und notwendige Bedingung fuumlr jede Erfah-rung sind (Chrysipp SVF II 154) Spaumltestens seit den Aristoteles-Kommentatorenwerden die κοινα ννοιαι aumlquivalent zu dem Aristotelischen Ausdruck 4ξι)ματαgebraucht (z B Alex In Top 18a20f In Met 317a34f Philop In An Pr 30619fIn An Post 3410)

26) Themistios hat in einer Paraphrase zur Topik von der nur Zeugnisse bei Boethius (vgl De diff top II 1186Cndash1194B) und Averroes erhalten sind sogardie Topoi der Topik mit den Aristotelischen Axiomen identifiziert (vgl S EbbesenCommentators and Commentaries on Aristotlersquos Sophistici Elenchi A Study ofPost-Aristotelian Ancient and Medieval Writings on Fallacies vol IndashIII [CLCAGVII] Leiden 1981 106ndash119)

beiden Bedeutungen haumlngt nun sachlich von den Begriffen ab bdquoDiePrinzipien des Beweises sind in der Tat keine Beweise sondernselbstevidente unmittelbare Praumlmissen (προτσεις αltτθενναργε2ς τε κα 7μεσοι) deren Prinzip wiederum der Intellekt istmit dem wir die Begriffe aufspuumlren (τοDς Cρους θηρεομεν) auswelchen die Axiome zusammengesetzt sindldquo (97ndash10) Die Axiomesind λγοι die sich aus formallogischen Begriffen wie GleichheitAffirmation Negation o auml zusammensetzen welche wiederumeine logische Gesetzmaumlszligigkeit bestimmen z B daszlig etwas nichtzugleich bejaht und verneint werden kann In konkreten Argu-mentationen werden die Axiome auf die eigentuumlmlichen Gegen-staumlnde einer speziellen Wissenschaft angewandt und die variablenBegriffe durch die jeweiligen eigentuumlmlichen Begriffe dieser Wis-senschaft ersetzt (2424ndash28) Das Denken des Intellekts der in denAxiomen die ihnen zugrundeliegenden formallogischen Begriffeoder die Begriffe einer bestimmten Wissenschaft erkennt fuumlhrtalso letztlich auf die immaterielle intelligible Form die dem Ge-genstand einer Wissenschaft innewohnt Dabei ndash und das ist eineklare anti-platonische Position27 ndash ist die jeweils zugrundeliegendeGattung nur ein Gedanke ohne reale Existenz der aufgrund derAumlhnlichkeit der Individuen gebildet wurde waumlhrend allein derArtbegriff das Eidos das tatsaumlchliche Wesen und die Form derDinge ausmacht (In De an 332ndash35)

Eine weitere Uumlbereinstimmung mit Alexander ist die Anwen-dung verschiedener lebensgeschichtlicher Entwicklungsstufen aufdie verschiedenen Intellektstufen Fuumlr Alexander haben den poten-tiellen Intellekt alle Menschen von Geburt an den habituellen Intellekt erwirbt hingegen nur der bdquotreffliche Menschldquo (σπουδα2ος)durch Unterricht und Uumlbung indem er zunaumlchst den an kontin-genten Gegenstaumlnden des praktischen Lebens geschulten Intellekt(πρακτικς κα δοξαστικς νος) und spaumlter den fuumlr die notwendi-gen Gegenstaumlnde der Wissenschaft zustaumlndigen theoretischen In-tellekt ausbildet (Alex De an 8120ndash823) Mit der Entwicklungder intellektuellen Faumlhigkeiten vom Kind zum Erwachsenen vompraktischen zum theoretischen Interesse geht fuumlr Alexander die Be-griffsbildung einher das allmaumlhliche induktive Fortschreiten vomEinzelfall zum Allgemeinbegriff Auch Themistios behauptet daszlig

192 Michae l Schramm

27) Darauf hat R Sorabji hingewiesen vgl Todd 1996 2 Anm 12

schon der kindliche Intellekt in den Wahrnehmungen bzw Phan-tasmata Aumlhnlichkeiten und Unterschiede registriert und danach all-maumlhlich sein Wissen aufbaut das er immer weiter vervollkommnenkann (Them In De an 959ndash21) Er ist damit die Vorstufe zur Ent-wicklung des bdquoerworbenenldquo Intellekts der die Begriffe besitzt

In seiner Analytica posteriora-Paraphrase betont Themistiosdaszlig der Prozeszlig der begrifflichen Verallgemeinerung Zeit braucht(In An Post 6421ndash24) und mit der Entwicklung des Menschenvoranschreitet bdquoWaumlhrend wir Fortschritte machen waumlchst und gedeiht der Intellekt immer mit uns mit (συναυξνεται [ ] κασυνεπιδδωσι) und zwar zuerst im Hinblick auf die einfachen Setzungen (θσεις) der nicht-zusammengesetzten einfachsten Bestandteile der Sprache die wir Begriffe (Cρους) nennen und aufdie einfachen Vorstellungen (4ντιλ8ψεις)ldquo (6515ndash18) EinfacheBegriffe wie bdquoMenschldquo oder bdquoweiszligldquo denken und sagen schon dieKinder wenn sie Sprechen und Denken (λγος) lernen (18ndash20) Beifortschreitender Sprach- und Denkentwicklung tritt die Faumlhigkeithinzu aus den einfachen Begriffen und Vorstellungen Aussagen zubilden und Fragen nach dem Wesen der Dinge zu stellen etwa wasder Mensch ist (20f) Auf einer noch houmlheren Entwicklungsstufewenn eine houmlhere Faumlhigkeit zum Denken des Allgemeinen ausge-bildet ist erlangt der menschliche Intellekt schlieszliglich seine volleDenkfaumlhigkeit (λογικ6 ξις) und damit sein eigentliches Wesen alsvernunftbegabtes Lebewesen (21ndash24) Wenn der Intellekt in dieseseine Vollendungsstufe gelangt ist und die zweite Potentialitaumlt odererste Aktualitaumlt erreicht hat besitzt er die Kraft zur eigenen vonaumluszligerer Anregung unabhaumlngigen Taumltigkeit (24ndash28) d h die zwei-te Aktualitaumlt des Denkens Zusammenfassend gesagt kann der Intellekt zuerst nur Namen verwenden und die mit den Namen gemeinten Dinge denken diese kann er dann diskursiv d h in Zusammensetzungen und Trennungen denken und schlieszliglich in-dem er gewisse Urteile in ihren begrifflichen Konstituentien denktdie allgemeinen Begriffe in sich festhalten (6528ndash663)

Wie Alexander koppelt auch Themistios den fortschreitendenErkenntnisweg vom Einzelnen zum Allgemeinen an die ontogene-tische Entwicklung des Menschen vom Kind zum ErwachsenenEin bezeichnender Unterschied zu Alexander duumlrfte aber darin bestehen daszlig Themistios den potentiellen Intellekt in gewisserWeise mit dem fruumlhkindlichen Spracherwerb identifiziert und demVerstehen der Namensbedeutung eine einfache intellektuelle Ein-

193Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

sicht in das Wesen der Dinge gleichstellt Er koumlnnte sich dafuumlr aufAristoteles berufen fuumlr den das Wissen um die Bedeutung derWorte eine notwendige Voraussetzung jeden Wissens uumlberhauptist insbesondere bei den Prinzipien einer Wissenschaft (Arist Anpost 11 71a12f 10 76a32f) Wenn die einfache noetische Ein-sicht in das Wesen der Dinge erst nach einem Durchgang durch dasdiskursive Denken das stets in Zusammensetzungen und Tren-nungen einfacher Begriffe operiert als dessen Vollendung mit demvollen Begriff erreicht ist dann hat nach Themistios der kindlicheIntellekt mit dem einfachen Sprachgebrauch bereits einen Vor-Be-griff des Wesens der Dinge erworben Der Uumlbergang vom potenti-ellen zum aktuellen Intellekt ist damit nach der De anima-Para-phrase einerseits der Uumlbergang vom individuellen zum allgemeinenBegriff andererseits nach der Analytica posteriora-Paraphrase derUumlbergang vom einzelnen Wort bzw Vor-Begriff zum wissen-schaftlichen Begriff der ein systematisches Wissen um die Verbin-dungen mit den anderen Begriffen impliziert

Daher bezeichnet Themistios den potentiellen Intellekt auchals bdquoVorlaumlufer (πρδρομος) des aktiven Intellektsldquo vergleichbardem Verhaumlltnis der Strahlen der Sonne zum Licht oder der Bluumltezur Frucht (Them In De an 10530ndash32) Der potentielle Intellektist fuumlr den aktiven Intellekt zugleich Materie und Vorlaumlufer in derSeele indem er diese auf das Denken des aktiven Intellekts vorbe-reitet Der potentielle Intellekt wird durch den aktuellen Intellektnur vollendet (9829f) indem dieser wie das Licht im Hinblick aufdas moumlgliche Sehen und die moumlglichen Farben 1) den potentiellenIntellekt zu einem aktuellen Intellekt und 2) die potentiell gedach-ten Inhalte das sind die immateriellen Formen bzw die aus denEinzelwahrnehmungen gebildeten allgemeinen Begriffe zu aktuellgedachten macht (9835ndash994) Der potentielle Intellekt ist damitein bdquoSchatzhausldquo oder eine bdquoVielheit an Gedankenldquo (θησαυρςbzw πλθος τEν νοημτων) und als solcher enthaumllt er die aus der Wahrnehmung und der Phantasie gewonnenen in der Erinne-rung bewahrten Eindruumlcke (τποι) bdquowie eine Materieldquo (σπερ Fλη)(6ndash8 21f) Dem potentiellen Intellekt liegen die Phantasmata alsMaterie zugrunde (10030) wie dieser wiederum fuumlr den aktivenIntellekt als Materie dient Er selbst enthaumllt die Gedanken als indi-viduelle Begriffe oder Vor-Begriffe die erst durch die Aktualitaumltdes aktiven Intellekts als allgemeine Begriffe gedacht werden Sokann der potentielle Intellekt an sich selbst auch nicht diskursiv

194 Michae l Schramm

denken dh er kann nicht die immateriellen Formen bzw Begrif-fe voneinander unterscheiden (διακρ2ναι) von einem zum andernuumlbergehen (μετιναι) sie verbinden (συντιθναι) oder trennen(διαιρε2ν) (995f) Erst wenn der aktive Intellekt die Materie derim potentiellen Intellekt enthaltenen Gedanken uumlbernimmt undder potentielle Intellekt auf diese Weise mit dem aktiven eins wirdwird er auch faumlhig die Taumltigkeiten des diskursiven Denkens aus-zufuumlhren (8ndash10)

Ein Unterschied zu Alexander wie auch zu Aristoteles bestehtdarin daszlig Themistios die Phantasmata zur Materie fuumlr den poten-tiellen Intellekt macht (10030) Wie die Wahrnehmung nicht ohneWahrnehmungsgegenstaumlnde aktualisiert wird so auch nicht derpotentielle Intellekt ohne Phantasmata (11318ndash20 mit 9833ndash35)Zwar betont Aristoteles mehrmals daszlig die (dianoetische) Seeleniemals ohne Phantasien denkt die ihr wie Wahrnehmungen zu-kommen (Arist De an 37 431a14ndash17) bzw daszlig sie die intelli-giblen Formen in den Phantasien denkt (431b2 8 432a3ndash5) Dochnirgendwo laumlszligt sich aus Aristoteles ableiten daszlig es der potentielleIntellekt ist der in Phantasmata denkt Der Grund fuumlr diese Zu-ordnung ist Themistiosrsquo Konzeption des potentiellen Intellekts Erist nicht wie bei Alexander reine Potentialitaumlt und eine Dispositionzur Aufnahme intelligibler Formen sondern selbst schon aktivetwa indem durch ihn bereits die Kinder Aumlhnlichkeiten und Un-terschiede in den Sinneseindruumlcken sehen und Vor-Begriffe bildenoder indem sie die Worte ihres gewoumlhnlichen Sprachgebrauchs vongewissen Vorstellungen der Phantasie begleiten lassen Der aktuel-le Intellekt verallgemeinert dann nur was im potentiellen Intellektals seinem Vorlaumlufer schon enthalten war Wenn sich in der Phan-tasie aus vielen Sinneseindruumlcken ein Bild einer Sache oder Qualitaumlteinstellt enthaumllt der potentielle Intellekt davon einen individuellenBegriff oder einen den Vorstellungen zugeordneten Vor-Begriff(bdquodieses Weiszligeldquo bdquoMenschldquo) den der aktuelle Intellekt allgemeinoder in seinem Wesen denkt (bdquoweiszligldquo Wesen von bdquoMenschldquo) We-gen dieser Zusammengehoumlrigkeit des individuellen und des all -gemeinen Begriffs ist auch der potentielle Intellekt nach dem Toddes Koumlrpers dauerhaft mit dem aktiven Intellekt verbunden undgenauso vom Koumlrper abgetrennt (Them In De an 10529f) wo-bei der aktive Intellekt bdquomehrldquo (μGλλον) abgetrennt ist als der potentielle (10534ndash10614 10832ndash34) Dieses bdquomehrldquo bezieht sichlediglich auf die Universalitaumlt des aktiven Intellekts die die Indivi-

195Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

dualitaumlt des potentiellen Intellekts mitumfaszligt Dieser ist daherauch bdquomehrldquo mit der menschlichen Seele bdquoverwachsenldquo (συμφυ8ς)als jener (9834) weil er zeitlich fruumlher in uns wirkt und ontolo-gisch von geringerem Rang ist (1069ndash11) Die Unvergaumlnglichkeitdieses Intellekts beruht auf einer (Fehl-)Deutung von De an 34wo Aristoteles den νος bdquoabgetrenntldquo (χωριστς) nennt Er meintden νος als solchen aber Theophrast und Themistios nehmen andaszlig sich bereits 34 ausschlieszliglich auf den δυνμει νος bezieht

Ebenso wie fuumlr Alexander hat Erkenntnis fuumlr Themistios zweiQuellen die Wahrnehmung die in aumluszligeren Sinneseindruumlcken dieintelligiblen Formen in einer individuellen Materie wahrnimmtund den Intellekt der nach einer gewissen Entwicklung des Spre-chens und Denkens die Allgemeinheit und Einheit der intelligiblenForm in der Vielheit der Sinneseindruumlcke herausstellt Die An -nahme eines angeborenen Ideenwissens ist fuumlr Themistios offenbarnicht noumltig da der Intellekt die Gegenstaumlnde seines Denkens ausder Wahrnehmung und aus dem Spracherwerb erhaumllt Angeborenist allerdings die menschliche Befaumlhigung zur Sprache und zu kon-zeptionellem Denken die ein implizites Wissen um formale Denk-prinzipien wie etwa den Satz vom Widerspruch mitumfaszligt Da-durch ist es moumlglich aus den einfachen Anfangsgruumlnden der erstenVorstellungen und durch das Erlernen der Worte die Einsicht indas Wesen der Dinge und ein zusammenhaumlngendes wissenschaft -liches Wissen zu entwickeln

3 Einheit und Vielheit des νοῦς ποιητικός

Einen offenkundigen Bezug auf Plotin nimmt Themistiosmit der Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts denn wenn er sagt daszlig es schoumlner sei die Frage zu stellenob alle Intellekte einer seien als die ob alle Seelen eine seien(10414ndash16) nimmt er woumlrtlich die Uumlberschrift von Plotins En-neade 49 Περ το ε= πGσαι α5 ψυχα μα wieder auf28 Themisti-os ist der erste der Kommentatoren der diese fuumlr Plotin typischeFrage nach dem Verhaumlltnis von Einheit und Vielheit innerhalb einer Hypostase explizit auf den aktiven Intellekt uumlbertraumlgt und

196 Michae l Schramm

28) Vgl Balleacuteriaux 1989 218

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

am Beispiel des Wissens eingefuumlhrt hat Der Mensch ist der Moumlg-lichkeit nach wissend weil er generell zu den Lebewesen gehoumlrtdie sich Wissen aneignen koumlnnen die sogenannte erste Potentia-litaumlt Er kann sich bereits ein Wissen erworben haben das er alsHabitus besitzt aber gerade nicht anwendet Dieses Wissen wirdzweite Potentialitaumlt bzw erste Aktualitaumlt genannt Und schlieszliglichdie zweite Aktualitaumlt Jemand wendet ein gelerntes Wissen geradein praxi an (Arist De an 25 417a21ndashb16 vgl auch 34 429b5ndash9)Die Seele ist nach Aristoteles bekanntlich wie ein erlerntes aber gerade nicht ausgeuumlbtes Wissen und ihrer Definition nach einebdquoerste ντελχειαldquo bzw ein angeborener Habitus (21 412a19ndash28)Und auch im Hinblick auf den Intellekt wendet schon Aristotelesdie beiden verschiedenen Grade von Potentialitaumlt und Aktualitaumltan (34 429a21f und b5ndash8)16

Von Alexander der diese allgemeine Einteilung verschiedenerAktualitaumlts- und Potentialitaumltsgrade als erster ausdruumlcklich auf denIntellekt angewandt hat uumlbernimmt Themistios die Terminologieund die Einteilung des νος-Begriffs nach Potentialitaumlt und Ak-tualitaumlt So gibt es bei ihm a) den potentiellen Intellekt (δυνμεινος) b) den habituellen Intellekt (νος ( καθrsquo ξιν) und c) den ak-tuellen Intellekt (νεργεamp νος) bzw den aktiven Intellekt (νοςποιητικς) Daneben gibt es d) den bdquogemeinsamenldquo oder passivenIntellekt (κοινς νος νος παθητικς) der fuumlr ihn mit der Erin-nerung den Affekten und dem diskursiven Denken verbunden istFuumlr Themistios ist einzig der passive Intellekt nicht vom Koumlrpertrennbar der potentielle und aktuelle Intellekt sind hingegen ab-trennbar (Them In De an 10526ndash30)17 waumlhrend fuumlr Alexandernur der aktuelle bzw aktive Intellekt abgetrennt vom Koumlrper exi-stiert und die beiden Intellektformen des Menschen mit dessen

185Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

16) Balleacuteriaux 1989 203 weist fuumlr die Terminologie auszligerdem auf Alkinooshin Dieser unterscheidet νος ( ν δυνμει und ( κατrsquo νργειαν νος (Didaskali-kos 16419 Hermann) Allerdings geht es hier nicht um den menschlichen Intellektsondern um die Prinzipien der platonischen Theologie

17) Ob der habituelle Intellekt abtrennbar ist oder nicht dazu bezieht The-mistios nicht explizit Stellung Da jedoch der Habitus die 2 Potentialitaumlt bzw1 Aktualitaumlt darstellt denkt ihn Themistios vermutlich ebenso als abtrennbar wieden potentiellen und den aktuellen Intellekt Das bedeutet nicht daszlig die mensch -liche Seele nach ihrem Tod auch erworbenes Wissen bdquomitnehmenldquo koumlnnte Viel-mehr handelt es sich bei dem Habitus nur um die Auspraumlgung der im Menschen an-gelegten von seinem Denken unabhaumlngigen Begriffe der Gegenstaumlnde der Welt

Koumlrper vergaumlnglich sind (Alex De an 9013ndash20) Der habituelleIntellekt hat bei Themistios nicht mehr denselben Stellenwert wiebei Alexander weil er den gesamten Intellekt im Menschen veror-tet und damit den habituellen Intellekt nicht mehr als letzte Stufedes allein dem Menschen zugehoumlrigen Denkens auszeichnet

Gegen Alexanders theologische Deutung des νος ποιητικςvertritt Themistios die These bdquoWir sind der νος ποιητικςldquo(Them In De an 10037f) Das bedeutet allerdings nicht das je-weilige Individuum sondern den kollektiven Intellekt der aus dergemeinsamen Artnatur des Menschen folgt So unterscheidet The-mistios sorgsam zwischen dem einzelnen Ich (γ)) und dem all -gemeinen Ich-Sein (τ μο εναι) bzw dem Wesen des Ich Das je-weilige Ich ist bdquoder Intellekt der zusammengesetzt ist aus dem po-tentiellen und dem aktuellen Intellektldquo (γ+ [ ] ( συγκεμενοςνος κ το δυνμει κα το νεργεamp)18 das allgemeine Wesen desIch besteht lediglich bdquoaus dem aktuellen Intellektldquo (10018ndash20)Das individuelle Ich ist damit in seinem Wesen nicht wie seit derNeuzeit bestimmt durch die Subjektivitaumlt und Individualitaumlt des jeweiligen seelischen Erlebens das sich in einem Leib vollziehtsondern vielmehr als ein unkoumlrperlicher uumlberindividueller undrein intellektueller Prozeszlig19 Daher spricht Themistios auch ohneUnterschied von bdquoIchldquo wie von bdquoWirldquo20

Die Quelle fuumlr Themistiosrsquo Unterscheidung zwischen demWir und dem Wesen des Wir ist Plotin der ebenfalls von einem

186 Michae l Schramm

18) Eine parallele Formulierung findet sich in dem Alexander zugeschriebe-nen Traktat De intellectu bdquoUnser Intellekt ist zusammengesetzt aus der Poten -tialitaumlt welche das Werkzeug des goumlttlichen Intellekts ist und die Aristoteles den potentiellen Intellekt nennt und aus der Aktualitaumlt von jenem (sc dem goumlttlichenIntellekt)ldquo (( -μτερος νος σνθετς στιν κ τε τς δυνμεως 0τις 1ργανν στιτο θεου νο ν δυνμει νον ( ριστοτλης καλε2 κα τς κενου νεργεαςAlex De an mant 11218ndash20) Die Autorschaft insbesondere der Passage in derdieses Zitat eingebettet ist (1125ndash11324) ist unklar Waumlhrend Moraux 1967 und1984 fuumlr diesen und den vorangegangenen Abschnitt ab 1104 Aristoteles v Mytile-ne als Autor ausmacht sehen Schroeder Todd 1990 26 und 31 hierin das Fragmenteines unidentifizierbaren Autors Dieser Ansicht folgt R Sharples (Hrsg) Alexan-der Supplement to bdquoOn the Soulldquo Ithaca New York 2004 38 Anm 92

19) Themistios steht hier in einer langen Tradition beginnend mit Ps-Pla-tons Alkibiades I (128endash130c) die das bdquowahre Selbstldquo des Menschen in der Seeleoder im Intellekt sieht Vgl die Zusammenstellung der relevanten Stellen und Au-toren bei Moraux 1978 323 Anm 136

20) Vgl 10336f 3παντες 4ναγμεθα ο5 συγκεμενοι κ το δυνμει κανεργεamp

bdquoWirldquo21 in zwei Bedeutungen spricht einerseits als der belebteLeib den wir mit dem Tier gemeinsam haben und durch den wirwahrnehmen andererseits der bdquowahreldquo oder bdquoinnere Menschldquo ((4ληθ6ς 7νθρωπος ( νδον 7νθρωπος) der vom Koumlrper abgetrenntist und zu dem die Seele insbesondere das bdquoreineldquo Denken und die durch Vernunft vermittelten Tugenden gehoumlren (Plot 11105ndash15)22 Der Unterschied ist offensichtlich daszlig Themistios das kon-krete Wir nicht als Koumlrper und das wahre Wir nicht als Seele be-stimmt Jedoch aumlhnelt Themistios Plotin darin daszlig auch diesermeint daszlig der Mensch das gleiche ist wie die Denkseele (λογικ6ψυχ8) und daszlig er den Intellekt besitzt der dem bdquoWirldquo der Seele ontologisch vorgeordnet ist Die Seele besitzt den Intellekt eben-falls auf zwei Arten als allen Menschen bdquogemeinsamenldquo (κοινς)Intellekt insofern als er bdquounteilbar einer und uumlberall derselbeldquo istund als individuellen bdquoeigentuumlmlichenldquo (9διος) Intellekt insofernals ihn auch jeder einzelne als ganzen in seinem obersten Seelenteilhat (11721ndash86) ndash genauso verhaumllt sich auch der Intellekt des Themistios der als bdquoWir-Seinldquo als intellektuelles Wesen des Men-schen uumlberall identisch ist und in einem konkreten Ich als ganzerund ungeteilt wirksam ist Aumlhnlich werden auch die intelligiblenFormen von beiden bestimmt Sie sind fuumlr Plotin bdquoin der Seelegleichsam entfaltet (οον 4νειλιγμνα) und voneinander abgesondert(οον κεχωρισμνα) im Intellekt alles zugleich ((μο τ πντα)ldquo (6ndash8) Themistios kennzeichnet den aktuellen Intellekt als den Bereichin dem alle Formen bdquozugleich zusammenldquo sind waumlhrend er den Be-

187Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

21) Das -με2ς ist bei Plotin der Ausdruck fuumlr das bdquoIchldquo (vgl 11[53]) Esmeint das was Platon den bdquoinneren Menschenldquo nennt (Szlezaacutek 1979 184) Zu Plo-tins Gebrauch von -με2ς vgl W Himmerich Eudaimonia Die Lehre des Plotin vonder Selbstverwirklichung des Menschen (= Forschungen zur neueren Philosophieund ihrer Geschichte 13) Wuumlrzburg 1958 92ndash100 Zu Plotins Theorie vom dop-pelten Ich vgl 641416ndash31 dazu C Tornau Plotin Enneaden 64ndash5 (22ndash23) einKommentar Stuttgart Leipzig 1998 266ndash276 und allgemein OrsquoDaly 1973

22) Auch Plotin sieht das wahre Selbst des Menschen nicht im Leib oder imbeseelten Leib sondern allein in der Seele (Plot 47124f) Er unterscheidet termi-nologisch das Selbst (αltτς) des Menschen oder unser Wir (-με2ς) und die Seele imSinne der Seelenhypostase welche die Weltseele genauso wie die Einzelseelen derLebewesen umfaszligt und Prinzip des Lebens unkoumlrperlich (5121ndash6) und ein bdquoBilddes Geistesldquo (ε=κ+ν νο) (5137ndash8) ist Das eigentliche Selbst des Menschen ndash derbdquowahreldquo oder bdquoinnere Menschldquo (( 4ληθ6ς 7νθρωπος ( νδον 7νθρωπος) (11105ndash15) ndash ist nun nichts anderes als die rationale oder diskursiv denkende Seele (λογικ6ψυχ8) (53320)

reich der voneinander getrennten Formen nicht der Seele sonderndem potentiellen Intellekt zuweist (Them In De an 1004ndash10) AlsMaterie des aktuellen Intellekts nimmt er bdquogeteiltldquo auf was jenerbdquoungeteiltldquo denkt (22f) ndash wie etwa die allgemeine Qualitaumlt bdquoweiszligldquodie an sich ungeteilt ist an verschiedenen Koumlrpern bdquogeteiltldquo d h ineinzelnen Instanzen der Farbe bdquoweiszligldquo vorkomme (22ndash26)

Themistios uumlbernimmt also ein plotinisches Denkmuster undmodifiziert es fuumlr seine Zwecke 1) Er kann damit die aristotelischeDichotomie von aktuellem und potentiellem Intellekt genauer er-klaumlren und den Vorgang wie der aktuelle Intellekt bdquoalles machtldquowas der potentielle Intellekt bdquowirdldquo der aktive Intellekt ist das Reservoir allgemeiner Begriffe waumlhrend der potentielle Intellektindividuelle Begriffe besitzt aus denen erst allgemeine Begriffe ge-bildet werden koumlnnen 2) Mit dieser Deutung uumlbt er implizit Kri-tik an Plotin fuumlr die ungenaue Ausdrucksweise von der bdquoTeilungldquoder intelligiblen Formen in der Seele die im Intellekt ungeteilt ge-dacht wuumlrden weil er damit die bdquogeteiltenldquo und die bdquoungeteiltenldquoFormen auf zwei Stufen seiner Seinshierarchie verteilt die in Wirk-lichkeit zur selben gehoumlren Denn fuumlr Themistios werden einzelneInstanzen eines allgemeinen Begriffs wie auch dieser Begriff selbstvom Intellekt erkannt potentiell sind die Einzelfaumllle deshalb weilsie nur im Hinblick auf das Allgemeine gedacht werden koumlnnenMit seiner aristotelisierenden Transformation der plotinischenEinteilung fuumlhrt er Potentialitaumlt und Aktualitaumlt als zwei Seiten desBegriffsdenkens zusammen wobei die Aktualitaumlt wesentlicher Be-standteil des menschlichen Denkens ist ja sogar den Menschen inseinem Wesen ausmacht und nicht auf einen goumlttlichen Intellektwie Alexander oder auf einen universalen wahrhaft seienden In-tellekt wie Plotin rekurriert Zugleich trennt er das Begriffsdenkenan sich von der Wahrnehmung und dem wahrnehmenden Koumlrper

2 Der potentielle Intellekt und die Stufen der Erkenntnis

Um das Verhaumlltnis von potentiellem und aktuellem Intellektbesser verstehen und zugleich erklaumlren zu koumlnnen wie sich die intellektive Erkenntnis aus der Wahrnehmung entwickelt ist esnuumltzlich Themistiosrsquo Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zuRate zu ziehen welche sich vornehmlich in seiner Analytica pos -teriora-Paraphrase findet Eine Erkenntnislehre in der Art der

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platonischen Anamnesis-Lehre die auch von allen Neuplatonikernvertreten wurde wonach jede Erkenntnis eine Wiedererinnerungan das Ideenwissen der Seele vor ihrer bdquoEinkoumlrperungldquo sei23 lehnter explizit ab (In An Post 427ndash33) Vielmehr legt er wie schonAlexander im Ausgang von Aristotelesrsquo Analytica posteriora 219einen Stufenbau der Erkenntnis zugrunde der als fortlaufende In-duktion (παγωγ8) von der Partikularitaumlt der einzelnen Wahrneh-mung uumlber Erinnerung und Erfahrung zur Allgemeinheit von Wis-sen und Prinzipienerkenntnis fuumlhrt

Alexander konzipiert diese Induktion als fortlaufenden Ab-straktionsprozeszlig in dem die intelligible Form nach und nach auseiner Materie herausgehoben wird Zunaumlchst hat der MenschWahrnehmungen bzw Sinneseindruumlcke (τποι) die er als Phantas-mata in der Erinnerung aufbewahrt Anschlieszligend schreitet erdurch Erfahrung von den in der Erinnerung bewahrten Einzel -eindruumlcken zu allgemeinen Gedanken fort indem er mehrmaligwiederholte Einzeleindruumlcke auf ihre Aumlhnlichkeit hin miteinandervergleicht (Alex De an 833ndash13) Der Intellekt erkennt in den verschiedenen Einzeleindruumlcken die allgemeine Form die nur inverschiedenen Materien verschieden konkretisiert ist und loumlst die-se gedanklich von der Materie (8511ndash20) Dabei kommt die Drei-teilung des Intellekts nach Alexander folgendermaszligen zum TragenDer potentielle Intellekt ist die Disposition (πιτηδειτης) zurAufnahme der intelligiblen Formen vergleichbar einer unbe-schriebenen Wachstafel (8424) und enthaumllt diese der Moumlglichkeitnach bevor sie wirklich gedacht werden (21ndash24) der habituelle Intellekt besitzt sie bdquozusammengedraumlngtldquo (4θρα) und in sich bdquoru-hendldquo (gtρεμοντα) (865f) und der aktuelle Intellekt ist schlieszlig-lich nichts anderes als die gedachte Form selbst (8615) Abstrak -tion bedeutet nicht das Herausgreifen e iner Eigenschaft unterAbzug einer Vielzahl von anderen Eigenschaften sondern dasHerausheben der intelligiblen Form aus einer Materie bdquoDer Intel-lekt macht die wahrnehmbaren [Eindruumlcke] fuumlr sich intelligibel in-dem er sie von der Materie abtrennt und das theoretisch betrach-tet was ihr jeweiliges Sein istldquo (8419ndash21) Erkenntnis hat also fuumlrAlexander zwei Quellen die Wahrnehmung durch die das erken-nende Wesen externer Gegenstaumlnde gewahr wird und den Intel-

189Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

23) Platon skizziert die Anamnesis-Lehre Men 81cndashd zur neuplatonischenAnamnesis-Lehre vgl z B Plot 291647 48430 59532

lekt der durch Abstraktion die innere Form dieser Gegenstaumlndeerkennt Der Abstraktionsprozeszlig beginnt daher nicht nur bdquountenldquobei den einzelnen Sinnenseindruumlcken von denen zu abstrahierenist sondern auch bdquoobenldquo bei der an sich gleichbleibenden und mitsich selbst identischen Wesensform auf die sich die Abstraktion alsZiel hinbewegt

Im Anschluszlig an Alexander ist auch fuumlr Themistios der Fort-gang von der Wahrnehmung zur Prinzipienerkenntnis des Intel-lekts ein Abstraktions- und Induktionsprozeszlig Schon bei der Wahr-nehmung von Einzeleindruumlcken gibt es eine aumlhnliche Verknuumlpfungvon Individualitaumlt und Allgemeinheit wie bei der gemeinsamenTaumltigkeit von potentiellem und aktuellem Intellekt indem dieWahrnehmung bdquodieses Weiszligenldquo die gleichzeitige Wahrnehmung(συναισθνεσθαι) des allgemeinen Eindrucks bdquoweiszligldquo impliziert(Them In An Post 642ndash4) Individualitaumlt und Allgemeinheit sindnun das maszliggebliche Kriterium fuumlr die Unterscheidung von Wahr-nehmung und begrifflichem Denken Die Wahrnehmungen sindPrinzipien und Ursachen der partikularen Annahmen die Aufgabedes Intellekts ist die Verallgemeinerung dh mit einer Anspielungauf Platon (Phlb 27d) bdquodie Vielen zur Einheit zu machen und [ ]die Unbegrenzten mit einer Grenze zusammenzubindenldquo (τπολλ νον κα τ 7πειρα [ ] πρατι συνδ8σασθαι) (Them InAn Post 6417ndash20) Aus den partikularen Annahmen der Wahr-nehmung bdquoerschlieszligtldquo (συμπερανεται) der Intellekt d h das diskursive Denken das Allgemeine (24ndash26) waumlhrend er als dasschlechthin einfache Denkorgan das bdquogleichsam wie eine Art nicht-rationaler und ungeschiedener24 Blick der Seeleldquo (σπερ 7λογς τιςκα 7κριτος τς ψυχς 1ψις) wirkt (6514f) die bdquoPrinzipienldquo(4ρχς) bzw die bdquoallgemeinen und unmittelbaren Praumlmissenldquo (τςκαθλου κα 4μσους προτσεις) denkt (2f 9f)

190 Michae l Schramm

24) bdquoNicht-rationalldquo bedeutet nicht schlechthin bdquoirrationalldquo sondern eherbdquonicht-diskursivldquo Dieser Ausdruck betont die Einfachheit des intuitiv-noetischenDenkens das ohne λγος und κρσις dem in Saumltzen mitteilbaren Urteil auskommtbeides Kennzeichen des diskursiv-dianoetischen Denkens Im unmittelbaren Kon-text der Stelle ist mit λγος das Sprechen und Denken des Menschen in Saumltzen ge-meint das ihm als Wesen das den λγος besitzt (λογικν ζBον) eigentlich zukommt(65151719) Dieser traditionellen Sicht wonach bdquonicht-diskursivldquo als bdquonicht-pro -p ositionalldquo gedeutet wird widerspricht R Sorabji Some myths about non-prop -ositional thought in ders Time creation and the continuum theories in antiquityand the early Middle Ages London 1983 137ndash156

Themistios deutet die fortschreitende Verallgemeinerung vonder Wahrnehmung zum Prinzip in seiner Analytica posteriora-Pa-raphrase nicht wie Alexander explizit als Herausheben einer intel-ligiblen Form aus einer Materie vermutlich weil Aristoteles selbstin den Analytica posteriora die Form-Materie-Unterscheidungnicht anwendet In seiner De anima-Paraphrase hingegen unter-scheidet er zwischen Formen in der Materie (νυλα ε9δη) und im-materiellen Formen (7υλα ε9δη) zu denen man gelangt indem mandie intelligible Form von der Materie bdquoabtrenntldquo (χωρζων) (In Dean 1156f) Die Objekte des Intellekts sind schon in der Analyti-ca posteriora-Paraphrase die Prinzipien das sind die ersten Begrif-fe bzw Definitionen einer Wissenschaft (Cροι) und die bdquogemein -samen Gedankenldquo (κοινα ννοιαι) bzw Axiome (4ξι)ματα)25 alsunmittelbare Voraussetzungen eines Beweises ohne die kein Ler-nen moumlglich ist (In An Post 71ndash3 2233f) und diese beiden bil-den schon fuumlr Aristoteles die beiden Prinzipien einer Wissenschaft(Arist An post 110 76a37ndashb2) Dabei laumlszligt sich zeigen daszlig fuumlrThemistios ebenso wie fuumlr Alexander die intelligible Form das eigentliche Aumlquivalent fuumlr das Prinzip ist

So fuumlhrt er zur Erklaumlrung des Begriffs bdquoAxiomldquo die Defini tionTheophrasts an ein Axiom sei bdquoeine Meinung die entweder bei Be-griffen gleicher Gattung (ν το2ς (μογενσιν) z B wenn Gleichesvom Gleichen [scil abgezogen wird bleibt Gleiches erhalten] oderschlechthin bei allen gilt wie daszlig es entweder die Affirmation oderdie Negation gibtldquo d i der Satz vom ausgeschlossenen Drittenwobei der Ausdruck bdquogemeinsame Gedankenldquo im eigentlichen Sin-ne von der zweiten Bedeutung gelte und von da auf die erste uumlber-gegangen sei (Them In An Post 73ndash5)26 Das Axiom in diesen

191Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

25) Seit Euklid werden die mathematischen Axiome als κοινα ννοιαι be-zeichnet In der Stoa bezeichnen κοινα ννοιαι Ideen oder Begriffe die allen Men-schen vor jeder Erfahrung innewohnen und notwendige Bedingung fuumlr jede Erfah-rung sind (Chrysipp SVF II 154) Spaumltestens seit den Aristoteles-Kommentatorenwerden die κοινα ννοιαι aumlquivalent zu dem Aristotelischen Ausdruck 4ξι)ματαgebraucht (z B Alex In Top 18a20f In Met 317a34f Philop In An Pr 30619fIn An Post 3410)

26) Themistios hat in einer Paraphrase zur Topik von der nur Zeugnisse bei Boethius (vgl De diff top II 1186Cndash1194B) und Averroes erhalten sind sogardie Topoi der Topik mit den Aristotelischen Axiomen identifiziert (vgl S EbbesenCommentators and Commentaries on Aristotlersquos Sophistici Elenchi A Study ofPost-Aristotelian Ancient and Medieval Writings on Fallacies vol IndashIII [CLCAGVII] Leiden 1981 106ndash119)

beiden Bedeutungen haumlngt nun sachlich von den Begriffen ab bdquoDiePrinzipien des Beweises sind in der Tat keine Beweise sondernselbstevidente unmittelbare Praumlmissen (προτσεις αltτθενναργε2ς τε κα 7μεσοι) deren Prinzip wiederum der Intellekt istmit dem wir die Begriffe aufspuumlren (τοDς Cρους θηρεομεν) auswelchen die Axiome zusammengesetzt sindldquo (97ndash10) Die Axiomesind λγοι die sich aus formallogischen Begriffen wie GleichheitAffirmation Negation o auml zusammensetzen welche wiederumeine logische Gesetzmaumlszligigkeit bestimmen z B daszlig etwas nichtzugleich bejaht und verneint werden kann In konkreten Argu-mentationen werden die Axiome auf die eigentuumlmlichen Gegen-staumlnde einer speziellen Wissenschaft angewandt und die variablenBegriffe durch die jeweiligen eigentuumlmlichen Begriffe dieser Wis-senschaft ersetzt (2424ndash28) Das Denken des Intellekts der in denAxiomen die ihnen zugrundeliegenden formallogischen Begriffeoder die Begriffe einer bestimmten Wissenschaft erkennt fuumlhrtalso letztlich auf die immaterielle intelligible Form die dem Ge-genstand einer Wissenschaft innewohnt Dabei ndash und das ist eineklare anti-platonische Position27 ndash ist die jeweils zugrundeliegendeGattung nur ein Gedanke ohne reale Existenz der aufgrund derAumlhnlichkeit der Individuen gebildet wurde waumlhrend allein derArtbegriff das Eidos das tatsaumlchliche Wesen und die Form derDinge ausmacht (In De an 332ndash35)

Eine weitere Uumlbereinstimmung mit Alexander ist die Anwen-dung verschiedener lebensgeschichtlicher Entwicklungsstufen aufdie verschiedenen Intellektstufen Fuumlr Alexander haben den poten-tiellen Intellekt alle Menschen von Geburt an den habituellen Intellekt erwirbt hingegen nur der bdquotreffliche Menschldquo (σπουδα2ος)durch Unterricht und Uumlbung indem er zunaumlchst den an kontin-genten Gegenstaumlnden des praktischen Lebens geschulten Intellekt(πρακτικς κα δοξαστικς νος) und spaumlter den fuumlr die notwendi-gen Gegenstaumlnde der Wissenschaft zustaumlndigen theoretischen In-tellekt ausbildet (Alex De an 8120ndash823) Mit der Entwicklungder intellektuellen Faumlhigkeiten vom Kind zum Erwachsenen vompraktischen zum theoretischen Interesse geht fuumlr Alexander die Be-griffsbildung einher das allmaumlhliche induktive Fortschreiten vomEinzelfall zum Allgemeinbegriff Auch Themistios behauptet daszlig

192 Michae l Schramm

27) Darauf hat R Sorabji hingewiesen vgl Todd 1996 2 Anm 12

schon der kindliche Intellekt in den Wahrnehmungen bzw Phan-tasmata Aumlhnlichkeiten und Unterschiede registriert und danach all-maumlhlich sein Wissen aufbaut das er immer weiter vervollkommnenkann (Them In De an 959ndash21) Er ist damit die Vorstufe zur Ent-wicklung des bdquoerworbenenldquo Intellekts der die Begriffe besitzt

In seiner Analytica posteriora-Paraphrase betont Themistiosdaszlig der Prozeszlig der begrifflichen Verallgemeinerung Zeit braucht(In An Post 6421ndash24) und mit der Entwicklung des Menschenvoranschreitet bdquoWaumlhrend wir Fortschritte machen waumlchst und gedeiht der Intellekt immer mit uns mit (συναυξνεται [ ] κασυνεπιδδωσι) und zwar zuerst im Hinblick auf die einfachen Setzungen (θσεις) der nicht-zusammengesetzten einfachsten Bestandteile der Sprache die wir Begriffe (Cρους) nennen und aufdie einfachen Vorstellungen (4ντιλ8ψεις)ldquo (6515ndash18) EinfacheBegriffe wie bdquoMenschldquo oder bdquoweiszligldquo denken und sagen schon dieKinder wenn sie Sprechen und Denken (λγος) lernen (18ndash20) Beifortschreitender Sprach- und Denkentwicklung tritt die Faumlhigkeithinzu aus den einfachen Begriffen und Vorstellungen Aussagen zubilden und Fragen nach dem Wesen der Dinge zu stellen etwa wasder Mensch ist (20f) Auf einer noch houmlheren Entwicklungsstufewenn eine houmlhere Faumlhigkeit zum Denken des Allgemeinen ausge-bildet ist erlangt der menschliche Intellekt schlieszliglich seine volleDenkfaumlhigkeit (λογικ6 ξις) und damit sein eigentliches Wesen alsvernunftbegabtes Lebewesen (21ndash24) Wenn der Intellekt in dieseseine Vollendungsstufe gelangt ist und die zweite Potentialitaumlt odererste Aktualitaumlt erreicht hat besitzt er die Kraft zur eigenen vonaumluszligerer Anregung unabhaumlngigen Taumltigkeit (24ndash28) d h die zwei-te Aktualitaumlt des Denkens Zusammenfassend gesagt kann der Intellekt zuerst nur Namen verwenden und die mit den Namen gemeinten Dinge denken diese kann er dann diskursiv d h in Zusammensetzungen und Trennungen denken und schlieszliglich in-dem er gewisse Urteile in ihren begrifflichen Konstituentien denktdie allgemeinen Begriffe in sich festhalten (6528ndash663)

Wie Alexander koppelt auch Themistios den fortschreitendenErkenntnisweg vom Einzelnen zum Allgemeinen an die ontogene-tische Entwicklung des Menschen vom Kind zum ErwachsenenEin bezeichnender Unterschied zu Alexander duumlrfte aber darin bestehen daszlig Themistios den potentiellen Intellekt in gewisserWeise mit dem fruumlhkindlichen Spracherwerb identifiziert und demVerstehen der Namensbedeutung eine einfache intellektuelle Ein-

193Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

sicht in das Wesen der Dinge gleichstellt Er koumlnnte sich dafuumlr aufAristoteles berufen fuumlr den das Wissen um die Bedeutung derWorte eine notwendige Voraussetzung jeden Wissens uumlberhauptist insbesondere bei den Prinzipien einer Wissenschaft (Arist Anpost 11 71a12f 10 76a32f) Wenn die einfache noetische Ein-sicht in das Wesen der Dinge erst nach einem Durchgang durch dasdiskursive Denken das stets in Zusammensetzungen und Tren-nungen einfacher Begriffe operiert als dessen Vollendung mit demvollen Begriff erreicht ist dann hat nach Themistios der kindlicheIntellekt mit dem einfachen Sprachgebrauch bereits einen Vor-Be-griff des Wesens der Dinge erworben Der Uumlbergang vom potenti-ellen zum aktuellen Intellekt ist damit nach der De anima-Para-phrase einerseits der Uumlbergang vom individuellen zum allgemeinenBegriff andererseits nach der Analytica posteriora-Paraphrase derUumlbergang vom einzelnen Wort bzw Vor-Begriff zum wissen-schaftlichen Begriff der ein systematisches Wissen um die Verbin-dungen mit den anderen Begriffen impliziert

Daher bezeichnet Themistios den potentiellen Intellekt auchals bdquoVorlaumlufer (πρδρομος) des aktiven Intellektsldquo vergleichbardem Verhaumlltnis der Strahlen der Sonne zum Licht oder der Bluumltezur Frucht (Them In De an 10530ndash32) Der potentielle Intellektist fuumlr den aktiven Intellekt zugleich Materie und Vorlaumlufer in derSeele indem er diese auf das Denken des aktiven Intellekts vorbe-reitet Der potentielle Intellekt wird durch den aktuellen Intellektnur vollendet (9829f) indem dieser wie das Licht im Hinblick aufdas moumlgliche Sehen und die moumlglichen Farben 1) den potentiellenIntellekt zu einem aktuellen Intellekt und 2) die potentiell gedach-ten Inhalte das sind die immateriellen Formen bzw die aus denEinzelwahrnehmungen gebildeten allgemeinen Begriffe zu aktuellgedachten macht (9835ndash994) Der potentielle Intellekt ist damitein bdquoSchatzhausldquo oder eine bdquoVielheit an Gedankenldquo (θησαυρςbzw πλθος τEν νοημτων) und als solcher enthaumllt er die aus der Wahrnehmung und der Phantasie gewonnenen in der Erinne-rung bewahrten Eindruumlcke (τποι) bdquowie eine Materieldquo (σπερ Fλη)(6ndash8 21f) Dem potentiellen Intellekt liegen die Phantasmata alsMaterie zugrunde (10030) wie dieser wiederum fuumlr den aktivenIntellekt als Materie dient Er selbst enthaumllt die Gedanken als indi-viduelle Begriffe oder Vor-Begriffe die erst durch die Aktualitaumltdes aktiven Intellekts als allgemeine Begriffe gedacht werden Sokann der potentielle Intellekt an sich selbst auch nicht diskursiv

194 Michae l Schramm

denken dh er kann nicht die immateriellen Formen bzw Begrif-fe voneinander unterscheiden (διακρ2ναι) von einem zum andernuumlbergehen (μετιναι) sie verbinden (συντιθναι) oder trennen(διαιρε2ν) (995f) Erst wenn der aktive Intellekt die Materie derim potentiellen Intellekt enthaltenen Gedanken uumlbernimmt undder potentielle Intellekt auf diese Weise mit dem aktiven eins wirdwird er auch faumlhig die Taumltigkeiten des diskursiven Denkens aus-zufuumlhren (8ndash10)

Ein Unterschied zu Alexander wie auch zu Aristoteles bestehtdarin daszlig Themistios die Phantasmata zur Materie fuumlr den poten-tiellen Intellekt macht (10030) Wie die Wahrnehmung nicht ohneWahrnehmungsgegenstaumlnde aktualisiert wird so auch nicht derpotentielle Intellekt ohne Phantasmata (11318ndash20 mit 9833ndash35)Zwar betont Aristoteles mehrmals daszlig die (dianoetische) Seeleniemals ohne Phantasien denkt die ihr wie Wahrnehmungen zu-kommen (Arist De an 37 431a14ndash17) bzw daszlig sie die intelli-giblen Formen in den Phantasien denkt (431b2 8 432a3ndash5) Dochnirgendwo laumlszligt sich aus Aristoteles ableiten daszlig es der potentielleIntellekt ist der in Phantasmata denkt Der Grund fuumlr diese Zu-ordnung ist Themistiosrsquo Konzeption des potentiellen Intellekts Erist nicht wie bei Alexander reine Potentialitaumlt und eine Dispositionzur Aufnahme intelligibler Formen sondern selbst schon aktivetwa indem durch ihn bereits die Kinder Aumlhnlichkeiten und Un-terschiede in den Sinneseindruumlcken sehen und Vor-Begriffe bildenoder indem sie die Worte ihres gewoumlhnlichen Sprachgebrauchs vongewissen Vorstellungen der Phantasie begleiten lassen Der aktuel-le Intellekt verallgemeinert dann nur was im potentiellen Intellektals seinem Vorlaumlufer schon enthalten war Wenn sich in der Phan-tasie aus vielen Sinneseindruumlcken ein Bild einer Sache oder Qualitaumlteinstellt enthaumllt der potentielle Intellekt davon einen individuellenBegriff oder einen den Vorstellungen zugeordneten Vor-Begriff(bdquodieses Weiszligeldquo bdquoMenschldquo) den der aktuelle Intellekt allgemeinoder in seinem Wesen denkt (bdquoweiszligldquo Wesen von bdquoMenschldquo) We-gen dieser Zusammengehoumlrigkeit des individuellen und des all -gemeinen Begriffs ist auch der potentielle Intellekt nach dem Toddes Koumlrpers dauerhaft mit dem aktiven Intellekt verbunden undgenauso vom Koumlrper abgetrennt (Them In De an 10529f) wo-bei der aktive Intellekt bdquomehrldquo (μGλλον) abgetrennt ist als der potentielle (10534ndash10614 10832ndash34) Dieses bdquomehrldquo bezieht sichlediglich auf die Universalitaumlt des aktiven Intellekts die die Indivi-

195Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

dualitaumlt des potentiellen Intellekts mitumfaszligt Dieser ist daherauch bdquomehrldquo mit der menschlichen Seele bdquoverwachsenldquo (συμφυ8ς)als jener (9834) weil er zeitlich fruumlher in uns wirkt und ontolo-gisch von geringerem Rang ist (1069ndash11) Die Unvergaumlnglichkeitdieses Intellekts beruht auf einer (Fehl-)Deutung von De an 34wo Aristoteles den νος bdquoabgetrenntldquo (χωριστς) nennt Er meintden νος als solchen aber Theophrast und Themistios nehmen andaszlig sich bereits 34 ausschlieszliglich auf den δυνμει νος bezieht

Ebenso wie fuumlr Alexander hat Erkenntnis fuumlr Themistios zweiQuellen die Wahrnehmung die in aumluszligeren Sinneseindruumlcken dieintelligiblen Formen in einer individuellen Materie wahrnimmtund den Intellekt der nach einer gewissen Entwicklung des Spre-chens und Denkens die Allgemeinheit und Einheit der intelligiblenForm in der Vielheit der Sinneseindruumlcke herausstellt Die An -nahme eines angeborenen Ideenwissens ist fuumlr Themistios offenbarnicht noumltig da der Intellekt die Gegenstaumlnde seines Denkens ausder Wahrnehmung und aus dem Spracherwerb erhaumllt Angeborenist allerdings die menschliche Befaumlhigung zur Sprache und zu kon-zeptionellem Denken die ein implizites Wissen um formale Denk-prinzipien wie etwa den Satz vom Widerspruch mitumfaszligt Da-durch ist es moumlglich aus den einfachen Anfangsgruumlnden der erstenVorstellungen und durch das Erlernen der Worte die Einsicht indas Wesen der Dinge und ein zusammenhaumlngendes wissenschaft -liches Wissen zu entwickeln

3 Einheit und Vielheit des νοῦς ποιητικός

Einen offenkundigen Bezug auf Plotin nimmt Themistiosmit der Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts denn wenn er sagt daszlig es schoumlner sei die Frage zu stellenob alle Intellekte einer seien als die ob alle Seelen eine seien(10414ndash16) nimmt er woumlrtlich die Uumlberschrift von Plotins En-neade 49 Περ το ε= πGσαι α5 ψυχα μα wieder auf28 Themisti-os ist der erste der Kommentatoren der diese fuumlr Plotin typischeFrage nach dem Verhaumlltnis von Einheit und Vielheit innerhalb einer Hypostase explizit auf den aktiven Intellekt uumlbertraumlgt und

196 Michae l Schramm

28) Vgl Balleacuteriaux 1989 218

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Koumlrper vergaumlnglich sind (Alex De an 9013ndash20) Der habituelleIntellekt hat bei Themistios nicht mehr denselben Stellenwert wiebei Alexander weil er den gesamten Intellekt im Menschen veror-tet und damit den habituellen Intellekt nicht mehr als letzte Stufedes allein dem Menschen zugehoumlrigen Denkens auszeichnet

Gegen Alexanders theologische Deutung des νος ποιητικςvertritt Themistios die These bdquoWir sind der νος ποιητικςldquo(Them In De an 10037f) Das bedeutet allerdings nicht das je-weilige Individuum sondern den kollektiven Intellekt der aus dergemeinsamen Artnatur des Menschen folgt So unterscheidet The-mistios sorgsam zwischen dem einzelnen Ich (γ)) und dem all -gemeinen Ich-Sein (τ μο εναι) bzw dem Wesen des Ich Das je-weilige Ich ist bdquoder Intellekt der zusammengesetzt ist aus dem po-tentiellen und dem aktuellen Intellektldquo (γ+ [ ] ( συγκεμενοςνος κ το δυνμει κα το νεργεamp)18 das allgemeine Wesen desIch besteht lediglich bdquoaus dem aktuellen Intellektldquo (10018ndash20)Das individuelle Ich ist damit in seinem Wesen nicht wie seit derNeuzeit bestimmt durch die Subjektivitaumlt und Individualitaumlt des jeweiligen seelischen Erlebens das sich in einem Leib vollziehtsondern vielmehr als ein unkoumlrperlicher uumlberindividueller undrein intellektueller Prozeszlig19 Daher spricht Themistios auch ohneUnterschied von bdquoIchldquo wie von bdquoWirldquo20

Die Quelle fuumlr Themistiosrsquo Unterscheidung zwischen demWir und dem Wesen des Wir ist Plotin der ebenfalls von einem

186 Michae l Schramm

18) Eine parallele Formulierung findet sich in dem Alexander zugeschriebe-nen Traktat De intellectu bdquoUnser Intellekt ist zusammengesetzt aus der Poten -tialitaumlt welche das Werkzeug des goumlttlichen Intellekts ist und die Aristoteles den potentiellen Intellekt nennt und aus der Aktualitaumlt von jenem (sc dem goumlttlichenIntellekt)ldquo (( -μτερος νος σνθετς στιν κ τε τς δυνμεως 0τις 1ργανν στιτο θεου νο ν δυνμει νον ( ριστοτλης καλε2 κα τς κενου νεργεαςAlex De an mant 11218ndash20) Die Autorschaft insbesondere der Passage in derdieses Zitat eingebettet ist (1125ndash11324) ist unklar Waumlhrend Moraux 1967 und1984 fuumlr diesen und den vorangegangenen Abschnitt ab 1104 Aristoteles v Mytile-ne als Autor ausmacht sehen Schroeder Todd 1990 26 und 31 hierin das Fragmenteines unidentifizierbaren Autors Dieser Ansicht folgt R Sharples (Hrsg) Alexan-der Supplement to bdquoOn the Soulldquo Ithaca New York 2004 38 Anm 92

19) Themistios steht hier in einer langen Tradition beginnend mit Ps-Pla-tons Alkibiades I (128endash130c) die das bdquowahre Selbstldquo des Menschen in der Seeleoder im Intellekt sieht Vgl die Zusammenstellung der relevanten Stellen und Au-toren bei Moraux 1978 323 Anm 136

20) Vgl 10336f 3παντες 4ναγμεθα ο5 συγκεμενοι κ το δυνμει κανεργεamp

bdquoWirldquo21 in zwei Bedeutungen spricht einerseits als der belebteLeib den wir mit dem Tier gemeinsam haben und durch den wirwahrnehmen andererseits der bdquowahreldquo oder bdquoinnere Menschldquo ((4ληθ6ς 7νθρωπος ( νδον 7νθρωπος) der vom Koumlrper abgetrenntist und zu dem die Seele insbesondere das bdquoreineldquo Denken und die durch Vernunft vermittelten Tugenden gehoumlren (Plot 11105ndash15)22 Der Unterschied ist offensichtlich daszlig Themistios das kon-krete Wir nicht als Koumlrper und das wahre Wir nicht als Seele be-stimmt Jedoch aumlhnelt Themistios Plotin darin daszlig auch diesermeint daszlig der Mensch das gleiche ist wie die Denkseele (λογικ6ψυχ8) und daszlig er den Intellekt besitzt der dem bdquoWirldquo der Seele ontologisch vorgeordnet ist Die Seele besitzt den Intellekt eben-falls auf zwei Arten als allen Menschen bdquogemeinsamenldquo (κοινς)Intellekt insofern als er bdquounteilbar einer und uumlberall derselbeldquo istund als individuellen bdquoeigentuumlmlichenldquo (9διος) Intellekt insofernals ihn auch jeder einzelne als ganzen in seinem obersten Seelenteilhat (11721ndash86) ndash genauso verhaumllt sich auch der Intellekt des Themistios der als bdquoWir-Seinldquo als intellektuelles Wesen des Men-schen uumlberall identisch ist und in einem konkreten Ich als ganzerund ungeteilt wirksam ist Aumlhnlich werden auch die intelligiblenFormen von beiden bestimmt Sie sind fuumlr Plotin bdquoin der Seelegleichsam entfaltet (οον 4νειλιγμνα) und voneinander abgesondert(οον κεχωρισμνα) im Intellekt alles zugleich ((μο τ πντα)ldquo (6ndash8) Themistios kennzeichnet den aktuellen Intellekt als den Bereichin dem alle Formen bdquozugleich zusammenldquo sind waumlhrend er den Be-

187Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

21) Das -με2ς ist bei Plotin der Ausdruck fuumlr das bdquoIchldquo (vgl 11[53]) Esmeint das was Platon den bdquoinneren Menschenldquo nennt (Szlezaacutek 1979 184) Zu Plo-tins Gebrauch von -με2ς vgl W Himmerich Eudaimonia Die Lehre des Plotin vonder Selbstverwirklichung des Menschen (= Forschungen zur neueren Philosophieund ihrer Geschichte 13) Wuumlrzburg 1958 92ndash100 Zu Plotins Theorie vom dop-pelten Ich vgl 641416ndash31 dazu C Tornau Plotin Enneaden 64ndash5 (22ndash23) einKommentar Stuttgart Leipzig 1998 266ndash276 und allgemein OrsquoDaly 1973

22) Auch Plotin sieht das wahre Selbst des Menschen nicht im Leib oder imbeseelten Leib sondern allein in der Seele (Plot 47124f) Er unterscheidet termi-nologisch das Selbst (αltτς) des Menschen oder unser Wir (-με2ς) und die Seele imSinne der Seelenhypostase welche die Weltseele genauso wie die Einzelseelen derLebewesen umfaszligt und Prinzip des Lebens unkoumlrperlich (5121ndash6) und ein bdquoBilddes Geistesldquo (ε=κ+ν νο) (5137ndash8) ist Das eigentliche Selbst des Menschen ndash derbdquowahreldquo oder bdquoinnere Menschldquo (( 4ληθ6ς 7νθρωπος ( νδον 7νθρωπος) (11105ndash15) ndash ist nun nichts anderes als die rationale oder diskursiv denkende Seele (λογικ6ψυχ8) (53320)

reich der voneinander getrennten Formen nicht der Seele sonderndem potentiellen Intellekt zuweist (Them In De an 1004ndash10) AlsMaterie des aktuellen Intellekts nimmt er bdquogeteiltldquo auf was jenerbdquoungeteiltldquo denkt (22f) ndash wie etwa die allgemeine Qualitaumlt bdquoweiszligldquodie an sich ungeteilt ist an verschiedenen Koumlrpern bdquogeteiltldquo d h ineinzelnen Instanzen der Farbe bdquoweiszligldquo vorkomme (22ndash26)

Themistios uumlbernimmt also ein plotinisches Denkmuster undmodifiziert es fuumlr seine Zwecke 1) Er kann damit die aristotelischeDichotomie von aktuellem und potentiellem Intellekt genauer er-klaumlren und den Vorgang wie der aktuelle Intellekt bdquoalles machtldquowas der potentielle Intellekt bdquowirdldquo der aktive Intellekt ist das Reservoir allgemeiner Begriffe waumlhrend der potentielle Intellektindividuelle Begriffe besitzt aus denen erst allgemeine Begriffe ge-bildet werden koumlnnen 2) Mit dieser Deutung uumlbt er implizit Kri-tik an Plotin fuumlr die ungenaue Ausdrucksweise von der bdquoTeilungldquoder intelligiblen Formen in der Seele die im Intellekt ungeteilt ge-dacht wuumlrden weil er damit die bdquogeteiltenldquo und die bdquoungeteiltenldquoFormen auf zwei Stufen seiner Seinshierarchie verteilt die in Wirk-lichkeit zur selben gehoumlren Denn fuumlr Themistios werden einzelneInstanzen eines allgemeinen Begriffs wie auch dieser Begriff selbstvom Intellekt erkannt potentiell sind die Einzelfaumllle deshalb weilsie nur im Hinblick auf das Allgemeine gedacht werden koumlnnenMit seiner aristotelisierenden Transformation der plotinischenEinteilung fuumlhrt er Potentialitaumlt und Aktualitaumlt als zwei Seiten desBegriffsdenkens zusammen wobei die Aktualitaumlt wesentlicher Be-standteil des menschlichen Denkens ist ja sogar den Menschen inseinem Wesen ausmacht und nicht auf einen goumlttlichen Intellektwie Alexander oder auf einen universalen wahrhaft seienden In-tellekt wie Plotin rekurriert Zugleich trennt er das Begriffsdenkenan sich von der Wahrnehmung und dem wahrnehmenden Koumlrper

2 Der potentielle Intellekt und die Stufen der Erkenntnis

Um das Verhaumlltnis von potentiellem und aktuellem Intellektbesser verstehen und zugleich erklaumlren zu koumlnnen wie sich die intellektive Erkenntnis aus der Wahrnehmung entwickelt ist esnuumltzlich Themistiosrsquo Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zuRate zu ziehen welche sich vornehmlich in seiner Analytica pos -teriora-Paraphrase findet Eine Erkenntnislehre in der Art der

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platonischen Anamnesis-Lehre die auch von allen Neuplatonikernvertreten wurde wonach jede Erkenntnis eine Wiedererinnerungan das Ideenwissen der Seele vor ihrer bdquoEinkoumlrperungldquo sei23 lehnter explizit ab (In An Post 427ndash33) Vielmehr legt er wie schonAlexander im Ausgang von Aristotelesrsquo Analytica posteriora 219einen Stufenbau der Erkenntnis zugrunde der als fortlaufende In-duktion (παγωγ8) von der Partikularitaumlt der einzelnen Wahrneh-mung uumlber Erinnerung und Erfahrung zur Allgemeinheit von Wis-sen und Prinzipienerkenntnis fuumlhrt

Alexander konzipiert diese Induktion als fortlaufenden Ab-straktionsprozeszlig in dem die intelligible Form nach und nach auseiner Materie herausgehoben wird Zunaumlchst hat der MenschWahrnehmungen bzw Sinneseindruumlcke (τποι) die er als Phantas-mata in der Erinnerung aufbewahrt Anschlieszligend schreitet erdurch Erfahrung von den in der Erinnerung bewahrten Einzel -eindruumlcken zu allgemeinen Gedanken fort indem er mehrmaligwiederholte Einzeleindruumlcke auf ihre Aumlhnlichkeit hin miteinandervergleicht (Alex De an 833ndash13) Der Intellekt erkennt in den verschiedenen Einzeleindruumlcken die allgemeine Form die nur inverschiedenen Materien verschieden konkretisiert ist und loumlst die-se gedanklich von der Materie (8511ndash20) Dabei kommt die Drei-teilung des Intellekts nach Alexander folgendermaszligen zum TragenDer potentielle Intellekt ist die Disposition (πιτηδειτης) zurAufnahme der intelligiblen Formen vergleichbar einer unbe-schriebenen Wachstafel (8424) und enthaumllt diese der Moumlglichkeitnach bevor sie wirklich gedacht werden (21ndash24) der habituelle Intellekt besitzt sie bdquozusammengedraumlngtldquo (4θρα) und in sich bdquoru-hendldquo (gtρεμοντα) (865f) und der aktuelle Intellekt ist schlieszlig-lich nichts anderes als die gedachte Form selbst (8615) Abstrak -tion bedeutet nicht das Herausgreifen e iner Eigenschaft unterAbzug einer Vielzahl von anderen Eigenschaften sondern dasHerausheben der intelligiblen Form aus einer Materie bdquoDer Intel-lekt macht die wahrnehmbaren [Eindruumlcke] fuumlr sich intelligibel in-dem er sie von der Materie abtrennt und das theoretisch betrach-tet was ihr jeweiliges Sein istldquo (8419ndash21) Erkenntnis hat also fuumlrAlexander zwei Quellen die Wahrnehmung durch die das erken-nende Wesen externer Gegenstaumlnde gewahr wird und den Intel-

189Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

23) Platon skizziert die Anamnesis-Lehre Men 81cndashd zur neuplatonischenAnamnesis-Lehre vgl z B Plot 291647 48430 59532

lekt der durch Abstraktion die innere Form dieser Gegenstaumlndeerkennt Der Abstraktionsprozeszlig beginnt daher nicht nur bdquountenldquobei den einzelnen Sinnenseindruumlcken von denen zu abstrahierenist sondern auch bdquoobenldquo bei der an sich gleichbleibenden und mitsich selbst identischen Wesensform auf die sich die Abstraktion alsZiel hinbewegt

Im Anschluszlig an Alexander ist auch fuumlr Themistios der Fort-gang von der Wahrnehmung zur Prinzipienerkenntnis des Intel-lekts ein Abstraktions- und Induktionsprozeszlig Schon bei der Wahr-nehmung von Einzeleindruumlcken gibt es eine aumlhnliche Verknuumlpfungvon Individualitaumlt und Allgemeinheit wie bei der gemeinsamenTaumltigkeit von potentiellem und aktuellem Intellekt indem dieWahrnehmung bdquodieses Weiszligenldquo die gleichzeitige Wahrnehmung(συναισθνεσθαι) des allgemeinen Eindrucks bdquoweiszligldquo impliziert(Them In An Post 642ndash4) Individualitaumlt und Allgemeinheit sindnun das maszliggebliche Kriterium fuumlr die Unterscheidung von Wahr-nehmung und begrifflichem Denken Die Wahrnehmungen sindPrinzipien und Ursachen der partikularen Annahmen die Aufgabedes Intellekts ist die Verallgemeinerung dh mit einer Anspielungauf Platon (Phlb 27d) bdquodie Vielen zur Einheit zu machen und [ ]die Unbegrenzten mit einer Grenze zusammenzubindenldquo (τπολλ νον κα τ 7πειρα [ ] πρατι συνδ8σασθαι) (Them InAn Post 6417ndash20) Aus den partikularen Annahmen der Wahr-nehmung bdquoerschlieszligtldquo (συμπερανεται) der Intellekt d h das diskursive Denken das Allgemeine (24ndash26) waumlhrend er als dasschlechthin einfache Denkorgan das bdquogleichsam wie eine Art nicht-rationaler und ungeschiedener24 Blick der Seeleldquo (σπερ 7λογς τιςκα 7κριτος τς ψυχς 1ψις) wirkt (6514f) die bdquoPrinzipienldquo(4ρχς) bzw die bdquoallgemeinen und unmittelbaren Praumlmissenldquo (τςκαθλου κα 4μσους προτσεις) denkt (2f 9f)

190 Michae l Schramm

24) bdquoNicht-rationalldquo bedeutet nicht schlechthin bdquoirrationalldquo sondern eherbdquonicht-diskursivldquo Dieser Ausdruck betont die Einfachheit des intuitiv-noetischenDenkens das ohne λγος und κρσις dem in Saumltzen mitteilbaren Urteil auskommtbeides Kennzeichen des diskursiv-dianoetischen Denkens Im unmittelbaren Kon-text der Stelle ist mit λγος das Sprechen und Denken des Menschen in Saumltzen ge-meint das ihm als Wesen das den λγος besitzt (λογικν ζBον) eigentlich zukommt(65151719) Dieser traditionellen Sicht wonach bdquonicht-diskursivldquo als bdquonicht-pro -p ositionalldquo gedeutet wird widerspricht R Sorabji Some myths about non-prop -ositional thought in ders Time creation and the continuum theories in antiquityand the early Middle Ages London 1983 137ndash156

Themistios deutet die fortschreitende Verallgemeinerung vonder Wahrnehmung zum Prinzip in seiner Analytica posteriora-Pa-raphrase nicht wie Alexander explizit als Herausheben einer intel-ligiblen Form aus einer Materie vermutlich weil Aristoteles selbstin den Analytica posteriora die Form-Materie-Unterscheidungnicht anwendet In seiner De anima-Paraphrase hingegen unter-scheidet er zwischen Formen in der Materie (νυλα ε9δη) und im-materiellen Formen (7υλα ε9δη) zu denen man gelangt indem mandie intelligible Form von der Materie bdquoabtrenntldquo (χωρζων) (In Dean 1156f) Die Objekte des Intellekts sind schon in der Analyti-ca posteriora-Paraphrase die Prinzipien das sind die ersten Begrif-fe bzw Definitionen einer Wissenschaft (Cροι) und die bdquogemein -samen Gedankenldquo (κοινα ννοιαι) bzw Axiome (4ξι)ματα)25 alsunmittelbare Voraussetzungen eines Beweises ohne die kein Ler-nen moumlglich ist (In An Post 71ndash3 2233f) und diese beiden bil-den schon fuumlr Aristoteles die beiden Prinzipien einer Wissenschaft(Arist An post 110 76a37ndashb2) Dabei laumlszligt sich zeigen daszlig fuumlrThemistios ebenso wie fuumlr Alexander die intelligible Form das eigentliche Aumlquivalent fuumlr das Prinzip ist

So fuumlhrt er zur Erklaumlrung des Begriffs bdquoAxiomldquo die Defini tionTheophrasts an ein Axiom sei bdquoeine Meinung die entweder bei Be-griffen gleicher Gattung (ν το2ς (μογενσιν) z B wenn Gleichesvom Gleichen [scil abgezogen wird bleibt Gleiches erhalten] oderschlechthin bei allen gilt wie daszlig es entweder die Affirmation oderdie Negation gibtldquo d i der Satz vom ausgeschlossenen Drittenwobei der Ausdruck bdquogemeinsame Gedankenldquo im eigentlichen Sin-ne von der zweiten Bedeutung gelte und von da auf die erste uumlber-gegangen sei (Them In An Post 73ndash5)26 Das Axiom in diesen

191Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

25) Seit Euklid werden die mathematischen Axiome als κοινα ννοιαι be-zeichnet In der Stoa bezeichnen κοινα ννοιαι Ideen oder Begriffe die allen Men-schen vor jeder Erfahrung innewohnen und notwendige Bedingung fuumlr jede Erfah-rung sind (Chrysipp SVF II 154) Spaumltestens seit den Aristoteles-Kommentatorenwerden die κοινα ννοιαι aumlquivalent zu dem Aristotelischen Ausdruck 4ξι)ματαgebraucht (z B Alex In Top 18a20f In Met 317a34f Philop In An Pr 30619fIn An Post 3410)

26) Themistios hat in einer Paraphrase zur Topik von der nur Zeugnisse bei Boethius (vgl De diff top II 1186Cndash1194B) und Averroes erhalten sind sogardie Topoi der Topik mit den Aristotelischen Axiomen identifiziert (vgl S EbbesenCommentators and Commentaries on Aristotlersquos Sophistici Elenchi A Study ofPost-Aristotelian Ancient and Medieval Writings on Fallacies vol IndashIII [CLCAGVII] Leiden 1981 106ndash119)

beiden Bedeutungen haumlngt nun sachlich von den Begriffen ab bdquoDiePrinzipien des Beweises sind in der Tat keine Beweise sondernselbstevidente unmittelbare Praumlmissen (προτσεις αltτθενναργε2ς τε κα 7μεσοι) deren Prinzip wiederum der Intellekt istmit dem wir die Begriffe aufspuumlren (τοDς Cρους θηρεομεν) auswelchen die Axiome zusammengesetzt sindldquo (97ndash10) Die Axiomesind λγοι die sich aus formallogischen Begriffen wie GleichheitAffirmation Negation o auml zusammensetzen welche wiederumeine logische Gesetzmaumlszligigkeit bestimmen z B daszlig etwas nichtzugleich bejaht und verneint werden kann In konkreten Argu-mentationen werden die Axiome auf die eigentuumlmlichen Gegen-staumlnde einer speziellen Wissenschaft angewandt und die variablenBegriffe durch die jeweiligen eigentuumlmlichen Begriffe dieser Wis-senschaft ersetzt (2424ndash28) Das Denken des Intellekts der in denAxiomen die ihnen zugrundeliegenden formallogischen Begriffeoder die Begriffe einer bestimmten Wissenschaft erkennt fuumlhrtalso letztlich auf die immaterielle intelligible Form die dem Ge-genstand einer Wissenschaft innewohnt Dabei ndash und das ist eineklare anti-platonische Position27 ndash ist die jeweils zugrundeliegendeGattung nur ein Gedanke ohne reale Existenz der aufgrund derAumlhnlichkeit der Individuen gebildet wurde waumlhrend allein derArtbegriff das Eidos das tatsaumlchliche Wesen und die Form derDinge ausmacht (In De an 332ndash35)

Eine weitere Uumlbereinstimmung mit Alexander ist die Anwen-dung verschiedener lebensgeschichtlicher Entwicklungsstufen aufdie verschiedenen Intellektstufen Fuumlr Alexander haben den poten-tiellen Intellekt alle Menschen von Geburt an den habituellen Intellekt erwirbt hingegen nur der bdquotreffliche Menschldquo (σπουδα2ος)durch Unterricht und Uumlbung indem er zunaumlchst den an kontin-genten Gegenstaumlnden des praktischen Lebens geschulten Intellekt(πρακτικς κα δοξαστικς νος) und spaumlter den fuumlr die notwendi-gen Gegenstaumlnde der Wissenschaft zustaumlndigen theoretischen In-tellekt ausbildet (Alex De an 8120ndash823) Mit der Entwicklungder intellektuellen Faumlhigkeiten vom Kind zum Erwachsenen vompraktischen zum theoretischen Interesse geht fuumlr Alexander die Be-griffsbildung einher das allmaumlhliche induktive Fortschreiten vomEinzelfall zum Allgemeinbegriff Auch Themistios behauptet daszlig

192 Michae l Schramm

27) Darauf hat R Sorabji hingewiesen vgl Todd 1996 2 Anm 12

schon der kindliche Intellekt in den Wahrnehmungen bzw Phan-tasmata Aumlhnlichkeiten und Unterschiede registriert und danach all-maumlhlich sein Wissen aufbaut das er immer weiter vervollkommnenkann (Them In De an 959ndash21) Er ist damit die Vorstufe zur Ent-wicklung des bdquoerworbenenldquo Intellekts der die Begriffe besitzt

In seiner Analytica posteriora-Paraphrase betont Themistiosdaszlig der Prozeszlig der begrifflichen Verallgemeinerung Zeit braucht(In An Post 6421ndash24) und mit der Entwicklung des Menschenvoranschreitet bdquoWaumlhrend wir Fortschritte machen waumlchst und gedeiht der Intellekt immer mit uns mit (συναυξνεται [ ] κασυνεπιδδωσι) und zwar zuerst im Hinblick auf die einfachen Setzungen (θσεις) der nicht-zusammengesetzten einfachsten Bestandteile der Sprache die wir Begriffe (Cρους) nennen und aufdie einfachen Vorstellungen (4ντιλ8ψεις)ldquo (6515ndash18) EinfacheBegriffe wie bdquoMenschldquo oder bdquoweiszligldquo denken und sagen schon dieKinder wenn sie Sprechen und Denken (λγος) lernen (18ndash20) Beifortschreitender Sprach- und Denkentwicklung tritt die Faumlhigkeithinzu aus den einfachen Begriffen und Vorstellungen Aussagen zubilden und Fragen nach dem Wesen der Dinge zu stellen etwa wasder Mensch ist (20f) Auf einer noch houmlheren Entwicklungsstufewenn eine houmlhere Faumlhigkeit zum Denken des Allgemeinen ausge-bildet ist erlangt der menschliche Intellekt schlieszliglich seine volleDenkfaumlhigkeit (λογικ6 ξις) und damit sein eigentliches Wesen alsvernunftbegabtes Lebewesen (21ndash24) Wenn der Intellekt in dieseseine Vollendungsstufe gelangt ist und die zweite Potentialitaumlt odererste Aktualitaumlt erreicht hat besitzt er die Kraft zur eigenen vonaumluszligerer Anregung unabhaumlngigen Taumltigkeit (24ndash28) d h die zwei-te Aktualitaumlt des Denkens Zusammenfassend gesagt kann der Intellekt zuerst nur Namen verwenden und die mit den Namen gemeinten Dinge denken diese kann er dann diskursiv d h in Zusammensetzungen und Trennungen denken und schlieszliglich in-dem er gewisse Urteile in ihren begrifflichen Konstituentien denktdie allgemeinen Begriffe in sich festhalten (6528ndash663)

Wie Alexander koppelt auch Themistios den fortschreitendenErkenntnisweg vom Einzelnen zum Allgemeinen an die ontogene-tische Entwicklung des Menschen vom Kind zum ErwachsenenEin bezeichnender Unterschied zu Alexander duumlrfte aber darin bestehen daszlig Themistios den potentiellen Intellekt in gewisserWeise mit dem fruumlhkindlichen Spracherwerb identifiziert und demVerstehen der Namensbedeutung eine einfache intellektuelle Ein-

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sicht in das Wesen der Dinge gleichstellt Er koumlnnte sich dafuumlr aufAristoteles berufen fuumlr den das Wissen um die Bedeutung derWorte eine notwendige Voraussetzung jeden Wissens uumlberhauptist insbesondere bei den Prinzipien einer Wissenschaft (Arist Anpost 11 71a12f 10 76a32f) Wenn die einfache noetische Ein-sicht in das Wesen der Dinge erst nach einem Durchgang durch dasdiskursive Denken das stets in Zusammensetzungen und Tren-nungen einfacher Begriffe operiert als dessen Vollendung mit demvollen Begriff erreicht ist dann hat nach Themistios der kindlicheIntellekt mit dem einfachen Sprachgebrauch bereits einen Vor-Be-griff des Wesens der Dinge erworben Der Uumlbergang vom potenti-ellen zum aktuellen Intellekt ist damit nach der De anima-Para-phrase einerseits der Uumlbergang vom individuellen zum allgemeinenBegriff andererseits nach der Analytica posteriora-Paraphrase derUumlbergang vom einzelnen Wort bzw Vor-Begriff zum wissen-schaftlichen Begriff der ein systematisches Wissen um die Verbin-dungen mit den anderen Begriffen impliziert

Daher bezeichnet Themistios den potentiellen Intellekt auchals bdquoVorlaumlufer (πρδρομος) des aktiven Intellektsldquo vergleichbardem Verhaumlltnis der Strahlen der Sonne zum Licht oder der Bluumltezur Frucht (Them In De an 10530ndash32) Der potentielle Intellektist fuumlr den aktiven Intellekt zugleich Materie und Vorlaumlufer in derSeele indem er diese auf das Denken des aktiven Intellekts vorbe-reitet Der potentielle Intellekt wird durch den aktuellen Intellektnur vollendet (9829f) indem dieser wie das Licht im Hinblick aufdas moumlgliche Sehen und die moumlglichen Farben 1) den potentiellenIntellekt zu einem aktuellen Intellekt und 2) die potentiell gedach-ten Inhalte das sind die immateriellen Formen bzw die aus denEinzelwahrnehmungen gebildeten allgemeinen Begriffe zu aktuellgedachten macht (9835ndash994) Der potentielle Intellekt ist damitein bdquoSchatzhausldquo oder eine bdquoVielheit an Gedankenldquo (θησαυρςbzw πλθος τEν νοημτων) und als solcher enthaumllt er die aus der Wahrnehmung und der Phantasie gewonnenen in der Erinne-rung bewahrten Eindruumlcke (τποι) bdquowie eine Materieldquo (σπερ Fλη)(6ndash8 21f) Dem potentiellen Intellekt liegen die Phantasmata alsMaterie zugrunde (10030) wie dieser wiederum fuumlr den aktivenIntellekt als Materie dient Er selbst enthaumllt die Gedanken als indi-viduelle Begriffe oder Vor-Begriffe die erst durch die Aktualitaumltdes aktiven Intellekts als allgemeine Begriffe gedacht werden Sokann der potentielle Intellekt an sich selbst auch nicht diskursiv

194 Michae l Schramm

denken dh er kann nicht die immateriellen Formen bzw Begrif-fe voneinander unterscheiden (διακρ2ναι) von einem zum andernuumlbergehen (μετιναι) sie verbinden (συντιθναι) oder trennen(διαιρε2ν) (995f) Erst wenn der aktive Intellekt die Materie derim potentiellen Intellekt enthaltenen Gedanken uumlbernimmt undder potentielle Intellekt auf diese Weise mit dem aktiven eins wirdwird er auch faumlhig die Taumltigkeiten des diskursiven Denkens aus-zufuumlhren (8ndash10)

Ein Unterschied zu Alexander wie auch zu Aristoteles bestehtdarin daszlig Themistios die Phantasmata zur Materie fuumlr den poten-tiellen Intellekt macht (10030) Wie die Wahrnehmung nicht ohneWahrnehmungsgegenstaumlnde aktualisiert wird so auch nicht derpotentielle Intellekt ohne Phantasmata (11318ndash20 mit 9833ndash35)Zwar betont Aristoteles mehrmals daszlig die (dianoetische) Seeleniemals ohne Phantasien denkt die ihr wie Wahrnehmungen zu-kommen (Arist De an 37 431a14ndash17) bzw daszlig sie die intelli-giblen Formen in den Phantasien denkt (431b2 8 432a3ndash5) Dochnirgendwo laumlszligt sich aus Aristoteles ableiten daszlig es der potentielleIntellekt ist der in Phantasmata denkt Der Grund fuumlr diese Zu-ordnung ist Themistiosrsquo Konzeption des potentiellen Intellekts Erist nicht wie bei Alexander reine Potentialitaumlt und eine Dispositionzur Aufnahme intelligibler Formen sondern selbst schon aktivetwa indem durch ihn bereits die Kinder Aumlhnlichkeiten und Un-terschiede in den Sinneseindruumlcken sehen und Vor-Begriffe bildenoder indem sie die Worte ihres gewoumlhnlichen Sprachgebrauchs vongewissen Vorstellungen der Phantasie begleiten lassen Der aktuel-le Intellekt verallgemeinert dann nur was im potentiellen Intellektals seinem Vorlaumlufer schon enthalten war Wenn sich in der Phan-tasie aus vielen Sinneseindruumlcken ein Bild einer Sache oder Qualitaumlteinstellt enthaumllt der potentielle Intellekt davon einen individuellenBegriff oder einen den Vorstellungen zugeordneten Vor-Begriff(bdquodieses Weiszligeldquo bdquoMenschldquo) den der aktuelle Intellekt allgemeinoder in seinem Wesen denkt (bdquoweiszligldquo Wesen von bdquoMenschldquo) We-gen dieser Zusammengehoumlrigkeit des individuellen und des all -gemeinen Begriffs ist auch der potentielle Intellekt nach dem Toddes Koumlrpers dauerhaft mit dem aktiven Intellekt verbunden undgenauso vom Koumlrper abgetrennt (Them In De an 10529f) wo-bei der aktive Intellekt bdquomehrldquo (μGλλον) abgetrennt ist als der potentielle (10534ndash10614 10832ndash34) Dieses bdquomehrldquo bezieht sichlediglich auf die Universalitaumlt des aktiven Intellekts die die Indivi-

195Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

dualitaumlt des potentiellen Intellekts mitumfaszligt Dieser ist daherauch bdquomehrldquo mit der menschlichen Seele bdquoverwachsenldquo (συμφυ8ς)als jener (9834) weil er zeitlich fruumlher in uns wirkt und ontolo-gisch von geringerem Rang ist (1069ndash11) Die Unvergaumlnglichkeitdieses Intellekts beruht auf einer (Fehl-)Deutung von De an 34wo Aristoteles den νος bdquoabgetrenntldquo (χωριστς) nennt Er meintden νος als solchen aber Theophrast und Themistios nehmen andaszlig sich bereits 34 ausschlieszliglich auf den δυνμει νος bezieht

Ebenso wie fuumlr Alexander hat Erkenntnis fuumlr Themistios zweiQuellen die Wahrnehmung die in aumluszligeren Sinneseindruumlcken dieintelligiblen Formen in einer individuellen Materie wahrnimmtund den Intellekt der nach einer gewissen Entwicklung des Spre-chens und Denkens die Allgemeinheit und Einheit der intelligiblenForm in der Vielheit der Sinneseindruumlcke herausstellt Die An -nahme eines angeborenen Ideenwissens ist fuumlr Themistios offenbarnicht noumltig da der Intellekt die Gegenstaumlnde seines Denkens ausder Wahrnehmung und aus dem Spracherwerb erhaumllt Angeborenist allerdings die menschliche Befaumlhigung zur Sprache und zu kon-zeptionellem Denken die ein implizites Wissen um formale Denk-prinzipien wie etwa den Satz vom Widerspruch mitumfaszligt Da-durch ist es moumlglich aus den einfachen Anfangsgruumlnden der erstenVorstellungen und durch das Erlernen der Worte die Einsicht indas Wesen der Dinge und ein zusammenhaumlngendes wissenschaft -liches Wissen zu entwickeln

3 Einheit und Vielheit des νοῦς ποιητικός

Einen offenkundigen Bezug auf Plotin nimmt Themistiosmit der Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts denn wenn er sagt daszlig es schoumlner sei die Frage zu stellenob alle Intellekte einer seien als die ob alle Seelen eine seien(10414ndash16) nimmt er woumlrtlich die Uumlberschrift von Plotins En-neade 49 Περ το ε= πGσαι α5 ψυχα μα wieder auf28 Themisti-os ist der erste der Kommentatoren der diese fuumlr Plotin typischeFrage nach dem Verhaumlltnis von Einheit und Vielheit innerhalb einer Hypostase explizit auf den aktiven Intellekt uumlbertraumlgt und

196 Michae l Schramm

28) Vgl Balleacuteriaux 1989 218

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

bdquoWirldquo21 in zwei Bedeutungen spricht einerseits als der belebteLeib den wir mit dem Tier gemeinsam haben und durch den wirwahrnehmen andererseits der bdquowahreldquo oder bdquoinnere Menschldquo ((4ληθ6ς 7νθρωπος ( νδον 7νθρωπος) der vom Koumlrper abgetrenntist und zu dem die Seele insbesondere das bdquoreineldquo Denken und die durch Vernunft vermittelten Tugenden gehoumlren (Plot 11105ndash15)22 Der Unterschied ist offensichtlich daszlig Themistios das kon-krete Wir nicht als Koumlrper und das wahre Wir nicht als Seele be-stimmt Jedoch aumlhnelt Themistios Plotin darin daszlig auch diesermeint daszlig der Mensch das gleiche ist wie die Denkseele (λογικ6ψυχ8) und daszlig er den Intellekt besitzt der dem bdquoWirldquo der Seele ontologisch vorgeordnet ist Die Seele besitzt den Intellekt eben-falls auf zwei Arten als allen Menschen bdquogemeinsamenldquo (κοινς)Intellekt insofern als er bdquounteilbar einer und uumlberall derselbeldquo istund als individuellen bdquoeigentuumlmlichenldquo (9διος) Intellekt insofernals ihn auch jeder einzelne als ganzen in seinem obersten Seelenteilhat (11721ndash86) ndash genauso verhaumllt sich auch der Intellekt des Themistios der als bdquoWir-Seinldquo als intellektuelles Wesen des Men-schen uumlberall identisch ist und in einem konkreten Ich als ganzerund ungeteilt wirksam ist Aumlhnlich werden auch die intelligiblenFormen von beiden bestimmt Sie sind fuumlr Plotin bdquoin der Seelegleichsam entfaltet (οον 4νειλιγμνα) und voneinander abgesondert(οον κεχωρισμνα) im Intellekt alles zugleich ((μο τ πντα)ldquo (6ndash8) Themistios kennzeichnet den aktuellen Intellekt als den Bereichin dem alle Formen bdquozugleich zusammenldquo sind waumlhrend er den Be-

187Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

21) Das -με2ς ist bei Plotin der Ausdruck fuumlr das bdquoIchldquo (vgl 11[53]) Esmeint das was Platon den bdquoinneren Menschenldquo nennt (Szlezaacutek 1979 184) Zu Plo-tins Gebrauch von -με2ς vgl W Himmerich Eudaimonia Die Lehre des Plotin vonder Selbstverwirklichung des Menschen (= Forschungen zur neueren Philosophieund ihrer Geschichte 13) Wuumlrzburg 1958 92ndash100 Zu Plotins Theorie vom dop-pelten Ich vgl 641416ndash31 dazu C Tornau Plotin Enneaden 64ndash5 (22ndash23) einKommentar Stuttgart Leipzig 1998 266ndash276 und allgemein OrsquoDaly 1973

22) Auch Plotin sieht das wahre Selbst des Menschen nicht im Leib oder imbeseelten Leib sondern allein in der Seele (Plot 47124f) Er unterscheidet termi-nologisch das Selbst (αltτς) des Menschen oder unser Wir (-με2ς) und die Seele imSinne der Seelenhypostase welche die Weltseele genauso wie die Einzelseelen derLebewesen umfaszligt und Prinzip des Lebens unkoumlrperlich (5121ndash6) und ein bdquoBilddes Geistesldquo (ε=κ+ν νο) (5137ndash8) ist Das eigentliche Selbst des Menschen ndash derbdquowahreldquo oder bdquoinnere Menschldquo (( 4ληθ6ς 7νθρωπος ( νδον 7νθρωπος) (11105ndash15) ndash ist nun nichts anderes als die rationale oder diskursiv denkende Seele (λογικ6ψυχ8) (53320)

reich der voneinander getrennten Formen nicht der Seele sonderndem potentiellen Intellekt zuweist (Them In De an 1004ndash10) AlsMaterie des aktuellen Intellekts nimmt er bdquogeteiltldquo auf was jenerbdquoungeteiltldquo denkt (22f) ndash wie etwa die allgemeine Qualitaumlt bdquoweiszligldquodie an sich ungeteilt ist an verschiedenen Koumlrpern bdquogeteiltldquo d h ineinzelnen Instanzen der Farbe bdquoweiszligldquo vorkomme (22ndash26)

Themistios uumlbernimmt also ein plotinisches Denkmuster undmodifiziert es fuumlr seine Zwecke 1) Er kann damit die aristotelischeDichotomie von aktuellem und potentiellem Intellekt genauer er-klaumlren und den Vorgang wie der aktuelle Intellekt bdquoalles machtldquowas der potentielle Intellekt bdquowirdldquo der aktive Intellekt ist das Reservoir allgemeiner Begriffe waumlhrend der potentielle Intellektindividuelle Begriffe besitzt aus denen erst allgemeine Begriffe ge-bildet werden koumlnnen 2) Mit dieser Deutung uumlbt er implizit Kri-tik an Plotin fuumlr die ungenaue Ausdrucksweise von der bdquoTeilungldquoder intelligiblen Formen in der Seele die im Intellekt ungeteilt ge-dacht wuumlrden weil er damit die bdquogeteiltenldquo und die bdquoungeteiltenldquoFormen auf zwei Stufen seiner Seinshierarchie verteilt die in Wirk-lichkeit zur selben gehoumlren Denn fuumlr Themistios werden einzelneInstanzen eines allgemeinen Begriffs wie auch dieser Begriff selbstvom Intellekt erkannt potentiell sind die Einzelfaumllle deshalb weilsie nur im Hinblick auf das Allgemeine gedacht werden koumlnnenMit seiner aristotelisierenden Transformation der plotinischenEinteilung fuumlhrt er Potentialitaumlt und Aktualitaumlt als zwei Seiten desBegriffsdenkens zusammen wobei die Aktualitaumlt wesentlicher Be-standteil des menschlichen Denkens ist ja sogar den Menschen inseinem Wesen ausmacht und nicht auf einen goumlttlichen Intellektwie Alexander oder auf einen universalen wahrhaft seienden In-tellekt wie Plotin rekurriert Zugleich trennt er das Begriffsdenkenan sich von der Wahrnehmung und dem wahrnehmenden Koumlrper

2 Der potentielle Intellekt und die Stufen der Erkenntnis

Um das Verhaumlltnis von potentiellem und aktuellem Intellektbesser verstehen und zugleich erklaumlren zu koumlnnen wie sich die intellektive Erkenntnis aus der Wahrnehmung entwickelt ist esnuumltzlich Themistiosrsquo Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zuRate zu ziehen welche sich vornehmlich in seiner Analytica pos -teriora-Paraphrase findet Eine Erkenntnislehre in der Art der

188 Michae l Schramm

platonischen Anamnesis-Lehre die auch von allen Neuplatonikernvertreten wurde wonach jede Erkenntnis eine Wiedererinnerungan das Ideenwissen der Seele vor ihrer bdquoEinkoumlrperungldquo sei23 lehnter explizit ab (In An Post 427ndash33) Vielmehr legt er wie schonAlexander im Ausgang von Aristotelesrsquo Analytica posteriora 219einen Stufenbau der Erkenntnis zugrunde der als fortlaufende In-duktion (παγωγ8) von der Partikularitaumlt der einzelnen Wahrneh-mung uumlber Erinnerung und Erfahrung zur Allgemeinheit von Wis-sen und Prinzipienerkenntnis fuumlhrt

Alexander konzipiert diese Induktion als fortlaufenden Ab-straktionsprozeszlig in dem die intelligible Form nach und nach auseiner Materie herausgehoben wird Zunaumlchst hat der MenschWahrnehmungen bzw Sinneseindruumlcke (τποι) die er als Phantas-mata in der Erinnerung aufbewahrt Anschlieszligend schreitet erdurch Erfahrung von den in der Erinnerung bewahrten Einzel -eindruumlcken zu allgemeinen Gedanken fort indem er mehrmaligwiederholte Einzeleindruumlcke auf ihre Aumlhnlichkeit hin miteinandervergleicht (Alex De an 833ndash13) Der Intellekt erkennt in den verschiedenen Einzeleindruumlcken die allgemeine Form die nur inverschiedenen Materien verschieden konkretisiert ist und loumlst die-se gedanklich von der Materie (8511ndash20) Dabei kommt die Drei-teilung des Intellekts nach Alexander folgendermaszligen zum TragenDer potentielle Intellekt ist die Disposition (πιτηδειτης) zurAufnahme der intelligiblen Formen vergleichbar einer unbe-schriebenen Wachstafel (8424) und enthaumllt diese der Moumlglichkeitnach bevor sie wirklich gedacht werden (21ndash24) der habituelle Intellekt besitzt sie bdquozusammengedraumlngtldquo (4θρα) und in sich bdquoru-hendldquo (gtρεμοντα) (865f) und der aktuelle Intellekt ist schlieszlig-lich nichts anderes als die gedachte Form selbst (8615) Abstrak -tion bedeutet nicht das Herausgreifen e iner Eigenschaft unterAbzug einer Vielzahl von anderen Eigenschaften sondern dasHerausheben der intelligiblen Form aus einer Materie bdquoDer Intel-lekt macht die wahrnehmbaren [Eindruumlcke] fuumlr sich intelligibel in-dem er sie von der Materie abtrennt und das theoretisch betrach-tet was ihr jeweiliges Sein istldquo (8419ndash21) Erkenntnis hat also fuumlrAlexander zwei Quellen die Wahrnehmung durch die das erken-nende Wesen externer Gegenstaumlnde gewahr wird und den Intel-

189Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

23) Platon skizziert die Anamnesis-Lehre Men 81cndashd zur neuplatonischenAnamnesis-Lehre vgl z B Plot 291647 48430 59532

lekt der durch Abstraktion die innere Form dieser Gegenstaumlndeerkennt Der Abstraktionsprozeszlig beginnt daher nicht nur bdquountenldquobei den einzelnen Sinnenseindruumlcken von denen zu abstrahierenist sondern auch bdquoobenldquo bei der an sich gleichbleibenden und mitsich selbst identischen Wesensform auf die sich die Abstraktion alsZiel hinbewegt

Im Anschluszlig an Alexander ist auch fuumlr Themistios der Fort-gang von der Wahrnehmung zur Prinzipienerkenntnis des Intel-lekts ein Abstraktions- und Induktionsprozeszlig Schon bei der Wahr-nehmung von Einzeleindruumlcken gibt es eine aumlhnliche Verknuumlpfungvon Individualitaumlt und Allgemeinheit wie bei der gemeinsamenTaumltigkeit von potentiellem und aktuellem Intellekt indem dieWahrnehmung bdquodieses Weiszligenldquo die gleichzeitige Wahrnehmung(συναισθνεσθαι) des allgemeinen Eindrucks bdquoweiszligldquo impliziert(Them In An Post 642ndash4) Individualitaumlt und Allgemeinheit sindnun das maszliggebliche Kriterium fuumlr die Unterscheidung von Wahr-nehmung und begrifflichem Denken Die Wahrnehmungen sindPrinzipien und Ursachen der partikularen Annahmen die Aufgabedes Intellekts ist die Verallgemeinerung dh mit einer Anspielungauf Platon (Phlb 27d) bdquodie Vielen zur Einheit zu machen und [ ]die Unbegrenzten mit einer Grenze zusammenzubindenldquo (τπολλ νον κα τ 7πειρα [ ] πρατι συνδ8σασθαι) (Them InAn Post 6417ndash20) Aus den partikularen Annahmen der Wahr-nehmung bdquoerschlieszligtldquo (συμπερανεται) der Intellekt d h das diskursive Denken das Allgemeine (24ndash26) waumlhrend er als dasschlechthin einfache Denkorgan das bdquogleichsam wie eine Art nicht-rationaler und ungeschiedener24 Blick der Seeleldquo (σπερ 7λογς τιςκα 7κριτος τς ψυχς 1ψις) wirkt (6514f) die bdquoPrinzipienldquo(4ρχς) bzw die bdquoallgemeinen und unmittelbaren Praumlmissenldquo (τςκαθλου κα 4μσους προτσεις) denkt (2f 9f)

190 Michae l Schramm

24) bdquoNicht-rationalldquo bedeutet nicht schlechthin bdquoirrationalldquo sondern eherbdquonicht-diskursivldquo Dieser Ausdruck betont die Einfachheit des intuitiv-noetischenDenkens das ohne λγος und κρσις dem in Saumltzen mitteilbaren Urteil auskommtbeides Kennzeichen des diskursiv-dianoetischen Denkens Im unmittelbaren Kon-text der Stelle ist mit λγος das Sprechen und Denken des Menschen in Saumltzen ge-meint das ihm als Wesen das den λγος besitzt (λογικν ζBον) eigentlich zukommt(65151719) Dieser traditionellen Sicht wonach bdquonicht-diskursivldquo als bdquonicht-pro -p ositionalldquo gedeutet wird widerspricht R Sorabji Some myths about non-prop -ositional thought in ders Time creation and the continuum theories in antiquityand the early Middle Ages London 1983 137ndash156

Themistios deutet die fortschreitende Verallgemeinerung vonder Wahrnehmung zum Prinzip in seiner Analytica posteriora-Pa-raphrase nicht wie Alexander explizit als Herausheben einer intel-ligiblen Form aus einer Materie vermutlich weil Aristoteles selbstin den Analytica posteriora die Form-Materie-Unterscheidungnicht anwendet In seiner De anima-Paraphrase hingegen unter-scheidet er zwischen Formen in der Materie (νυλα ε9δη) und im-materiellen Formen (7υλα ε9δη) zu denen man gelangt indem mandie intelligible Form von der Materie bdquoabtrenntldquo (χωρζων) (In Dean 1156f) Die Objekte des Intellekts sind schon in der Analyti-ca posteriora-Paraphrase die Prinzipien das sind die ersten Begrif-fe bzw Definitionen einer Wissenschaft (Cροι) und die bdquogemein -samen Gedankenldquo (κοινα ννοιαι) bzw Axiome (4ξι)ματα)25 alsunmittelbare Voraussetzungen eines Beweises ohne die kein Ler-nen moumlglich ist (In An Post 71ndash3 2233f) und diese beiden bil-den schon fuumlr Aristoteles die beiden Prinzipien einer Wissenschaft(Arist An post 110 76a37ndashb2) Dabei laumlszligt sich zeigen daszlig fuumlrThemistios ebenso wie fuumlr Alexander die intelligible Form das eigentliche Aumlquivalent fuumlr das Prinzip ist

So fuumlhrt er zur Erklaumlrung des Begriffs bdquoAxiomldquo die Defini tionTheophrasts an ein Axiom sei bdquoeine Meinung die entweder bei Be-griffen gleicher Gattung (ν το2ς (μογενσιν) z B wenn Gleichesvom Gleichen [scil abgezogen wird bleibt Gleiches erhalten] oderschlechthin bei allen gilt wie daszlig es entweder die Affirmation oderdie Negation gibtldquo d i der Satz vom ausgeschlossenen Drittenwobei der Ausdruck bdquogemeinsame Gedankenldquo im eigentlichen Sin-ne von der zweiten Bedeutung gelte und von da auf die erste uumlber-gegangen sei (Them In An Post 73ndash5)26 Das Axiom in diesen

191Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

25) Seit Euklid werden die mathematischen Axiome als κοινα ννοιαι be-zeichnet In der Stoa bezeichnen κοινα ννοιαι Ideen oder Begriffe die allen Men-schen vor jeder Erfahrung innewohnen und notwendige Bedingung fuumlr jede Erfah-rung sind (Chrysipp SVF II 154) Spaumltestens seit den Aristoteles-Kommentatorenwerden die κοινα ννοιαι aumlquivalent zu dem Aristotelischen Ausdruck 4ξι)ματαgebraucht (z B Alex In Top 18a20f In Met 317a34f Philop In An Pr 30619fIn An Post 3410)

26) Themistios hat in einer Paraphrase zur Topik von der nur Zeugnisse bei Boethius (vgl De diff top II 1186Cndash1194B) und Averroes erhalten sind sogardie Topoi der Topik mit den Aristotelischen Axiomen identifiziert (vgl S EbbesenCommentators and Commentaries on Aristotlersquos Sophistici Elenchi A Study ofPost-Aristotelian Ancient and Medieval Writings on Fallacies vol IndashIII [CLCAGVII] Leiden 1981 106ndash119)

beiden Bedeutungen haumlngt nun sachlich von den Begriffen ab bdquoDiePrinzipien des Beweises sind in der Tat keine Beweise sondernselbstevidente unmittelbare Praumlmissen (προτσεις αltτθενναργε2ς τε κα 7μεσοι) deren Prinzip wiederum der Intellekt istmit dem wir die Begriffe aufspuumlren (τοDς Cρους θηρεομεν) auswelchen die Axiome zusammengesetzt sindldquo (97ndash10) Die Axiomesind λγοι die sich aus formallogischen Begriffen wie GleichheitAffirmation Negation o auml zusammensetzen welche wiederumeine logische Gesetzmaumlszligigkeit bestimmen z B daszlig etwas nichtzugleich bejaht und verneint werden kann In konkreten Argu-mentationen werden die Axiome auf die eigentuumlmlichen Gegen-staumlnde einer speziellen Wissenschaft angewandt und die variablenBegriffe durch die jeweiligen eigentuumlmlichen Begriffe dieser Wis-senschaft ersetzt (2424ndash28) Das Denken des Intellekts der in denAxiomen die ihnen zugrundeliegenden formallogischen Begriffeoder die Begriffe einer bestimmten Wissenschaft erkennt fuumlhrtalso letztlich auf die immaterielle intelligible Form die dem Ge-genstand einer Wissenschaft innewohnt Dabei ndash und das ist eineklare anti-platonische Position27 ndash ist die jeweils zugrundeliegendeGattung nur ein Gedanke ohne reale Existenz der aufgrund derAumlhnlichkeit der Individuen gebildet wurde waumlhrend allein derArtbegriff das Eidos das tatsaumlchliche Wesen und die Form derDinge ausmacht (In De an 332ndash35)

Eine weitere Uumlbereinstimmung mit Alexander ist die Anwen-dung verschiedener lebensgeschichtlicher Entwicklungsstufen aufdie verschiedenen Intellektstufen Fuumlr Alexander haben den poten-tiellen Intellekt alle Menschen von Geburt an den habituellen Intellekt erwirbt hingegen nur der bdquotreffliche Menschldquo (σπουδα2ος)durch Unterricht und Uumlbung indem er zunaumlchst den an kontin-genten Gegenstaumlnden des praktischen Lebens geschulten Intellekt(πρακτικς κα δοξαστικς νος) und spaumlter den fuumlr die notwendi-gen Gegenstaumlnde der Wissenschaft zustaumlndigen theoretischen In-tellekt ausbildet (Alex De an 8120ndash823) Mit der Entwicklungder intellektuellen Faumlhigkeiten vom Kind zum Erwachsenen vompraktischen zum theoretischen Interesse geht fuumlr Alexander die Be-griffsbildung einher das allmaumlhliche induktive Fortschreiten vomEinzelfall zum Allgemeinbegriff Auch Themistios behauptet daszlig

192 Michae l Schramm

27) Darauf hat R Sorabji hingewiesen vgl Todd 1996 2 Anm 12

schon der kindliche Intellekt in den Wahrnehmungen bzw Phan-tasmata Aumlhnlichkeiten und Unterschiede registriert und danach all-maumlhlich sein Wissen aufbaut das er immer weiter vervollkommnenkann (Them In De an 959ndash21) Er ist damit die Vorstufe zur Ent-wicklung des bdquoerworbenenldquo Intellekts der die Begriffe besitzt

In seiner Analytica posteriora-Paraphrase betont Themistiosdaszlig der Prozeszlig der begrifflichen Verallgemeinerung Zeit braucht(In An Post 6421ndash24) und mit der Entwicklung des Menschenvoranschreitet bdquoWaumlhrend wir Fortschritte machen waumlchst und gedeiht der Intellekt immer mit uns mit (συναυξνεται [ ] κασυνεπιδδωσι) und zwar zuerst im Hinblick auf die einfachen Setzungen (θσεις) der nicht-zusammengesetzten einfachsten Bestandteile der Sprache die wir Begriffe (Cρους) nennen und aufdie einfachen Vorstellungen (4ντιλ8ψεις)ldquo (6515ndash18) EinfacheBegriffe wie bdquoMenschldquo oder bdquoweiszligldquo denken und sagen schon dieKinder wenn sie Sprechen und Denken (λγος) lernen (18ndash20) Beifortschreitender Sprach- und Denkentwicklung tritt die Faumlhigkeithinzu aus den einfachen Begriffen und Vorstellungen Aussagen zubilden und Fragen nach dem Wesen der Dinge zu stellen etwa wasder Mensch ist (20f) Auf einer noch houmlheren Entwicklungsstufewenn eine houmlhere Faumlhigkeit zum Denken des Allgemeinen ausge-bildet ist erlangt der menschliche Intellekt schlieszliglich seine volleDenkfaumlhigkeit (λογικ6 ξις) und damit sein eigentliches Wesen alsvernunftbegabtes Lebewesen (21ndash24) Wenn der Intellekt in dieseseine Vollendungsstufe gelangt ist und die zweite Potentialitaumlt odererste Aktualitaumlt erreicht hat besitzt er die Kraft zur eigenen vonaumluszligerer Anregung unabhaumlngigen Taumltigkeit (24ndash28) d h die zwei-te Aktualitaumlt des Denkens Zusammenfassend gesagt kann der Intellekt zuerst nur Namen verwenden und die mit den Namen gemeinten Dinge denken diese kann er dann diskursiv d h in Zusammensetzungen und Trennungen denken und schlieszliglich in-dem er gewisse Urteile in ihren begrifflichen Konstituentien denktdie allgemeinen Begriffe in sich festhalten (6528ndash663)

Wie Alexander koppelt auch Themistios den fortschreitendenErkenntnisweg vom Einzelnen zum Allgemeinen an die ontogene-tische Entwicklung des Menschen vom Kind zum ErwachsenenEin bezeichnender Unterschied zu Alexander duumlrfte aber darin bestehen daszlig Themistios den potentiellen Intellekt in gewisserWeise mit dem fruumlhkindlichen Spracherwerb identifiziert und demVerstehen der Namensbedeutung eine einfache intellektuelle Ein-

193Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

sicht in das Wesen der Dinge gleichstellt Er koumlnnte sich dafuumlr aufAristoteles berufen fuumlr den das Wissen um die Bedeutung derWorte eine notwendige Voraussetzung jeden Wissens uumlberhauptist insbesondere bei den Prinzipien einer Wissenschaft (Arist Anpost 11 71a12f 10 76a32f) Wenn die einfache noetische Ein-sicht in das Wesen der Dinge erst nach einem Durchgang durch dasdiskursive Denken das stets in Zusammensetzungen und Tren-nungen einfacher Begriffe operiert als dessen Vollendung mit demvollen Begriff erreicht ist dann hat nach Themistios der kindlicheIntellekt mit dem einfachen Sprachgebrauch bereits einen Vor-Be-griff des Wesens der Dinge erworben Der Uumlbergang vom potenti-ellen zum aktuellen Intellekt ist damit nach der De anima-Para-phrase einerseits der Uumlbergang vom individuellen zum allgemeinenBegriff andererseits nach der Analytica posteriora-Paraphrase derUumlbergang vom einzelnen Wort bzw Vor-Begriff zum wissen-schaftlichen Begriff der ein systematisches Wissen um die Verbin-dungen mit den anderen Begriffen impliziert

Daher bezeichnet Themistios den potentiellen Intellekt auchals bdquoVorlaumlufer (πρδρομος) des aktiven Intellektsldquo vergleichbardem Verhaumlltnis der Strahlen der Sonne zum Licht oder der Bluumltezur Frucht (Them In De an 10530ndash32) Der potentielle Intellektist fuumlr den aktiven Intellekt zugleich Materie und Vorlaumlufer in derSeele indem er diese auf das Denken des aktiven Intellekts vorbe-reitet Der potentielle Intellekt wird durch den aktuellen Intellektnur vollendet (9829f) indem dieser wie das Licht im Hinblick aufdas moumlgliche Sehen und die moumlglichen Farben 1) den potentiellenIntellekt zu einem aktuellen Intellekt und 2) die potentiell gedach-ten Inhalte das sind die immateriellen Formen bzw die aus denEinzelwahrnehmungen gebildeten allgemeinen Begriffe zu aktuellgedachten macht (9835ndash994) Der potentielle Intellekt ist damitein bdquoSchatzhausldquo oder eine bdquoVielheit an Gedankenldquo (θησαυρςbzw πλθος τEν νοημτων) und als solcher enthaumllt er die aus der Wahrnehmung und der Phantasie gewonnenen in der Erinne-rung bewahrten Eindruumlcke (τποι) bdquowie eine Materieldquo (σπερ Fλη)(6ndash8 21f) Dem potentiellen Intellekt liegen die Phantasmata alsMaterie zugrunde (10030) wie dieser wiederum fuumlr den aktivenIntellekt als Materie dient Er selbst enthaumllt die Gedanken als indi-viduelle Begriffe oder Vor-Begriffe die erst durch die Aktualitaumltdes aktiven Intellekts als allgemeine Begriffe gedacht werden Sokann der potentielle Intellekt an sich selbst auch nicht diskursiv

194 Michae l Schramm

denken dh er kann nicht die immateriellen Formen bzw Begrif-fe voneinander unterscheiden (διακρ2ναι) von einem zum andernuumlbergehen (μετιναι) sie verbinden (συντιθναι) oder trennen(διαιρε2ν) (995f) Erst wenn der aktive Intellekt die Materie derim potentiellen Intellekt enthaltenen Gedanken uumlbernimmt undder potentielle Intellekt auf diese Weise mit dem aktiven eins wirdwird er auch faumlhig die Taumltigkeiten des diskursiven Denkens aus-zufuumlhren (8ndash10)

Ein Unterschied zu Alexander wie auch zu Aristoteles bestehtdarin daszlig Themistios die Phantasmata zur Materie fuumlr den poten-tiellen Intellekt macht (10030) Wie die Wahrnehmung nicht ohneWahrnehmungsgegenstaumlnde aktualisiert wird so auch nicht derpotentielle Intellekt ohne Phantasmata (11318ndash20 mit 9833ndash35)Zwar betont Aristoteles mehrmals daszlig die (dianoetische) Seeleniemals ohne Phantasien denkt die ihr wie Wahrnehmungen zu-kommen (Arist De an 37 431a14ndash17) bzw daszlig sie die intelli-giblen Formen in den Phantasien denkt (431b2 8 432a3ndash5) Dochnirgendwo laumlszligt sich aus Aristoteles ableiten daszlig es der potentielleIntellekt ist der in Phantasmata denkt Der Grund fuumlr diese Zu-ordnung ist Themistiosrsquo Konzeption des potentiellen Intellekts Erist nicht wie bei Alexander reine Potentialitaumlt und eine Dispositionzur Aufnahme intelligibler Formen sondern selbst schon aktivetwa indem durch ihn bereits die Kinder Aumlhnlichkeiten und Un-terschiede in den Sinneseindruumlcken sehen und Vor-Begriffe bildenoder indem sie die Worte ihres gewoumlhnlichen Sprachgebrauchs vongewissen Vorstellungen der Phantasie begleiten lassen Der aktuel-le Intellekt verallgemeinert dann nur was im potentiellen Intellektals seinem Vorlaumlufer schon enthalten war Wenn sich in der Phan-tasie aus vielen Sinneseindruumlcken ein Bild einer Sache oder Qualitaumlteinstellt enthaumllt der potentielle Intellekt davon einen individuellenBegriff oder einen den Vorstellungen zugeordneten Vor-Begriff(bdquodieses Weiszligeldquo bdquoMenschldquo) den der aktuelle Intellekt allgemeinoder in seinem Wesen denkt (bdquoweiszligldquo Wesen von bdquoMenschldquo) We-gen dieser Zusammengehoumlrigkeit des individuellen und des all -gemeinen Begriffs ist auch der potentielle Intellekt nach dem Toddes Koumlrpers dauerhaft mit dem aktiven Intellekt verbunden undgenauso vom Koumlrper abgetrennt (Them In De an 10529f) wo-bei der aktive Intellekt bdquomehrldquo (μGλλον) abgetrennt ist als der potentielle (10534ndash10614 10832ndash34) Dieses bdquomehrldquo bezieht sichlediglich auf die Universalitaumlt des aktiven Intellekts die die Indivi-

195Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

dualitaumlt des potentiellen Intellekts mitumfaszligt Dieser ist daherauch bdquomehrldquo mit der menschlichen Seele bdquoverwachsenldquo (συμφυ8ς)als jener (9834) weil er zeitlich fruumlher in uns wirkt und ontolo-gisch von geringerem Rang ist (1069ndash11) Die Unvergaumlnglichkeitdieses Intellekts beruht auf einer (Fehl-)Deutung von De an 34wo Aristoteles den νος bdquoabgetrenntldquo (χωριστς) nennt Er meintden νος als solchen aber Theophrast und Themistios nehmen andaszlig sich bereits 34 ausschlieszliglich auf den δυνμει νος bezieht

Ebenso wie fuumlr Alexander hat Erkenntnis fuumlr Themistios zweiQuellen die Wahrnehmung die in aumluszligeren Sinneseindruumlcken dieintelligiblen Formen in einer individuellen Materie wahrnimmtund den Intellekt der nach einer gewissen Entwicklung des Spre-chens und Denkens die Allgemeinheit und Einheit der intelligiblenForm in der Vielheit der Sinneseindruumlcke herausstellt Die An -nahme eines angeborenen Ideenwissens ist fuumlr Themistios offenbarnicht noumltig da der Intellekt die Gegenstaumlnde seines Denkens ausder Wahrnehmung und aus dem Spracherwerb erhaumllt Angeborenist allerdings die menschliche Befaumlhigung zur Sprache und zu kon-zeptionellem Denken die ein implizites Wissen um formale Denk-prinzipien wie etwa den Satz vom Widerspruch mitumfaszligt Da-durch ist es moumlglich aus den einfachen Anfangsgruumlnden der erstenVorstellungen und durch das Erlernen der Worte die Einsicht indas Wesen der Dinge und ein zusammenhaumlngendes wissenschaft -liches Wissen zu entwickeln

3 Einheit und Vielheit des νοῦς ποιητικός

Einen offenkundigen Bezug auf Plotin nimmt Themistiosmit der Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts denn wenn er sagt daszlig es schoumlner sei die Frage zu stellenob alle Intellekte einer seien als die ob alle Seelen eine seien(10414ndash16) nimmt er woumlrtlich die Uumlberschrift von Plotins En-neade 49 Περ το ε= πGσαι α5 ψυχα μα wieder auf28 Themisti-os ist der erste der Kommentatoren der diese fuumlr Plotin typischeFrage nach dem Verhaumlltnis von Einheit und Vielheit innerhalb einer Hypostase explizit auf den aktiven Intellekt uumlbertraumlgt und

196 Michae l Schramm

28) Vgl Balleacuteriaux 1989 218

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

reich der voneinander getrennten Formen nicht der Seele sonderndem potentiellen Intellekt zuweist (Them In De an 1004ndash10) AlsMaterie des aktuellen Intellekts nimmt er bdquogeteiltldquo auf was jenerbdquoungeteiltldquo denkt (22f) ndash wie etwa die allgemeine Qualitaumlt bdquoweiszligldquodie an sich ungeteilt ist an verschiedenen Koumlrpern bdquogeteiltldquo d h ineinzelnen Instanzen der Farbe bdquoweiszligldquo vorkomme (22ndash26)

Themistios uumlbernimmt also ein plotinisches Denkmuster undmodifiziert es fuumlr seine Zwecke 1) Er kann damit die aristotelischeDichotomie von aktuellem und potentiellem Intellekt genauer er-klaumlren und den Vorgang wie der aktuelle Intellekt bdquoalles machtldquowas der potentielle Intellekt bdquowirdldquo der aktive Intellekt ist das Reservoir allgemeiner Begriffe waumlhrend der potentielle Intellektindividuelle Begriffe besitzt aus denen erst allgemeine Begriffe ge-bildet werden koumlnnen 2) Mit dieser Deutung uumlbt er implizit Kri-tik an Plotin fuumlr die ungenaue Ausdrucksweise von der bdquoTeilungldquoder intelligiblen Formen in der Seele die im Intellekt ungeteilt ge-dacht wuumlrden weil er damit die bdquogeteiltenldquo und die bdquoungeteiltenldquoFormen auf zwei Stufen seiner Seinshierarchie verteilt die in Wirk-lichkeit zur selben gehoumlren Denn fuumlr Themistios werden einzelneInstanzen eines allgemeinen Begriffs wie auch dieser Begriff selbstvom Intellekt erkannt potentiell sind die Einzelfaumllle deshalb weilsie nur im Hinblick auf das Allgemeine gedacht werden koumlnnenMit seiner aristotelisierenden Transformation der plotinischenEinteilung fuumlhrt er Potentialitaumlt und Aktualitaumlt als zwei Seiten desBegriffsdenkens zusammen wobei die Aktualitaumlt wesentlicher Be-standteil des menschlichen Denkens ist ja sogar den Menschen inseinem Wesen ausmacht und nicht auf einen goumlttlichen Intellektwie Alexander oder auf einen universalen wahrhaft seienden In-tellekt wie Plotin rekurriert Zugleich trennt er das Begriffsdenkenan sich von der Wahrnehmung und dem wahrnehmenden Koumlrper

2 Der potentielle Intellekt und die Stufen der Erkenntnis

Um das Verhaumlltnis von potentiellem und aktuellem Intellektbesser verstehen und zugleich erklaumlren zu koumlnnen wie sich die intellektive Erkenntnis aus der Wahrnehmung entwickelt ist esnuumltzlich Themistiosrsquo Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zuRate zu ziehen welche sich vornehmlich in seiner Analytica pos -teriora-Paraphrase findet Eine Erkenntnislehre in der Art der

188 Michae l Schramm

platonischen Anamnesis-Lehre die auch von allen Neuplatonikernvertreten wurde wonach jede Erkenntnis eine Wiedererinnerungan das Ideenwissen der Seele vor ihrer bdquoEinkoumlrperungldquo sei23 lehnter explizit ab (In An Post 427ndash33) Vielmehr legt er wie schonAlexander im Ausgang von Aristotelesrsquo Analytica posteriora 219einen Stufenbau der Erkenntnis zugrunde der als fortlaufende In-duktion (παγωγ8) von der Partikularitaumlt der einzelnen Wahrneh-mung uumlber Erinnerung und Erfahrung zur Allgemeinheit von Wis-sen und Prinzipienerkenntnis fuumlhrt

Alexander konzipiert diese Induktion als fortlaufenden Ab-straktionsprozeszlig in dem die intelligible Form nach und nach auseiner Materie herausgehoben wird Zunaumlchst hat der MenschWahrnehmungen bzw Sinneseindruumlcke (τποι) die er als Phantas-mata in der Erinnerung aufbewahrt Anschlieszligend schreitet erdurch Erfahrung von den in der Erinnerung bewahrten Einzel -eindruumlcken zu allgemeinen Gedanken fort indem er mehrmaligwiederholte Einzeleindruumlcke auf ihre Aumlhnlichkeit hin miteinandervergleicht (Alex De an 833ndash13) Der Intellekt erkennt in den verschiedenen Einzeleindruumlcken die allgemeine Form die nur inverschiedenen Materien verschieden konkretisiert ist und loumlst die-se gedanklich von der Materie (8511ndash20) Dabei kommt die Drei-teilung des Intellekts nach Alexander folgendermaszligen zum TragenDer potentielle Intellekt ist die Disposition (πιτηδειτης) zurAufnahme der intelligiblen Formen vergleichbar einer unbe-schriebenen Wachstafel (8424) und enthaumllt diese der Moumlglichkeitnach bevor sie wirklich gedacht werden (21ndash24) der habituelle Intellekt besitzt sie bdquozusammengedraumlngtldquo (4θρα) und in sich bdquoru-hendldquo (gtρεμοντα) (865f) und der aktuelle Intellekt ist schlieszlig-lich nichts anderes als die gedachte Form selbst (8615) Abstrak -tion bedeutet nicht das Herausgreifen e iner Eigenschaft unterAbzug einer Vielzahl von anderen Eigenschaften sondern dasHerausheben der intelligiblen Form aus einer Materie bdquoDer Intel-lekt macht die wahrnehmbaren [Eindruumlcke] fuumlr sich intelligibel in-dem er sie von der Materie abtrennt und das theoretisch betrach-tet was ihr jeweiliges Sein istldquo (8419ndash21) Erkenntnis hat also fuumlrAlexander zwei Quellen die Wahrnehmung durch die das erken-nende Wesen externer Gegenstaumlnde gewahr wird und den Intel-

189Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

23) Platon skizziert die Anamnesis-Lehre Men 81cndashd zur neuplatonischenAnamnesis-Lehre vgl z B Plot 291647 48430 59532

lekt der durch Abstraktion die innere Form dieser Gegenstaumlndeerkennt Der Abstraktionsprozeszlig beginnt daher nicht nur bdquountenldquobei den einzelnen Sinnenseindruumlcken von denen zu abstrahierenist sondern auch bdquoobenldquo bei der an sich gleichbleibenden und mitsich selbst identischen Wesensform auf die sich die Abstraktion alsZiel hinbewegt

Im Anschluszlig an Alexander ist auch fuumlr Themistios der Fort-gang von der Wahrnehmung zur Prinzipienerkenntnis des Intel-lekts ein Abstraktions- und Induktionsprozeszlig Schon bei der Wahr-nehmung von Einzeleindruumlcken gibt es eine aumlhnliche Verknuumlpfungvon Individualitaumlt und Allgemeinheit wie bei der gemeinsamenTaumltigkeit von potentiellem und aktuellem Intellekt indem dieWahrnehmung bdquodieses Weiszligenldquo die gleichzeitige Wahrnehmung(συναισθνεσθαι) des allgemeinen Eindrucks bdquoweiszligldquo impliziert(Them In An Post 642ndash4) Individualitaumlt und Allgemeinheit sindnun das maszliggebliche Kriterium fuumlr die Unterscheidung von Wahr-nehmung und begrifflichem Denken Die Wahrnehmungen sindPrinzipien und Ursachen der partikularen Annahmen die Aufgabedes Intellekts ist die Verallgemeinerung dh mit einer Anspielungauf Platon (Phlb 27d) bdquodie Vielen zur Einheit zu machen und [ ]die Unbegrenzten mit einer Grenze zusammenzubindenldquo (τπολλ νον κα τ 7πειρα [ ] πρατι συνδ8σασθαι) (Them InAn Post 6417ndash20) Aus den partikularen Annahmen der Wahr-nehmung bdquoerschlieszligtldquo (συμπερανεται) der Intellekt d h das diskursive Denken das Allgemeine (24ndash26) waumlhrend er als dasschlechthin einfache Denkorgan das bdquogleichsam wie eine Art nicht-rationaler und ungeschiedener24 Blick der Seeleldquo (σπερ 7λογς τιςκα 7κριτος τς ψυχς 1ψις) wirkt (6514f) die bdquoPrinzipienldquo(4ρχς) bzw die bdquoallgemeinen und unmittelbaren Praumlmissenldquo (τςκαθλου κα 4μσους προτσεις) denkt (2f 9f)

190 Michae l Schramm

24) bdquoNicht-rationalldquo bedeutet nicht schlechthin bdquoirrationalldquo sondern eherbdquonicht-diskursivldquo Dieser Ausdruck betont die Einfachheit des intuitiv-noetischenDenkens das ohne λγος und κρσις dem in Saumltzen mitteilbaren Urteil auskommtbeides Kennzeichen des diskursiv-dianoetischen Denkens Im unmittelbaren Kon-text der Stelle ist mit λγος das Sprechen und Denken des Menschen in Saumltzen ge-meint das ihm als Wesen das den λγος besitzt (λογικν ζBον) eigentlich zukommt(65151719) Dieser traditionellen Sicht wonach bdquonicht-diskursivldquo als bdquonicht-pro -p ositionalldquo gedeutet wird widerspricht R Sorabji Some myths about non-prop -ositional thought in ders Time creation and the continuum theories in antiquityand the early Middle Ages London 1983 137ndash156

Themistios deutet die fortschreitende Verallgemeinerung vonder Wahrnehmung zum Prinzip in seiner Analytica posteriora-Pa-raphrase nicht wie Alexander explizit als Herausheben einer intel-ligiblen Form aus einer Materie vermutlich weil Aristoteles selbstin den Analytica posteriora die Form-Materie-Unterscheidungnicht anwendet In seiner De anima-Paraphrase hingegen unter-scheidet er zwischen Formen in der Materie (νυλα ε9δη) und im-materiellen Formen (7υλα ε9δη) zu denen man gelangt indem mandie intelligible Form von der Materie bdquoabtrenntldquo (χωρζων) (In Dean 1156f) Die Objekte des Intellekts sind schon in der Analyti-ca posteriora-Paraphrase die Prinzipien das sind die ersten Begrif-fe bzw Definitionen einer Wissenschaft (Cροι) und die bdquogemein -samen Gedankenldquo (κοινα ννοιαι) bzw Axiome (4ξι)ματα)25 alsunmittelbare Voraussetzungen eines Beweises ohne die kein Ler-nen moumlglich ist (In An Post 71ndash3 2233f) und diese beiden bil-den schon fuumlr Aristoteles die beiden Prinzipien einer Wissenschaft(Arist An post 110 76a37ndashb2) Dabei laumlszligt sich zeigen daszlig fuumlrThemistios ebenso wie fuumlr Alexander die intelligible Form das eigentliche Aumlquivalent fuumlr das Prinzip ist

So fuumlhrt er zur Erklaumlrung des Begriffs bdquoAxiomldquo die Defini tionTheophrasts an ein Axiom sei bdquoeine Meinung die entweder bei Be-griffen gleicher Gattung (ν το2ς (μογενσιν) z B wenn Gleichesvom Gleichen [scil abgezogen wird bleibt Gleiches erhalten] oderschlechthin bei allen gilt wie daszlig es entweder die Affirmation oderdie Negation gibtldquo d i der Satz vom ausgeschlossenen Drittenwobei der Ausdruck bdquogemeinsame Gedankenldquo im eigentlichen Sin-ne von der zweiten Bedeutung gelte und von da auf die erste uumlber-gegangen sei (Them In An Post 73ndash5)26 Das Axiom in diesen

191Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

25) Seit Euklid werden die mathematischen Axiome als κοινα ννοιαι be-zeichnet In der Stoa bezeichnen κοινα ννοιαι Ideen oder Begriffe die allen Men-schen vor jeder Erfahrung innewohnen und notwendige Bedingung fuumlr jede Erfah-rung sind (Chrysipp SVF II 154) Spaumltestens seit den Aristoteles-Kommentatorenwerden die κοινα ννοιαι aumlquivalent zu dem Aristotelischen Ausdruck 4ξι)ματαgebraucht (z B Alex In Top 18a20f In Met 317a34f Philop In An Pr 30619fIn An Post 3410)

26) Themistios hat in einer Paraphrase zur Topik von der nur Zeugnisse bei Boethius (vgl De diff top II 1186Cndash1194B) und Averroes erhalten sind sogardie Topoi der Topik mit den Aristotelischen Axiomen identifiziert (vgl S EbbesenCommentators and Commentaries on Aristotlersquos Sophistici Elenchi A Study ofPost-Aristotelian Ancient and Medieval Writings on Fallacies vol IndashIII [CLCAGVII] Leiden 1981 106ndash119)

beiden Bedeutungen haumlngt nun sachlich von den Begriffen ab bdquoDiePrinzipien des Beweises sind in der Tat keine Beweise sondernselbstevidente unmittelbare Praumlmissen (προτσεις αltτθενναργε2ς τε κα 7μεσοι) deren Prinzip wiederum der Intellekt istmit dem wir die Begriffe aufspuumlren (τοDς Cρους θηρεομεν) auswelchen die Axiome zusammengesetzt sindldquo (97ndash10) Die Axiomesind λγοι die sich aus formallogischen Begriffen wie GleichheitAffirmation Negation o auml zusammensetzen welche wiederumeine logische Gesetzmaumlszligigkeit bestimmen z B daszlig etwas nichtzugleich bejaht und verneint werden kann In konkreten Argu-mentationen werden die Axiome auf die eigentuumlmlichen Gegen-staumlnde einer speziellen Wissenschaft angewandt und die variablenBegriffe durch die jeweiligen eigentuumlmlichen Begriffe dieser Wis-senschaft ersetzt (2424ndash28) Das Denken des Intellekts der in denAxiomen die ihnen zugrundeliegenden formallogischen Begriffeoder die Begriffe einer bestimmten Wissenschaft erkennt fuumlhrtalso letztlich auf die immaterielle intelligible Form die dem Ge-genstand einer Wissenschaft innewohnt Dabei ndash und das ist eineklare anti-platonische Position27 ndash ist die jeweils zugrundeliegendeGattung nur ein Gedanke ohne reale Existenz der aufgrund derAumlhnlichkeit der Individuen gebildet wurde waumlhrend allein derArtbegriff das Eidos das tatsaumlchliche Wesen und die Form derDinge ausmacht (In De an 332ndash35)

Eine weitere Uumlbereinstimmung mit Alexander ist die Anwen-dung verschiedener lebensgeschichtlicher Entwicklungsstufen aufdie verschiedenen Intellektstufen Fuumlr Alexander haben den poten-tiellen Intellekt alle Menschen von Geburt an den habituellen Intellekt erwirbt hingegen nur der bdquotreffliche Menschldquo (σπουδα2ος)durch Unterricht und Uumlbung indem er zunaumlchst den an kontin-genten Gegenstaumlnden des praktischen Lebens geschulten Intellekt(πρακτικς κα δοξαστικς νος) und spaumlter den fuumlr die notwendi-gen Gegenstaumlnde der Wissenschaft zustaumlndigen theoretischen In-tellekt ausbildet (Alex De an 8120ndash823) Mit der Entwicklungder intellektuellen Faumlhigkeiten vom Kind zum Erwachsenen vompraktischen zum theoretischen Interesse geht fuumlr Alexander die Be-griffsbildung einher das allmaumlhliche induktive Fortschreiten vomEinzelfall zum Allgemeinbegriff Auch Themistios behauptet daszlig

192 Michae l Schramm

27) Darauf hat R Sorabji hingewiesen vgl Todd 1996 2 Anm 12

schon der kindliche Intellekt in den Wahrnehmungen bzw Phan-tasmata Aumlhnlichkeiten und Unterschiede registriert und danach all-maumlhlich sein Wissen aufbaut das er immer weiter vervollkommnenkann (Them In De an 959ndash21) Er ist damit die Vorstufe zur Ent-wicklung des bdquoerworbenenldquo Intellekts der die Begriffe besitzt

In seiner Analytica posteriora-Paraphrase betont Themistiosdaszlig der Prozeszlig der begrifflichen Verallgemeinerung Zeit braucht(In An Post 6421ndash24) und mit der Entwicklung des Menschenvoranschreitet bdquoWaumlhrend wir Fortschritte machen waumlchst und gedeiht der Intellekt immer mit uns mit (συναυξνεται [ ] κασυνεπιδδωσι) und zwar zuerst im Hinblick auf die einfachen Setzungen (θσεις) der nicht-zusammengesetzten einfachsten Bestandteile der Sprache die wir Begriffe (Cρους) nennen und aufdie einfachen Vorstellungen (4ντιλ8ψεις)ldquo (6515ndash18) EinfacheBegriffe wie bdquoMenschldquo oder bdquoweiszligldquo denken und sagen schon dieKinder wenn sie Sprechen und Denken (λγος) lernen (18ndash20) Beifortschreitender Sprach- und Denkentwicklung tritt die Faumlhigkeithinzu aus den einfachen Begriffen und Vorstellungen Aussagen zubilden und Fragen nach dem Wesen der Dinge zu stellen etwa wasder Mensch ist (20f) Auf einer noch houmlheren Entwicklungsstufewenn eine houmlhere Faumlhigkeit zum Denken des Allgemeinen ausge-bildet ist erlangt der menschliche Intellekt schlieszliglich seine volleDenkfaumlhigkeit (λογικ6 ξις) und damit sein eigentliches Wesen alsvernunftbegabtes Lebewesen (21ndash24) Wenn der Intellekt in dieseseine Vollendungsstufe gelangt ist und die zweite Potentialitaumlt odererste Aktualitaumlt erreicht hat besitzt er die Kraft zur eigenen vonaumluszligerer Anregung unabhaumlngigen Taumltigkeit (24ndash28) d h die zwei-te Aktualitaumlt des Denkens Zusammenfassend gesagt kann der Intellekt zuerst nur Namen verwenden und die mit den Namen gemeinten Dinge denken diese kann er dann diskursiv d h in Zusammensetzungen und Trennungen denken und schlieszliglich in-dem er gewisse Urteile in ihren begrifflichen Konstituentien denktdie allgemeinen Begriffe in sich festhalten (6528ndash663)

Wie Alexander koppelt auch Themistios den fortschreitendenErkenntnisweg vom Einzelnen zum Allgemeinen an die ontogene-tische Entwicklung des Menschen vom Kind zum ErwachsenenEin bezeichnender Unterschied zu Alexander duumlrfte aber darin bestehen daszlig Themistios den potentiellen Intellekt in gewisserWeise mit dem fruumlhkindlichen Spracherwerb identifiziert und demVerstehen der Namensbedeutung eine einfache intellektuelle Ein-

193Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

sicht in das Wesen der Dinge gleichstellt Er koumlnnte sich dafuumlr aufAristoteles berufen fuumlr den das Wissen um die Bedeutung derWorte eine notwendige Voraussetzung jeden Wissens uumlberhauptist insbesondere bei den Prinzipien einer Wissenschaft (Arist Anpost 11 71a12f 10 76a32f) Wenn die einfache noetische Ein-sicht in das Wesen der Dinge erst nach einem Durchgang durch dasdiskursive Denken das stets in Zusammensetzungen und Tren-nungen einfacher Begriffe operiert als dessen Vollendung mit demvollen Begriff erreicht ist dann hat nach Themistios der kindlicheIntellekt mit dem einfachen Sprachgebrauch bereits einen Vor-Be-griff des Wesens der Dinge erworben Der Uumlbergang vom potenti-ellen zum aktuellen Intellekt ist damit nach der De anima-Para-phrase einerseits der Uumlbergang vom individuellen zum allgemeinenBegriff andererseits nach der Analytica posteriora-Paraphrase derUumlbergang vom einzelnen Wort bzw Vor-Begriff zum wissen-schaftlichen Begriff der ein systematisches Wissen um die Verbin-dungen mit den anderen Begriffen impliziert

Daher bezeichnet Themistios den potentiellen Intellekt auchals bdquoVorlaumlufer (πρδρομος) des aktiven Intellektsldquo vergleichbardem Verhaumlltnis der Strahlen der Sonne zum Licht oder der Bluumltezur Frucht (Them In De an 10530ndash32) Der potentielle Intellektist fuumlr den aktiven Intellekt zugleich Materie und Vorlaumlufer in derSeele indem er diese auf das Denken des aktiven Intellekts vorbe-reitet Der potentielle Intellekt wird durch den aktuellen Intellektnur vollendet (9829f) indem dieser wie das Licht im Hinblick aufdas moumlgliche Sehen und die moumlglichen Farben 1) den potentiellenIntellekt zu einem aktuellen Intellekt und 2) die potentiell gedach-ten Inhalte das sind die immateriellen Formen bzw die aus denEinzelwahrnehmungen gebildeten allgemeinen Begriffe zu aktuellgedachten macht (9835ndash994) Der potentielle Intellekt ist damitein bdquoSchatzhausldquo oder eine bdquoVielheit an Gedankenldquo (θησαυρςbzw πλθος τEν νοημτων) und als solcher enthaumllt er die aus der Wahrnehmung und der Phantasie gewonnenen in der Erinne-rung bewahrten Eindruumlcke (τποι) bdquowie eine Materieldquo (σπερ Fλη)(6ndash8 21f) Dem potentiellen Intellekt liegen die Phantasmata alsMaterie zugrunde (10030) wie dieser wiederum fuumlr den aktivenIntellekt als Materie dient Er selbst enthaumllt die Gedanken als indi-viduelle Begriffe oder Vor-Begriffe die erst durch die Aktualitaumltdes aktiven Intellekts als allgemeine Begriffe gedacht werden Sokann der potentielle Intellekt an sich selbst auch nicht diskursiv

194 Michae l Schramm

denken dh er kann nicht die immateriellen Formen bzw Begrif-fe voneinander unterscheiden (διακρ2ναι) von einem zum andernuumlbergehen (μετιναι) sie verbinden (συντιθναι) oder trennen(διαιρε2ν) (995f) Erst wenn der aktive Intellekt die Materie derim potentiellen Intellekt enthaltenen Gedanken uumlbernimmt undder potentielle Intellekt auf diese Weise mit dem aktiven eins wirdwird er auch faumlhig die Taumltigkeiten des diskursiven Denkens aus-zufuumlhren (8ndash10)

Ein Unterschied zu Alexander wie auch zu Aristoteles bestehtdarin daszlig Themistios die Phantasmata zur Materie fuumlr den poten-tiellen Intellekt macht (10030) Wie die Wahrnehmung nicht ohneWahrnehmungsgegenstaumlnde aktualisiert wird so auch nicht derpotentielle Intellekt ohne Phantasmata (11318ndash20 mit 9833ndash35)Zwar betont Aristoteles mehrmals daszlig die (dianoetische) Seeleniemals ohne Phantasien denkt die ihr wie Wahrnehmungen zu-kommen (Arist De an 37 431a14ndash17) bzw daszlig sie die intelli-giblen Formen in den Phantasien denkt (431b2 8 432a3ndash5) Dochnirgendwo laumlszligt sich aus Aristoteles ableiten daszlig es der potentielleIntellekt ist der in Phantasmata denkt Der Grund fuumlr diese Zu-ordnung ist Themistiosrsquo Konzeption des potentiellen Intellekts Erist nicht wie bei Alexander reine Potentialitaumlt und eine Dispositionzur Aufnahme intelligibler Formen sondern selbst schon aktivetwa indem durch ihn bereits die Kinder Aumlhnlichkeiten und Un-terschiede in den Sinneseindruumlcken sehen und Vor-Begriffe bildenoder indem sie die Worte ihres gewoumlhnlichen Sprachgebrauchs vongewissen Vorstellungen der Phantasie begleiten lassen Der aktuel-le Intellekt verallgemeinert dann nur was im potentiellen Intellektals seinem Vorlaumlufer schon enthalten war Wenn sich in der Phan-tasie aus vielen Sinneseindruumlcken ein Bild einer Sache oder Qualitaumlteinstellt enthaumllt der potentielle Intellekt davon einen individuellenBegriff oder einen den Vorstellungen zugeordneten Vor-Begriff(bdquodieses Weiszligeldquo bdquoMenschldquo) den der aktuelle Intellekt allgemeinoder in seinem Wesen denkt (bdquoweiszligldquo Wesen von bdquoMenschldquo) We-gen dieser Zusammengehoumlrigkeit des individuellen und des all -gemeinen Begriffs ist auch der potentielle Intellekt nach dem Toddes Koumlrpers dauerhaft mit dem aktiven Intellekt verbunden undgenauso vom Koumlrper abgetrennt (Them In De an 10529f) wo-bei der aktive Intellekt bdquomehrldquo (μGλλον) abgetrennt ist als der potentielle (10534ndash10614 10832ndash34) Dieses bdquomehrldquo bezieht sichlediglich auf die Universalitaumlt des aktiven Intellekts die die Indivi-

195Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

dualitaumlt des potentiellen Intellekts mitumfaszligt Dieser ist daherauch bdquomehrldquo mit der menschlichen Seele bdquoverwachsenldquo (συμφυ8ς)als jener (9834) weil er zeitlich fruumlher in uns wirkt und ontolo-gisch von geringerem Rang ist (1069ndash11) Die Unvergaumlnglichkeitdieses Intellekts beruht auf einer (Fehl-)Deutung von De an 34wo Aristoteles den νος bdquoabgetrenntldquo (χωριστς) nennt Er meintden νος als solchen aber Theophrast und Themistios nehmen andaszlig sich bereits 34 ausschlieszliglich auf den δυνμει νος bezieht

Ebenso wie fuumlr Alexander hat Erkenntnis fuumlr Themistios zweiQuellen die Wahrnehmung die in aumluszligeren Sinneseindruumlcken dieintelligiblen Formen in einer individuellen Materie wahrnimmtund den Intellekt der nach einer gewissen Entwicklung des Spre-chens und Denkens die Allgemeinheit und Einheit der intelligiblenForm in der Vielheit der Sinneseindruumlcke herausstellt Die An -nahme eines angeborenen Ideenwissens ist fuumlr Themistios offenbarnicht noumltig da der Intellekt die Gegenstaumlnde seines Denkens ausder Wahrnehmung und aus dem Spracherwerb erhaumllt Angeborenist allerdings die menschliche Befaumlhigung zur Sprache und zu kon-zeptionellem Denken die ein implizites Wissen um formale Denk-prinzipien wie etwa den Satz vom Widerspruch mitumfaszligt Da-durch ist es moumlglich aus den einfachen Anfangsgruumlnden der erstenVorstellungen und durch das Erlernen der Worte die Einsicht indas Wesen der Dinge und ein zusammenhaumlngendes wissenschaft -liches Wissen zu entwickeln

3 Einheit und Vielheit des νοῦς ποιητικός

Einen offenkundigen Bezug auf Plotin nimmt Themistiosmit der Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts denn wenn er sagt daszlig es schoumlner sei die Frage zu stellenob alle Intellekte einer seien als die ob alle Seelen eine seien(10414ndash16) nimmt er woumlrtlich die Uumlberschrift von Plotins En-neade 49 Περ το ε= πGσαι α5 ψυχα μα wieder auf28 Themisti-os ist der erste der Kommentatoren der diese fuumlr Plotin typischeFrage nach dem Verhaumlltnis von Einheit und Vielheit innerhalb einer Hypostase explizit auf den aktiven Intellekt uumlbertraumlgt und

196 Michae l Schramm

28) Vgl Balleacuteriaux 1989 218

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

platonischen Anamnesis-Lehre die auch von allen Neuplatonikernvertreten wurde wonach jede Erkenntnis eine Wiedererinnerungan das Ideenwissen der Seele vor ihrer bdquoEinkoumlrperungldquo sei23 lehnter explizit ab (In An Post 427ndash33) Vielmehr legt er wie schonAlexander im Ausgang von Aristotelesrsquo Analytica posteriora 219einen Stufenbau der Erkenntnis zugrunde der als fortlaufende In-duktion (παγωγ8) von der Partikularitaumlt der einzelnen Wahrneh-mung uumlber Erinnerung und Erfahrung zur Allgemeinheit von Wis-sen und Prinzipienerkenntnis fuumlhrt

Alexander konzipiert diese Induktion als fortlaufenden Ab-straktionsprozeszlig in dem die intelligible Form nach und nach auseiner Materie herausgehoben wird Zunaumlchst hat der MenschWahrnehmungen bzw Sinneseindruumlcke (τποι) die er als Phantas-mata in der Erinnerung aufbewahrt Anschlieszligend schreitet erdurch Erfahrung von den in der Erinnerung bewahrten Einzel -eindruumlcken zu allgemeinen Gedanken fort indem er mehrmaligwiederholte Einzeleindruumlcke auf ihre Aumlhnlichkeit hin miteinandervergleicht (Alex De an 833ndash13) Der Intellekt erkennt in den verschiedenen Einzeleindruumlcken die allgemeine Form die nur inverschiedenen Materien verschieden konkretisiert ist und loumlst die-se gedanklich von der Materie (8511ndash20) Dabei kommt die Drei-teilung des Intellekts nach Alexander folgendermaszligen zum TragenDer potentielle Intellekt ist die Disposition (πιτηδειτης) zurAufnahme der intelligiblen Formen vergleichbar einer unbe-schriebenen Wachstafel (8424) und enthaumllt diese der Moumlglichkeitnach bevor sie wirklich gedacht werden (21ndash24) der habituelle Intellekt besitzt sie bdquozusammengedraumlngtldquo (4θρα) und in sich bdquoru-hendldquo (gtρεμοντα) (865f) und der aktuelle Intellekt ist schlieszlig-lich nichts anderes als die gedachte Form selbst (8615) Abstrak -tion bedeutet nicht das Herausgreifen e iner Eigenschaft unterAbzug einer Vielzahl von anderen Eigenschaften sondern dasHerausheben der intelligiblen Form aus einer Materie bdquoDer Intel-lekt macht die wahrnehmbaren [Eindruumlcke] fuumlr sich intelligibel in-dem er sie von der Materie abtrennt und das theoretisch betrach-tet was ihr jeweiliges Sein istldquo (8419ndash21) Erkenntnis hat also fuumlrAlexander zwei Quellen die Wahrnehmung durch die das erken-nende Wesen externer Gegenstaumlnde gewahr wird und den Intel-

189Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

23) Platon skizziert die Anamnesis-Lehre Men 81cndashd zur neuplatonischenAnamnesis-Lehre vgl z B Plot 291647 48430 59532

lekt der durch Abstraktion die innere Form dieser Gegenstaumlndeerkennt Der Abstraktionsprozeszlig beginnt daher nicht nur bdquountenldquobei den einzelnen Sinnenseindruumlcken von denen zu abstrahierenist sondern auch bdquoobenldquo bei der an sich gleichbleibenden und mitsich selbst identischen Wesensform auf die sich die Abstraktion alsZiel hinbewegt

Im Anschluszlig an Alexander ist auch fuumlr Themistios der Fort-gang von der Wahrnehmung zur Prinzipienerkenntnis des Intel-lekts ein Abstraktions- und Induktionsprozeszlig Schon bei der Wahr-nehmung von Einzeleindruumlcken gibt es eine aumlhnliche Verknuumlpfungvon Individualitaumlt und Allgemeinheit wie bei der gemeinsamenTaumltigkeit von potentiellem und aktuellem Intellekt indem dieWahrnehmung bdquodieses Weiszligenldquo die gleichzeitige Wahrnehmung(συναισθνεσθαι) des allgemeinen Eindrucks bdquoweiszligldquo impliziert(Them In An Post 642ndash4) Individualitaumlt und Allgemeinheit sindnun das maszliggebliche Kriterium fuumlr die Unterscheidung von Wahr-nehmung und begrifflichem Denken Die Wahrnehmungen sindPrinzipien und Ursachen der partikularen Annahmen die Aufgabedes Intellekts ist die Verallgemeinerung dh mit einer Anspielungauf Platon (Phlb 27d) bdquodie Vielen zur Einheit zu machen und [ ]die Unbegrenzten mit einer Grenze zusammenzubindenldquo (τπολλ νον κα τ 7πειρα [ ] πρατι συνδ8σασθαι) (Them InAn Post 6417ndash20) Aus den partikularen Annahmen der Wahr-nehmung bdquoerschlieszligtldquo (συμπερανεται) der Intellekt d h das diskursive Denken das Allgemeine (24ndash26) waumlhrend er als dasschlechthin einfache Denkorgan das bdquogleichsam wie eine Art nicht-rationaler und ungeschiedener24 Blick der Seeleldquo (σπερ 7λογς τιςκα 7κριτος τς ψυχς 1ψις) wirkt (6514f) die bdquoPrinzipienldquo(4ρχς) bzw die bdquoallgemeinen und unmittelbaren Praumlmissenldquo (τςκαθλου κα 4μσους προτσεις) denkt (2f 9f)

190 Michae l Schramm

24) bdquoNicht-rationalldquo bedeutet nicht schlechthin bdquoirrationalldquo sondern eherbdquonicht-diskursivldquo Dieser Ausdruck betont die Einfachheit des intuitiv-noetischenDenkens das ohne λγος und κρσις dem in Saumltzen mitteilbaren Urteil auskommtbeides Kennzeichen des diskursiv-dianoetischen Denkens Im unmittelbaren Kon-text der Stelle ist mit λγος das Sprechen und Denken des Menschen in Saumltzen ge-meint das ihm als Wesen das den λγος besitzt (λογικν ζBον) eigentlich zukommt(65151719) Dieser traditionellen Sicht wonach bdquonicht-diskursivldquo als bdquonicht-pro -p ositionalldquo gedeutet wird widerspricht R Sorabji Some myths about non-prop -ositional thought in ders Time creation and the continuum theories in antiquityand the early Middle Ages London 1983 137ndash156

Themistios deutet die fortschreitende Verallgemeinerung vonder Wahrnehmung zum Prinzip in seiner Analytica posteriora-Pa-raphrase nicht wie Alexander explizit als Herausheben einer intel-ligiblen Form aus einer Materie vermutlich weil Aristoteles selbstin den Analytica posteriora die Form-Materie-Unterscheidungnicht anwendet In seiner De anima-Paraphrase hingegen unter-scheidet er zwischen Formen in der Materie (νυλα ε9δη) und im-materiellen Formen (7υλα ε9δη) zu denen man gelangt indem mandie intelligible Form von der Materie bdquoabtrenntldquo (χωρζων) (In Dean 1156f) Die Objekte des Intellekts sind schon in der Analyti-ca posteriora-Paraphrase die Prinzipien das sind die ersten Begrif-fe bzw Definitionen einer Wissenschaft (Cροι) und die bdquogemein -samen Gedankenldquo (κοινα ννοιαι) bzw Axiome (4ξι)ματα)25 alsunmittelbare Voraussetzungen eines Beweises ohne die kein Ler-nen moumlglich ist (In An Post 71ndash3 2233f) und diese beiden bil-den schon fuumlr Aristoteles die beiden Prinzipien einer Wissenschaft(Arist An post 110 76a37ndashb2) Dabei laumlszligt sich zeigen daszlig fuumlrThemistios ebenso wie fuumlr Alexander die intelligible Form das eigentliche Aumlquivalent fuumlr das Prinzip ist

So fuumlhrt er zur Erklaumlrung des Begriffs bdquoAxiomldquo die Defini tionTheophrasts an ein Axiom sei bdquoeine Meinung die entweder bei Be-griffen gleicher Gattung (ν το2ς (μογενσιν) z B wenn Gleichesvom Gleichen [scil abgezogen wird bleibt Gleiches erhalten] oderschlechthin bei allen gilt wie daszlig es entweder die Affirmation oderdie Negation gibtldquo d i der Satz vom ausgeschlossenen Drittenwobei der Ausdruck bdquogemeinsame Gedankenldquo im eigentlichen Sin-ne von der zweiten Bedeutung gelte und von da auf die erste uumlber-gegangen sei (Them In An Post 73ndash5)26 Das Axiom in diesen

191Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

25) Seit Euklid werden die mathematischen Axiome als κοινα ννοιαι be-zeichnet In der Stoa bezeichnen κοινα ννοιαι Ideen oder Begriffe die allen Men-schen vor jeder Erfahrung innewohnen und notwendige Bedingung fuumlr jede Erfah-rung sind (Chrysipp SVF II 154) Spaumltestens seit den Aristoteles-Kommentatorenwerden die κοινα ννοιαι aumlquivalent zu dem Aristotelischen Ausdruck 4ξι)ματαgebraucht (z B Alex In Top 18a20f In Met 317a34f Philop In An Pr 30619fIn An Post 3410)

26) Themistios hat in einer Paraphrase zur Topik von der nur Zeugnisse bei Boethius (vgl De diff top II 1186Cndash1194B) und Averroes erhalten sind sogardie Topoi der Topik mit den Aristotelischen Axiomen identifiziert (vgl S EbbesenCommentators and Commentaries on Aristotlersquos Sophistici Elenchi A Study ofPost-Aristotelian Ancient and Medieval Writings on Fallacies vol IndashIII [CLCAGVII] Leiden 1981 106ndash119)

beiden Bedeutungen haumlngt nun sachlich von den Begriffen ab bdquoDiePrinzipien des Beweises sind in der Tat keine Beweise sondernselbstevidente unmittelbare Praumlmissen (προτσεις αltτθενναργε2ς τε κα 7μεσοι) deren Prinzip wiederum der Intellekt istmit dem wir die Begriffe aufspuumlren (τοDς Cρους θηρεομεν) auswelchen die Axiome zusammengesetzt sindldquo (97ndash10) Die Axiomesind λγοι die sich aus formallogischen Begriffen wie GleichheitAffirmation Negation o auml zusammensetzen welche wiederumeine logische Gesetzmaumlszligigkeit bestimmen z B daszlig etwas nichtzugleich bejaht und verneint werden kann In konkreten Argu-mentationen werden die Axiome auf die eigentuumlmlichen Gegen-staumlnde einer speziellen Wissenschaft angewandt und die variablenBegriffe durch die jeweiligen eigentuumlmlichen Begriffe dieser Wis-senschaft ersetzt (2424ndash28) Das Denken des Intellekts der in denAxiomen die ihnen zugrundeliegenden formallogischen Begriffeoder die Begriffe einer bestimmten Wissenschaft erkennt fuumlhrtalso letztlich auf die immaterielle intelligible Form die dem Ge-genstand einer Wissenschaft innewohnt Dabei ndash und das ist eineklare anti-platonische Position27 ndash ist die jeweils zugrundeliegendeGattung nur ein Gedanke ohne reale Existenz der aufgrund derAumlhnlichkeit der Individuen gebildet wurde waumlhrend allein derArtbegriff das Eidos das tatsaumlchliche Wesen und die Form derDinge ausmacht (In De an 332ndash35)

Eine weitere Uumlbereinstimmung mit Alexander ist die Anwen-dung verschiedener lebensgeschichtlicher Entwicklungsstufen aufdie verschiedenen Intellektstufen Fuumlr Alexander haben den poten-tiellen Intellekt alle Menschen von Geburt an den habituellen Intellekt erwirbt hingegen nur der bdquotreffliche Menschldquo (σπουδα2ος)durch Unterricht und Uumlbung indem er zunaumlchst den an kontin-genten Gegenstaumlnden des praktischen Lebens geschulten Intellekt(πρακτικς κα δοξαστικς νος) und spaumlter den fuumlr die notwendi-gen Gegenstaumlnde der Wissenschaft zustaumlndigen theoretischen In-tellekt ausbildet (Alex De an 8120ndash823) Mit der Entwicklungder intellektuellen Faumlhigkeiten vom Kind zum Erwachsenen vompraktischen zum theoretischen Interesse geht fuumlr Alexander die Be-griffsbildung einher das allmaumlhliche induktive Fortschreiten vomEinzelfall zum Allgemeinbegriff Auch Themistios behauptet daszlig

192 Michae l Schramm

27) Darauf hat R Sorabji hingewiesen vgl Todd 1996 2 Anm 12

schon der kindliche Intellekt in den Wahrnehmungen bzw Phan-tasmata Aumlhnlichkeiten und Unterschiede registriert und danach all-maumlhlich sein Wissen aufbaut das er immer weiter vervollkommnenkann (Them In De an 959ndash21) Er ist damit die Vorstufe zur Ent-wicklung des bdquoerworbenenldquo Intellekts der die Begriffe besitzt

In seiner Analytica posteriora-Paraphrase betont Themistiosdaszlig der Prozeszlig der begrifflichen Verallgemeinerung Zeit braucht(In An Post 6421ndash24) und mit der Entwicklung des Menschenvoranschreitet bdquoWaumlhrend wir Fortschritte machen waumlchst und gedeiht der Intellekt immer mit uns mit (συναυξνεται [ ] κασυνεπιδδωσι) und zwar zuerst im Hinblick auf die einfachen Setzungen (θσεις) der nicht-zusammengesetzten einfachsten Bestandteile der Sprache die wir Begriffe (Cρους) nennen und aufdie einfachen Vorstellungen (4ντιλ8ψεις)ldquo (6515ndash18) EinfacheBegriffe wie bdquoMenschldquo oder bdquoweiszligldquo denken und sagen schon dieKinder wenn sie Sprechen und Denken (λγος) lernen (18ndash20) Beifortschreitender Sprach- und Denkentwicklung tritt die Faumlhigkeithinzu aus den einfachen Begriffen und Vorstellungen Aussagen zubilden und Fragen nach dem Wesen der Dinge zu stellen etwa wasder Mensch ist (20f) Auf einer noch houmlheren Entwicklungsstufewenn eine houmlhere Faumlhigkeit zum Denken des Allgemeinen ausge-bildet ist erlangt der menschliche Intellekt schlieszliglich seine volleDenkfaumlhigkeit (λογικ6 ξις) und damit sein eigentliches Wesen alsvernunftbegabtes Lebewesen (21ndash24) Wenn der Intellekt in dieseseine Vollendungsstufe gelangt ist und die zweite Potentialitaumlt odererste Aktualitaumlt erreicht hat besitzt er die Kraft zur eigenen vonaumluszligerer Anregung unabhaumlngigen Taumltigkeit (24ndash28) d h die zwei-te Aktualitaumlt des Denkens Zusammenfassend gesagt kann der Intellekt zuerst nur Namen verwenden und die mit den Namen gemeinten Dinge denken diese kann er dann diskursiv d h in Zusammensetzungen und Trennungen denken und schlieszliglich in-dem er gewisse Urteile in ihren begrifflichen Konstituentien denktdie allgemeinen Begriffe in sich festhalten (6528ndash663)

Wie Alexander koppelt auch Themistios den fortschreitendenErkenntnisweg vom Einzelnen zum Allgemeinen an die ontogene-tische Entwicklung des Menschen vom Kind zum ErwachsenenEin bezeichnender Unterschied zu Alexander duumlrfte aber darin bestehen daszlig Themistios den potentiellen Intellekt in gewisserWeise mit dem fruumlhkindlichen Spracherwerb identifiziert und demVerstehen der Namensbedeutung eine einfache intellektuelle Ein-

193Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

sicht in das Wesen der Dinge gleichstellt Er koumlnnte sich dafuumlr aufAristoteles berufen fuumlr den das Wissen um die Bedeutung derWorte eine notwendige Voraussetzung jeden Wissens uumlberhauptist insbesondere bei den Prinzipien einer Wissenschaft (Arist Anpost 11 71a12f 10 76a32f) Wenn die einfache noetische Ein-sicht in das Wesen der Dinge erst nach einem Durchgang durch dasdiskursive Denken das stets in Zusammensetzungen und Tren-nungen einfacher Begriffe operiert als dessen Vollendung mit demvollen Begriff erreicht ist dann hat nach Themistios der kindlicheIntellekt mit dem einfachen Sprachgebrauch bereits einen Vor-Be-griff des Wesens der Dinge erworben Der Uumlbergang vom potenti-ellen zum aktuellen Intellekt ist damit nach der De anima-Para-phrase einerseits der Uumlbergang vom individuellen zum allgemeinenBegriff andererseits nach der Analytica posteriora-Paraphrase derUumlbergang vom einzelnen Wort bzw Vor-Begriff zum wissen-schaftlichen Begriff der ein systematisches Wissen um die Verbin-dungen mit den anderen Begriffen impliziert

Daher bezeichnet Themistios den potentiellen Intellekt auchals bdquoVorlaumlufer (πρδρομος) des aktiven Intellektsldquo vergleichbardem Verhaumlltnis der Strahlen der Sonne zum Licht oder der Bluumltezur Frucht (Them In De an 10530ndash32) Der potentielle Intellektist fuumlr den aktiven Intellekt zugleich Materie und Vorlaumlufer in derSeele indem er diese auf das Denken des aktiven Intellekts vorbe-reitet Der potentielle Intellekt wird durch den aktuellen Intellektnur vollendet (9829f) indem dieser wie das Licht im Hinblick aufdas moumlgliche Sehen und die moumlglichen Farben 1) den potentiellenIntellekt zu einem aktuellen Intellekt und 2) die potentiell gedach-ten Inhalte das sind die immateriellen Formen bzw die aus denEinzelwahrnehmungen gebildeten allgemeinen Begriffe zu aktuellgedachten macht (9835ndash994) Der potentielle Intellekt ist damitein bdquoSchatzhausldquo oder eine bdquoVielheit an Gedankenldquo (θησαυρςbzw πλθος τEν νοημτων) und als solcher enthaumllt er die aus der Wahrnehmung und der Phantasie gewonnenen in der Erinne-rung bewahrten Eindruumlcke (τποι) bdquowie eine Materieldquo (σπερ Fλη)(6ndash8 21f) Dem potentiellen Intellekt liegen die Phantasmata alsMaterie zugrunde (10030) wie dieser wiederum fuumlr den aktivenIntellekt als Materie dient Er selbst enthaumllt die Gedanken als indi-viduelle Begriffe oder Vor-Begriffe die erst durch die Aktualitaumltdes aktiven Intellekts als allgemeine Begriffe gedacht werden Sokann der potentielle Intellekt an sich selbst auch nicht diskursiv

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denken dh er kann nicht die immateriellen Formen bzw Begrif-fe voneinander unterscheiden (διακρ2ναι) von einem zum andernuumlbergehen (μετιναι) sie verbinden (συντιθναι) oder trennen(διαιρε2ν) (995f) Erst wenn der aktive Intellekt die Materie derim potentiellen Intellekt enthaltenen Gedanken uumlbernimmt undder potentielle Intellekt auf diese Weise mit dem aktiven eins wirdwird er auch faumlhig die Taumltigkeiten des diskursiven Denkens aus-zufuumlhren (8ndash10)

Ein Unterschied zu Alexander wie auch zu Aristoteles bestehtdarin daszlig Themistios die Phantasmata zur Materie fuumlr den poten-tiellen Intellekt macht (10030) Wie die Wahrnehmung nicht ohneWahrnehmungsgegenstaumlnde aktualisiert wird so auch nicht derpotentielle Intellekt ohne Phantasmata (11318ndash20 mit 9833ndash35)Zwar betont Aristoteles mehrmals daszlig die (dianoetische) Seeleniemals ohne Phantasien denkt die ihr wie Wahrnehmungen zu-kommen (Arist De an 37 431a14ndash17) bzw daszlig sie die intelli-giblen Formen in den Phantasien denkt (431b2 8 432a3ndash5) Dochnirgendwo laumlszligt sich aus Aristoteles ableiten daszlig es der potentielleIntellekt ist der in Phantasmata denkt Der Grund fuumlr diese Zu-ordnung ist Themistiosrsquo Konzeption des potentiellen Intellekts Erist nicht wie bei Alexander reine Potentialitaumlt und eine Dispositionzur Aufnahme intelligibler Formen sondern selbst schon aktivetwa indem durch ihn bereits die Kinder Aumlhnlichkeiten und Un-terschiede in den Sinneseindruumlcken sehen und Vor-Begriffe bildenoder indem sie die Worte ihres gewoumlhnlichen Sprachgebrauchs vongewissen Vorstellungen der Phantasie begleiten lassen Der aktuel-le Intellekt verallgemeinert dann nur was im potentiellen Intellektals seinem Vorlaumlufer schon enthalten war Wenn sich in der Phan-tasie aus vielen Sinneseindruumlcken ein Bild einer Sache oder Qualitaumlteinstellt enthaumllt der potentielle Intellekt davon einen individuellenBegriff oder einen den Vorstellungen zugeordneten Vor-Begriff(bdquodieses Weiszligeldquo bdquoMenschldquo) den der aktuelle Intellekt allgemeinoder in seinem Wesen denkt (bdquoweiszligldquo Wesen von bdquoMenschldquo) We-gen dieser Zusammengehoumlrigkeit des individuellen und des all -gemeinen Begriffs ist auch der potentielle Intellekt nach dem Toddes Koumlrpers dauerhaft mit dem aktiven Intellekt verbunden undgenauso vom Koumlrper abgetrennt (Them In De an 10529f) wo-bei der aktive Intellekt bdquomehrldquo (μGλλον) abgetrennt ist als der potentielle (10534ndash10614 10832ndash34) Dieses bdquomehrldquo bezieht sichlediglich auf die Universalitaumlt des aktiven Intellekts die die Indivi-

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dualitaumlt des potentiellen Intellekts mitumfaszligt Dieser ist daherauch bdquomehrldquo mit der menschlichen Seele bdquoverwachsenldquo (συμφυ8ς)als jener (9834) weil er zeitlich fruumlher in uns wirkt und ontolo-gisch von geringerem Rang ist (1069ndash11) Die Unvergaumlnglichkeitdieses Intellekts beruht auf einer (Fehl-)Deutung von De an 34wo Aristoteles den νος bdquoabgetrenntldquo (χωριστς) nennt Er meintden νος als solchen aber Theophrast und Themistios nehmen andaszlig sich bereits 34 ausschlieszliglich auf den δυνμει νος bezieht

Ebenso wie fuumlr Alexander hat Erkenntnis fuumlr Themistios zweiQuellen die Wahrnehmung die in aumluszligeren Sinneseindruumlcken dieintelligiblen Formen in einer individuellen Materie wahrnimmtund den Intellekt der nach einer gewissen Entwicklung des Spre-chens und Denkens die Allgemeinheit und Einheit der intelligiblenForm in der Vielheit der Sinneseindruumlcke herausstellt Die An -nahme eines angeborenen Ideenwissens ist fuumlr Themistios offenbarnicht noumltig da der Intellekt die Gegenstaumlnde seines Denkens ausder Wahrnehmung und aus dem Spracherwerb erhaumllt Angeborenist allerdings die menschliche Befaumlhigung zur Sprache und zu kon-zeptionellem Denken die ein implizites Wissen um formale Denk-prinzipien wie etwa den Satz vom Widerspruch mitumfaszligt Da-durch ist es moumlglich aus den einfachen Anfangsgruumlnden der erstenVorstellungen und durch das Erlernen der Worte die Einsicht indas Wesen der Dinge und ein zusammenhaumlngendes wissenschaft -liches Wissen zu entwickeln

3 Einheit und Vielheit des νοῦς ποιητικός

Einen offenkundigen Bezug auf Plotin nimmt Themistiosmit der Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts denn wenn er sagt daszlig es schoumlner sei die Frage zu stellenob alle Intellekte einer seien als die ob alle Seelen eine seien(10414ndash16) nimmt er woumlrtlich die Uumlberschrift von Plotins En-neade 49 Περ το ε= πGσαι α5 ψυχα μα wieder auf28 Themisti-os ist der erste der Kommentatoren der diese fuumlr Plotin typischeFrage nach dem Verhaumlltnis von Einheit und Vielheit innerhalb einer Hypostase explizit auf den aktiven Intellekt uumlbertraumlgt und

196 Michae l Schramm

28) Vgl Balleacuteriaux 1989 218

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lekt der durch Abstraktion die innere Form dieser Gegenstaumlndeerkennt Der Abstraktionsprozeszlig beginnt daher nicht nur bdquountenldquobei den einzelnen Sinnenseindruumlcken von denen zu abstrahierenist sondern auch bdquoobenldquo bei der an sich gleichbleibenden und mitsich selbst identischen Wesensform auf die sich die Abstraktion alsZiel hinbewegt

Im Anschluszlig an Alexander ist auch fuumlr Themistios der Fort-gang von der Wahrnehmung zur Prinzipienerkenntnis des Intel-lekts ein Abstraktions- und Induktionsprozeszlig Schon bei der Wahr-nehmung von Einzeleindruumlcken gibt es eine aumlhnliche Verknuumlpfungvon Individualitaumlt und Allgemeinheit wie bei der gemeinsamenTaumltigkeit von potentiellem und aktuellem Intellekt indem dieWahrnehmung bdquodieses Weiszligenldquo die gleichzeitige Wahrnehmung(συναισθνεσθαι) des allgemeinen Eindrucks bdquoweiszligldquo impliziert(Them In An Post 642ndash4) Individualitaumlt und Allgemeinheit sindnun das maszliggebliche Kriterium fuumlr die Unterscheidung von Wahr-nehmung und begrifflichem Denken Die Wahrnehmungen sindPrinzipien und Ursachen der partikularen Annahmen die Aufgabedes Intellekts ist die Verallgemeinerung dh mit einer Anspielungauf Platon (Phlb 27d) bdquodie Vielen zur Einheit zu machen und [ ]die Unbegrenzten mit einer Grenze zusammenzubindenldquo (τπολλ νον κα τ 7πειρα [ ] πρατι συνδ8σασθαι) (Them InAn Post 6417ndash20) Aus den partikularen Annahmen der Wahr-nehmung bdquoerschlieszligtldquo (συμπερανεται) der Intellekt d h das diskursive Denken das Allgemeine (24ndash26) waumlhrend er als dasschlechthin einfache Denkorgan das bdquogleichsam wie eine Art nicht-rationaler und ungeschiedener24 Blick der Seeleldquo (σπερ 7λογς τιςκα 7κριτος τς ψυχς 1ψις) wirkt (6514f) die bdquoPrinzipienldquo(4ρχς) bzw die bdquoallgemeinen und unmittelbaren Praumlmissenldquo (τςκαθλου κα 4μσους προτσεις) denkt (2f 9f)

190 Michae l Schramm

24) bdquoNicht-rationalldquo bedeutet nicht schlechthin bdquoirrationalldquo sondern eherbdquonicht-diskursivldquo Dieser Ausdruck betont die Einfachheit des intuitiv-noetischenDenkens das ohne λγος und κρσις dem in Saumltzen mitteilbaren Urteil auskommtbeides Kennzeichen des diskursiv-dianoetischen Denkens Im unmittelbaren Kon-text der Stelle ist mit λγος das Sprechen und Denken des Menschen in Saumltzen ge-meint das ihm als Wesen das den λγος besitzt (λογικν ζBον) eigentlich zukommt(65151719) Dieser traditionellen Sicht wonach bdquonicht-diskursivldquo als bdquonicht-pro -p ositionalldquo gedeutet wird widerspricht R Sorabji Some myths about non-prop -ositional thought in ders Time creation and the continuum theories in antiquityand the early Middle Ages London 1983 137ndash156

Themistios deutet die fortschreitende Verallgemeinerung vonder Wahrnehmung zum Prinzip in seiner Analytica posteriora-Pa-raphrase nicht wie Alexander explizit als Herausheben einer intel-ligiblen Form aus einer Materie vermutlich weil Aristoteles selbstin den Analytica posteriora die Form-Materie-Unterscheidungnicht anwendet In seiner De anima-Paraphrase hingegen unter-scheidet er zwischen Formen in der Materie (νυλα ε9δη) und im-materiellen Formen (7υλα ε9δη) zu denen man gelangt indem mandie intelligible Form von der Materie bdquoabtrenntldquo (χωρζων) (In Dean 1156f) Die Objekte des Intellekts sind schon in der Analyti-ca posteriora-Paraphrase die Prinzipien das sind die ersten Begrif-fe bzw Definitionen einer Wissenschaft (Cροι) und die bdquogemein -samen Gedankenldquo (κοινα ννοιαι) bzw Axiome (4ξι)ματα)25 alsunmittelbare Voraussetzungen eines Beweises ohne die kein Ler-nen moumlglich ist (In An Post 71ndash3 2233f) und diese beiden bil-den schon fuumlr Aristoteles die beiden Prinzipien einer Wissenschaft(Arist An post 110 76a37ndashb2) Dabei laumlszligt sich zeigen daszlig fuumlrThemistios ebenso wie fuumlr Alexander die intelligible Form das eigentliche Aumlquivalent fuumlr das Prinzip ist

So fuumlhrt er zur Erklaumlrung des Begriffs bdquoAxiomldquo die Defini tionTheophrasts an ein Axiom sei bdquoeine Meinung die entweder bei Be-griffen gleicher Gattung (ν το2ς (μογενσιν) z B wenn Gleichesvom Gleichen [scil abgezogen wird bleibt Gleiches erhalten] oderschlechthin bei allen gilt wie daszlig es entweder die Affirmation oderdie Negation gibtldquo d i der Satz vom ausgeschlossenen Drittenwobei der Ausdruck bdquogemeinsame Gedankenldquo im eigentlichen Sin-ne von der zweiten Bedeutung gelte und von da auf die erste uumlber-gegangen sei (Them In An Post 73ndash5)26 Das Axiom in diesen

191Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

25) Seit Euklid werden die mathematischen Axiome als κοινα ννοιαι be-zeichnet In der Stoa bezeichnen κοινα ννοιαι Ideen oder Begriffe die allen Men-schen vor jeder Erfahrung innewohnen und notwendige Bedingung fuumlr jede Erfah-rung sind (Chrysipp SVF II 154) Spaumltestens seit den Aristoteles-Kommentatorenwerden die κοινα ννοιαι aumlquivalent zu dem Aristotelischen Ausdruck 4ξι)ματαgebraucht (z B Alex In Top 18a20f In Met 317a34f Philop In An Pr 30619fIn An Post 3410)

26) Themistios hat in einer Paraphrase zur Topik von der nur Zeugnisse bei Boethius (vgl De diff top II 1186Cndash1194B) und Averroes erhalten sind sogardie Topoi der Topik mit den Aristotelischen Axiomen identifiziert (vgl S EbbesenCommentators and Commentaries on Aristotlersquos Sophistici Elenchi A Study ofPost-Aristotelian Ancient and Medieval Writings on Fallacies vol IndashIII [CLCAGVII] Leiden 1981 106ndash119)

beiden Bedeutungen haumlngt nun sachlich von den Begriffen ab bdquoDiePrinzipien des Beweises sind in der Tat keine Beweise sondernselbstevidente unmittelbare Praumlmissen (προτσεις αltτθενναργε2ς τε κα 7μεσοι) deren Prinzip wiederum der Intellekt istmit dem wir die Begriffe aufspuumlren (τοDς Cρους θηρεομεν) auswelchen die Axiome zusammengesetzt sindldquo (97ndash10) Die Axiomesind λγοι die sich aus formallogischen Begriffen wie GleichheitAffirmation Negation o auml zusammensetzen welche wiederumeine logische Gesetzmaumlszligigkeit bestimmen z B daszlig etwas nichtzugleich bejaht und verneint werden kann In konkreten Argu-mentationen werden die Axiome auf die eigentuumlmlichen Gegen-staumlnde einer speziellen Wissenschaft angewandt und die variablenBegriffe durch die jeweiligen eigentuumlmlichen Begriffe dieser Wis-senschaft ersetzt (2424ndash28) Das Denken des Intellekts der in denAxiomen die ihnen zugrundeliegenden formallogischen Begriffeoder die Begriffe einer bestimmten Wissenschaft erkennt fuumlhrtalso letztlich auf die immaterielle intelligible Form die dem Ge-genstand einer Wissenschaft innewohnt Dabei ndash und das ist eineklare anti-platonische Position27 ndash ist die jeweils zugrundeliegendeGattung nur ein Gedanke ohne reale Existenz der aufgrund derAumlhnlichkeit der Individuen gebildet wurde waumlhrend allein derArtbegriff das Eidos das tatsaumlchliche Wesen und die Form derDinge ausmacht (In De an 332ndash35)

Eine weitere Uumlbereinstimmung mit Alexander ist die Anwen-dung verschiedener lebensgeschichtlicher Entwicklungsstufen aufdie verschiedenen Intellektstufen Fuumlr Alexander haben den poten-tiellen Intellekt alle Menschen von Geburt an den habituellen Intellekt erwirbt hingegen nur der bdquotreffliche Menschldquo (σπουδα2ος)durch Unterricht und Uumlbung indem er zunaumlchst den an kontin-genten Gegenstaumlnden des praktischen Lebens geschulten Intellekt(πρακτικς κα δοξαστικς νος) und spaumlter den fuumlr die notwendi-gen Gegenstaumlnde der Wissenschaft zustaumlndigen theoretischen In-tellekt ausbildet (Alex De an 8120ndash823) Mit der Entwicklungder intellektuellen Faumlhigkeiten vom Kind zum Erwachsenen vompraktischen zum theoretischen Interesse geht fuumlr Alexander die Be-griffsbildung einher das allmaumlhliche induktive Fortschreiten vomEinzelfall zum Allgemeinbegriff Auch Themistios behauptet daszlig

192 Michae l Schramm

27) Darauf hat R Sorabji hingewiesen vgl Todd 1996 2 Anm 12

schon der kindliche Intellekt in den Wahrnehmungen bzw Phan-tasmata Aumlhnlichkeiten und Unterschiede registriert und danach all-maumlhlich sein Wissen aufbaut das er immer weiter vervollkommnenkann (Them In De an 959ndash21) Er ist damit die Vorstufe zur Ent-wicklung des bdquoerworbenenldquo Intellekts der die Begriffe besitzt

In seiner Analytica posteriora-Paraphrase betont Themistiosdaszlig der Prozeszlig der begrifflichen Verallgemeinerung Zeit braucht(In An Post 6421ndash24) und mit der Entwicklung des Menschenvoranschreitet bdquoWaumlhrend wir Fortschritte machen waumlchst und gedeiht der Intellekt immer mit uns mit (συναυξνεται [ ] κασυνεπιδδωσι) und zwar zuerst im Hinblick auf die einfachen Setzungen (θσεις) der nicht-zusammengesetzten einfachsten Bestandteile der Sprache die wir Begriffe (Cρους) nennen und aufdie einfachen Vorstellungen (4ντιλ8ψεις)ldquo (6515ndash18) EinfacheBegriffe wie bdquoMenschldquo oder bdquoweiszligldquo denken und sagen schon dieKinder wenn sie Sprechen und Denken (λγος) lernen (18ndash20) Beifortschreitender Sprach- und Denkentwicklung tritt die Faumlhigkeithinzu aus den einfachen Begriffen und Vorstellungen Aussagen zubilden und Fragen nach dem Wesen der Dinge zu stellen etwa wasder Mensch ist (20f) Auf einer noch houmlheren Entwicklungsstufewenn eine houmlhere Faumlhigkeit zum Denken des Allgemeinen ausge-bildet ist erlangt der menschliche Intellekt schlieszliglich seine volleDenkfaumlhigkeit (λογικ6 ξις) und damit sein eigentliches Wesen alsvernunftbegabtes Lebewesen (21ndash24) Wenn der Intellekt in dieseseine Vollendungsstufe gelangt ist und die zweite Potentialitaumlt odererste Aktualitaumlt erreicht hat besitzt er die Kraft zur eigenen vonaumluszligerer Anregung unabhaumlngigen Taumltigkeit (24ndash28) d h die zwei-te Aktualitaumlt des Denkens Zusammenfassend gesagt kann der Intellekt zuerst nur Namen verwenden und die mit den Namen gemeinten Dinge denken diese kann er dann diskursiv d h in Zusammensetzungen und Trennungen denken und schlieszliglich in-dem er gewisse Urteile in ihren begrifflichen Konstituentien denktdie allgemeinen Begriffe in sich festhalten (6528ndash663)

Wie Alexander koppelt auch Themistios den fortschreitendenErkenntnisweg vom Einzelnen zum Allgemeinen an die ontogene-tische Entwicklung des Menschen vom Kind zum ErwachsenenEin bezeichnender Unterschied zu Alexander duumlrfte aber darin bestehen daszlig Themistios den potentiellen Intellekt in gewisserWeise mit dem fruumlhkindlichen Spracherwerb identifiziert und demVerstehen der Namensbedeutung eine einfache intellektuelle Ein-

193Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

sicht in das Wesen der Dinge gleichstellt Er koumlnnte sich dafuumlr aufAristoteles berufen fuumlr den das Wissen um die Bedeutung derWorte eine notwendige Voraussetzung jeden Wissens uumlberhauptist insbesondere bei den Prinzipien einer Wissenschaft (Arist Anpost 11 71a12f 10 76a32f) Wenn die einfache noetische Ein-sicht in das Wesen der Dinge erst nach einem Durchgang durch dasdiskursive Denken das stets in Zusammensetzungen und Tren-nungen einfacher Begriffe operiert als dessen Vollendung mit demvollen Begriff erreicht ist dann hat nach Themistios der kindlicheIntellekt mit dem einfachen Sprachgebrauch bereits einen Vor-Be-griff des Wesens der Dinge erworben Der Uumlbergang vom potenti-ellen zum aktuellen Intellekt ist damit nach der De anima-Para-phrase einerseits der Uumlbergang vom individuellen zum allgemeinenBegriff andererseits nach der Analytica posteriora-Paraphrase derUumlbergang vom einzelnen Wort bzw Vor-Begriff zum wissen-schaftlichen Begriff der ein systematisches Wissen um die Verbin-dungen mit den anderen Begriffen impliziert

Daher bezeichnet Themistios den potentiellen Intellekt auchals bdquoVorlaumlufer (πρδρομος) des aktiven Intellektsldquo vergleichbardem Verhaumlltnis der Strahlen der Sonne zum Licht oder der Bluumltezur Frucht (Them In De an 10530ndash32) Der potentielle Intellektist fuumlr den aktiven Intellekt zugleich Materie und Vorlaumlufer in derSeele indem er diese auf das Denken des aktiven Intellekts vorbe-reitet Der potentielle Intellekt wird durch den aktuellen Intellektnur vollendet (9829f) indem dieser wie das Licht im Hinblick aufdas moumlgliche Sehen und die moumlglichen Farben 1) den potentiellenIntellekt zu einem aktuellen Intellekt und 2) die potentiell gedach-ten Inhalte das sind die immateriellen Formen bzw die aus denEinzelwahrnehmungen gebildeten allgemeinen Begriffe zu aktuellgedachten macht (9835ndash994) Der potentielle Intellekt ist damitein bdquoSchatzhausldquo oder eine bdquoVielheit an Gedankenldquo (θησαυρςbzw πλθος τEν νοημτων) und als solcher enthaumllt er die aus der Wahrnehmung und der Phantasie gewonnenen in der Erinne-rung bewahrten Eindruumlcke (τποι) bdquowie eine Materieldquo (σπερ Fλη)(6ndash8 21f) Dem potentiellen Intellekt liegen die Phantasmata alsMaterie zugrunde (10030) wie dieser wiederum fuumlr den aktivenIntellekt als Materie dient Er selbst enthaumllt die Gedanken als indi-viduelle Begriffe oder Vor-Begriffe die erst durch die Aktualitaumltdes aktiven Intellekts als allgemeine Begriffe gedacht werden Sokann der potentielle Intellekt an sich selbst auch nicht diskursiv

194 Michae l Schramm

denken dh er kann nicht die immateriellen Formen bzw Begrif-fe voneinander unterscheiden (διακρ2ναι) von einem zum andernuumlbergehen (μετιναι) sie verbinden (συντιθναι) oder trennen(διαιρε2ν) (995f) Erst wenn der aktive Intellekt die Materie derim potentiellen Intellekt enthaltenen Gedanken uumlbernimmt undder potentielle Intellekt auf diese Weise mit dem aktiven eins wirdwird er auch faumlhig die Taumltigkeiten des diskursiven Denkens aus-zufuumlhren (8ndash10)

Ein Unterschied zu Alexander wie auch zu Aristoteles bestehtdarin daszlig Themistios die Phantasmata zur Materie fuumlr den poten-tiellen Intellekt macht (10030) Wie die Wahrnehmung nicht ohneWahrnehmungsgegenstaumlnde aktualisiert wird so auch nicht derpotentielle Intellekt ohne Phantasmata (11318ndash20 mit 9833ndash35)Zwar betont Aristoteles mehrmals daszlig die (dianoetische) Seeleniemals ohne Phantasien denkt die ihr wie Wahrnehmungen zu-kommen (Arist De an 37 431a14ndash17) bzw daszlig sie die intelli-giblen Formen in den Phantasien denkt (431b2 8 432a3ndash5) Dochnirgendwo laumlszligt sich aus Aristoteles ableiten daszlig es der potentielleIntellekt ist der in Phantasmata denkt Der Grund fuumlr diese Zu-ordnung ist Themistiosrsquo Konzeption des potentiellen Intellekts Erist nicht wie bei Alexander reine Potentialitaumlt und eine Dispositionzur Aufnahme intelligibler Formen sondern selbst schon aktivetwa indem durch ihn bereits die Kinder Aumlhnlichkeiten und Un-terschiede in den Sinneseindruumlcken sehen und Vor-Begriffe bildenoder indem sie die Worte ihres gewoumlhnlichen Sprachgebrauchs vongewissen Vorstellungen der Phantasie begleiten lassen Der aktuel-le Intellekt verallgemeinert dann nur was im potentiellen Intellektals seinem Vorlaumlufer schon enthalten war Wenn sich in der Phan-tasie aus vielen Sinneseindruumlcken ein Bild einer Sache oder Qualitaumlteinstellt enthaumllt der potentielle Intellekt davon einen individuellenBegriff oder einen den Vorstellungen zugeordneten Vor-Begriff(bdquodieses Weiszligeldquo bdquoMenschldquo) den der aktuelle Intellekt allgemeinoder in seinem Wesen denkt (bdquoweiszligldquo Wesen von bdquoMenschldquo) We-gen dieser Zusammengehoumlrigkeit des individuellen und des all -gemeinen Begriffs ist auch der potentielle Intellekt nach dem Toddes Koumlrpers dauerhaft mit dem aktiven Intellekt verbunden undgenauso vom Koumlrper abgetrennt (Them In De an 10529f) wo-bei der aktive Intellekt bdquomehrldquo (μGλλον) abgetrennt ist als der potentielle (10534ndash10614 10832ndash34) Dieses bdquomehrldquo bezieht sichlediglich auf die Universalitaumlt des aktiven Intellekts die die Indivi-

195Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

dualitaumlt des potentiellen Intellekts mitumfaszligt Dieser ist daherauch bdquomehrldquo mit der menschlichen Seele bdquoverwachsenldquo (συμφυ8ς)als jener (9834) weil er zeitlich fruumlher in uns wirkt und ontolo-gisch von geringerem Rang ist (1069ndash11) Die Unvergaumlnglichkeitdieses Intellekts beruht auf einer (Fehl-)Deutung von De an 34wo Aristoteles den νος bdquoabgetrenntldquo (χωριστς) nennt Er meintden νος als solchen aber Theophrast und Themistios nehmen andaszlig sich bereits 34 ausschlieszliglich auf den δυνμει νος bezieht

Ebenso wie fuumlr Alexander hat Erkenntnis fuumlr Themistios zweiQuellen die Wahrnehmung die in aumluszligeren Sinneseindruumlcken dieintelligiblen Formen in einer individuellen Materie wahrnimmtund den Intellekt der nach einer gewissen Entwicklung des Spre-chens und Denkens die Allgemeinheit und Einheit der intelligiblenForm in der Vielheit der Sinneseindruumlcke herausstellt Die An -nahme eines angeborenen Ideenwissens ist fuumlr Themistios offenbarnicht noumltig da der Intellekt die Gegenstaumlnde seines Denkens ausder Wahrnehmung und aus dem Spracherwerb erhaumllt Angeborenist allerdings die menschliche Befaumlhigung zur Sprache und zu kon-zeptionellem Denken die ein implizites Wissen um formale Denk-prinzipien wie etwa den Satz vom Widerspruch mitumfaszligt Da-durch ist es moumlglich aus den einfachen Anfangsgruumlnden der erstenVorstellungen und durch das Erlernen der Worte die Einsicht indas Wesen der Dinge und ein zusammenhaumlngendes wissenschaft -liches Wissen zu entwickeln

3 Einheit und Vielheit des νοῦς ποιητικός

Einen offenkundigen Bezug auf Plotin nimmt Themistiosmit der Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts denn wenn er sagt daszlig es schoumlner sei die Frage zu stellenob alle Intellekte einer seien als die ob alle Seelen eine seien(10414ndash16) nimmt er woumlrtlich die Uumlberschrift von Plotins En-neade 49 Περ το ε= πGσαι α5 ψυχα μα wieder auf28 Themisti-os ist der erste der Kommentatoren der diese fuumlr Plotin typischeFrage nach dem Verhaumlltnis von Einheit und Vielheit innerhalb einer Hypostase explizit auf den aktiven Intellekt uumlbertraumlgt und

196 Michae l Schramm

28) Vgl Balleacuteriaux 1989 218

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Themistios deutet die fortschreitende Verallgemeinerung vonder Wahrnehmung zum Prinzip in seiner Analytica posteriora-Pa-raphrase nicht wie Alexander explizit als Herausheben einer intel-ligiblen Form aus einer Materie vermutlich weil Aristoteles selbstin den Analytica posteriora die Form-Materie-Unterscheidungnicht anwendet In seiner De anima-Paraphrase hingegen unter-scheidet er zwischen Formen in der Materie (νυλα ε9δη) und im-materiellen Formen (7υλα ε9δη) zu denen man gelangt indem mandie intelligible Form von der Materie bdquoabtrenntldquo (χωρζων) (In Dean 1156f) Die Objekte des Intellekts sind schon in der Analyti-ca posteriora-Paraphrase die Prinzipien das sind die ersten Begrif-fe bzw Definitionen einer Wissenschaft (Cροι) und die bdquogemein -samen Gedankenldquo (κοινα ννοιαι) bzw Axiome (4ξι)ματα)25 alsunmittelbare Voraussetzungen eines Beweises ohne die kein Ler-nen moumlglich ist (In An Post 71ndash3 2233f) und diese beiden bil-den schon fuumlr Aristoteles die beiden Prinzipien einer Wissenschaft(Arist An post 110 76a37ndashb2) Dabei laumlszligt sich zeigen daszlig fuumlrThemistios ebenso wie fuumlr Alexander die intelligible Form das eigentliche Aumlquivalent fuumlr das Prinzip ist

So fuumlhrt er zur Erklaumlrung des Begriffs bdquoAxiomldquo die Defini tionTheophrasts an ein Axiom sei bdquoeine Meinung die entweder bei Be-griffen gleicher Gattung (ν το2ς (μογενσιν) z B wenn Gleichesvom Gleichen [scil abgezogen wird bleibt Gleiches erhalten] oderschlechthin bei allen gilt wie daszlig es entweder die Affirmation oderdie Negation gibtldquo d i der Satz vom ausgeschlossenen Drittenwobei der Ausdruck bdquogemeinsame Gedankenldquo im eigentlichen Sin-ne von der zweiten Bedeutung gelte und von da auf die erste uumlber-gegangen sei (Them In An Post 73ndash5)26 Das Axiom in diesen

191Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

25) Seit Euklid werden die mathematischen Axiome als κοινα ννοιαι be-zeichnet In der Stoa bezeichnen κοινα ννοιαι Ideen oder Begriffe die allen Men-schen vor jeder Erfahrung innewohnen und notwendige Bedingung fuumlr jede Erfah-rung sind (Chrysipp SVF II 154) Spaumltestens seit den Aristoteles-Kommentatorenwerden die κοινα ννοιαι aumlquivalent zu dem Aristotelischen Ausdruck 4ξι)ματαgebraucht (z B Alex In Top 18a20f In Met 317a34f Philop In An Pr 30619fIn An Post 3410)

26) Themistios hat in einer Paraphrase zur Topik von der nur Zeugnisse bei Boethius (vgl De diff top II 1186Cndash1194B) und Averroes erhalten sind sogardie Topoi der Topik mit den Aristotelischen Axiomen identifiziert (vgl S EbbesenCommentators and Commentaries on Aristotlersquos Sophistici Elenchi A Study ofPost-Aristotelian Ancient and Medieval Writings on Fallacies vol IndashIII [CLCAGVII] Leiden 1981 106ndash119)

beiden Bedeutungen haumlngt nun sachlich von den Begriffen ab bdquoDiePrinzipien des Beweises sind in der Tat keine Beweise sondernselbstevidente unmittelbare Praumlmissen (προτσεις αltτθενναργε2ς τε κα 7μεσοι) deren Prinzip wiederum der Intellekt istmit dem wir die Begriffe aufspuumlren (τοDς Cρους θηρεομεν) auswelchen die Axiome zusammengesetzt sindldquo (97ndash10) Die Axiomesind λγοι die sich aus formallogischen Begriffen wie GleichheitAffirmation Negation o auml zusammensetzen welche wiederumeine logische Gesetzmaumlszligigkeit bestimmen z B daszlig etwas nichtzugleich bejaht und verneint werden kann In konkreten Argu-mentationen werden die Axiome auf die eigentuumlmlichen Gegen-staumlnde einer speziellen Wissenschaft angewandt und die variablenBegriffe durch die jeweiligen eigentuumlmlichen Begriffe dieser Wis-senschaft ersetzt (2424ndash28) Das Denken des Intellekts der in denAxiomen die ihnen zugrundeliegenden formallogischen Begriffeoder die Begriffe einer bestimmten Wissenschaft erkennt fuumlhrtalso letztlich auf die immaterielle intelligible Form die dem Ge-genstand einer Wissenschaft innewohnt Dabei ndash und das ist eineklare anti-platonische Position27 ndash ist die jeweils zugrundeliegendeGattung nur ein Gedanke ohne reale Existenz der aufgrund derAumlhnlichkeit der Individuen gebildet wurde waumlhrend allein derArtbegriff das Eidos das tatsaumlchliche Wesen und die Form derDinge ausmacht (In De an 332ndash35)

Eine weitere Uumlbereinstimmung mit Alexander ist die Anwen-dung verschiedener lebensgeschichtlicher Entwicklungsstufen aufdie verschiedenen Intellektstufen Fuumlr Alexander haben den poten-tiellen Intellekt alle Menschen von Geburt an den habituellen Intellekt erwirbt hingegen nur der bdquotreffliche Menschldquo (σπουδα2ος)durch Unterricht und Uumlbung indem er zunaumlchst den an kontin-genten Gegenstaumlnden des praktischen Lebens geschulten Intellekt(πρακτικς κα δοξαστικς νος) und spaumlter den fuumlr die notwendi-gen Gegenstaumlnde der Wissenschaft zustaumlndigen theoretischen In-tellekt ausbildet (Alex De an 8120ndash823) Mit der Entwicklungder intellektuellen Faumlhigkeiten vom Kind zum Erwachsenen vompraktischen zum theoretischen Interesse geht fuumlr Alexander die Be-griffsbildung einher das allmaumlhliche induktive Fortschreiten vomEinzelfall zum Allgemeinbegriff Auch Themistios behauptet daszlig

192 Michae l Schramm

27) Darauf hat R Sorabji hingewiesen vgl Todd 1996 2 Anm 12

schon der kindliche Intellekt in den Wahrnehmungen bzw Phan-tasmata Aumlhnlichkeiten und Unterschiede registriert und danach all-maumlhlich sein Wissen aufbaut das er immer weiter vervollkommnenkann (Them In De an 959ndash21) Er ist damit die Vorstufe zur Ent-wicklung des bdquoerworbenenldquo Intellekts der die Begriffe besitzt

In seiner Analytica posteriora-Paraphrase betont Themistiosdaszlig der Prozeszlig der begrifflichen Verallgemeinerung Zeit braucht(In An Post 6421ndash24) und mit der Entwicklung des Menschenvoranschreitet bdquoWaumlhrend wir Fortschritte machen waumlchst und gedeiht der Intellekt immer mit uns mit (συναυξνεται [ ] κασυνεπιδδωσι) und zwar zuerst im Hinblick auf die einfachen Setzungen (θσεις) der nicht-zusammengesetzten einfachsten Bestandteile der Sprache die wir Begriffe (Cρους) nennen und aufdie einfachen Vorstellungen (4ντιλ8ψεις)ldquo (6515ndash18) EinfacheBegriffe wie bdquoMenschldquo oder bdquoweiszligldquo denken und sagen schon dieKinder wenn sie Sprechen und Denken (λγος) lernen (18ndash20) Beifortschreitender Sprach- und Denkentwicklung tritt die Faumlhigkeithinzu aus den einfachen Begriffen und Vorstellungen Aussagen zubilden und Fragen nach dem Wesen der Dinge zu stellen etwa wasder Mensch ist (20f) Auf einer noch houmlheren Entwicklungsstufewenn eine houmlhere Faumlhigkeit zum Denken des Allgemeinen ausge-bildet ist erlangt der menschliche Intellekt schlieszliglich seine volleDenkfaumlhigkeit (λογικ6 ξις) und damit sein eigentliches Wesen alsvernunftbegabtes Lebewesen (21ndash24) Wenn der Intellekt in dieseseine Vollendungsstufe gelangt ist und die zweite Potentialitaumlt odererste Aktualitaumlt erreicht hat besitzt er die Kraft zur eigenen vonaumluszligerer Anregung unabhaumlngigen Taumltigkeit (24ndash28) d h die zwei-te Aktualitaumlt des Denkens Zusammenfassend gesagt kann der Intellekt zuerst nur Namen verwenden und die mit den Namen gemeinten Dinge denken diese kann er dann diskursiv d h in Zusammensetzungen und Trennungen denken und schlieszliglich in-dem er gewisse Urteile in ihren begrifflichen Konstituentien denktdie allgemeinen Begriffe in sich festhalten (6528ndash663)

Wie Alexander koppelt auch Themistios den fortschreitendenErkenntnisweg vom Einzelnen zum Allgemeinen an die ontogene-tische Entwicklung des Menschen vom Kind zum ErwachsenenEin bezeichnender Unterschied zu Alexander duumlrfte aber darin bestehen daszlig Themistios den potentiellen Intellekt in gewisserWeise mit dem fruumlhkindlichen Spracherwerb identifiziert und demVerstehen der Namensbedeutung eine einfache intellektuelle Ein-

193Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

sicht in das Wesen der Dinge gleichstellt Er koumlnnte sich dafuumlr aufAristoteles berufen fuumlr den das Wissen um die Bedeutung derWorte eine notwendige Voraussetzung jeden Wissens uumlberhauptist insbesondere bei den Prinzipien einer Wissenschaft (Arist Anpost 11 71a12f 10 76a32f) Wenn die einfache noetische Ein-sicht in das Wesen der Dinge erst nach einem Durchgang durch dasdiskursive Denken das stets in Zusammensetzungen und Tren-nungen einfacher Begriffe operiert als dessen Vollendung mit demvollen Begriff erreicht ist dann hat nach Themistios der kindlicheIntellekt mit dem einfachen Sprachgebrauch bereits einen Vor-Be-griff des Wesens der Dinge erworben Der Uumlbergang vom potenti-ellen zum aktuellen Intellekt ist damit nach der De anima-Para-phrase einerseits der Uumlbergang vom individuellen zum allgemeinenBegriff andererseits nach der Analytica posteriora-Paraphrase derUumlbergang vom einzelnen Wort bzw Vor-Begriff zum wissen-schaftlichen Begriff der ein systematisches Wissen um die Verbin-dungen mit den anderen Begriffen impliziert

Daher bezeichnet Themistios den potentiellen Intellekt auchals bdquoVorlaumlufer (πρδρομος) des aktiven Intellektsldquo vergleichbardem Verhaumlltnis der Strahlen der Sonne zum Licht oder der Bluumltezur Frucht (Them In De an 10530ndash32) Der potentielle Intellektist fuumlr den aktiven Intellekt zugleich Materie und Vorlaumlufer in derSeele indem er diese auf das Denken des aktiven Intellekts vorbe-reitet Der potentielle Intellekt wird durch den aktuellen Intellektnur vollendet (9829f) indem dieser wie das Licht im Hinblick aufdas moumlgliche Sehen und die moumlglichen Farben 1) den potentiellenIntellekt zu einem aktuellen Intellekt und 2) die potentiell gedach-ten Inhalte das sind die immateriellen Formen bzw die aus denEinzelwahrnehmungen gebildeten allgemeinen Begriffe zu aktuellgedachten macht (9835ndash994) Der potentielle Intellekt ist damitein bdquoSchatzhausldquo oder eine bdquoVielheit an Gedankenldquo (θησαυρςbzw πλθος τEν νοημτων) und als solcher enthaumllt er die aus der Wahrnehmung und der Phantasie gewonnenen in der Erinne-rung bewahrten Eindruumlcke (τποι) bdquowie eine Materieldquo (σπερ Fλη)(6ndash8 21f) Dem potentiellen Intellekt liegen die Phantasmata alsMaterie zugrunde (10030) wie dieser wiederum fuumlr den aktivenIntellekt als Materie dient Er selbst enthaumllt die Gedanken als indi-viduelle Begriffe oder Vor-Begriffe die erst durch die Aktualitaumltdes aktiven Intellekts als allgemeine Begriffe gedacht werden Sokann der potentielle Intellekt an sich selbst auch nicht diskursiv

194 Michae l Schramm

denken dh er kann nicht die immateriellen Formen bzw Begrif-fe voneinander unterscheiden (διακρ2ναι) von einem zum andernuumlbergehen (μετιναι) sie verbinden (συντιθναι) oder trennen(διαιρε2ν) (995f) Erst wenn der aktive Intellekt die Materie derim potentiellen Intellekt enthaltenen Gedanken uumlbernimmt undder potentielle Intellekt auf diese Weise mit dem aktiven eins wirdwird er auch faumlhig die Taumltigkeiten des diskursiven Denkens aus-zufuumlhren (8ndash10)

Ein Unterschied zu Alexander wie auch zu Aristoteles bestehtdarin daszlig Themistios die Phantasmata zur Materie fuumlr den poten-tiellen Intellekt macht (10030) Wie die Wahrnehmung nicht ohneWahrnehmungsgegenstaumlnde aktualisiert wird so auch nicht derpotentielle Intellekt ohne Phantasmata (11318ndash20 mit 9833ndash35)Zwar betont Aristoteles mehrmals daszlig die (dianoetische) Seeleniemals ohne Phantasien denkt die ihr wie Wahrnehmungen zu-kommen (Arist De an 37 431a14ndash17) bzw daszlig sie die intelli-giblen Formen in den Phantasien denkt (431b2 8 432a3ndash5) Dochnirgendwo laumlszligt sich aus Aristoteles ableiten daszlig es der potentielleIntellekt ist der in Phantasmata denkt Der Grund fuumlr diese Zu-ordnung ist Themistiosrsquo Konzeption des potentiellen Intellekts Erist nicht wie bei Alexander reine Potentialitaumlt und eine Dispositionzur Aufnahme intelligibler Formen sondern selbst schon aktivetwa indem durch ihn bereits die Kinder Aumlhnlichkeiten und Un-terschiede in den Sinneseindruumlcken sehen und Vor-Begriffe bildenoder indem sie die Worte ihres gewoumlhnlichen Sprachgebrauchs vongewissen Vorstellungen der Phantasie begleiten lassen Der aktuel-le Intellekt verallgemeinert dann nur was im potentiellen Intellektals seinem Vorlaumlufer schon enthalten war Wenn sich in der Phan-tasie aus vielen Sinneseindruumlcken ein Bild einer Sache oder Qualitaumlteinstellt enthaumllt der potentielle Intellekt davon einen individuellenBegriff oder einen den Vorstellungen zugeordneten Vor-Begriff(bdquodieses Weiszligeldquo bdquoMenschldquo) den der aktuelle Intellekt allgemeinoder in seinem Wesen denkt (bdquoweiszligldquo Wesen von bdquoMenschldquo) We-gen dieser Zusammengehoumlrigkeit des individuellen und des all -gemeinen Begriffs ist auch der potentielle Intellekt nach dem Toddes Koumlrpers dauerhaft mit dem aktiven Intellekt verbunden undgenauso vom Koumlrper abgetrennt (Them In De an 10529f) wo-bei der aktive Intellekt bdquomehrldquo (μGλλον) abgetrennt ist als der potentielle (10534ndash10614 10832ndash34) Dieses bdquomehrldquo bezieht sichlediglich auf die Universalitaumlt des aktiven Intellekts die die Indivi-

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dualitaumlt des potentiellen Intellekts mitumfaszligt Dieser ist daherauch bdquomehrldquo mit der menschlichen Seele bdquoverwachsenldquo (συμφυ8ς)als jener (9834) weil er zeitlich fruumlher in uns wirkt und ontolo-gisch von geringerem Rang ist (1069ndash11) Die Unvergaumlnglichkeitdieses Intellekts beruht auf einer (Fehl-)Deutung von De an 34wo Aristoteles den νος bdquoabgetrenntldquo (χωριστς) nennt Er meintden νος als solchen aber Theophrast und Themistios nehmen andaszlig sich bereits 34 ausschlieszliglich auf den δυνμει νος bezieht

Ebenso wie fuumlr Alexander hat Erkenntnis fuumlr Themistios zweiQuellen die Wahrnehmung die in aumluszligeren Sinneseindruumlcken dieintelligiblen Formen in einer individuellen Materie wahrnimmtund den Intellekt der nach einer gewissen Entwicklung des Spre-chens und Denkens die Allgemeinheit und Einheit der intelligiblenForm in der Vielheit der Sinneseindruumlcke herausstellt Die An -nahme eines angeborenen Ideenwissens ist fuumlr Themistios offenbarnicht noumltig da der Intellekt die Gegenstaumlnde seines Denkens ausder Wahrnehmung und aus dem Spracherwerb erhaumllt Angeborenist allerdings die menschliche Befaumlhigung zur Sprache und zu kon-zeptionellem Denken die ein implizites Wissen um formale Denk-prinzipien wie etwa den Satz vom Widerspruch mitumfaszligt Da-durch ist es moumlglich aus den einfachen Anfangsgruumlnden der erstenVorstellungen und durch das Erlernen der Worte die Einsicht indas Wesen der Dinge und ein zusammenhaumlngendes wissenschaft -liches Wissen zu entwickeln

3 Einheit und Vielheit des νοῦς ποιητικός

Einen offenkundigen Bezug auf Plotin nimmt Themistiosmit der Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts denn wenn er sagt daszlig es schoumlner sei die Frage zu stellenob alle Intellekte einer seien als die ob alle Seelen eine seien(10414ndash16) nimmt er woumlrtlich die Uumlberschrift von Plotins En-neade 49 Περ το ε= πGσαι α5 ψυχα μα wieder auf28 Themisti-os ist der erste der Kommentatoren der diese fuumlr Plotin typischeFrage nach dem Verhaumlltnis von Einheit und Vielheit innerhalb einer Hypostase explizit auf den aktiven Intellekt uumlbertraumlgt und

196 Michae l Schramm

28) Vgl Balleacuteriaux 1989 218

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

beiden Bedeutungen haumlngt nun sachlich von den Begriffen ab bdquoDiePrinzipien des Beweises sind in der Tat keine Beweise sondernselbstevidente unmittelbare Praumlmissen (προτσεις αltτθενναργε2ς τε κα 7μεσοι) deren Prinzip wiederum der Intellekt istmit dem wir die Begriffe aufspuumlren (τοDς Cρους θηρεομεν) auswelchen die Axiome zusammengesetzt sindldquo (97ndash10) Die Axiomesind λγοι die sich aus formallogischen Begriffen wie GleichheitAffirmation Negation o auml zusammensetzen welche wiederumeine logische Gesetzmaumlszligigkeit bestimmen z B daszlig etwas nichtzugleich bejaht und verneint werden kann In konkreten Argu-mentationen werden die Axiome auf die eigentuumlmlichen Gegen-staumlnde einer speziellen Wissenschaft angewandt und die variablenBegriffe durch die jeweiligen eigentuumlmlichen Begriffe dieser Wis-senschaft ersetzt (2424ndash28) Das Denken des Intellekts der in denAxiomen die ihnen zugrundeliegenden formallogischen Begriffeoder die Begriffe einer bestimmten Wissenschaft erkennt fuumlhrtalso letztlich auf die immaterielle intelligible Form die dem Ge-genstand einer Wissenschaft innewohnt Dabei ndash und das ist eineklare anti-platonische Position27 ndash ist die jeweils zugrundeliegendeGattung nur ein Gedanke ohne reale Existenz der aufgrund derAumlhnlichkeit der Individuen gebildet wurde waumlhrend allein derArtbegriff das Eidos das tatsaumlchliche Wesen und die Form derDinge ausmacht (In De an 332ndash35)

Eine weitere Uumlbereinstimmung mit Alexander ist die Anwen-dung verschiedener lebensgeschichtlicher Entwicklungsstufen aufdie verschiedenen Intellektstufen Fuumlr Alexander haben den poten-tiellen Intellekt alle Menschen von Geburt an den habituellen Intellekt erwirbt hingegen nur der bdquotreffliche Menschldquo (σπουδα2ος)durch Unterricht und Uumlbung indem er zunaumlchst den an kontin-genten Gegenstaumlnden des praktischen Lebens geschulten Intellekt(πρακτικς κα δοξαστικς νος) und spaumlter den fuumlr die notwendi-gen Gegenstaumlnde der Wissenschaft zustaumlndigen theoretischen In-tellekt ausbildet (Alex De an 8120ndash823) Mit der Entwicklungder intellektuellen Faumlhigkeiten vom Kind zum Erwachsenen vompraktischen zum theoretischen Interesse geht fuumlr Alexander die Be-griffsbildung einher das allmaumlhliche induktive Fortschreiten vomEinzelfall zum Allgemeinbegriff Auch Themistios behauptet daszlig

192 Michae l Schramm

27) Darauf hat R Sorabji hingewiesen vgl Todd 1996 2 Anm 12

schon der kindliche Intellekt in den Wahrnehmungen bzw Phan-tasmata Aumlhnlichkeiten und Unterschiede registriert und danach all-maumlhlich sein Wissen aufbaut das er immer weiter vervollkommnenkann (Them In De an 959ndash21) Er ist damit die Vorstufe zur Ent-wicklung des bdquoerworbenenldquo Intellekts der die Begriffe besitzt

In seiner Analytica posteriora-Paraphrase betont Themistiosdaszlig der Prozeszlig der begrifflichen Verallgemeinerung Zeit braucht(In An Post 6421ndash24) und mit der Entwicklung des Menschenvoranschreitet bdquoWaumlhrend wir Fortschritte machen waumlchst und gedeiht der Intellekt immer mit uns mit (συναυξνεται [ ] κασυνεπιδδωσι) und zwar zuerst im Hinblick auf die einfachen Setzungen (θσεις) der nicht-zusammengesetzten einfachsten Bestandteile der Sprache die wir Begriffe (Cρους) nennen und aufdie einfachen Vorstellungen (4ντιλ8ψεις)ldquo (6515ndash18) EinfacheBegriffe wie bdquoMenschldquo oder bdquoweiszligldquo denken und sagen schon dieKinder wenn sie Sprechen und Denken (λγος) lernen (18ndash20) Beifortschreitender Sprach- und Denkentwicklung tritt die Faumlhigkeithinzu aus den einfachen Begriffen und Vorstellungen Aussagen zubilden und Fragen nach dem Wesen der Dinge zu stellen etwa wasder Mensch ist (20f) Auf einer noch houmlheren Entwicklungsstufewenn eine houmlhere Faumlhigkeit zum Denken des Allgemeinen ausge-bildet ist erlangt der menschliche Intellekt schlieszliglich seine volleDenkfaumlhigkeit (λογικ6 ξις) und damit sein eigentliches Wesen alsvernunftbegabtes Lebewesen (21ndash24) Wenn der Intellekt in dieseseine Vollendungsstufe gelangt ist und die zweite Potentialitaumlt odererste Aktualitaumlt erreicht hat besitzt er die Kraft zur eigenen vonaumluszligerer Anregung unabhaumlngigen Taumltigkeit (24ndash28) d h die zwei-te Aktualitaumlt des Denkens Zusammenfassend gesagt kann der Intellekt zuerst nur Namen verwenden und die mit den Namen gemeinten Dinge denken diese kann er dann diskursiv d h in Zusammensetzungen und Trennungen denken und schlieszliglich in-dem er gewisse Urteile in ihren begrifflichen Konstituentien denktdie allgemeinen Begriffe in sich festhalten (6528ndash663)

Wie Alexander koppelt auch Themistios den fortschreitendenErkenntnisweg vom Einzelnen zum Allgemeinen an die ontogene-tische Entwicklung des Menschen vom Kind zum ErwachsenenEin bezeichnender Unterschied zu Alexander duumlrfte aber darin bestehen daszlig Themistios den potentiellen Intellekt in gewisserWeise mit dem fruumlhkindlichen Spracherwerb identifiziert und demVerstehen der Namensbedeutung eine einfache intellektuelle Ein-

193Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

sicht in das Wesen der Dinge gleichstellt Er koumlnnte sich dafuumlr aufAristoteles berufen fuumlr den das Wissen um die Bedeutung derWorte eine notwendige Voraussetzung jeden Wissens uumlberhauptist insbesondere bei den Prinzipien einer Wissenschaft (Arist Anpost 11 71a12f 10 76a32f) Wenn die einfache noetische Ein-sicht in das Wesen der Dinge erst nach einem Durchgang durch dasdiskursive Denken das stets in Zusammensetzungen und Tren-nungen einfacher Begriffe operiert als dessen Vollendung mit demvollen Begriff erreicht ist dann hat nach Themistios der kindlicheIntellekt mit dem einfachen Sprachgebrauch bereits einen Vor-Be-griff des Wesens der Dinge erworben Der Uumlbergang vom potenti-ellen zum aktuellen Intellekt ist damit nach der De anima-Para-phrase einerseits der Uumlbergang vom individuellen zum allgemeinenBegriff andererseits nach der Analytica posteriora-Paraphrase derUumlbergang vom einzelnen Wort bzw Vor-Begriff zum wissen-schaftlichen Begriff der ein systematisches Wissen um die Verbin-dungen mit den anderen Begriffen impliziert

Daher bezeichnet Themistios den potentiellen Intellekt auchals bdquoVorlaumlufer (πρδρομος) des aktiven Intellektsldquo vergleichbardem Verhaumlltnis der Strahlen der Sonne zum Licht oder der Bluumltezur Frucht (Them In De an 10530ndash32) Der potentielle Intellektist fuumlr den aktiven Intellekt zugleich Materie und Vorlaumlufer in derSeele indem er diese auf das Denken des aktiven Intellekts vorbe-reitet Der potentielle Intellekt wird durch den aktuellen Intellektnur vollendet (9829f) indem dieser wie das Licht im Hinblick aufdas moumlgliche Sehen und die moumlglichen Farben 1) den potentiellenIntellekt zu einem aktuellen Intellekt und 2) die potentiell gedach-ten Inhalte das sind die immateriellen Formen bzw die aus denEinzelwahrnehmungen gebildeten allgemeinen Begriffe zu aktuellgedachten macht (9835ndash994) Der potentielle Intellekt ist damitein bdquoSchatzhausldquo oder eine bdquoVielheit an Gedankenldquo (θησαυρςbzw πλθος τEν νοημτων) und als solcher enthaumllt er die aus der Wahrnehmung und der Phantasie gewonnenen in der Erinne-rung bewahrten Eindruumlcke (τποι) bdquowie eine Materieldquo (σπερ Fλη)(6ndash8 21f) Dem potentiellen Intellekt liegen die Phantasmata alsMaterie zugrunde (10030) wie dieser wiederum fuumlr den aktivenIntellekt als Materie dient Er selbst enthaumllt die Gedanken als indi-viduelle Begriffe oder Vor-Begriffe die erst durch die Aktualitaumltdes aktiven Intellekts als allgemeine Begriffe gedacht werden Sokann der potentielle Intellekt an sich selbst auch nicht diskursiv

194 Michae l Schramm

denken dh er kann nicht die immateriellen Formen bzw Begrif-fe voneinander unterscheiden (διακρ2ναι) von einem zum andernuumlbergehen (μετιναι) sie verbinden (συντιθναι) oder trennen(διαιρε2ν) (995f) Erst wenn der aktive Intellekt die Materie derim potentiellen Intellekt enthaltenen Gedanken uumlbernimmt undder potentielle Intellekt auf diese Weise mit dem aktiven eins wirdwird er auch faumlhig die Taumltigkeiten des diskursiven Denkens aus-zufuumlhren (8ndash10)

Ein Unterschied zu Alexander wie auch zu Aristoteles bestehtdarin daszlig Themistios die Phantasmata zur Materie fuumlr den poten-tiellen Intellekt macht (10030) Wie die Wahrnehmung nicht ohneWahrnehmungsgegenstaumlnde aktualisiert wird so auch nicht derpotentielle Intellekt ohne Phantasmata (11318ndash20 mit 9833ndash35)Zwar betont Aristoteles mehrmals daszlig die (dianoetische) Seeleniemals ohne Phantasien denkt die ihr wie Wahrnehmungen zu-kommen (Arist De an 37 431a14ndash17) bzw daszlig sie die intelli-giblen Formen in den Phantasien denkt (431b2 8 432a3ndash5) Dochnirgendwo laumlszligt sich aus Aristoteles ableiten daszlig es der potentielleIntellekt ist der in Phantasmata denkt Der Grund fuumlr diese Zu-ordnung ist Themistiosrsquo Konzeption des potentiellen Intellekts Erist nicht wie bei Alexander reine Potentialitaumlt und eine Dispositionzur Aufnahme intelligibler Formen sondern selbst schon aktivetwa indem durch ihn bereits die Kinder Aumlhnlichkeiten und Un-terschiede in den Sinneseindruumlcken sehen und Vor-Begriffe bildenoder indem sie die Worte ihres gewoumlhnlichen Sprachgebrauchs vongewissen Vorstellungen der Phantasie begleiten lassen Der aktuel-le Intellekt verallgemeinert dann nur was im potentiellen Intellektals seinem Vorlaumlufer schon enthalten war Wenn sich in der Phan-tasie aus vielen Sinneseindruumlcken ein Bild einer Sache oder Qualitaumlteinstellt enthaumllt der potentielle Intellekt davon einen individuellenBegriff oder einen den Vorstellungen zugeordneten Vor-Begriff(bdquodieses Weiszligeldquo bdquoMenschldquo) den der aktuelle Intellekt allgemeinoder in seinem Wesen denkt (bdquoweiszligldquo Wesen von bdquoMenschldquo) We-gen dieser Zusammengehoumlrigkeit des individuellen und des all -gemeinen Begriffs ist auch der potentielle Intellekt nach dem Toddes Koumlrpers dauerhaft mit dem aktiven Intellekt verbunden undgenauso vom Koumlrper abgetrennt (Them In De an 10529f) wo-bei der aktive Intellekt bdquomehrldquo (μGλλον) abgetrennt ist als der potentielle (10534ndash10614 10832ndash34) Dieses bdquomehrldquo bezieht sichlediglich auf die Universalitaumlt des aktiven Intellekts die die Indivi-

195Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

dualitaumlt des potentiellen Intellekts mitumfaszligt Dieser ist daherauch bdquomehrldquo mit der menschlichen Seele bdquoverwachsenldquo (συμφυ8ς)als jener (9834) weil er zeitlich fruumlher in uns wirkt und ontolo-gisch von geringerem Rang ist (1069ndash11) Die Unvergaumlnglichkeitdieses Intellekts beruht auf einer (Fehl-)Deutung von De an 34wo Aristoteles den νος bdquoabgetrenntldquo (χωριστς) nennt Er meintden νος als solchen aber Theophrast und Themistios nehmen andaszlig sich bereits 34 ausschlieszliglich auf den δυνμει νος bezieht

Ebenso wie fuumlr Alexander hat Erkenntnis fuumlr Themistios zweiQuellen die Wahrnehmung die in aumluszligeren Sinneseindruumlcken dieintelligiblen Formen in einer individuellen Materie wahrnimmtund den Intellekt der nach einer gewissen Entwicklung des Spre-chens und Denkens die Allgemeinheit und Einheit der intelligiblenForm in der Vielheit der Sinneseindruumlcke herausstellt Die An -nahme eines angeborenen Ideenwissens ist fuumlr Themistios offenbarnicht noumltig da der Intellekt die Gegenstaumlnde seines Denkens ausder Wahrnehmung und aus dem Spracherwerb erhaumllt Angeborenist allerdings die menschliche Befaumlhigung zur Sprache und zu kon-zeptionellem Denken die ein implizites Wissen um formale Denk-prinzipien wie etwa den Satz vom Widerspruch mitumfaszligt Da-durch ist es moumlglich aus den einfachen Anfangsgruumlnden der erstenVorstellungen und durch das Erlernen der Worte die Einsicht indas Wesen der Dinge und ein zusammenhaumlngendes wissenschaft -liches Wissen zu entwickeln

3 Einheit und Vielheit des νοῦς ποιητικός

Einen offenkundigen Bezug auf Plotin nimmt Themistiosmit der Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts denn wenn er sagt daszlig es schoumlner sei die Frage zu stellenob alle Intellekte einer seien als die ob alle Seelen eine seien(10414ndash16) nimmt er woumlrtlich die Uumlberschrift von Plotins En-neade 49 Περ το ε= πGσαι α5 ψυχα μα wieder auf28 Themisti-os ist der erste der Kommentatoren der diese fuumlr Plotin typischeFrage nach dem Verhaumlltnis von Einheit und Vielheit innerhalb einer Hypostase explizit auf den aktiven Intellekt uumlbertraumlgt und

196 Michae l Schramm

28) Vgl Balleacuteriaux 1989 218

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

schon der kindliche Intellekt in den Wahrnehmungen bzw Phan-tasmata Aumlhnlichkeiten und Unterschiede registriert und danach all-maumlhlich sein Wissen aufbaut das er immer weiter vervollkommnenkann (Them In De an 959ndash21) Er ist damit die Vorstufe zur Ent-wicklung des bdquoerworbenenldquo Intellekts der die Begriffe besitzt

In seiner Analytica posteriora-Paraphrase betont Themistiosdaszlig der Prozeszlig der begrifflichen Verallgemeinerung Zeit braucht(In An Post 6421ndash24) und mit der Entwicklung des Menschenvoranschreitet bdquoWaumlhrend wir Fortschritte machen waumlchst und gedeiht der Intellekt immer mit uns mit (συναυξνεται [ ] κασυνεπιδδωσι) und zwar zuerst im Hinblick auf die einfachen Setzungen (θσεις) der nicht-zusammengesetzten einfachsten Bestandteile der Sprache die wir Begriffe (Cρους) nennen und aufdie einfachen Vorstellungen (4ντιλ8ψεις)ldquo (6515ndash18) EinfacheBegriffe wie bdquoMenschldquo oder bdquoweiszligldquo denken und sagen schon dieKinder wenn sie Sprechen und Denken (λγος) lernen (18ndash20) Beifortschreitender Sprach- und Denkentwicklung tritt die Faumlhigkeithinzu aus den einfachen Begriffen und Vorstellungen Aussagen zubilden und Fragen nach dem Wesen der Dinge zu stellen etwa wasder Mensch ist (20f) Auf einer noch houmlheren Entwicklungsstufewenn eine houmlhere Faumlhigkeit zum Denken des Allgemeinen ausge-bildet ist erlangt der menschliche Intellekt schlieszliglich seine volleDenkfaumlhigkeit (λογικ6 ξις) und damit sein eigentliches Wesen alsvernunftbegabtes Lebewesen (21ndash24) Wenn der Intellekt in dieseseine Vollendungsstufe gelangt ist und die zweite Potentialitaumlt odererste Aktualitaumlt erreicht hat besitzt er die Kraft zur eigenen vonaumluszligerer Anregung unabhaumlngigen Taumltigkeit (24ndash28) d h die zwei-te Aktualitaumlt des Denkens Zusammenfassend gesagt kann der Intellekt zuerst nur Namen verwenden und die mit den Namen gemeinten Dinge denken diese kann er dann diskursiv d h in Zusammensetzungen und Trennungen denken und schlieszliglich in-dem er gewisse Urteile in ihren begrifflichen Konstituentien denktdie allgemeinen Begriffe in sich festhalten (6528ndash663)

Wie Alexander koppelt auch Themistios den fortschreitendenErkenntnisweg vom Einzelnen zum Allgemeinen an die ontogene-tische Entwicklung des Menschen vom Kind zum ErwachsenenEin bezeichnender Unterschied zu Alexander duumlrfte aber darin bestehen daszlig Themistios den potentiellen Intellekt in gewisserWeise mit dem fruumlhkindlichen Spracherwerb identifiziert und demVerstehen der Namensbedeutung eine einfache intellektuelle Ein-

193Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

sicht in das Wesen der Dinge gleichstellt Er koumlnnte sich dafuumlr aufAristoteles berufen fuumlr den das Wissen um die Bedeutung derWorte eine notwendige Voraussetzung jeden Wissens uumlberhauptist insbesondere bei den Prinzipien einer Wissenschaft (Arist Anpost 11 71a12f 10 76a32f) Wenn die einfache noetische Ein-sicht in das Wesen der Dinge erst nach einem Durchgang durch dasdiskursive Denken das stets in Zusammensetzungen und Tren-nungen einfacher Begriffe operiert als dessen Vollendung mit demvollen Begriff erreicht ist dann hat nach Themistios der kindlicheIntellekt mit dem einfachen Sprachgebrauch bereits einen Vor-Be-griff des Wesens der Dinge erworben Der Uumlbergang vom potenti-ellen zum aktuellen Intellekt ist damit nach der De anima-Para-phrase einerseits der Uumlbergang vom individuellen zum allgemeinenBegriff andererseits nach der Analytica posteriora-Paraphrase derUumlbergang vom einzelnen Wort bzw Vor-Begriff zum wissen-schaftlichen Begriff der ein systematisches Wissen um die Verbin-dungen mit den anderen Begriffen impliziert

Daher bezeichnet Themistios den potentiellen Intellekt auchals bdquoVorlaumlufer (πρδρομος) des aktiven Intellektsldquo vergleichbardem Verhaumlltnis der Strahlen der Sonne zum Licht oder der Bluumltezur Frucht (Them In De an 10530ndash32) Der potentielle Intellektist fuumlr den aktiven Intellekt zugleich Materie und Vorlaumlufer in derSeele indem er diese auf das Denken des aktiven Intellekts vorbe-reitet Der potentielle Intellekt wird durch den aktuellen Intellektnur vollendet (9829f) indem dieser wie das Licht im Hinblick aufdas moumlgliche Sehen und die moumlglichen Farben 1) den potentiellenIntellekt zu einem aktuellen Intellekt und 2) die potentiell gedach-ten Inhalte das sind die immateriellen Formen bzw die aus denEinzelwahrnehmungen gebildeten allgemeinen Begriffe zu aktuellgedachten macht (9835ndash994) Der potentielle Intellekt ist damitein bdquoSchatzhausldquo oder eine bdquoVielheit an Gedankenldquo (θησαυρςbzw πλθος τEν νοημτων) und als solcher enthaumllt er die aus der Wahrnehmung und der Phantasie gewonnenen in der Erinne-rung bewahrten Eindruumlcke (τποι) bdquowie eine Materieldquo (σπερ Fλη)(6ndash8 21f) Dem potentiellen Intellekt liegen die Phantasmata alsMaterie zugrunde (10030) wie dieser wiederum fuumlr den aktivenIntellekt als Materie dient Er selbst enthaumllt die Gedanken als indi-viduelle Begriffe oder Vor-Begriffe die erst durch die Aktualitaumltdes aktiven Intellekts als allgemeine Begriffe gedacht werden Sokann der potentielle Intellekt an sich selbst auch nicht diskursiv

194 Michae l Schramm

denken dh er kann nicht die immateriellen Formen bzw Begrif-fe voneinander unterscheiden (διακρ2ναι) von einem zum andernuumlbergehen (μετιναι) sie verbinden (συντιθναι) oder trennen(διαιρε2ν) (995f) Erst wenn der aktive Intellekt die Materie derim potentiellen Intellekt enthaltenen Gedanken uumlbernimmt undder potentielle Intellekt auf diese Weise mit dem aktiven eins wirdwird er auch faumlhig die Taumltigkeiten des diskursiven Denkens aus-zufuumlhren (8ndash10)

Ein Unterschied zu Alexander wie auch zu Aristoteles bestehtdarin daszlig Themistios die Phantasmata zur Materie fuumlr den poten-tiellen Intellekt macht (10030) Wie die Wahrnehmung nicht ohneWahrnehmungsgegenstaumlnde aktualisiert wird so auch nicht derpotentielle Intellekt ohne Phantasmata (11318ndash20 mit 9833ndash35)Zwar betont Aristoteles mehrmals daszlig die (dianoetische) Seeleniemals ohne Phantasien denkt die ihr wie Wahrnehmungen zu-kommen (Arist De an 37 431a14ndash17) bzw daszlig sie die intelli-giblen Formen in den Phantasien denkt (431b2 8 432a3ndash5) Dochnirgendwo laumlszligt sich aus Aristoteles ableiten daszlig es der potentielleIntellekt ist der in Phantasmata denkt Der Grund fuumlr diese Zu-ordnung ist Themistiosrsquo Konzeption des potentiellen Intellekts Erist nicht wie bei Alexander reine Potentialitaumlt und eine Dispositionzur Aufnahme intelligibler Formen sondern selbst schon aktivetwa indem durch ihn bereits die Kinder Aumlhnlichkeiten und Un-terschiede in den Sinneseindruumlcken sehen und Vor-Begriffe bildenoder indem sie die Worte ihres gewoumlhnlichen Sprachgebrauchs vongewissen Vorstellungen der Phantasie begleiten lassen Der aktuel-le Intellekt verallgemeinert dann nur was im potentiellen Intellektals seinem Vorlaumlufer schon enthalten war Wenn sich in der Phan-tasie aus vielen Sinneseindruumlcken ein Bild einer Sache oder Qualitaumlteinstellt enthaumllt der potentielle Intellekt davon einen individuellenBegriff oder einen den Vorstellungen zugeordneten Vor-Begriff(bdquodieses Weiszligeldquo bdquoMenschldquo) den der aktuelle Intellekt allgemeinoder in seinem Wesen denkt (bdquoweiszligldquo Wesen von bdquoMenschldquo) We-gen dieser Zusammengehoumlrigkeit des individuellen und des all -gemeinen Begriffs ist auch der potentielle Intellekt nach dem Toddes Koumlrpers dauerhaft mit dem aktiven Intellekt verbunden undgenauso vom Koumlrper abgetrennt (Them In De an 10529f) wo-bei der aktive Intellekt bdquomehrldquo (μGλλον) abgetrennt ist als der potentielle (10534ndash10614 10832ndash34) Dieses bdquomehrldquo bezieht sichlediglich auf die Universalitaumlt des aktiven Intellekts die die Indivi-

195Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

dualitaumlt des potentiellen Intellekts mitumfaszligt Dieser ist daherauch bdquomehrldquo mit der menschlichen Seele bdquoverwachsenldquo (συμφυ8ς)als jener (9834) weil er zeitlich fruumlher in uns wirkt und ontolo-gisch von geringerem Rang ist (1069ndash11) Die Unvergaumlnglichkeitdieses Intellekts beruht auf einer (Fehl-)Deutung von De an 34wo Aristoteles den νος bdquoabgetrenntldquo (χωριστς) nennt Er meintden νος als solchen aber Theophrast und Themistios nehmen andaszlig sich bereits 34 ausschlieszliglich auf den δυνμει νος bezieht

Ebenso wie fuumlr Alexander hat Erkenntnis fuumlr Themistios zweiQuellen die Wahrnehmung die in aumluszligeren Sinneseindruumlcken dieintelligiblen Formen in einer individuellen Materie wahrnimmtund den Intellekt der nach einer gewissen Entwicklung des Spre-chens und Denkens die Allgemeinheit und Einheit der intelligiblenForm in der Vielheit der Sinneseindruumlcke herausstellt Die An -nahme eines angeborenen Ideenwissens ist fuumlr Themistios offenbarnicht noumltig da der Intellekt die Gegenstaumlnde seines Denkens ausder Wahrnehmung und aus dem Spracherwerb erhaumllt Angeborenist allerdings die menschliche Befaumlhigung zur Sprache und zu kon-zeptionellem Denken die ein implizites Wissen um formale Denk-prinzipien wie etwa den Satz vom Widerspruch mitumfaszligt Da-durch ist es moumlglich aus den einfachen Anfangsgruumlnden der erstenVorstellungen und durch das Erlernen der Worte die Einsicht indas Wesen der Dinge und ein zusammenhaumlngendes wissenschaft -liches Wissen zu entwickeln

3 Einheit und Vielheit des νοῦς ποιητικός

Einen offenkundigen Bezug auf Plotin nimmt Themistiosmit der Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts denn wenn er sagt daszlig es schoumlner sei die Frage zu stellenob alle Intellekte einer seien als die ob alle Seelen eine seien(10414ndash16) nimmt er woumlrtlich die Uumlberschrift von Plotins En-neade 49 Περ το ε= πGσαι α5 ψυχα μα wieder auf28 Themisti-os ist der erste der Kommentatoren der diese fuumlr Plotin typischeFrage nach dem Verhaumlltnis von Einheit und Vielheit innerhalb einer Hypostase explizit auf den aktiven Intellekt uumlbertraumlgt und

196 Michae l Schramm

28) Vgl Balleacuteriaux 1989 218

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

sicht in das Wesen der Dinge gleichstellt Er koumlnnte sich dafuumlr aufAristoteles berufen fuumlr den das Wissen um die Bedeutung derWorte eine notwendige Voraussetzung jeden Wissens uumlberhauptist insbesondere bei den Prinzipien einer Wissenschaft (Arist Anpost 11 71a12f 10 76a32f) Wenn die einfache noetische Ein-sicht in das Wesen der Dinge erst nach einem Durchgang durch dasdiskursive Denken das stets in Zusammensetzungen und Tren-nungen einfacher Begriffe operiert als dessen Vollendung mit demvollen Begriff erreicht ist dann hat nach Themistios der kindlicheIntellekt mit dem einfachen Sprachgebrauch bereits einen Vor-Be-griff des Wesens der Dinge erworben Der Uumlbergang vom potenti-ellen zum aktuellen Intellekt ist damit nach der De anima-Para-phrase einerseits der Uumlbergang vom individuellen zum allgemeinenBegriff andererseits nach der Analytica posteriora-Paraphrase derUumlbergang vom einzelnen Wort bzw Vor-Begriff zum wissen-schaftlichen Begriff der ein systematisches Wissen um die Verbin-dungen mit den anderen Begriffen impliziert

Daher bezeichnet Themistios den potentiellen Intellekt auchals bdquoVorlaumlufer (πρδρομος) des aktiven Intellektsldquo vergleichbardem Verhaumlltnis der Strahlen der Sonne zum Licht oder der Bluumltezur Frucht (Them In De an 10530ndash32) Der potentielle Intellektist fuumlr den aktiven Intellekt zugleich Materie und Vorlaumlufer in derSeele indem er diese auf das Denken des aktiven Intellekts vorbe-reitet Der potentielle Intellekt wird durch den aktuellen Intellektnur vollendet (9829f) indem dieser wie das Licht im Hinblick aufdas moumlgliche Sehen und die moumlglichen Farben 1) den potentiellenIntellekt zu einem aktuellen Intellekt und 2) die potentiell gedach-ten Inhalte das sind die immateriellen Formen bzw die aus denEinzelwahrnehmungen gebildeten allgemeinen Begriffe zu aktuellgedachten macht (9835ndash994) Der potentielle Intellekt ist damitein bdquoSchatzhausldquo oder eine bdquoVielheit an Gedankenldquo (θησαυρςbzw πλθος τEν νοημτων) und als solcher enthaumllt er die aus der Wahrnehmung und der Phantasie gewonnenen in der Erinne-rung bewahrten Eindruumlcke (τποι) bdquowie eine Materieldquo (σπερ Fλη)(6ndash8 21f) Dem potentiellen Intellekt liegen die Phantasmata alsMaterie zugrunde (10030) wie dieser wiederum fuumlr den aktivenIntellekt als Materie dient Er selbst enthaumllt die Gedanken als indi-viduelle Begriffe oder Vor-Begriffe die erst durch die Aktualitaumltdes aktiven Intellekts als allgemeine Begriffe gedacht werden Sokann der potentielle Intellekt an sich selbst auch nicht diskursiv

194 Michae l Schramm

denken dh er kann nicht die immateriellen Formen bzw Begrif-fe voneinander unterscheiden (διακρ2ναι) von einem zum andernuumlbergehen (μετιναι) sie verbinden (συντιθναι) oder trennen(διαιρε2ν) (995f) Erst wenn der aktive Intellekt die Materie derim potentiellen Intellekt enthaltenen Gedanken uumlbernimmt undder potentielle Intellekt auf diese Weise mit dem aktiven eins wirdwird er auch faumlhig die Taumltigkeiten des diskursiven Denkens aus-zufuumlhren (8ndash10)

Ein Unterschied zu Alexander wie auch zu Aristoteles bestehtdarin daszlig Themistios die Phantasmata zur Materie fuumlr den poten-tiellen Intellekt macht (10030) Wie die Wahrnehmung nicht ohneWahrnehmungsgegenstaumlnde aktualisiert wird so auch nicht derpotentielle Intellekt ohne Phantasmata (11318ndash20 mit 9833ndash35)Zwar betont Aristoteles mehrmals daszlig die (dianoetische) Seeleniemals ohne Phantasien denkt die ihr wie Wahrnehmungen zu-kommen (Arist De an 37 431a14ndash17) bzw daszlig sie die intelli-giblen Formen in den Phantasien denkt (431b2 8 432a3ndash5) Dochnirgendwo laumlszligt sich aus Aristoteles ableiten daszlig es der potentielleIntellekt ist der in Phantasmata denkt Der Grund fuumlr diese Zu-ordnung ist Themistiosrsquo Konzeption des potentiellen Intellekts Erist nicht wie bei Alexander reine Potentialitaumlt und eine Dispositionzur Aufnahme intelligibler Formen sondern selbst schon aktivetwa indem durch ihn bereits die Kinder Aumlhnlichkeiten und Un-terschiede in den Sinneseindruumlcken sehen und Vor-Begriffe bildenoder indem sie die Worte ihres gewoumlhnlichen Sprachgebrauchs vongewissen Vorstellungen der Phantasie begleiten lassen Der aktuel-le Intellekt verallgemeinert dann nur was im potentiellen Intellektals seinem Vorlaumlufer schon enthalten war Wenn sich in der Phan-tasie aus vielen Sinneseindruumlcken ein Bild einer Sache oder Qualitaumlteinstellt enthaumllt der potentielle Intellekt davon einen individuellenBegriff oder einen den Vorstellungen zugeordneten Vor-Begriff(bdquodieses Weiszligeldquo bdquoMenschldquo) den der aktuelle Intellekt allgemeinoder in seinem Wesen denkt (bdquoweiszligldquo Wesen von bdquoMenschldquo) We-gen dieser Zusammengehoumlrigkeit des individuellen und des all -gemeinen Begriffs ist auch der potentielle Intellekt nach dem Toddes Koumlrpers dauerhaft mit dem aktiven Intellekt verbunden undgenauso vom Koumlrper abgetrennt (Them In De an 10529f) wo-bei der aktive Intellekt bdquomehrldquo (μGλλον) abgetrennt ist als der potentielle (10534ndash10614 10832ndash34) Dieses bdquomehrldquo bezieht sichlediglich auf die Universalitaumlt des aktiven Intellekts die die Indivi-

195Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

dualitaumlt des potentiellen Intellekts mitumfaszligt Dieser ist daherauch bdquomehrldquo mit der menschlichen Seele bdquoverwachsenldquo (συμφυ8ς)als jener (9834) weil er zeitlich fruumlher in uns wirkt und ontolo-gisch von geringerem Rang ist (1069ndash11) Die Unvergaumlnglichkeitdieses Intellekts beruht auf einer (Fehl-)Deutung von De an 34wo Aristoteles den νος bdquoabgetrenntldquo (χωριστς) nennt Er meintden νος als solchen aber Theophrast und Themistios nehmen andaszlig sich bereits 34 ausschlieszliglich auf den δυνμει νος bezieht

Ebenso wie fuumlr Alexander hat Erkenntnis fuumlr Themistios zweiQuellen die Wahrnehmung die in aumluszligeren Sinneseindruumlcken dieintelligiblen Formen in einer individuellen Materie wahrnimmtund den Intellekt der nach einer gewissen Entwicklung des Spre-chens und Denkens die Allgemeinheit und Einheit der intelligiblenForm in der Vielheit der Sinneseindruumlcke herausstellt Die An -nahme eines angeborenen Ideenwissens ist fuumlr Themistios offenbarnicht noumltig da der Intellekt die Gegenstaumlnde seines Denkens ausder Wahrnehmung und aus dem Spracherwerb erhaumllt Angeborenist allerdings die menschliche Befaumlhigung zur Sprache und zu kon-zeptionellem Denken die ein implizites Wissen um formale Denk-prinzipien wie etwa den Satz vom Widerspruch mitumfaszligt Da-durch ist es moumlglich aus den einfachen Anfangsgruumlnden der erstenVorstellungen und durch das Erlernen der Worte die Einsicht indas Wesen der Dinge und ein zusammenhaumlngendes wissenschaft -liches Wissen zu entwickeln

3 Einheit und Vielheit des νοῦς ποιητικός

Einen offenkundigen Bezug auf Plotin nimmt Themistiosmit der Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts denn wenn er sagt daszlig es schoumlner sei die Frage zu stellenob alle Intellekte einer seien als die ob alle Seelen eine seien(10414ndash16) nimmt er woumlrtlich die Uumlberschrift von Plotins En-neade 49 Περ το ε= πGσαι α5 ψυχα μα wieder auf28 Themisti-os ist der erste der Kommentatoren der diese fuumlr Plotin typischeFrage nach dem Verhaumlltnis von Einheit und Vielheit innerhalb einer Hypostase explizit auf den aktiven Intellekt uumlbertraumlgt und

196 Michae l Schramm

28) Vgl Balleacuteriaux 1989 218

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

denken dh er kann nicht die immateriellen Formen bzw Begrif-fe voneinander unterscheiden (διακρ2ναι) von einem zum andernuumlbergehen (μετιναι) sie verbinden (συντιθναι) oder trennen(διαιρε2ν) (995f) Erst wenn der aktive Intellekt die Materie derim potentiellen Intellekt enthaltenen Gedanken uumlbernimmt undder potentielle Intellekt auf diese Weise mit dem aktiven eins wirdwird er auch faumlhig die Taumltigkeiten des diskursiven Denkens aus-zufuumlhren (8ndash10)

Ein Unterschied zu Alexander wie auch zu Aristoteles bestehtdarin daszlig Themistios die Phantasmata zur Materie fuumlr den poten-tiellen Intellekt macht (10030) Wie die Wahrnehmung nicht ohneWahrnehmungsgegenstaumlnde aktualisiert wird so auch nicht derpotentielle Intellekt ohne Phantasmata (11318ndash20 mit 9833ndash35)Zwar betont Aristoteles mehrmals daszlig die (dianoetische) Seeleniemals ohne Phantasien denkt die ihr wie Wahrnehmungen zu-kommen (Arist De an 37 431a14ndash17) bzw daszlig sie die intelli-giblen Formen in den Phantasien denkt (431b2 8 432a3ndash5) Dochnirgendwo laumlszligt sich aus Aristoteles ableiten daszlig es der potentielleIntellekt ist der in Phantasmata denkt Der Grund fuumlr diese Zu-ordnung ist Themistiosrsquo Konzeption des potentiellen Intellekts Erist nicht wie bei Alexander reine Potentialitaumlt und eine Dispositionzur Aufnahme intelligibler Formen sondern selbst schon aktivetwa indem durch ihn bereits die Kinder Aumlhnlichkeiten und Un-terschiede in den Sinneseindruumlcken sehen und Vor-Begriffe bildenoder indem sie die Worte ihres gewoumlhnlichen Sprachgebrauchs vongewissen Vorstellungen der Phantasie begleiten lassen Der aktuel-le Intellekt verallgemeinert dann nur was im potentiellen Intellektals seinem Vorlaumlufer schon enthalten war Wenn sich in der Phan-tasie aus vielen Sinneseindruumlcken ein Bild einer Sache oder Qualitaumlteinstellt enthaumllt der potentielle Intellekt davon einen individuellenBegriff oder einen den Vorstellungen zugeordneten Vor-Begriff(bdquodieses Weiszligeldquo bdquoMenschldquo) den der aktuelle Intellekt allgemeinoder in seinem Wesen denkt (bdquoweiszligldquo Wesen von bdquoMenschldquo) We-gen dieser Zusammengehoumlrigkeit des individuellen und des all -gemeinen Begriffs ist auch der potentielle Intellekt nach dem Toddes Koumlrpers dauerhaft mit dem aktiven Intellekt verbunden undgenauso vom Koumlrper abgetrennt (Them In De an 10529f) wo-bei der aktive Intellekt bdquomehrldquo (μGλλον) abgetrennt ist als der potentielle (10534ndash10614 10832ndash34) Dieses bdquomehrldquo bezieht sichlediglich auf die Universalitaumlt des aktiven Intellekts die die Indivi-

195Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

dualitaumlt des potentiellen Intellekts mitumfaszligt Dieser ist daherauch bdquomehrldquo mit der menschlichen Seele bdquoverwachsenldquo (συμφυ8ς)als jener (9834) weil er zeitlich fruumlher in uns wirkt und ontolo-gisch von geringerem Rang ist (1069ndash11) Die Unvergaumlnglichkeitdieses Intellekts beruht auf einer (Fehl-)Deutung von De an 34wo Aristoteles den νος bdquoabgetrenntldquo (χωριστς) nennt Er meintden νος als solchen aber Theophrast und Themistios nehmen andaszlig sich bereits 34 ausschlieszliglich auf den δυνμει νος bezieht

Ebenso wie fuumlr Alexander hat Erkenntnis fuumlr Themistios zweiQuellen die Wahrnehmung die in aumluszligeren Sinneseindruumlcken dieintelligiblen Formen in einer individuellen Materie wahrnimmtund den Intellekt der nach einer gewissen Entwicklung des Spre-chens und Denkens die Allgemeinheit und Einheit der intelligiblenForm in der Vielheit der Sinneseindruumlcke herausstellt Die An -nahme eines angeborenen Ideenwissens ist fuumlr Themistios offenbarnicht noumltig da der Intellekt die Gegenstaumlnde seines Denkens ausder Wahrnehmung und aus dem Spracherwerb erhaumllt Angeborenist allerdings die menschliche Befaumlhigung zur Sprache und zu kon-zeptionellem Denken die ein implizites Wissen um formale Denk-prinzipien wie etwa den Satz vom Widerspruch mitumfaszligt Da-durch ist es moumlglich aus den einfachen Anfangsgruumlnden der erstenVorstellungen und durch das Erlernen der Worte die Einsicht indas Wesen der Dinge und ein zusammenhaumlngendes wissenschaft -liches Wissen zu entwickeln

3 Einheit und Vielheit des νοῦς ποιητικός

Einen offenkundigen Bezug auf Plotin nimmt Themistiosmit der Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts denn wenn er sagt daszlig es schoumlner sei die Frage zu stellenob alle Intellekte einer seien als die ob alle Seelen eine seien(10414ndash16) nimmt er woumlrtlich die Uumlberschrift von Plotins En-neade 49 Περ το ε= πGσαι α5 ψυχα μα wieder auf28 Themisti-os ist der erste der Kommentatoren der diese fuumlr Plotin typischeFrage nach dem Verhaumlltnis von Einheit und Vielheit innerhalb einer Hypostase explizit auf den aktiven Intellekt uumlbertraumlgt und

196 Michae l Schramm

28) Vgl Balleacuteriaux 1989 218

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

dualitaumlt des potentiellen Intellekts mitumfaszligt Dieser ist daherauch bdquomehrldquo mit der menschlichen Seele bdquoverwachsenldquo (συμφυ8ς)als jener (9834) weil er zeitlich fruumlher in uns wirkt und ontolo-gisch von geringerem Rang ist (1069ndash11) Die Unvergaumlnglichkeitdieses Intellekts beruht auf einer (Fehl-)Deutung von De an 34wo Aristoteles den νος bdquoabgetrenntldquo (χωριστς) nennt Er meintden νος als solchen aber Theophrast und Themistios nehmen andaszlig sich bereits 34 ausschlieszliglich auf den δυνμει νος bezieht

Ebenso wie fuumlr Alexander hat Erkenntnis fuumlr Themistios zweiQuellen die Wahrnehmung die in aumluszligeren Sinneseindruumlcken dieintelligiblen Formen in einer individuellen Materie wahrnimmtund den Intellekt der nach einer gewissen Entwicklung des Spre-chens und Denkens die Allgemeinheit und Einheit der intelligiblenForm in der Vielheit der Sinneseindruumlcke herausstellt Die An -nahme eines angeborenen Ideenwissens ist fuumlr Themistios offenbarnicht noumltig da der Intellekt die Gegenstaumlnde seines Denkens ausder Wahrnehmung und aus dem Spracherwerb erhaumllt Angeborenist allerdings die menschliche Befaumlhigung zur Sprache und zu kon-zeptionellem Denken die ein implizites Wissen um formale Denk-prinzipien wie etwa den Satz vom Widerspruch mitumfaszligt Da-durch ist es moumlglich aus den einfachen Anfangsgruumlnden der erstenVorstellungen und durch das Erlernen der Worte die Einsicht indas Wesen der Dinge und ein zusammenhaumlngendes wissenschaft -liches Wissen zu entwickeln

3 Einheit und Vielheit des νοῦς ποιητικός

Einen offenkundigen Bezug auf Plotin nimmt Themistiosmit der Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts denn wenn er sagt daszlig es schoumlner sei die Frage zu stellenob alle Intellekte einer seien als die ob alle Seelen eine seien(10414ndash16) nimmt er woumlrtlich die Uumlberschrift von Plotins En-neade 49 Περ το ε= πGσαι α5 ψυχα μα wieder auf28 Themisti-os ist der erste der Kommentatoren der diese fuumlr Plotin typischeFrage nach dem Verhaumlltnis von Einheit und Vielheit innerhalb einer Hypostase explizit auf den aktiven Intellekt uumlbertraumlgt und

196 Michae l Schramm

28) Vgl Balleacuteriaux 1989 218

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

damit die Fragestellung fuumlr alle folgenden Kommentatoren bis hinzu Thomas v Aquin vorgegeben hat Iρα ες ( ποιητικς οJτοςνος K πολλο29

Fuumlr beide Alternativen fuumlhrt Themistios ein Argument anMit Blick auf den Vergleichsgegenstand Licht (Arist De an 35430a15) muumlszligte man die Einheit des aktiven Intellekts vertretendenn auch das Licht ist eine Einheit die allerdings von den jewei-ligen Sehakten und deren Vielheit und Vergaumlnglichkeit unterschie-den werden muumlszligte (Them In De an 10321ndash26) Wenn der aktiveIntellekt hingegen eine Vielheit sein sollte und damit jedem poten-tiellen Intellekt ein eigener aktiver Intellekt entspraumlche gaumlbe es keine Erklaumlrung fuumlr ihren jeweiligen spezifischen UnterschiedDenn wenn alle aktiven Intellekte der Art nach identisch sind weilsie dasselbe denken und ihr Wesen und ihre Aktivitaumlt dasselbe sinddann liegt der Grund fuumlr ihre Verschiedenheit nur in der Materiealso auf Seiten des jeweiligen potentiellen Intellekts weil bei derArt nach identischen Gegenstaumlnden nur die Materie den Unter-schied macht (10326ndash30) Eine interne Vielheit des aktiven Intel-lekts waumlre also nicht moumlglich

Themistiosrsquo Loumlsung der Aporie geht von einer komplexenEinheit des aktiven Intellekts aus Grundlegend ist daszlig der poten-tielle Intellekt nur denken kann wenn es einen aktiven Intellektgibt der zuerst alles denkt und ihn zur Aktualitaumlt bringt (10330ndash32 u 9418ndash20) In der Lichtmetaphorik gesprochen ist bdquoder In-tellekt der auf erste und urspruumlngliche Weise erleuchtet ein einzi-ger und die die erleuchtet sind und selbst erleuchten viele (( μLνπρ)τως λλμπων ες ο5 δL λλαμπμενοι κα λλμποντεςπλεους) wie das Lichtldquo (10332f)30 Die Sonne die Platon zumVergleich fuumlr das Gute heranzieht ist schlechterdings eine waumlh -rend sich das Licht auf die Beleuchtung vieler Sehakte aufteilt(33f) Der aristotelische Vergleich des νος ποιητικς mit demLicht zeigt daszlig der aktive Intellekt eine Einheit ist die sich in eine

197Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

29) Alexander stellt zwar die Einheit des aktiven Intellekts heraus aber erstellt nirgendwo explizit die Frage nach der Einheit oder Vielheit des aktiven Intel-lekts und zieht auch nicht die Moumlglichkeit einer Vielheit des aktiven Intellekts inBetracht

30) Zur Wiederaufnahme dieser bdquophrase la plus connueldquo aus Themistiosrsquo Deanima-Paraphrase in den mittelalterlichen lateinischen Kommentaren vgl Balleacute -riaux 1989 219f

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Vielheit von individuellen Intellekten aufteilt31 Die individuellenaktiven Intellekte sind erleuchtet insofern als sie an dem allenMenschen gemeinsamen aktiven Intellekt teilhaben Und sie er-leuchten indem sie den jeweiligen potentiellen Intellekt aktivieren(1094f) und die in ihm enthaltenen Formen wirklich denken32

Jeder individuelle aktive Intellekt der mit einem potentiellen In-tellekt zusammenwirkt wie auch die gesamte Summe aller indivi-duellen aktiven Intellekte sind der artuumlbergreifenden Einheit desaktiven Intellekts untergeordnet

Diese Einheit eines von allen Menschen geteilten aktiven In-tellekts der das jeweilige Individuum uumlberschreitet von dessenExistenz aber die jeweilige individuelle Existenz abhaumlngt kann nur indirekt begruumlndet werden Wenn es keinen einzigen geteiltenaktiven Intellekt gaumlbe gaumlbe es keine bdquogemeinsamen Gedankenldquo(κοινα ννοιαι) damit sind an dieser Stelle ndash entgegen der uumlblichenTerminologie ndash nicht nur die Axiome sondern auch die ersten De-finitionen einer Wissenschaft gemeint (10336ndash1042)33 bdquoVielleichtgaumlbe es auch gar kein wechselseitiges Verstehen wenn es nicht einen einzigen Intellekt gaumlbe an dem wir alle teilhaumlttenldquo (μ8ποτεγρ οltδL τ συνιναι 4λλ8λων πρχεν 7ν ε= μ8 τις Mν ες νοςοJ πντες κοινωνομεν 1042f) Das Verstehen (σνεσις) ist beiAristoteles ein Urteilsvermoumlgen aumlhnlich der Klugheit (φρνησις)und zwar uumlber Dinge die zu Zweifel und Uumlberlegung Anlaszlig geben(Arist Eth Nic 611 1143a6ndash10) aber auch das Lernen das

198 Michae l Schramm

31) Die Zeilen 10332ndash36 stehen nicht im Widerspruch zu 10322ndash26 und zu36f die von der Einheit des νος ποιητικς sprechen wie Merlan 1963 50 Anm 3behauptet hat der sie als bdquoa marginal note by a reader critical of Themistiusldquo be-trachtet (gegen diese These argumentiert auch Todd 1996 189 Anm 41) Im Unter-schied zu Platon hat Aristoteles den aktiven Intellekt nicht mit der Sonne sondernmit dem Licht verglichen das eine Einheit fuumlr sich bildet aber zugleich eine Viel-heit von Sehakten verursacht Die Zeilen 10322ndash26 sagen bdquodas Licht ist eins abernoch mehr ist der χορηγς des Lichts einsldquo d h die Sonne Der aktive Intellekt alsdie Einheit der Gemeinschaft des aktiven Intellekts aller Menschen auf die sichauch alle individuellen Menschen in ihrem Sein zuruumlckfuumlhren ist also in zweiter Linie eine Einheit nach der Einheit der Sonne d i im Sinne Platons das Gute Wasdem nach Themistios entsprechen soll ist nicht ganz klar aber es laumlszligt sich vermu-ten daszlig es sich um das Denken Gottes handelt vgl unten S 216 bes Anm 70

32) Das sei gegen Schroeder Todd 1990 104 Anm 121 gesagt die bdquound er-leuchtetldquo fuumlr eine Glosse halten

33) Allerdings laumlszligt sich zeigen wie oben S 190 f gesehen daszlig und wie Themi stios die Axiome auf die ersten Definitionen bzw Begriffe einer Wissenschaftzuruumlckfuumlhren moumlchte

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

gleichbedeutend ist mit dem Gebrauch der Erkenntnisfaumlhigkeit(12f) Themistios hat eher diese zweite alltagssprachliche Bedeu-tung im Blick denn er exemplifiziert den Zusammenhang zwi-schen der Einheit des Intellekts und den Grundlagen des Wissensbesonders durch das Lehren des Lehrers und das Lernen desSchuumllers bdquoSo denken auch in den Wissenschaften der Lehrendeund der Lernende dasselbe Denn Lehren und Lernen gaumlbe esnicht wenn nicht der Gedanke des Lehrenden und der des Ler-nenden derselbe waumlreldquo (Them In De an 1046ndash9) Daher ist auchihr Intellekt derselbe (9ndash11) bdquoDaher gibt es vielleicht einzig all -gemein bei den Menschen Lehren Lernen und wechselseitiges Ver-stehen aber nicht bei den anderen Lebewesen weil die Beschaf-fenheit der anderen Seelen nicht so ist daszlig sie den potentiellen Intellekt aufnehmen und dieser durch den aktuellen Intellekt voll-endet werden kannldquo (11ndash14)

Themistiosrsquo bdquoMononoismusldquo34 ist die Bedingung der Moumlg-lichkeit von intellektiver Erkenntnis und Wissenschaft Andersausgedruumlckt haben alle Menschen aufgrund ihrer Definition als ra-tionale Wesen an derselben Rationalitaumlt teil Eine Verschiedenheitvon Rationalitaumlten ist aufgrund dieser anthropologischen Grund-bestimmung nicht moumlglich Der aktive Intellekt ist das Wesen desMenschen und der Inbegriff seiner Rationalitaumlt insofern als er diePrinzipien des Wissens umfaszligt Das sind die inhaltlichen Grund-begriffe jeder einzelnen Wissenschaft wie der Begriff bdquoZahlldquo fuumlrdie Arithmetik oder bdquoPunktldquo oder bdquoLinieldquo fuumlr die Geometrie unddie logischen Prinzipien des Denkens wie der Satz vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten aber auch logische Be-griffe wie Identitaumlt Differenz Aumlhnlichkeit Relation usw35 Derpotentielle Intellekt ist der Vorlaumlufer des aktiven Intellekts indemer dem aktiven Intellekt ein Reservoir an einfachen Vor-Begriffen

199Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

34) Fuumlr Merlan 1963 ist Themistios ein Beispiel fuumlr das was er bdquomonopsy-chismldquo bzw bdquomononoismldquo nennt (55f) d h bdquothe doctrine that alle souls are ultim-ately oneldquo bzw bdquothe doctrine teaching that there is only one νος common to allmenldquo (1) waumlhrend er Alexander fuumlr den bdquomysticismldquo in Anspruch nimmt (35ff)und Plotins These vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele als bdquometacon-sciousnessldquo bezeichnet (83f)

35) Nach Merlan 1963 56 Anm 1 umfaszligt der aktive Intellekt nur die Denk-prinzipien bdquoFor the content of the unique intelligence is according to Themistiuslimited to principles of reasoning and does not imply the contemplation of any enti-tiesldquo

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

zur Verfuumlgung stellt die er aus den Sinneseindruumlcken gewonnenhatte Einerseits verallgemeinert der aktive Intellekt diese Vor-Be-griffe denkt sie in ihrem Wesen und macht sie so zu vollguumlltigenreflektierten Begriffen andererseits macht er daraus wirklichesWissen indem er mit Hilfe der ihm immanenten Denkprinzipiendiesen allgemeinen Begriffen ihren systematischen Ort und Zu-sammenhang mit anderen Begriffen anweist Daher ist der aktiveIntellekt nicht nur der Garant fuumlr das menschliche Denken36 son-dern auch fuumlr objektives Wissen Themistios macht sich hier alsomit der Einfuumlhrung der Prinzipien- bzw Begriffstheorie der Wis-senschaftslehre in die Intellekttheorie eine aristotelische Denkfigurzunutze um das Funktionieren des Intellekts zu erklaumlren

Naumlher an Plotin als an Alexander oder Aristoteles steht The-mistios jedoch bei der Bestimmung des ontologischen Status desIntellekts Waumlhrend Alexander die Einheit des goumlttlichen Intellektseiner Vielheit von potentiellen Intellekten in den Menschen ge-genuumlberstellt integriert Themistios die Momente von Einheit undVielheit in e inem aktiven Intellekt der von allen Menschen ge-teilt wird So ist der Mensch der Logos und Intellekt hat fuumlr ihnnicht nur in seinem Denken sondern sogar in seinem Sein durchden aktiven Intellekt bestimmt (10337f) weil er nur durch daswissenschaftliche Denken bzw das Denken des Philosophen in seine houmlchste Seinsmoumlglichkeit als Mensch kommt Zwar sagt auchAlexander daszlig der aktive Intellekt qua Erster Gott auch das Seinnicht nur das Denken der Dinge hervorbringt (Alex De an 891ndash11) Damit liegt die Verbindung von Sein und Denken aber nur beiGott und nicht bei den menschlichen Intellekten die in ihremDenken wie ihrem Sein stets nur vom goumlttlichen Denken abhaumlngigbleiben und diese Momente nicht selbst besitzen

Fuumlr Plotin hingegen ist der Intellekt eine Einheit die von vie-len geteilt werden kann und als solche zugleich identisch mit demSein Ausgehend von der zweiten Hypothese des PlatonischenParmenides wonach ein seiendes Eines (Nν 1ν) eine Vielheit aus jeweils wiederum seienden Einheiten bedeutet (Plat Parm 142bndash144e) ist der Intellekt fuumlr ihn als Identitaumlt von Denken und Seineine sowohl seiende als auch denkende Einheit Der Intellekt gehtaus dem differenzlosen bdquouumlberseiendenldquo Einen hervor und bildet

200 Michae l Schramm

36) Vgl Schroeder Todd 1990 38 bdquoa suprahuman noetic realm that acts asthe guarantor of human reasoningldquo

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die erste urspruumlnglichste Form der Vielheit das Eine Viele (Nνπολλ) (Plot 51826 531511) in der die Vielheit in der Diffe-renz der wechselseitig aufeinander bezogenen Momente von Den-kendem Gedachtem und Denkakt besteht Wenn auch bei Themi-stios diese Integration der Begriffe von Einheit Vielheit und Seinin einer eigenstaumlndigen Hypostase genausowenig zu finden ist37

wie die Abhaumlngigkeit des Intellekts vom Einen so sind doch auchin seiner Interpretation des menschlichen Intellekts die Momentevon Einheit Sein und Vielheit miteinander verbunden insofern alsdie Einheit einer Vielheit von individuellen Intellekten das Sein desMenschen ausmacht Alle Menschen insofern als sie ihrem Wesennach rationale Lebewesen sind haben an einer Form von Rationa-litaumlt teil und verwirklichen ihre houmlchste Seinsmoumlglichkeit in derselbstaumlndigen Betaumltigung dieser Rationalitaumlt38

4 Der νοῦς παθητικός und das Denken in der Zeit

Da nicht der individuelle aktive Intellekt sondern der von al-len geteilte eine aktive Intellekt das Wesen des Menschen ausmachtwaumlhrend der Einzelmensch sowohl aus Aktualitaumlt als auch aus Potentialitaumlt besteht liegt ein Vergleich zwischen dieser Lehre undPlotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seelenahe39 Denn der eine aktive Intellekt in allen Menschen schafft aufaumlhnliche Weise eine bdquoinnere Transzendenzldquo40 des menschlichenDenkens wie fuumlr Plotin der Seelenteil der stets im Intelligiblenbleibt und immer denkt ohne daszlig wir gewoumlhnlich etwas von des-sen Aktivitaumlt wissen (Plot 1181ndash8) Diesen Seelenteil bezeichnetPlotin als bdquounseren Intellektldquo (-μτερος νος) (53324)41 wie The-mistios im aktiven Intellekt das bdquoWir-Seinldquo oder unser Wesen siehtund bdquounseren Geistldquo im eigentlichen Sinne die Zusammensetzungaus potentiellem und aktuellem Intellekt nennt

201Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

37) Vgl Blumenthal 1990 118 u 12338) Schroeder Todd 1990 38f sprechen von einer bdquoform of self-realizationldquo39) Darauf hat schon Balleacuteriaux 1989 227 Anm 67 hingewiesen ohne den

Vergleich durchzufuumlhren40) Vgl Balleacuteriaux 1989 227 der im νος ποιητικς des Themistios eine

bdquotranscendance inteacuterieureldquo im Sinne Plotins sieht41) Merlan 1963 83f nennt diesen bdquounseren Geistldquo zur Abgrenzung gegen -

uumlber dem Freudschen Unbewuszligten bdquometaconsciousnessldquo

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Plotin hat seine Theorie vom nicht-herabgestiegenen Teil desIntellekts in der Seele die sowohl als Platon-42 als auch als Ari -stoteles-Interpretation43 verstanden werden kann und von denmeisten spaumlteren Platonikern als Abirrung von Platon abgelehntwurde44 vermutlich deshalb eingefuumlhrt um zu erklaumlren wie diemenschliche Seele trotz ihres Falls in die Sinnenwelt die idealenewigen Ideen erkennen kann d h wie die Anamnesis gewaumlhrleistetwerden kann45 Fuumlr ihn ist der Mensch nicht identisch mit diesemIntellekt aber er kann sich an jenem (κατrsquo κε2νον) orientieren indem seine diskursive Seele den Intellekt aufnimmt (δεχομνO)(53330ndash32) und damit sich selbst als Intellekt erkennt der schonalles an Begriffen und Regeln implizit und intuitiv besitzt was je-ner explizit und diskursiv entfaltet (5347ndash10 15ndash19 mit 11105ndash15) Fuumlr Themistios ist der Unterschied zwischen dianoetischemund noetischem Denken nicht auf die Bereiche von Seele und In-tellekt aufgeteilt sondern diese sind komplementaumlre Momente derintellektiven Erkenntnis des Menschen Auch gibt es neben demmenschlichen Denken das goumlttliche Denken dieses ist aber nichtder Maszligstab und die Voraussetzung fuumlr die Erkenntnis des Men-schen Auszligerdem gibt es mit der Erklaumlrung der Erkenntnis ausdem kontinuierlichen Abstraktionsprozeszlig im Ausgang von denWahrnehmungen und der Ablehnung der Anamnesis-Lehre keineNotwendigkeit die Kluft zwischen sinnlicher und intellektiver Erkenntnis gleichsam nachtraumlglich zu uumlberbruumlcken da auf allenStufen der Erkenntnis Individualitaumlt und Allgemeinheit zusam-menspielen Gemeinsam haben Plotin und Themistios jedoch dieAnsicht daszlig das Selbst des Menschen nicht im konkreten koumlrper-

202 Michae l Schramm

42) Szlezaacutek 1979 167ndash205 zeigt daszlig Plotin selbst diese These als authenti-sche Platon-Auslegung begreift

43) Merlan 1963 39f u 47ndash52 versteht den nicht-herabgestiegenen Intellektin der Seele im Anschluszlig an Philoponos (De intell 4539) und Stephanos (Ps-Phi-lop In De an 5358ndash13) als Interpretation des Aristotelischen νος ποιητικς in Deanima 35

44) Vgl Procl In Tim 33235ndash6D Ps-Simpl In De an 612ff Ps-PhilopIn De an 53513ndash16 und Szlezaacutek 1979 167 Anm 548 Ausfuumlhrlich zur Kritik desspaumlteren Neuplatonismus an Plotin C Steel The Changing Self A Study of the Soul in Later Neoplatonism Iamblichus Damascius and Priscianus Brussels 197838ndash51

45) Plotin verweist selbst darauf daszlig die Anamnesis der Annahme einertranszendenten Seele bedarf (48428ndash31) vgl auch Prokl In Parm 94814ndash31 undSteel (wie Anm 44) 36f

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich-seelischen Individuum sondern in der gattungsspezifischenMoumlglichkeit der Erkenntnis gruumlndet

Ein spezielles Problem das sich aus Plotins Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt in der Seele ergibt kehrt auch bei The-mistios wieder Wenn ein Teil der Seele bdquoobenldquo im Intellekt bleibtwarum erinnern wir uns nicht mehr daran Themistios formuliertes folgendermaszligen bdquoWarum erinnern wir uns nicht an das was deraktive Intellekt an sich selbst aktualisiert d h bevor er in unsereZusammensetzung [sc mit dem potentiellen und passiven Intel-lekt] gehoumlrt hatldquo (Them In De an 1021f) Analog zu dem selb -staumlndigen Leben des aktiven Intellekts vor diesem Leben in uns gibt es auch ein Leben nach diesem Leben und die entsprechendeFrage bdquo( ) wieso erinnern wir uns nach dem Tod nicht an das was wir hier gedacht habenldquo (1011f) Themistiosrsquo Loumlsung dieserbeiden Fragen widerstreitet implizit der Antwort Plotins naumlmlichder Lehre vom nicht-herabgestiegenen Intellekt nicht weil er dieExistenz eines aktiven Intellekts in uns oder vor bzw nach unse-rem Leben ablehnen wuumlrde sondern weil er die Annahme von Er-innerungen nach unserem Tod an dieses Leben bzw an eine fruumlhe-re selbstaumlndige Taumltigkeit des aktiven Intellekts vor diesem Lebenablehnt und zwar beides mit derselben Begruumlndung Die Erinne-rungen waumlhrend unseres Lebens waren nur zustande gekommenaufgrund des vergaumlnglichen Intellekts mit dem der aktive Intellektim jeweiligen Menschen zusammenwirkte (1026ndash8 15ndash20)46

Seine Begruumlndungsstrategie geht zuruumlck auf die De anima-Passage 35 430a24f bdquoWir erinnern uns aber nicht daran denn dereine Teil ist leidenslos der leidensfaumlhige Intellekt (νος παθητικς)aber vergaumlnglich und ohne diesen gibt es kein Denkenldquo Themisti-os versteht diesen Satz so daszlig mit dem leidenslosen Teil des Intel-lekts der νος ποιητικς gemeint ist (Them In De an 1014) unddaszlig die Passage bdquoohne diesen gibt es kein Denkenldquo die gewoumlhn-lich auf den νος ποιητικς bezogen wird47 den letztgenanntenνος παθητικς meint Da fuumlr Themistios der potentielle Intellektimmer mit dem aktiven Intellekt verbunden ist (10832ndash34) und alsdessen bdquoVorlaumluferldquo genauso bdquoleidenslos ungemischt mit dem Koumlr-per und abtrennbarldquo vom Koumlrper wie dieser ist waumlhrend der pas-

203Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

46) Vgl Hicks 1907 508 der diese Interpretation bdquothe transcendental viewldquonennt

47) Vgl Hicks 1907 507f

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

sive Intellekt vergaumlnglich untrennbar von und vermischt mit demKoumlrper ist (10528ndash32) kommt er zu der These daszlig der poten tielleIntellekt und der passive Intellekt der νος παθητικς nicht das-selbe sind wie gewoumlhnlich angenommen wird Um seine Bestim-mung des potentiellen Intellekts die er in dieser Weise nirgendwoim Text festmachen kann zu stuumltzen muszlig Themistios zunaumlchstalle Stellen an denen auszligerhalb von De anima 35 vom Intellekt dieRede ist und die die naumlhere Differenzierung von 35 nicht benut-zen48 auch auf den potentiellen Intellekt beziehen (z B 10522ndash26) Als Anhaltspunkt fuumlr die naumlhere Bestimmung des passiven In-tellekts benutzt er eine Textstelle (Arist De an 14 408b 25ndash29)die eigentlich die Unvergaumlnglichkeit des Intellekts der Vergaumlng-lichkeit des Individuums gegenuumlberstellt das diesen Intellekt be-sitzt so als waumlre mit dem Ausdruck bdquodas Gemeinsame das zu-grundegehtldquo (το κοινο 4πλωλεν 29) nicht der leibseelischeTraumlger des Intellekts sondern eben der passive oder wie er ihn we-gen dieser Stelle auch nennt der bdquogemeinsameldquo Intellekt gemeint49

Nun ist es leicht Themistios eine verfehlte Textauslegung anzulasten Wichtiger ist es jedoch zu sehen was er damit fuumlr die sy-stematische Rekonstruktion des Aristoteles zu gewinnen hoffte Mitdem passiven bdquogemeinsamenldquo Intellekt versuchte Themistios diedurch die Abtrennung des potentiellen Intellekts vom Koumlrper ent-standene Kluft zwischen dem Intellekt insgesamt bzw dem Wesendes Menschen und seinem Koumlrper wieder zu schlieszligen In den Blickgeraten dadurch Erinnerung und Affekte die sowohl koumlrperlicheVorgaumlnge als auch vernunftgeleitet sind Es gibt keine Erinnerung andie unaufhoumlrliche Taumltigkeit des νος ποιητικς so folgert Themisti-os aus der eben genannten falsch interpretierten De anima-Stelleweil der νος ποιητικς wenn der gemeinsame νος παθητικς zu-grunde gegangen ist weder diskursiv-dianoetisch denken noch sicherinnern kann (1022ndash4) An jener Stelle werden naumlmlich neben derErinnerung das diskursive Denken (διανοε2σθαι) Liebe (φιλε2ν)und Haszlig (μισε2ν) als Affektionen des bdquoGemeinsamen das zugrun-degehtldquo genannt (Arist De an 14 408b25ndash28) was ja fuumlr Themi-stios nicht das Individuum sondern der gemeinsame passive Intel-lekt ist

204 Michae l Schramm

48) Der Ausdruck νος παθητικς kommt nur einmal vor und zwar in Dean 35 der Ausdruck νος ποιητικς geht vermutlich auf Theophrast zuruumlck

49) Auch Alex De an 8214f spricht von ( κοινς νος καλομενος jedochmit Bezug auf den potentiellen Intellekt den alle Menschen haben

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Mit dieser Fehlinterpretation erreicht Themistios folgendes1) Er hat mit der Erinnerung ein Phaumlnomen gefunden das als

Verbindungsglied zwischen dem Koumlrper und dem Intellekt fun-giert insofern als es nicht auf Koumlrperprozesse reduziert werdenkann aber auch nicht ohne diese stattfindet und zugleich intellek-tuelle Vorgaumlnge aufbaut bzw diese begleitet Denn sie ist eine Af-fektion des passiven koumlrpergebundenen Intellekts aber zugleicherinnern bdquowirldquo uns d h das unkoumlrperliche Kompositum aus demaktuellen und potentiellen Intellekt dessen Taumltigkeit sie ist

2) Mit der Erinnerung ruumlckt die Dimension der Zeitlichkeitbzw der Endlichkeit ins Blickfeld die durch das begriffliche Den-ken allein nicht erklaumlrt werden kann Das bdquosterblicheldquo Denken desjeweiligen diesseitigen Menschen braucht um zur begrifflichen Er-kenntnis zu kommen den Ruumlckgriff auf vergangene Erfahrung istaber nicht identisch mit dieser Fuumlr die Erklaumlrung des koumlrperge-bundenen Intellekts ist vom Standpunkt der Begriffserkenntnis ausdie fuumlr Themistios das Wesen des Menschen ausmacht die Erinne-rung das naumlchstliegende und am leichtesten einsichtig zu machendePhaumlnomen Denn fuumlr ihn sind Erinnerungen anscheinend nichts an-deres als Phantasmata die dem fruumlhen begrifflichen Denken des po-tentiellen Intellekts ihr Anschauungsmaterial liefern Er kann sichdamit auf Aristoteles berufen der Phantasmata definiert als spon-tan oder bewuszligt erinnerte Bilder vergangener Wahrnehmungenohne daszlig eine aktuelle Wahrnehmung vorausgeht (33 428b10ndash17)

3) Von der Erinnerung die eine erkenntnisstiftende Funktionhat kommt Themistios auf Emotionen oder Affekte die ebensozum bdquopassiven Intellektldquo gehoumlren und die schon Aristoteles als Ver-bindungsglied (κοιν) zwischen Koumlrper und Seele ansieht (vgl 11403a3ndash25) So nennt Themistios den νος παθητικς einen bdquover-nunftgeleiteten Affektldquo (πθος λογικν) der bdquodurch die Beherber-gung (κατοκισιν) des Intellekts im Koumlrper an der Vernunft (λγου)teilhatldquo (Them In De an 10719f) und sagt ausdruumlcklich bdquoOhnedie Vermittlung der Affekte koumlnnte der Intellekt sich gar nicht inden Koumlrper einhausen (γκατοικζεσθαι)ldquo (21f) Hier bedarf es einer Differenzierung Themistios unterscheidet Affekte wie MutFurcht und Hoffnung denen ein bdquoLogos innewohntldquo und die er denbdquopassiven Intellektldquo nennt von unvernuumlnftigen bdquoa-logischenldquo Af-fekten wie Schmerz und Lust (1075ndash23) Die vernuumlnftigen Affektegehorchen dem Logos und sind Erziehung und Ermahnung zu-gaumlnglich nur bei ihnen gibt es Tugenden weil eine Maumlszligigung moumlg-

205Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

lich ist bei den unvernuumlnftigen nicht Themistios greift damit aufeine Unterscheidung zuruumlck die fuumlr Aristoteles in De anima keinegroumlszligere Rolle spielt dafuumlr aber in der Ethik um so mehr weil die Affekte bei ihm zwar keine Tugenden sind aber immerhin erziehe-risch beeinfluszligt werden koumlnnen (Arist Eth Nic 113 24)50 The-mistios betont auch hier wieder die Zeitdimension Die vernuumlnfti-gen Affekte seien auf die Zukunft gerichtet die unvernuumlnftigen nurauf die Gegenwart (Them In De an 10712ndash14) Waumlhrend die Er-kenntnis durch die Erinnerung Zugriff auf die Vergangenheit desendlichen Menschen hat benoumltigt die Entscheidung daruumlber was zutun moralisch gerechtfertigt oder wuumlnschenswert ist die Zukunft

4) Das dianoetische Denken ist genauso wie die Affekte eineBewegung des ganzen Menschen und kommt von daher auch dieserleibseelischen Einheit zu nicht der Seele allein oder einem be-stimmten Seelenteil (2725ndash27) Speziell der dianoetischen Seelekommen die Phantasmata zu ohne die sie nicht denken kann(11314 19f vgl Arist De an 37 431a14ndash17) Hier ergibt sich alsFolge der Unterscheidung von potentiellem und passivem Intellekteine Uumlberschneidung mit dem potentiellen Intellekt denn auch diesem liegen nach Themistios die Phantasmata als Materie seinerTaumltigkeit zugrunde (Them In De an 959ndash11 10030) Offenbar istThemistios der Ansicht das bei Aristoteles einheitliche dianoeti-sche Denken in einen koumlrpergebundenen und einen potentiell vomKoumlrper unabhaumlngigen Teil unterscheiden zu muumlssen51 Beide ent-halten in sich die individuellen Begriffe oder Vor-Begriffe die einemaus verschiedenen Wahrnehmungen hervorgegangenen Phantasmabzw einer Erinnerung entsprechen Waumlhrend der potentielle Intel-lekt aber erst diskursiv taumltig werden und die einzelnen Begriffe mit-einander in Beziehung setzen kann wenn der aktive Intellekt mit

206 Michae l Schramm

50) Vgl auch Balleacuteriaux 1994 194ndash197 zu den stoischen und mittelplatoni-schen Einfluumlssen

51) In einem Kontext der der Taumltigkeit der dianoetischen Seele gewidmet istheiszligt es etwa daszlig bdquoder Intellekt der mit unserer Seele zusammengewachsen(συμφυ) ist nicht ohne die Phantasmata aus der Wahrnehmung taumltig sein kannldquo(11318ndash20) Dieser Intellekt ist der potentielle Intellekt weil er mit der mensch -lichen Seele bdquozusammengewachsenldquo ist (9833ndash35) vgl Schroeder Todd 1990 127Anm 212 Allerdings ist auch der passive Intellekt mit der Seele zusammengewach-sen und zwar mehr als der potentielle Intellekt weil sie anders als dieser vom Koumlr-per unabtrennbar und daher mit diesem zusammengewachsen ist vgl Todd 1996187 Anm 4

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

ihm eins geworden ist ist der gemeinsame Intellekt verantwortlichfuumlr die Vermittlung und Anwendung der begrifflichen Erkenntnisauf die materielle Welt So wird das dianoetische Denken des ge-meinsamen Intellekts vornehmlich bei der Anwendung rationalerUumlberlegung auf die lebensweltliche Praxis greifbar Dieses dianoe-tische Denken das sich nicht mit der Synthesis und Dihairesis vonBegriffen begnuumlgt richtet sich als rationales Streben (1ρεξις) oderWollen (βολησις) im Gegensatz zu dem auf die Gegenwart ge-richteten Begehren (πιθυμα) auf die Zukunft (11323f 12021ndash23) Auszligerdem kann das dianoetische Denken die Vergangenheitoder Zukunft zu einer Sache hinzudenken (10918ndash21) d h es kanneine begriffliche Einsicht in die Zeit vermitteln Es nimmt daher eineeigentuumlmliche Zwischenstellung zwischen den koumlrpergebundenenPhantasmata und dem unkoumlrperlichen Begriffsdenken ein So legt esdie Aumlhnlichkeiten und Unterschiede der Begriffe in Synthesis undDihairesis dar sobald ihm der aktive Intellekt die Einsicht in dieEinheit und Allgemeinguumlltigkeit des jeweiligen Begriffs vermittelthat und verbindet das Begriffsdenken mit der Zeitlichkeit und demWerden der materiellen Dinge aus denen es die Begriffe durch Ab-straktion und Induktion gewonnen hat und auf die es umgekehrt begriffliche Einsichten anwendet

Das dianoetische Denken ist damit das Signum des spezifischmenschlichen Denkens in seiner leibseelischen Einheit und derνος παθητικς ist nichts anderes als das der Zeit und der Koumlrper-lichkeit unterworfene Denken durch welches der endliche Menschseiner Vergaumlnglichkeit gewahr wird und durch das er koumlrperlich affiziert und mit sich selbst konfrontiert wird Waumlhrend bei Plotindas noetische Denken dem Intellekt und das dianoetische der See-le zugeordnet wird und der nicht-herabgestiegene Intellekt in derSeele die Ruumlckbindung der menschlichen Seele an den Intellekt ge-waumlhrleistet umfaszligt bei Themistios der Intellekt sowohl das noeti-sche als auch das dianoetische Denken das wiederum aufgeteilt istin den potentiellen Intellekt und den νος παθητικς und das so-mit die Verbindung zwischen Koumlrper und Intellekt herstellt Dasdianoetische Denken ist nicht identisch mit der Entfaltung der in-tellektiven Einheit in die zeitliche Vielheit der Seele wie bei Plotinsondern es wird gedacht als eine begriffliche Einheit in Vielheit dieauch eine Entsprechung in der Zeit hat

In dieser Deutung des νος παθητικς unterscheidet sich The-mistios auch fundamental von den spaumlteren Neuplatonikern fuumlr

207Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

die der Intellekt von jeder Passivitaumlt und Vergaumlnglichkeit ausge-schlossen ist und die wie etwa Proklos und Philoponos von daherden νος παθητικς mit der φαντασα identifizieren52 So erklaumlrtetwa Philoponos den Begriff νος παθητικς damit daszlig die Phan-tasie wie der νος einen einfachen unmittelbaren Zugriff auf dasihnen innerlich einwohnende Erkenntnisobjekt habe und daszlig sieveraumlnderlich sei weil sie es mit Eindruumlcken (τποι) zu tun habe undihre Erkenntnis nicht ohne Beruumlcksichtigung der aumluszligeren Gestaltvor sich gehe (Philop In De an 62ndash5 115ndash11) Waumlhrend fuumlr denspaumlteren Neuplatonismus der Ausdruck νος παθητικς lediglichdie Eigenaktivitaumlt der Phantasie herausstellt53 betont Themistiosmit dem Ernstnehmen des νος παθητικς als νος vielmehr dieEinheit des menschlichen Intellekts und seine Zugehoumlrigkeit zuKoumlrperlichkeit und Vergaumlnglichkeit die dem Wesen des Menscheninhaumlrent und daher dem Intellekt selbst eingeschrieben sind

5 Der goumlttliche Intellekt und das Problem der Selbsterkenntnis

Der νος ποιητικς ist zwar fuumlr Themistios anders als fuumlrAlexander nicht mit dem Aristotelischen Gott dem UnbewegtenBeweger aus dem zwoumllften Buch der Metaphysik identisch (ThemIn De an 10236ndash1031) Aber er aumlhnelt in besonderer Weise Gottinsofern als er der bdquoUrheberldquo (4ρχηγς) seiner Gedanken ist weildieser bdquoauf eine Weise das Seiende selbst und auf eine andere Wei-se dessen Erhalter istldquo (π+ς μLν αltτ τ 1ντα στ π+ς δL ( τοτωνχορηγς) (9923ndash25) Auszligerdem laumlszligt ihn seine LeidenslosigkeitUnsterblichkeit und Ewigkeit bdquogoumlttlichldquo (10234) sein ebenso wieGott und die Gestirne die in Met 128 eine Hierarchie von unbe-wegten Bewegern aufbauen (10310ndash13) Man koumlnnte ihn daherselbst einen Gott nennen wenn auch hierarchisch eher an dritterStelle nach Gott und den Gestirnen54

208 Michae l Schramm

52) Prokl In Eucl 5120ndash528 In Tim 124419ndash22 31585ndash11 Philop InDe an 61ndash5 Vgl Blumenthal 1991 197ndash205

53) Vgl zu Proklos P Lautner The Distinction between φαντασα and δξαin Proclusrsquo In Timaeum CQ 52 2002 257ndash269 und zu Philoponos Perkams 200656f u 136f

54) Blumenthal 1990 118 nennt ihn einen bdquogod (theos) other than the firstldquoSchroeder Todd 1990 39 einen bdquolsquosecond godrsquo in contrast with the lsquofirst godrsquoldquo

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Das Verhaumlltnis von Gott und Mensch wird schon bei Aristo-teles durch die Gemeinsamkeit des Intellekts bestimmt Die Meta-physik als goumlttlichste Wissenschaft ist nicht das Denken mensch -licher Dinge sondern dasjenige goumlttlicher Dinge und zugleich dasDenken Gottes (Arist Met 12 983a5ndash8) Das goumlttliche Denkenist das gleiche wie das menschliche unterschieden nur durch Dauerund Intensitaumlt (127 1072b24f) Entsprechend charakterisiert auchThemistios das goumlttliche Denken Gott als die bdquoerste Ursacheldquo(Them In De an 1121) ist bdquogaumlnzlich frei von Potentialitaumltldquo(1124f vgl Arist Met 129 1074b20) Sein Intellekt denkt da er abgetrennt und stets in Aktualitaumlt ist keine Formen in der Ma-terie (νυλα ε9δη) sondern nur immaterielle Formen also auchkeine Privationen dies ist aber kein Mangel sondern gerade einZeichen seiner Uumlberlegenheit weil er damit keine Vergaumlnglichkeitan sich hat (Them In De an 11434ndash1153 vgl 11134ndash1123) Dermenschliche Intellekt qua Intellekt in einem Koumlrper bzw einerMaterie hat darum aber nicht nur die Faumlhigkeit (δναμις) die Formen in der Materie zu denken indem er sie von der Materie abtrennt sondern auch die immateriellen Formen und zwar voll-staumlndig (1153ndash7) Die Unterlegenheit des menschlichen Intellektsgegenuumlber dem goumlttlichen liegt also fuumlr Themistios genauso wiefuumlr Aristoteles nicht in den Objekten des Denkens begruumlndetsondern darin daszlig der Mensch nicht bdquoununterbrochenldquo (συνεχEς)und bdquoimmerldquo (4ε) denkt (7ndash9)

Um das Verhaumlltnis von Gott und Mensch ihre Gemeinsam-keit und Unterschiede besser verstehen zu koumlnnen ist eine Beruumlck-sichtigung von Themistiosrsquo Paraphrase zu Met 12 nuumltzlich55 Daszlig

209Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

55) Schon SchroederTodd 1990 39 Anm 133 weisen darauf hin daszlig die Untersuchung der Parallelen zwischen Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima undder zu Met 12 bdquowould merit further investigationldquo Der erste Ansatz dazu findetsich bei Pines 1987 186f

Der griechische Text der Paraphrase zu Met 12 ist verloren erhalten ist nurdie hebraumlische Uumlbersetzung die Moses Ibn Tibbon 1255 von der mittlerweile eben-falls verlorenen arabischen Uumlbersetzung des Textes angefertigt hat Von dieser hebraumlischen Uumlbersetzung gibt es eine lateinische Uumlbersetzung von Moses Finzi von1558 (beide in der CAG-Ausgabe von S Landauer Berlin 1903) Ebenfalls erhaltenist eine arabische Kurzfassung der hebraumlischen Uumlbersetzung (hrsg von ABadawiAristūlsquoRindarsquol-RArab Kairo 1947 12ndash21 u 329ndash333) Ausfuumlhrlicher zur Uumlberliefe-rungsgeschichte vgl Landauers Vorwort (CAG 5 5 VndashVII) und Pines 1987 177fFuumlr Textzitate koumlnnen hier nur die lateinische Uumlbersetzung und die auszugsweiseenglische Uumlbersetzung des arabischen Textes bei Pines 1987 herangezogen werden

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Themistios nach allen Nachrichten die wir haben nur die Aristo-telische Theologie und nicht die ontologischen Buumlcher der Meta-physik paraphrasiert hat legt den Schluszlig nahe daszlig fuumlr ihn aumlhnlichwie fuumlr die Neuplatoniker und anders als fuumlr Alexander derHauptgegenstand der Metaphysik die Theologie war56 Die Haupt-these seiner Paraphrase zu Met 12 ist daszlig Gott nicht nur sichselbst denkt sondern indem er sich selbst denkt auch alle anderenDinge denkt Gott wird mit verschiedenen Attributen belegt Er istdie bdquoerste Ursacheldquo (prima causa In Met 12191) der bdquoerste Be-weger der Dingeldquo (primus motor rerum) ihre bdquoVollendungldquo (per-fectio = ντελχεια) und ihr bdquoZielldquo (gratia cuius = οJ νεκα) (1924)er ist bdquoLebenldquo (vigor = ζω8) bdquoGesetzldquo (lex) bdquoUrsache der Har-monie und der Ordnung dieser Weltldquo (causa aequabilitatis et ordi-nis huius mundi) und er ist schlieszliglich bdquovollkommen erster Intel-lekt und Wahrheitldquo (intellectus perfecte primus veritasque) (1939ndash201) Unter diesen Attributen sind zwei besonders hervorzuhe-ben der erste Intellekt und das lebendige Gesetz

Gottes Intellekt ist der hervorragendste unter den denkbarenGegenstaumlnden weil er sich selbst denkt ohne Hindernis und Un-terbrechung durch die Sinneswahrnehmung (2218ndash22) Das be-deutet daszlig der denkende Intellekt und das gedachte Objekt ihrerNatur und ihrer Aktualitaumlt nach zugleich und identisch sind(2227ndash30 und 34ndash36) Das wiederum heiszligt bdquoder Intellekt alsGanzer umfaszligt das Ganzeldquo (intellectus totus totum amplectitur)insofern als er alle immateriellen Formen denkt und nichts Intelli-gibles auszligerhalb von ihm bleibt (2236f 234ndash6) Er denkt allesSeiende nicht als eine Vielheit sondern als eine Einheit und Tota-litaumlt bdquoalles zugleichldquo (omnia subito = πντα (μο) (321ndash4 und 16ndash18) Folglich gibt es im goumlttlichen Intellekt kein diskursivesDenken also keinen bdquoDurchgangldquo durch die einzelnen Denkbe-stimmungen keine Verbindung und Trennung und kein dedukti-ves Schlieszligen von Praumlmissen auf Konklusionen alles dies Charak-teristika des menschlichen Denkens (3240ndash332) Der goumlttliche Intellekt denkt einen mundus intelligibilis ohne Zeitlichkeit und inreiner Aktualitaumlt (334ndash6) Das Denken der intelligiblen Formenumfaszligt nun nicht nur ihre Wesensbestimmung sondern auch ihreExistenz Gott denkt alles Seiende in der Weise bdquodurch die siesindldquo (quo sunt) und in der Weise bdquodurch die er sie bestimmt hat

210 Michae l Schramm

56) Vgl Guldentops 2001 102ndash104

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

seiend zu seinldquo (quo ipse posuit ea entia esse) (2319f) Indem fuumlrGott nichts auszligerhalb seiner eigenen Natur bleibt bdquobringtldquo er allesSeiende bdquohervorldquo (producit) und alles Seiende bdquoist das was er istldquo(2339ndash241) Die Ipseitaumlt Gottes ist mit der Totalitaumlt des Seiendenidentisch57

Gott ist damit das bdquolebendigeldquo oder bdquobeseelte Gesetzldquo (vivabzw animata lex)58 wie wenn der spartanische Gesetzgeber Ly-kurg noch leben und seinem Gesetz beistehen wuumlrde indem er insich selbst die Koumlnige und Militaumlrfuumlhrer daumlchte die seine Gedan-ken in der Verwaltung umsetzen wuumlrden (243ndash8) Gott hingegender als Gesetz und Gesetzgeber ewiges Leben hat sogar das ewigeLeben ist gewaumlhrleistet eine unaufhoumlrliche Durchwaltung derWelt durch sein Denken (2410ndash13) Aus Gottes Denken bdquogeht dieOrdnung und Regelmaumlszligigkeit des Seienden hervorldquo (ordo et rec-titudo entium proveniet) (202ndash4) Die Verbindung der Dinge derWelt zu ihrem Ersten Beweger deutet Themistios als bdquoBegehrenldquo(desiderium) und bdquoLiebeldquo (amor) Er nimmt dabei einerseits Ari-stotelesrsquo Ausdruck der 1ρεξις fuumlr das Bewegungsverhaumlltnis derWelt im Hinblick auf den Unbewegten Beweger wieder auf (AristMet 127 1072a25ndash27) andererseits benutzt er schon hier die Me-tapher des belebten Gesetzes das er spaumlter in den Reden auf denbyzantinischen Kaiser anwendet59 So vergleicht er das Verlangender Welt nach Gott mit dem Verlangen des gesetzeskundigen Man-nes daszlig er bdquonach dem Gesetz lebeldquo (Them In Met 12 208f) odermit dem Verlangen der Buumlrgerschaft bdquoden Koumlnig nachzuahmenund auf seine Handlungsweise achtzugebenldquo (23)60 Das goumlttlicheDenken setzt nun als bdquoprimus motor rerumldquo die Bewegungsreiheder Dinge dieser Welt in Gang indem es als bdquobegehrter Gegen-standldquo (ut res desiderata) bewegt Die Reihenfolge entspricht ganz

211Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

57) In dieser These sieht Pines 1987 187f die Hauptaumlhnlichkeit zu PlotinsIntellektkonzeption

58) Pines 1987 189 zeigt daszlig dieser Ausdruck eine stoische Terminologie istund verweist dazu auf Zenon (SVF I 16242) und Chrysipp (SVF II 1077316) aberauch auf Ps-Arist De mundo (6 400b6ff)

59) Vgl Or 115b3ndash8 16212d7f60) Der Herrscher selbst ahmt wiederum Gott nach insbesondere seine

Philanthropia die einzige Tugend die Gott mit dem Menschen gemein hat (Or18andash9a) Es verdiente eine weitergehende Untersuchung die hier allerdings nichtgeleistet werden kann ob und wie Themistiosrsquo Ansicht uumlber das Verhaumlltnis vonGott und Mensch in der Metaphysik 12-Paraphrase mit der in seinen Reden ver-einbar ist

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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220 Michae l Schramm

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

der aristotelischen Seinshierarchie beginnend mit der Fixstern -sphaumlre den Planeten und der sublunaren Welt der entstehendenund vergaumlnglichen Dinge (31ndash39 vgl 3022ndash25) Zusammenfas-send gesagt ist Gott in dreifacher Weise bdquoprima causaldquo Er ist For-mursache (principium de forma) Finalursache (eo cuius gratia quidest) und Bewegungs- oder effizierende Ursache (principium motus)(3415f)61 Indem Gottes Gedanke das Sein und Wesen der imma-teriellen Formen determiniert und seine ewige Bewegung die Be-wegung in der Welt anstoumlszligt und erhaumllt indem sich die Taumltigkeit der Formen in der Welt auf die Vollkommenheit der ewigen Selbst-bewegung Gottes zuruumlckbezieht ist Gott zugleich Seins- und Bewegungsursache der Welt Darin unterscheidet sich Themistiosoffenbar von Aristoteles dessen Gott zwar als erster Beweger dieFinal ursache der Welt abgibt der allerdings nur sich selbst undnicht den Kosmos denkt so daszlig er nicht als Form- oder Seinsur-sache des jeweiligen Seienden in Frage kommt62

Mit der Frage der Selbsterkenntnis des Intellekts beschaumlftigtsich Themistios explizit in seiner Paraphrase zu der Aristoteles-Passage in der es heiszligt daszlig die Wissenschaft die Sinneswahrneh-mung die Meinung und das diskursive Denken bdquoimmer auf ein an-deres zu gehen scheinen auf sich selbst nur nebenbei (ν παρργO)ldquo(Arist Met 129 1074b35f) Von dieser Passage ausgehend wirdgewoumlhnlich Selbsterkenntnis bei Aristoteles als akzidentelles Pro-dukt der Objekterkenntnis verstanden63 Themistios zitiert diesePassage laumlszligt aber den Nachsatz bdquoauf sich selbst nur nebenbeildquo ausund bringt als Beispiel fuumlr den Zusammenhang von Objekt- undSelbsterkenntnis das Wahrnehmungsurteil bdquoein Mensch ist weiszligldquo

212 Michae l Schramm

61) Vgl auch Pines 1987 185f62) Eine andere Aristoteles-Interpretation vertritt H Kraumlmer Der Ursprung

der Geistmetaphysik Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischenPlaton und Plotin Amsterdam 1964 127ndash191 Demnach hat Gottes SelbstdenkenInhalte naumlmlich die 55 unbewegten Beweger der Gestirnssphaumlren aus Met 128Triftige Argumente gegen diese These fuumlhrt K Oehler an und macht die Inhaltslo-sigkeit des sich selbst denkenden Denkens Gottes plausibel (Rez zu Kraumlmer Geist-metaphysik Gnomon 40 [1968] 648ndash650 u Der Unbewegte Beweger des Aristo -teles Frankfurt am Main 1984 74ndash77 u 82ndash90) L Elders Aristotlersquos Theology Assen 1972 257ndash259 vertritt eine neuplatonische Interpretation des UnbewegtenBewegers in der Art des Themistios wonach Gott als erste Ursache allen Denkensin seiner Selbsterkenntnis die Erkenntnis der Welt enthaumllt eine Implikation ohnedie die Welt keine Beziehung zu ihrem Prinzip habe

63) Vgl Alex De an 8620ndash23 und Philop De intell 2110 14ndash18

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

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65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

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219Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

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220 Michae l Schramm

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Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

und den geometrischen durch diskursives Denken erkanntenLehrsatz von der Innenwinkelsumme im Dreieck anhand derer er zeigen kann daszlig der Intellekt wenn er bdquoA ist Bldquo denkt bdquobereitsgedacht hatldquo (iam concepit iam intellexit) daszlig er dies denkt (ThemIn Met 12 3330ndash36) Die Gegenstaumlnde der Wissenschaften sindalso insofern als sie immateriell sind mit der Wissenschaft selbstidentisch analog der Identitaumlt von Intellekt und Intelligiblem (36ndash39 vgl Arist Met 129 1074b38ndash1075a5) Das verkuumlrzte Aristo-teles-Zitat und die Vergangenheitsform der Aussage daszlig der In -tellekt wenn er etwas denkt bereits gedacht ha t daszlig er etwasdenkt64 sind zwei Indizien fuumlr die Vorgaumlngigkeit der intellektivenTaumltigkeit vor deren Inhalt und fuumlr die neuplatonische Umkehrungder aristotelischen Lehre von der Abhaumlngigkeit der Selbsterkennt-nis von der Objekterkenntnis

Einen eindruumlcklichen Beweis fuumlr Themistiosrsquo neuplatonischeInterpretation des Intellekts liefert folgendes Zitat bdquoDie intelli-gible Form und der Intellekt sind zugleich und der Intellekt ist eineinziger der sich zu sich selbst zuruumlckwendet (ad se convertitur)und man sagt daszlig Intellekt und Intelligibles beides zugleich sindDenn der Intellekt der ein einziger ist geht nicht uumlber (non trans -it) von einer gedachten Sache zur anderen die ihm von seiner Natur her fremd ist sondern wendet sich zu sich selbst zuruumlckldquo(Them In Met 12 3340ndash343) Die Identitaumlt von Intellekt und In-telligiblem schlieszligt das diskursive bdquoDurchgehenldquo (transire) einan-der fremder Denkbestimmungen aus wie umgekehrt die Abwe-senheit jedweder Differenz oder Andersheit in der Relation vonIntellekt und Intelligiblem die Einzahl des Intellekts begruumlndetMehrere Intellekte braumluchten stets ein Moment der Differenz dasihre Vielzahl begruumlndet Die Einzahl wiederum ist gleichurspruumlng-lich mit der Totalitaumlt und Vollstaumlndigkeit aller intelligiblen Bestim-mungen ndash eine Vollkommenheit die Themistios durch das neupla-tonische Moment der bdquoRuumlckkehr zu sich selbstldquo ausdruumlckt Zu-sammen mit der Aussage daszlig die Ordnung des Seienden sprich

213Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

64) Die Vergangenheitsform gilt freilich nur fuumlr das diskursive Denken desMenschen Gott dem nur das noetische Denken einer allumfassenden Einheit undTotalitaumlt zu Gebote steht denkt entsprechend in ewiger Gegenwart und Totalitaumltwie folgendes Zitat belegt bdquoWenn Gott denkt daszlig er selbst die Form von allem istist er selbst auch das Prinzip der Regelmaumlszligigkeit der Seienden und ihrer Ordnungund erkennt zweifellos zugleich (simul comprehendit) daszlig er das Prinzip der Din-ge und ihrer Regelmaumlszligigkeit und Ordnung istldquo (Them In Met 12 3419ndash22)

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

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65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

Bibliographie

Ausgaben Kommentare Uumlbersetzungen

De Falco 1965 V de Falco Paraphrasi dei libri di Aristotele sullrsquoanima trans italPadua

Heinze 1899 R Heinze (Hrsg) Themistii in libros Aristotelis De anima Paraphra-sis (= In De an) CAG 53 Berlin

Hicks 1907 R D Hicks Aristotle De anima transl introd notes CambridgeLandauer 1903 S Landauer (Hrsg) Themistii in Aristotelis Metaphysicorum Li-

brum Λ Paraphrasis Hebraice et Latine (= In Met 12) CAG 55 BerlinLyons 1973 M C Lyons (Hrsg) An Arabic Translation of the Commentary of

Themistios on Aristotlersquos De anima LondonSchroeder Todd 1990 F M Schroeder R B Todd Two Greek Aristotelian Com-

mentators on the Intellect The De Intellectu Attributed to Alexander ofAphrodisias and Themistiosrsquo Paraphrase of Aristotle De Anima 34ndash8 In-trod Transl Comm and Notes Toronto

Spengel 1866 L Spengel (Hrsg) Themistii Paraphrases Aristotelis librorum quaesupersunt Leipzig 2 Bde

Todd 1996 R B Todd Themistius On Aristotle On the Soul transl comm Lon-don

Verbeke 1957 G Verbeke (Hrsg) Theacutemistius Commentaire sur le traiteacute de lrsquoacircmedrsquoAristote traduction de Guillaume de Moerbeke Corpus Latinum Com-mentariorum in Aristotelem Graecorum 1 Louvain Paris

Wallies 1900 M Wallies (Hrsg) Themistii Analyticorum Posteriorum Paraphrasis(= In An Post) CAG 51 Berlin

Sekundaumlrliteratur

Balleacuteriaux 1943 O Balleacuteriaux DrsquoAristote agrave Theacutemistius Contribution agrave une histoirede la noeacutetique drsquoapregraves Aristote Liegravege (Diss)

ndash 1989 O Balleacuteriaux Theacutemistius et lrsquoexeacutegeacutese de la noeacutetique aristoteacutelicienneRevue de Philosophie Ancienne 7 199ndash233

ndash 1994 O Balleacuteriaux Theacutemistius et le neacuteoplatonisme Le νος παθητικς etlrsquoimmortaliteacute de lrsquoacircme Revue de Philosophie Ancienne 12 171ndash200

ndash 1996 O Balleacuteriaux Eugeacutenios pegravere de Theacutemistios et philosophie neacuteoplatoni-cien LrsquoAntiquiteacute Classique 65 135ndash160

Barbotin 1954 E Barbotin La Theacuteorie Aristoteacutelicienne de lrsquointellect drsquoapregraves Theacuteo-phraste Louvain Paris

219Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Bazaacuten 1976ndash77 B C Bazaacuten La noeacutetica di Temistio (c 320ndash390) Revista Venezola-na de Filosofia 5ndash6 51ndash82

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ndash 1990 H J Blumenthal Themistios the last Peripatetic commentator on Ari-stotle in R Sorabji (Hrsg) Aristotle Transformed The Ancient Commen-tators and Their Influence Ithaca New York 113ndash123 (orig in G Bower -sock et al [Hrsg] Arktouros Hellenic Studies presented to BernardM Knox Berlin New York 1979 391ndash400)

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Brentano 1992 F Brentano Nous poietikos Survey of Earlier Interpretations inM C NussbaumA Oksenberg Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De ani-ma Oxford 313ndash341

Colpi 1987 B Colpi Die παιδεα des Themistios Frankfurt am Main (Diss)Guldentops 2001 G Guldentops La science suprecircme selon Theacutemistius Revue de

Philosophie Ancienne 19 99ndash120Hamelin 1953 O Hamelin La theacuteorie de lrsquointellect drsquoapregraves Aristote et ses com-

mentateurs ParisKurfess 1911 H Kurfess Zur Geschichte der Erklaumlrung der aristotelischen Lehre

vom sogenannten νος ποιητικς und παθητικς TuumlbingenMahoney 1973 E P Mahoney Themistios and the Agent Intellect in James Viterbo

and Other Thirteenth-Century Philosophers (Saint Thomas Siger of Brabantand Henry Bate) Augustiniana 23 422ndash467

ndash 1982 E P Mahoney Neoplatonism the Greek Commentators and Renais-sance Aristotelianism in D J OrsquoMeara (Hrsg) Neoplatonism and ChristianThought Albany 169ndash177 u 264ndash282

Martin 1966 S B Martin The Nature of the Human Intellect as It is Expounded inThemistiosrsquo bdquoParaphrasis in Libros Aristotelis de animaldquo in F J Adelman(Hrsg) The Quest for the Absolute (= Boston College Studies in Philosophy1) Boston 1ndash21

Merlan 1963 P Merlan Monopsychism Mysticism Metaconsciousness Problemsof the Soul in the Neoaristotelian and Neoplatonic Tradition The Hague

Moraux 1967 P Moraux Aristoteles der Lehrer Alexanders von Aphrodisias Ar-chiv fuumlr Geschichte der Philosophie 49 169ndash182

ndash 1978 P Moraux Le De Anima dans la tradition grecque Quelques aspects delrsquointerpretation du traiteacute de Theacuteophraste agrave Theacutemistius in G E R LloydG E L Owen (Hrsg) Aristotle on Mind and the Senses (= Proceedings ofthe Seventh Symposium Aristotelicum) Cambridge 281ndash324

ndash 1984 P Moraux Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bisAlexander von Aphrodisias Bd 2 Der Aristotelismus im I und II Jhn Chr Berlin New York (bes 399ndash425)

OrsquoDaly 1973 G OrsquoDaly Plotinusrsquo Philosophy of the Self ShannonPerkams 2006 M Perkams Die neuplatonischen Kommentare zu Aristotelesrsquo De

anima und das Problem der Selbsterkenntnis Jena (Habil)Pines 1987 S Pines Some Distinctive Metaphysical Conceptions in Themistiusrsquo

Commentary on Book Lambda and Their Place in the History of Philoso-phy in J Wiesner (Hrsg) Aristoteles Werk und Wirkung Bd 2 BerlinNew York 177ndash204

220 Michae l Schramm

Praechter 131953 K Praechter Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte derPhilosophie Bd I Die Philosophie des Altertums Basel

Stump 1978 E Stump Boethiusrsquos bdquoDe topicis differentiisldquo transl notes and essaysIthaca London

Szlezaacutek 1979 Th A Szlezaacutek Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins Basel Stuttgart

Todd 1981 R B Todd Themistios and the Traditional Interpretation of AristotlersquosTheory of Phantasia Acta Classica 24 49ndash59

Wilpert 1935 P Wilpert Die Ausgestaltung der aristotelischen Lehre vom Intellec-tus agens bei den griechischen Kommentatoren und in der Scholastik des13 Jahrhunderts Beitraumlge zur Geschichte der Philosophie und Theologie desMittelalters Suppl-Bd III 1 Muumlnster 447ndash462

Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

der mundus intelligibilis aus der Taumltigkeit des Intellekts bdquohervor-gehtldquo (proveniet 204) bzw daszlig der Intellekt alles bdquohervorbringtldquo(producit 241) erscheinen in den Verben provenire und converte-re ad se65 die Momente προδος und πιστροφ8 wieder die fuumlr dieNeuplatoniker die Taumltigkeit des Intellekts konstituieren66 Her-vorgang aus sich selbst und Ruumlckgang zu sich selbst bestimmen dieRelation des Intellekts zum Intelligiblen und begruumlnden so wie dergoumlttliche Intellekt in Sich-selbst-Denken zugleich die Ordnung derintelligiblen Welt und die jeweilige intelligible Form denkt Aller-dings fuumlhrt der Ruumlckgang zu sich selbst bei Themistios offenbarnicht zum uumlberseienden Einen als Prinzip auch der intellektivenTaumltigkeit zuruumlck sondern bleibt nur bei der Selbstidentitaumlt desgoumlttlichen Intellekts stehen

Wenn Gottes Selbstdenken gleichbedeutend ist mit dem Den-ken des intelligiblen Kosmos und der darin enthaltenen intelli-giblen Formen stellt sich die Frage ob analog dazu auch die Selbst-erkenntnis des menschlichen Intellekts die notwendige Vorausset-zung fuumlr die Objekterkenntnis ist bdquoVoraussetzungldquo koumlnnte ent-weder a) eine platonische oder b) eine aristotelische Loumlsung im -plizieren a) Das menschliche Selbst enthaumllt in sich potentiell alledenkbaren Formen und aktiviert das in ihm bereits vorhandeneWissen durch eine Ruumlckwendung zu einer urspruumlnglichen Einheitin der Selbst- und Objekterkenntnis noch identisch sind Die

214 Michae l Schramm

65) Was die hebraumlische Entsprechung fuumlr diese Termini angeht muszlig dieseEinschaumltzung jedoch teilweise mit Vorsicht behandelt werden Waumlhrend der Aus-druck convertitur ad se (3341f) etwa dieselbe Bedeutung hat wie das hebraumlischejithappek lsquoal lsquoazmoto naumlmlich bdquosich zu sich selbst wendenldquo bzw bdquosich zu sich selbstwandelnldquo uumlbersetzt proveniet (204) das hebraumlische me rsquoatah jihjēh das nur bdquoseinvonldquo bzw bdquostammen vonldquo bedeutet Producit (241) gibt jōlīdam wieder was im ei-gentlichen Sinne bdquogebaumlren zeugenldquo und erst im uumlbertragenen Sinne bdquohervorbrin-genldquo heiszligt Mit einiger Sicherheit kann also nur das reflexive Selbstverhaumlltnis alsMoment des goumlttlichen Intellekts behauptet werden nicht aber die Abhaumlngigkeitder seienden Dinge und ihrer Ordnung vom goumlttlichen Intellekt als Hervorgang desIntellekts Moumlglicherweise hat hier der lateinische Uumlbersetzer den etwas unklarenhebraumlischen Ausdruck neuplatonisch uumlberprononciert Groumlszligere Klarheit hinsicht-lich einer neuplatonischen Interpretation des hebraumlischen Textes koumlnnte hier nur einumfassender Vergleich der hebraumlischen und der lateinischen Uumlbersetzung schaffender allerdings auch eine Kenntnis des Arabischen und seiner philosophischen Ter-minologie voraussetzen wuumlrde Dies kann hier leider nicht geleistet werden

66) Zu Plotin vgl Enn 69235f ε=ς ατν γρ πιστρφων ε=ς 4ρχ6νπιστρφει Zu Proklos vgl W Beierwaltes Proklos Grundzuumlge seiner Metaphy-sik Frankfurt am Main 21979 118ndash164

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

Bibliographie

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De Falco 1965 V de Falco Paraphrasi dei libri di Aristotele sullrsquoanima trans italPadua

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brum Λ Paraphrasis Hebraice et Latine (= In Met 12) CAG 55 BerlinLyons 1973 M C Lyons (Hrsg) An Arabic Translation of the Commentary of

Themistios on Aristotlersquos De anima LondonSchroeder Todd 1990 F M Schroeder R B Todd Two Greek Aristotelian Com-

mentators on the Intellect The De Intellectu Attributed to Alexander ofAphrodisias and Themistiosrsquo Paraphrase of Aristotle De Anima 34ndash8 In-trod Transl Comm and Notes Toronto

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Verbeke 1957 G Verbeke (Hrsg) Theacutemistius Commentaire sur le traiteacute de lrsquoacircmedrsquoAristote traduction de Guillaume de Moerbeke Corpus Latinum Com-mentariorum in Aristotelem Graecorum 1 Louvain Paris

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Sekundaumlrliteratur

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Brentano 1992 F Brentano Nous poietikos Survey of Earlier Interpretations inM C NussbaumA Oksenberg Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De ani-ma Oxford 313ndash341

Colpi 1987 B Colpi Die παιδεα des Themistios Frankfurt am Main (Diss)Guldentops 2001 G Guldentops La science suprecircme selon Theacutemistius Revue de

Philosophie Ancienne 19 99ndash120Hamelin 1953 O Hamelin La theacuteorie de lrsquointellect drsquoapregraves Aristote et ses com-

mentateurs ParisKurfess 1911 H Kurfess Zur Geschichte der Erklaumlrung der aristotelischen Lehre

vom sogenannten νος ποιητικς und παθητικς TuumlbingenMahoney 1973 E P Mahoney Themistios and the Agent Intellect in James Viterbo

and Other Thirteenth-Century Philosophers (Saint Thomas Siger of Brabantand Henry Bate) Augustiniana 23 422ndash467

ndash 1982 E P Mahoney Neoplatonism the Greek Commentators and Renais-sance Aristotelianism in D J OrsquoMeara (Hrsg) Neoplatonism and ChristianThought Albany 169ndash177 u 264ndash282

Martin 1966 S B Martin The Nature of the Human Intellect as It is Expounded inThemistiosrsquo bdquoParaphrasis in Libros Aristotelis de animaldquo in F J Adelman(Hrsg) The Quest for the Absolute (= Boston College Studies in Philosophy1) Boston 1ndash21

Merlan 1963 P Merlan Monopsychism Mysticism Metaconsciousness Problemsof the Soul in the Neoaristotelian and Neoplatonic Tradition The Hague

Moraux 1967 P Moraux Aristoteles der Lehrer Alexanders von Aphrodisias Ar-chiv fuumlr Geschichte der Philosophie 49 169ndash182

ndash 1978 P Moraux Le De Anima dans la tradition grecque Quelques aspects delrsquointerpretation du traiteacute de Theacuteophraste agrave Theacutemistius in G E R LloydG E L Owen (Hrsg) Aristotle on Mind and the Senses (= Proceedings ofthe Seventh Symposium Aristotelicum) Cambridge 281ndash324

ndash 1984 P Moraux Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bisAlexander von Aphrodisias Bd 2 Der Aristotelismus im I und II Jhn Chr Berlin New York (bes 399ndash425)

OrsquoDaly 1973 G OrsquoDaly Plotinusrsquo Philosophy of the Self ShannonPerkams 2006 M Perkams Die neuplatonischen Kommentare zu Aristotelesrsquo De

anima und das Problem der Selbsterkenntnis Jena (Habil)Pines 1987 S Pines Some Distinctive Metaphysical Conceptions in Themistiusrsquo

Commentary on Book Lambda and Their Place in the History of Philoso-phy in J Wiesner (Hrsg) Aristoteles Werk und Wirkung Bd 2 BerlinNew York 177ndash204

220 Michae l Schramm

Praechter 131953 K Praechter Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte derPhilosophie Bd I Die Philosophie des Altertums Basel

Stump 1978 E Stump Boethiusrsquos bdquoDe topicis differentiisldquo transl notes and essaysIthaca London

Szlezaacutek 1979 Th A Szlezaacutek Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins Basel Stuttgart

Todd 1981 R B Todd Themistios and the Traditional Interpretation of AristotlersquosTheory of Phantasia Acta Classica 24 49ndash59

Wilpert 1935 P Wilpert Die Ausgestaltung der aristotelischen Lehre vom Intellec-tus agens bei den griechischen Kommentatoren und in der Scholastik des13 Jahrhunderts Beitraumlge zur Geschichte der Philosophie und Theologie desMittelalters Suppl-Bd III 1 Muumlnster 447ndash462

Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ruumlckwendung zu dieser Einheit konstituiert unsere Selbsterkennt-nis so daszlig diese die ontologische Bedingung der Moumlglichkeit un-serer Objekterkenntnis bildet (Plotin) b) Die Selbsterkenntnis istnur ein akzidentelles Nebenprodukt der Objekterkenntnis da derIntellekt in erster Linie und an sich das gedachte Objekt erkenntmit dem es identisch wird (Alexander)67 Dabei kann sich dieSelbsterkenntnis mit stetig anwachsendem Objektwissen immermehr vergroumlszligern (Philoponos)68

Themistios thematisiert zwar nirgendwo wie man sich ein ge-meinsames abgetrenntes Selbst oder ein kollektives Selbstbewuszligt-sein vorstellen muszlig Es gibt aber ein kollektives Bewuszligtsein vomWesen des eigenen im jeweiligen Menschen vorkommendenSelbst das jeder Mensch mit einem andern gemeinsam hat auf-grund der Tatsache daszlig er ein Mensch ist Wenn Themistios etwasagt daszlig bdquowi r entweder der potentielle oder der aktuelle Intellektsindldquo (In De an 10016) oder fragt bdquowarum wir uns nach demTod nicht an das erinnern was wir hier gedacht habenldquo (1011f)so produziert diese Aussage bzw Frage eigentlich das diskursiveDenken des Menschen der aus potentiellem und aktuellem Intel-lekt zusammengesetzt ist insofern als es aktiviert ist (vgl 10020ndash22) d h insofern als der aktive Intellekt es im potentiellen Intel-lekt wirksam gemacht hat Dieses bdquoWirldquo richtet sich nicht nur indidaktischer Absicht an den geneigten Leser oder Houmlrer der in denText mit hineingenommen werden soll sondern an den Menschenim allgemeinen dem dieselben Denkfaumlhigkeiten und -taumltigkeitenwie dem Sprecher innewohnen Wenn Themistios zur Bestimmungdes Wesens des Menschen kommt daszlig bdquowir der aktive Intellektsindldquo (10037f) dann ist das ebenfalls eine Aussage des diskur sivenDenkens die die houmlchste dem Menschen moumlgliche Selbsterkennt-nis ausspricht und die nur moumlglich ist durch die Selbsttranszendie-rung des diskursiven Denkens zur Einheit des sich selbst erken-nenden aktiven Intellekts

Die Aktualisierung der Selbsterkenntnis im Menschen kannnicht wie bei Gott die Form- Final- oder Bewegungsursache fuumlrdas Sein oder die Erkenntnis der vom Menschen unabhaumlngigenObjekte sein Der Mensch ist vielmehr selbst ein durch das Den-ken Gottes verursachtes Lebewesen dessen Gemeinschaft mit

215Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

67) Vgl Alex De an 8618ndash2368) Vgl Philop De intell 2100ndash18 und Perkams 2006 322ndash326

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

Bibliographie

Ausgaben Kommentare Uumlbersetzungen

De Falco 1965 V de Falco Paraphrasi dei libri di Aristotele sullrsquoanima trans italPadua

Heinze 1899 R Heinze (Hrsg) Themistii in libros Aristotelis De anima Paraphra-sis (= In De an) CAG 53 Berlin

Hicks 1907 R D Hicks Aristotle De anima transl introd notes CambridgeLandauer 1903 S Landauer (Hrsg) Themistii in Aristotelis Metaphysicorum Li-

brum Λ Paraphrasis Hebraice et Latine (= In Met 12) CAG 55 BerlinLyons 1973 M C Lyons (Hrsg) An Arabic Translation of the Commentary of

Themistios on Aristotlersquos De anima LondonSchroeder Todd 1990 F M Schroeder R B Todd Two Greek Aristotelian Com-

mentators on the Intellect The De Intellectu Attributed to Alexander ofAphrodisias and Themistiosrsquo Paraphrase of Aristotle De Anima 34ndash8 In-trod Transl Comm and Notes Toronto

Spengel 1866 L Spengel (Hrsg) Themistii Paraphrases Aristotelis librorum quaesupersunt Leipzig 2 Bde

Todd 1996 R B Todd Themistius On Aristotle On the Soul transl comm Lon-don

Verbeke 1957 G Verbeke (Hrsg) Theacutemistius Commentaire sur le traiteacute de lrsquoacircmedrsquoAristote traduction de Guillaume de Moerbeke Corpus Latinum Com-mentariorum in Aristotelem Graecorum 1 Louvain Paris

Wallies 1900 M Wallies (Hrsg) Themistii Analyticorum Posteriorum Paraphrasis(= In An Post) CAG 51 Berlin

Sekundaumlrliteratur

Balleacuteriaux 1943 O Balleacuteriaux DrsquoAristote agrave Theacutemistius Contribution agrave une histoirede la noeacutetique drsquoapregraves Aristote Liegravege (Diss)

ndash 1989 O Balleacuteriaux Theacutemistius et lrsquoexeacutegeacutese de la noeacutetique aristoteacutelicienneRevue de Philosophie Ancienne 7 199ndash233

ndash 1994 O Balleacuteriaux Theacutemistius et le neacuteoplatonisme Le νος παθητικς etlrsquoimmortaliteacute de lrsquoacircme Revue de Philosophie Ancienne 12 171ndash200

ndash 1996 O Balleacuteriaux Eugeacutenios pegravere de Theacutemistios et philosophie neacuteoplatoni-cien LrsquoAntiquiteacute Classique 65 135ndash160

Barbotin 1954 E Barbotin La Theacuteorie Aristoteacutelicienne de lrsquointellect drsquoapregraves Theacuteo-phraste Louvain Paris

219Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Bazaacuten 1976ndash77 B C Bazaacuten La noeacutetica di Temistio (c 320ndash390) Revista Venezola-na de Filosofia 5ndash6 51ndash82

Blumenthal 1979 H J Blumenthal Photius on Themistios (Cod 74) Did Themi-stios Write Commentaries on Aristotle Hermes 107 168ndash182

ndash 1990 H J Blumenthal Themistios the last Peripatetic commentator on Ari-stotle in R Sorabji (Hrsg) Aristotle Transformed The Ancient Commen-tators and Their Influence Ithaca New York 113ndash123 (orig in G Bower -sock et al [Hrsg] Arktouros Hellenic Studies presented to BernardM Knox Berlin New York 1979 391ndash400)

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Merlan 1963 P Merlan Monopsychism Mysticism Metaconsciousness Problemsof the Soul in the Neoaristotelian and Neoplatonic Tradition The Hague

Moraux 1967 P Moraux Aristoteles der Lehrer Alexanders von Aphrodisias Ar-chiv fuumlr Geschichte der Philosophie 49 169ndash182

ndash 1978 P Moraux Le De Anima dans la tradition grecque Quelques aspects delrsquointerpretation du traiteacute de Theacuteophraste agrave Theacutemistius in G E R LloydG E L Owen (Hrsg) Aristotle on Mind and the Senses (= Proceedings ofthe Seventh Symposium Aristotelicum) Cambridge 281ndash324

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OrsquoDaly 1973 G OrsquoDaly Plotinusrsquo Philosophy of the Self ShannonPerkams 2006 M Perkams Die neuplatonischen Kommentare zu Aristotelesrsquo De

anima und das Problem der Selbsterkenntnis Jena (Habil)Pines 1987 S Pines Some Distinctive Metaphysical Conceptions in Themistiusrsquo

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220 Michae l Schramm

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Szlezaacutek 1979 Th A Szlezaacutek Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins Basel Stuttgart

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Wilpert 1935 P Wilpert Die Ausgestaltung der aristotelischen Lehre vom Intellec-tus agens bei den griechischen Kommentatoren und in der Scholastik des13 Jahrhunderts Beitraumlge zur Geschichte der Philosophie und Theologie desMittelalters Suppl-Bd III 1 Muumlnster 447ndash462

Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Gott jedoch in der Faumlhigkeit zu denken liegt69 Der aktive Intellektdes Menschen ist in aumlhnlicher Weise wie bei Gott der bdquoUrheberldquo(4ρχηγς) seiner Gedanken indem er im Denken mit seinen Denk-objekten identisch wird und bdquoin gewisser Weise deren Erhalter istldquo(π+ς δL ( τοτων χορηγς) (9923ndash25) Gott selbst ist der bdquoErhal-terldquo der Welt indem er im Denken des Seienden zugleich ihre Ord-nung und Totalitaumlt denkt somit ist er auch der bdquoErhalterldquo des ak-tiven Intellekts des Menschen70 So wie in Gottes Selbstdenken alleimmateriellen Formen bzw Begriffe in ihren wechselseitigen Be-ziehungen Verbindungen und Unterschieden bdquoauf einmal zu-gleichldquo praumlsent sind und gedacht werden so kann der aktive Intel-lekt des Menschen dieses allumfassende Denken in dem Selbst-und Objekterkenntnis eine Einheit bilden nur abgetrennt d hohne Potentialitaumlt ohne Koumlrper und ohne Individualitaumlt verwirk-lichen naumlmlich als intelligible Idee im Denken Gottes

In diesem individuellen koumlrpergebundenen Leben hier ist deraktive Intellekt das bdquoGoumlttliche in unsldquo durch das gelegentlich dieIntensitaumlt und Totalitaumlt des goumlttlichen Denkens im Menschen auf-scheint Das menschliche Denken entwickelt sich wie gesehenvon den Wahrnehmungen aus durch das Erlernen von Sprache und

216 Michae l Schramm

69) Themistiosrsquo Betonung der Einheit des aktiven Intellekts in den Menschenbewahrt das Wesentliche der Identifikation des νος ποιητικς mit Gott bei Alex-ander vgl Schroeder Todd 1990 39 und Hicks 1907 LXV

70) Das Wort χορηγς wird noch einmal im Kontext der Frage nach Einheitund Vielheit des aktiven Intellekts verwendet als Ausdruck fuumlr die Quelle desLichts die mehr eins ist als das Licht selbst (Them In De an 10323) Aus der Louml-sung jener Frage erscheint klar daszlig bdquoder Intellekt der auf erste und urspruumlnglicheWeise erleuchtetldquo (( μLν πρ)τως λλμπων) und von daher eins ist mit der Sonnegleichgesetzt wird die der χορηγς des Lichts ist (10332f) Themistios weist an die-ser Stelle explizit auf Platon hin der das Gute mit der Sonne vergleicht (35f) Es istaber unklar ob er sich selbst dieser Deutung anschlieszligt oder ob er in dem Intellektder auf bdquoerste und urspruumlngliche Weise erleuchtetldquo die νησις νο8σεως des Unbe-wegten Bewegers oder das Denken des aktiven Intellekts sieht Durch die Formu-lierung ( το φωτς χορηγς sei der bdquodurch den alle Sehakte der Lebewesen aus derPotentialitaumlt in die Aktualitaumlt uumlberfuumlhrt werdenldquo (10323) liegt der aktive Intellektnahe da der goumlttliche Intellekt von Potentialitaumlt gaumlnzlich frei ist und von einer direkten Einwirkung Gottes auf das menschliche Denken nirgendwo die Rede istJedoch kann der aktive Intellekt nur bdquoauf erste und urspruumlngliche Weise erleuch-tenldquo wenn er abgetrennt ohne Potentialitaumlt existiert d h wenn er als intelligiblesSeiendes von Gott gedacht wird Gott selbst ist durch das in seinem Selbstdenkeninvolvierte Denken des mundus intelligibilis der Erhalter des Lichts des aktiven In-tellekts d h seines Seins und seiner Taumltigkeit

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

Bibliographie

Ausgaben Kommentare Uumlbersetzungen

De Falco 1965 V de Falco Paraphrasi dei libri di Aristotele sullrsquoanima trans italPadua

Heinze 1899 R Heinze (Hrsg) Themistii in libros Aristotelis De anima Paraphra-sis (= In De an) CAG 53 Berlin

Hicks 1907 R D Hicks Aristotle De anima transl introd notes CambridgeLandauer 1903 S Landauer (Hrsg) Themistii in Aristotelis Metaphysicorum Li-

brum Λ Paraphrasis Hebraice et Latine (= In Met 12) CAG 55 BerlinLyons 1973 M C Lyons (Hrsg) An Arabic Translation of the Commentary of

Themistios on Aristotlersquos De anima LondonSchroeder Todd 1990 F M Schroeder R B Todd Two Greek Aristotelian Com-

mentators on the Intellect The De Intellectu Attributed to Alexander ofAphrodisias and Themistiosrsquo Paraphrase of Aristotle De Anima 34ndash8 In-trod Transl Comm and Notes Toronto

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Todd 1996 R B Todd Themistius On Aristotle On the Soul transl comm Lon-don

Verbeke 1957 G Verbeke (Hrsg) Theacutemistius Commentaire sur le traiteacute de lrsquoacircmedrsquoAristote traduction de Guillaume de Moerbeke Corpus Latinum Com-mentariorum in Aristotelem Graecorum 1 Louvain Paris

Wallies 1900 M Wallies (Hrsg) Themistii Analyticorum Posteriorum Paraphrasis(= In An Post) CAG 51 Berlin

Sekundaumlrliteratur

Balleacuteriaux 1943 O Balleacuteriaux DrsquoAristote agrave Theacutemistius Contribution agrave une histoirede la noeacutetique drsquoapregraves Aristote Liegravege (Diss)

ndash 1989 O Balleacuteriaux Theacutemistius et lrsquoexeacutegeacutese de la noeacutetique aristoteacutelicienneRevue de Philosophie Ancienne 7 199ndash233

ndash 1994 O Balleacuteriaux Theacutemistius et le neacuteoplatonisme Le νος παθητικς etlrsquoimmortaliteacute de lrsquoacircme Revue de Philosophie Ancienne 12 171ndash200

ndash 1996 O Balleacuteriaux Eugeacutenios pegravere de Theacutemistios et philosophie neacuteoplatoni-cien LrsquoAntiquiteacute Classique 65 135ndash160

Barbotin 1954 E Barbotin La Theacuteorie Aristoteacutelicienne de lrsquointellect drsquoapregraves Theacuteo-phraste Louvain Paris

219Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Bazaacuten 1976ndash77 B C Bazaacuten La noeacutetica di Temistio (c 320ndash390) Revista Venezola-na de Filosofia 5ndash6 51ndash82

Blumenthal 1979 H J Blumenthal Photius on Themistios (Cod 74) Did Themi-stios Write Commentaries on Aristotle Hermes 107 168ndash182

ndash 1990 H J Blumenthal Themistios the last Peripatetic commentator on Ari-stotle in R Sorabji (Hrsg) Aristotle Transformed The Ancient Commen-tators and Their Influence Ithaca New York 113ndash123 (orig in G Bower -sock et al [Hrsg] Arktouros Hellenic Studies presented to BernardM Knox Berlin New York 1979 391ndash400)

ndash 1991 H J Blumenthal Nous pathetikos in Later Greek Philosophy inH J Blumenthal H Robinson (Hrsg) Oxford Studies in Ancient Philoso-phy suppl vol Aristotle and the Later Tradition Oxford 191ndash205

Brentano 1992 F Brentano Nous poietikos Survey of Earlier Interpretations inM C NussbaumA Oksenberg Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De ani-ma Oxford 313ndash341

Colpi 1987 B Colpi Die παιδεα des Themistios Frankfurt am Main (Diss)Guldentops 2001 G Guldentops La science suprecircme selon Theacutemistius Revue de

Philosophie Ancienne 19 99ndash120Hamelin 1953 O Hamelin La theacuteorie de lrsquointellect drsquoapregraves Aristote et ses com-

mentateurs ParisKurfess 1911 H Kurfess Zur Geschichte der Erklaumlrung der aristotelischen Lehre

vom sogenannten νος ποιητικς und παθητικς TuumlbingenMahoney 1973 E P Mahoney Themistios and the Agent Intellect in James Viterbo

and Other Thirteenth-Century Philosophers (Saint Thomas Siger of Brabantand Henry Bate) Augustiniana 23 422ndash467

ndash 1982 E P Mahoney Neoplatonism the Greek Commentators and Renais-sance Aristotelianism in D J OrsquoMeara (Hrsg) Neoplatonism and ChristianThought Albany 169ndash177 u 264ndash282

Martin 1966 S B Martin The Nature of the Human Intellect as It is Expounded inThemistiosrsquo bdquoParaphrasis in Libros Aristotelis de animaldquo in F J Adelman(Hrsg) The Quest for the Absolute (= Boston College Studies in Philosophy1) Boston 1ndash21

Merlan 1963 P Merlan Monopsychism Mysticism Metaconsciousness Problemsof the Soul in the Neoaristotelian and Neoplatonic Tradition The Hague

Moraux 1967 P Moraux Aristoteles der Lehrer Alexanders von Aphrodisias Ar-chiv fuumlr Geschichte der Philosophie 49 169ndash182

ndash 1978 P Moraux Le De Anima dans la tradition grecque Quelques aspects delrsquointerpretation du traiteacute de Theacuteophraste agrave Theacutemistius in G E R LloydG E L Owen (Hrsg) Aristotle on Mind and the Senses (= Proceedings ofthe Seventh Symposium Aristotelicum) Cambridge 281ndash324

ndash 1984 P Moraux Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bisAlexander von Aphrodisias Bd 2 Der Aristotelismus im I und II Jhn Chr Berlin New York (bes 399ndash425)

OrsquoDaly 1973 G OrsquoDaly Plotinusrsquo Philosophy of the Self ShannonPerkams 2006 M Perkams Die neuplatonischen Kommentare zu Aristotelesrsquo De

anima und das Problem der Selbsterkenntnis Jena (Habil)Pines 1987 S Pines Some Distinctive Metaphysical Conceptions in Themistiusrsquo

Commentary on Book Lambda and Their Place in the History of Philoso-phy in J Wiesner (Hrsg) Aristoteles Werk und Wirkung Bd 2 BerlinNew York 177ndash204

220 Michae l Schramm

Praechter 131953 K Praechter Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte derPhilosophie Bd I Die Philosophie des Altertums Basel

Stump 1978 E Stump Boethiusrsquos bdquoDe topicis differentiisldquo transl notes and essaysIthaca London

Szlezaacutek 1979 Th A Szlezaacutek Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins Basel Stuttgart

Todd 1981 R B Todd Themistios and the Traditional Interpretation of AristotlersquosTheory of Phantasia Acta Classica 24 49ndash59

Wilpert 1935 P Wilpert Die Ausgestaltung der aristotelischen Lehre vom Intellec-tus agens bei den griechischen Kommentatoren und in der Scholastik des13 Jahrhunderts Beitraumlge zur Geschichte der Philosophie und Theologie desMittelalters Suppl-Bd III 1 Muumlnster 447ndash462

Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

durch Uumlbung und Erlernen von Wissen Der Gang von der Wahr-nehmung zur Erkenntnis der intelligiblen Formen geschieht durchAbstraktion die aber nicht gelingen koumlnnte ohne die Gegebenheitdes Allgemeinen in den Dingen und die Taumltigkeit des IntellektsDie Selbsttranszendierung hin zur Selbsterkenntnis des Intellektsgeschieht wie die gesamte Erkenntnis nicht als anamnetischerRuumlckgang zu sich selbst sondern als eine lebenslange EntwicklungDie Selbsterkenntnis ist schlieszliglich der houmlchste Punkt der men-schenmoumlglichen Erkenntnis und impliziert die Einsicht in die Kau-salitaumlt und Ordnung des mundus intelligibilis sowie in ihren eige-nen Platz hierin Diese ist der Zeit nach spaumlter als die Objekt -erkenntnis da der objektive Platz des menschlichen Intellekts erstim Zusammenhang der Untersuchung alles Seienden insbesonde-re aller denkenden Wesen bestimmt werden kann Der Sache nachist sie schon waumlhrend des gesamten lebenslangen Erkenntnispro-zesses des Menschen die ontologische Voraussetzung der Objekt -erkenntnis Die subjektive Selbsterkenntnis des Menschen nimmtalso mit der zunehmenden Weltkenntnis immer weiter zu und wirddann objektiv wenn dieser sich selbst in seinem Wesen als aktiverIntellekt bzw als Intellekt in Taumltigkeit versteht

Schluszlig

Die Forschungsmeinung die in Themistios einen reinen Peri-patetiker sieht kann wohl nicht aufrechterhalten werden genau-sowenig wie die die ihn unumwunden zum Neuplatoniker ma-chen will Vielmehr scheint er einige neuplatonische Linien in einim Grunde aristotelisches System eingezogen zu haben So vertritter zentrale neuplatonische Lehrstuumlcke nicht etwa die Existenz desEinen als houmlchsten Prinzips die Anamnesis-Lehre oder die kon-stitutive Rolle der Ideenlehre fuumlr den menschlichen Erkenntnis -prozeszlig Plotinische Theorieelemente wie die doppelte Natur desMenschen oder die Einheit von Einheit Vielheit Sein im Intellektuumlbernimmt er modifiziert und praumlzisiert diese allerdings im aristo-telischen Sinn Seine Theologie gestaltet er neuplatonisch aus in-dem er in Gottes Denken nicht nur die Bewegungs- sondern auchdie Seinsursache der Welt sieht und die Selbsterkenntnis der Ob-jekterkenntnis vorordnet In der Epistemologie bleibt er aristote-lisch und konzipiert die Erkenntnis als Abstraktionsprozeszlig im

217Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

Bibliographie

Ausgaben Kommentare Uumlbersetzungen

De Falco 1965 V de Falco Paraphrasi dei libri di Aristotele sullrsquoanima trans italPadua

Heinze 1899 R Heinze (Hrsg) Themistii in libros Aristotelis De anima Paraphra-sis (= In De an) CAG 53 Berlin

Hicks 1907 R D Hicks Aristotle De anima transl introd notes CambridgeLandauer 1903 S Landauer (Hrsg) Themistii in Aristotelis Metaphysicorum Li-

brum Λ Paraphrasis Hebraice et Latine (= In Met 12) CAG 55 BerlinLyons 1973 M C Lyons (Hrsg) An Arabic Translation of the Commentary of

Themistios on Aristotlersquos De anima LondonSchroeder Todd 1990 F M Schroeder R B Todd Two Greek Aristotelian Com-

mentators on the Intellect The De Intellectu Attributed to Alexander ofAphrodisias and Themistiosrsquo Paraphrase of Aristotle De Anima 34ndash8 In-trod Transl Comm and Notes Toronto

Spengel 1866 L Spengel (Hrsg) Themistii Paraphrases Aristotelis librorum quaesupersunt Leipzig 2 Bde

Todd 1996 R B Todd Themistius On Aristotle On the Soul transl comm Lon-don

Verbeke 1957 G Verbeke (Hrsg) Theacutemistius Commentaire sur le traiteacute de lrsquoacircmedrsquoAristote traduction de Guillaume de Moerbeke Corpus Latinum Com-mentariorum in Aristotelem Graecorum 1 Louvain Paris

Wallies 1900 M Wallies (Hrsg) Themistii Analyticorum Posteriorum Paraphrasis(= In An Post) CAG 51 Berlin

Sekundaumlrliteratur

Balleacuteriaux 1943 O Balleacuteriaux DrsquoAristote agrave Theacutemistius Contribution agrave une histoirede la noeacutetique drsquoapregraves Aristote Liegravege (Diss)

ndash 1989 O Balleacuteriaux Theacutemistius et lrsquoexeacutegeacutese de la noeacutetique aristoteacutelicienneRevue de Philosophie Ancienne 7 199ndash233

ndash 1994 O Balleacuteriaux Theacutemistius et le neacuteoplatonisme Le νος παθητικς etlrsquoimmortaliteacute de lrsquoacircme Revue de Philosophie Ancienne 12 171ndash200

ndash 1996 O Balleacuteriaux Eugeacutenios pegravere de Theacutemistios et philosophie neacuteoplatoni-cien LrsquoAntiquiteacute Classique 65 135ndash160

Barbotin 1954 E Barbotin La Theacuteorie Aristoteacutelicienne de lrsquointellect drsquoapregraves Theacuteo-phraste Louvain Paris

219Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Bazaacuten 1976ndash77 B C Bazaacuten La noeacutetica di Temistio (c 320ndash390) Revista Venezola-na de Filosofia 5ndash6 51ndash82

Blumenthal 1979 H J Blumenthal Photius on Themistios (Cod 74) Did Themi-stios Write Commentaries on Aristotle Hermes 107 168ndash182

ndash 1990 H J Blumenthal Themistios the last Peripatetic commentator on Ari-stotle in R Sorabji (Hrsg) Aristotle Transformed The Ancient Commen-tators and Their Influence Ithaca New York 113ndash123 (orig in G Bower -sock et al [Hrsg] Arktouros Hellenic Studies presented to BernardM Knox Berlin New York 1979 391ndash400)

ndash 1991 H J Blumenthal Nous pathetikos in Later Greek Philosophy inH J Blumenthal H Robinson (Hrsg) Oxford Studies in Ancient Philoso-phy suppl vol Aristotle and the Later Tradition Oxford 191ndash205

Brentano 1992 F Brentano Nous poietikos Survey of Earlier Interpretations inM C NussbaumA Oksenberg Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De ani-ma Oxford 313ndash341

Colpi 1987 B Colpi Die παιδεα des Themistios Frankfurt am Main (Diss)Guldentops 2001 G Guldentops La science suprecircme selon Theacutemistius Revue de

Philosophie Ancienne 19 99ndash120Hamelin 1953 O Hamelin La theacuteorie de lrsquointellect drsquoapregraves Aristote et ses com-

mentateurs ParisKurfess 1911 H Kurfess Zur Geschichte der Erklaumlrung der aristotelischen Lehre

vom sogenannten νος ποιητικς und παθητικς TuumlbingenMahoney 1973 E P Mahoney Themistios and the Agent Intellect in James Viterbo

and Other Thirteenth-Century Philosophers (Saint Thomas Siger of Brabantand Henry Bate) Augustiniana 23 422ndash467

ndash 1982 E P Mahoney Neoplatonism the Greek Commentators and Renais-sance Aristotelianism in D J OrsquoMeara (Hrsg) Neoplatonism and ChristianThought Albany 169ndash177 u 264ndash282

Martin 1966 S B Martin The Nature of the Human Intellect as It is Expounded inThemistiosrsquo bdquoParaphrasis in Libros Aristotelis de animaldquo in F J Adelman(Hrsg) The Quest for the Absolute (= Boston College Studies in Philosophy1) Boston 1ndash21

Merlan 1963 P Merlan Monopsychism Mysticism Metaconsciousness Problemsof the Soul in the Neoaristotelian and Neoplatonic Tradition The Hague

Moraux 1967 P Moraux Aristoteles der Lehrer Alexanders von Aphrodisias Ar-chiv fuumlr Geschichte der Philosophie 49 169ndash182

ndash 1978 P Moraux Le De Anima dans la tradition grecque Quelques aspects delrsquointerpretation du traiteacute de Theacuteophraste agrave Theacutemistius in G E R LloydG E L Owen (Hrsg) Aristotle on Mind and the Senses (= Proceedings ofthe Seventh Symposium Aristotelicum) Cambridge 281ndash324

ndash 1984 P Moraux Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bisAlexander von Aphrodisias Bd 2 Der Aristotelismus im I und II Jhn Chr Berlin New York (bes 399ndash425)

OrsquoDaly 1973 G OrsquoDaly Plotinusrsquo Philosophy of the Self ShannonPerkams 2006 M Perkams Die neuplatonischen Kommentare zu Aristotelesrsquo De

anima und das Problem der Selbsterkenntnis Jena (Habil)Pines 1987 S Pines Some Distinctive Metaphysical Conceptions in Themistiusrsquo

Commentary on Book Lambda and Their Place in the History of Philoso-phy in J Wiesner (Hrsg) Aristoteles Werk und Wirkung Bd 2 BerlinNew York 177ndash204

220 Michae l Schramm

Praechter 131953 K Praechter Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte derPhilosophie Bd I Die Philosophie des Altertums Basel

Stump 1978 E Stump Boethiusrsquos bdquoDe topicis differentiisldquo transl notes and essaysIthaca London

Szlezaacutek 1979 Th A Szlezaacutek Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins Basel Stuttgart

Todd 1981 R B Todd Themistios and the Traditional Interpretation of AristotlersquosTheory of Phantasia Acta Classica 24 49ndash59

Wilpert 1935 P Wilpert Die Ausgestaltung der aristotelischen Lehre vom Intellec-tus agens bei den griechischen Kommentatoren und in der Scholastik des13 Jahrhunderts Beitraumlge zur Geschichte der Philosophie und Theologie desMittelalters Suppl-Bd III 1 Muumlnster 447ndash462

Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Ausgang von Wahrnehmungen und zugleich als lebensgeschicht -liche Entwicklung des Denkvermoumlgens

In der Theorie des menschlichen Intellekts findet sich eineVerschmelzung aus Platonismus und Aristotelismus insofern alsder menschliche Intellekt einerseits dank seiner partiellen Gemein-schaft mit dem goumlttlichen Intellekt in seiner houmlchsten Verwirk -lichung die gleiche Struktur und die gleichen Gegenstaumlnde wie dergoumlttliche Intellekt hat andererseits durch seine Bindung an denKoumlrper sein Denken nur in der Zeit entfalten kann Die Annahmeeines passiven Intellekts der unabhaumlngig neben dem potentiellenIntellekt existiert betont die Koumlrpergebundenheit der Erkenntnisalso ihre Dualitaumlt im Zusammenspiel aus Wahrnehmung und intel-lektiver Erkenntnis und zugleich die kognitive Einheit des Men-schen von der aus sowohl persoumlnliche Denkentwicklung als auchSelbsterkenntnis moumlglich sind Auch im menschlichen Intellekt istdie Objekterkenntnis ontologisch in der Selbsterkenntnis fundiertauch wenn sie genetisch mit der Wahrnehmung aumluszligerer Gegen-staumlnde beginnt Unser jeweiliges denkendes Ich ist in seinem We-sen die allen Menschen gemeinsame denkerische Aktivitaumlt derenSelbsterkenntnis nach dem diskursiven Durchgang durch die Be-griffe und die Konstitution von objektivem Wissen als das eigent-liche Denkprinzip aufscheint Jedoch ist dies keine plotinischeRuumlckwendung zu den Urspruumlngen unseres Denkens in einer Intel-lekthypostase oder in einem noch daruumlberliegenden houmlchsten Prin-zip Das Denken des aktiven Intellekts ist bei Themistios vielmehrdie Realisierung der houmlchsten dem Menschen zugaumlnglichen Moumlg-lichkeit naumlmlich das Denken des Alls und seines Ursprungs sowiedes eigenen Wesens und seines Ursprungs

Themistios steht fuumlr eine Verschmelzung aus Platonismus undAristotelismus die einer systematischen Idee von Philosophiefolgt soweit das die Form der Paraphrase sichtbar werden laumlszligtWie er in der politischen Rede das platonische Ideal des Philo -sophenkoumlnigs hochschaumltzt und zugleich mit dem aristotelischenAnsatz des praxisbezogenen Philosophierens seine eigene Taumltig-keit als Redner begruumlndet so liegt seinen Paraphrasen offenbareine konzeptionelle Zweiteilung der Philosophie zugrunde undzwar in einen logisch-naturwissenschaftlichen Teil der weitgehendAristoteles folgt und einen theologischen Teil der neuplatonischargumentiert Auch wenn dies keine entsprechende Integrationplatonischer und aristotelischer Schriften in ein Curriculum wie

218 Michae l Schramm

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

Bibliographie

Ausgaben Kommentare Uumlbersetzungen

De Falco 1965 V de Falco Paraphrasi dei libri di Aristotele sullrsquoanima trans italPadua

Heinze 1899 R Heinze (Hrsg) Themistii in libros Aristotelis De anima Paraphra-sis (= In De an) CAG 53 Berlin

Hicks 1907 R D Hicks Aristotle De anima transl introd notes CambridgeLandauer 1903 S Landauer (Hrsg) Themistii in Aristotelis Metaphysicorum Li-

brum Λ Paraphrasis Hebraice et Latine (= In Met 12) CAG 55 BerlinLyons 1973 M C Lyons (Hrsg) An Arabic Translation of the Commentary of

Themistios on Aristotlersquos De anima LondonSchroeder Todd 1990 F M Schroeder R B Todd Two Greek Aristotelian Com-

mentators on the Intellect The De Intellectu Attributed to Alexander ofAphrodisias and Themistiosrsquo Paraphrase of Aristotle De Anima 34ndash8 In-trod Transl Comm and Notes Toronto

Spengel 1866 L Spengel (Hrsg) Themistii Paraphrases Aristotelis librorum quaesupersunt Leipzig 2 Bde

Todd 1996 R B Todd Themistius On Aristotle On the Soul transl comm Lon-don

Verbeke 1957 G Verbeke (Hrsg) Theacutemistius Commentaire sur le traiteacute de lrsquoacircmedrsquoAristote traduction de Guillaume de Moerbeke Corpus Latinum Com-mentariorum in Aristotelem Graecorum 1 Louvain Paris

Wallies 1900 M Wallies (Hrsg) Themistii Analyticorum Posteriorum Paraphrasis(= In An Post) CAG 51 Berlin

Sekundaumlrliteratur

Balleacuteriaux 1943 O Balleacuteriaux DrsquoAristote agrave Theacutemistius Contribution agrave une histoirede la noeacutetique drsquoapregraves Aristote Liegravege (Diss)

ndash 1989 O Balleacuteriaux Theacutemistius et lrsquoexeacutegeacutese de la noeacutetique aristoteacutelicienneRevue de Philosophie Ancienne 7 199ndash233

ndash 1994 O Balleacuteriaux Theacutemistius et le neacuteoplatonisme Le νος παθητικς etlrsquoimmortaliteacute de lrsquoacircme Revue de Philosophie Ancienne 12 171ndash200

ndash 1996 O Balleacuteriaux Eugeacutenios pegravere de Theacutemistios et philosophie neacuteoplatoni-cien LrsquoAntiquiteacute Classique 65 135ndash160

Barbotin 1954 E Barbotin La Theacuteorie Aristoteacutelicienne de lrsquointellect drsquoapregraves Theacuteo-phraste Louvain Paris

219Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Bazaacuten 1976ndash77 B C Bazaacuten La noeacutetica di Temistio (c 320ndash390) Revista Venezola-na de Filosofia 5ndash6 51ndash82

Blumenthal 1979 H J Blumenthal Photius on Themistios (Cod 74) Did Themi-stios Write Commentaries on Aristotle Hermes 107 168ndash182

ndash 1990 H J Blumenthal Themistios the last Peripatetic commentator on Ari-stotle in R Sorabji (Hrsg) Aristotle Transformed The Ancient Commen-tators and Their Influence Ithaca New York 113ndash123 (orig in G Bower -sock et al [Hrsg] Arktouros Hellenic Studies presented to BernardM Knox Berlin New York 1979 391ndash400)

ndash 1991 H J Blumenthal Nous pathetikos in Later Greek Philosophy inH J Blumenthal H Robinson (Hrsg) Oxford Studies in Ancient Philoso-phy suppl vol Aristotle and the Later Tradition Oxford 191ndash205

Brentano 1992 F Brentano Nous poietikos Survey of Earlier Interpretations inM C NussbaumA Oksenberg Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De ani-ma Oxford 313ndash341

Colpi 1987 B Colpi Die παιδεα des Themistios Frankfurt am Main (Diss)Guldentops 2001 G Guldentops La science suprecircme selon Theacutemistius Revue de

Philosophie Ancienne 19 99ndash120Hamelin 1953 O Hamelin La theacuteorie de lrsquointellect drsquoapregraves Aristote et ses com-

mentateurs ParisKurfess 1911 H Kurfess Zur Geschichte der Erklaumlrung der aristotelischen Lehre

vom sogenannten νος ποιητικς und παθητικς TuumlbingenMahoney 1973 E P Mahoney Themistios and the Agent Intellect in James Viterbo

and Other Thirteenth-Century Philosophers (Saint Thomas Siger of Brabantand Henry Bate) Augustiniana 23 422ndash467

ndash 1982 E P Mahoney Neoplatonism the Greek Commentators and Renais-sance Aristotelianism in D J OrsquoMeara (Hrsg) Neoplatonism and ChristianThought Albany 169ndash177 u 264ndash282

Martin 1966 S B Martin The Nature of the Human Intellect as It is Expounded inThemistiosrsquo bdquoParaphrasis in Libros Aristotelis de animaldquo in F J Adelman(Hrsg) The Quest for the Absolute (= Boston College Studies in Philosophy1) Boston 1ndash21

Merlan 1963 P Merlan Monopsychism Mysticism Metaconsciousness Problemsof the Soul in the Neoaristotelian and Neoplatonic Tradition The Hague

Moraux 1967 P Moraux Aristoteles der Lehrer Alexanders von Aphrodisias Ar-chiv fuumlr Geschichte der Philosophie 49 169ndash182

ndash 1978 P Moraux Le De Anima dans la tradition grecque Quelques aspects delrsquointerpretation du traiteacute de Theacuteophraste agrave Theacutemistius in G E R LloydG E L Owen (Hrsg) Aristotle on Mind and the Senses (= Proceedings ofthe Seventh Symposium Aristotelicum) Cambridge 281ndash324

ndash 1984 P Moraux Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bisAlexander von Aphrodisias Bd 2 Der Aristotelismus im I und II Jhn Chr Berlin New York (bes 399ndash425)

OrsquoDaly 1973 G OrsquoDaly Plotinusrsquo Philosophy of the Self ShannonPerkams 2006 M Perkams Die neuplatonischen Kommentare zu Aristotelesrsquo De

anima und das Problem der Selbsterkenntnis Jena (Habil)Pines 1987 S Pines Some Distinctive Metaphysical Conceptions in Themistiusrsquo

Commentary on Book Lambda and Their Place in the History of Philoso-phy in J Wiesner (Hrsg) Aristoteles Werk und Wirkung Bd 2 BerlinNew York 177ndash204

220 Michae l Schramm

Praechter 131953 K Praechter Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte derPhilosophie Bd I Die Philosophie des Altertums Basel

Stump 1978 E Stump Boethiusrsquos bdquoDe topicis differentiisldquo transl notes and essaysIthaca London

Szlezaacutek 1979 Th A Szlezaacutek Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins Basel Stuttgart

Todd 1981 R B Todd Themistios and the Traditional Interpretation of AristotlersquosTheory of Phantasia Acta Classica 24 49ndash59

Wilpert 1935 P Wilpert Die Ausgestaltung der aristotelischen Lehre vom Intellec-tus agens bei den griechischen Kommentatoren und in der Scholastik des13 Jahrhunderts Beitraumlge zur Geschichte der Philosophie und Theologie desMittelalters Suppl-Bd III 1 Muumlnster 447ndash462

Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

bei Porphyrios zur Folge hatte scheint hier doch eine behutsameHarmonisierung von Platonismus und Aristotelismus vorzuliegenSpeziell Themistiosrsquo Paraphrase zu De anima steht auf der Grenzeund ist zugleich die sachliche Verbindung zwischen dem logisch-psychologischen und dem theologischen Teil der Philosophie in-dem hier das menschliche Denken in Analogie und Abgrenzungzum goumlttlichen Denken seine Selbsterkenntnis erlangt

Bibliographie

Ausgaben Kommentare Uumlbersetzungen

De Falco 1965 V de Falco Paraphrasi dei libri di Aristotele sullrsquoanima trans italPadua

Heinze 1899 R Heinze (Hrsg) Themistii in libros Aristotelis De anima Paraphra-sis (= In De an) CAG 53 Berlin

Hicks 1907 R D Hicks Aristotle De anima transl introd notes CambridgeLandauer 1903 S Landauer (Hrsg) Themistii in Aristotelis Metaphysicorum Li-

brum Λ Paraphrasis Hebraice et Latine (= In Met 12) CAG 55 BerlinLyons 1973 M C Lyons (Hrsg) An Arabic Translation of the Commentary of

Themistios on Aristotlersquos De anima LondonSchroeder Todd 1990 F M Schroeder R B Todd Two Greek Aristotelian Com-

mentators on the Intellect The De Intellectu Attributed to Alexander ofAphrodisias and Themistiosrsquo Paraphrase of Aristotle De Anima 34ndash8 In-trod Transl Comm and Notes Toronto

Spengel 1866 L Spengel (Hrsg) Themistii Paraphrases Aristotelis librorum quaesupersunt Leipzig 2 Bde

Todd 1996 R B Todd Themistius On Aristotle On the Soul transl comm Lon-don

Verbeke 1957 G Verbeke (Hrsg) Theacutemistius Commentaire sur le traiteacute de lrsquoacircmedrsquoAristote traduction de Guillaume de Moerbeke Corpus Latinum Com-mentariorum in Aristotelem Graecorum 1 Louvain Paris

Wallies 1900 M Wallies (Hrsg) Themistii Analyticorum Posteriorum Paraphrasis(= In An Post) CAG 51 Berlin

Sekundaumlrliteratur

Balleacuteriaux 1943 O Balleacuteriaux DrsquoAristote agrave Theacutemistius Contribution agrave une histoirede la noeacutetique drsquoapregraves Aristote Liegravege (Diss)

ndash 1989 O Balleacuteriaux Theacutemistius et lrsquoexeacutegeacutese de la noeacutetique aristoteacutelicienneRevue de Philosophie Ancienne 7 199ndash233

ndash 1994 O Balleacuteriaux Theacutemistius et le neacuteoplatonisme Le νος παθητικς etlrsquoimmortaliteacute de lrsquoacircme Revue de Philosophie Ancienne 12 171ndash200

ndash 1996 O Balleacuteriaux Eugeacutenios pegravere de Theacutemistios et philosophie neacuteoplatoni-cien LrsquoAntiquiteacute Classique 65 135ndash160

Barbotin 1954 E Barbotin La Theacuteorie Aristoteacutelicienne de lrsquointellect drsquoapregraves Theacuteo-phraste Louvain Paris

219Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Bazaacuten 1976ndash77 B C Bazaacuten La noeacutetica di Temistio (c 320ndash390) Revista Venezola-na de Filosofia 5ndash6 51ndash82

Blumenthal 1979 H J Blumenthal Photius on Themistios (Cod 74) Did Themi-stios Write Commentaries on Aristotle Hermes 107 168ndash182

ndash 1990 H J Blumenthal Themistios the last Peripatetic commentator on Ari-stotle in R Sorabji (Hrsg) Aristotle Transformed The Ancient Commen-tators and Their Influence Ithaca New York 113ndash123 (orig in G Bower -sock et al [Hrsg] Arktouros Hellenic Studies presented to BernardM Knox Berlin New York 1979 391ndash400)

ndash 1991 H J Blumenthal Nous pathetikos in Later Greek Philosophy inH J Blumenthal H Robinson (Hrsg) Oxford Studies in Ancient Philoso-phy suppl vol Aristotle and the Later Tradition Oxford 191ndash205

Brentano 1992 F Brentano Nous poietikos Survey of Earlier Interpretations inM C NussbaumA Oksenberg Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De ani-ma Oxford 313ndash341

Colpi 1987 B Colpi Die παιδεα des Themistios Frankfurt am Main (Diss)Guldentops 2001 G Guldentops La science suprecircme selon Theacutemistius Revue de

Philosophie Ancienne 19 99ndash120Hamelin 1953 O Hamelin La theacuteorie de lrsquointellect drsquoapregraves Aristote et ses com-

mentateurs ParisKurfess 1911 H Kurfess Zur Geschichte der Erklaumlrung der aristotelischen Lehre

vom sogenannten νος ποιητικς und παθητικς TuumlbingenMahoney 1973 E P Mahoney Themistios and the Agent Intellect in James Viterbo

and Other Thirteenth-Century Philosophers (Saint Thomas Siger of Brabantand Henry Bate) Augustiniana 23 422ndash467

ndash 1982 E P Mahoney Neoplatonism the Greek Commentators and Renais-sance Aristotelianism in D J OrsquoMeara (Hrsg) Neoplatonism and ChristianThought Albany 169ndash177 u 264ndash282

Martin 1966 S B Martin The Nature of the Human Intellect as It is Expounded inThemistiosrsquo bdquoParaphrasis in Libros Aristotelis de animaldquo in F J Adelman(Hrsg) The Quest for the Absolute (= Boston College Studies in Philosophy1) Boston 1ndash21

Merlan 1963 P Merlan Monopsychism Mysticism Metaconsciousness Problemsof the Soul in the Neoaristotelian and Neoplatonic Tradition The Hague

Moraux 1967 P Moraux Aristoteles der Lehrer Alexanders von Aphrodisias Ar-chiv fuumlr Geschichte der Philosophie 49 169ndash182

ndash 1978 P Moraux Le De Anima dans la tradition grecque Quelques aspects delrsquointerpretation du traiteacute de Theacuteophraste agrave Theacutemistius in G E R LloydG E L Owen (Hrsg) Aristotle on Mind and the Senses (= Proceedings ofthe Seventh Symposium Aristotelicum) Cambridge 281ndash324

ndash 1984 P Moraux Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bisAlexander von Aphrodisias Bd 2 Der Aristotelismus im I und II Jhn Chr Berlin New York (bes 399ndash425)

OrsquoDaly 1973 G OrsquoDaly Plotinusrsquo Philosophy of the Self ShannonPerkams 2006 M Perkams Die neuplatonischen Kommentare zu Aristotelesrsquo De

anima und das Problem der Selbsterkenntnis Jena (Habil)Pines 1987 S Pines Some Distinctive Metaphysical Conceptions in Themistiusrsquo

Commentary on Book Lambda and Their Place in the History of Philoso-phy in J Wiesner (Hrsg) Aristoteles Werk und Wirkung Bd 2 BerlinNew York 177ndash204

220 Michae l Schramm

Praechter 131953 K Praechter Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte derPhilosophie Bd I Die Philosophie des Altertums Basel

Stump 1978 E Stump Boethiusrsquos bdquoDe topicis differentiisldquo transl notes and essaysIthaca London

Szlezaacutek 1979 Th A Szlezaacutek Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins Basel Stuttgart

Todd 1981 R B Todd Themistios and the Traditional Interpretation of AristotlersquosTheory of Phantasia Acta Classica 24 49ndash59

Wilpert 1935 P Wilpert Die Ausgestaltung der aristotelischen Lehre vom Intellec-tus agens bei den griechischen Kommentatoren und in der Scholastik des13 Jahrhunderts Beitraumlge zur Geschichte der Philosophie und Theologie desMittelalters Suppl-Bd III 1 Muumlnster 447ndash462

Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Bazaacuten 1976ndash77 B C Bazaacuten La noeacutetica di Temistio (c 320ndash390) Revista Venezola-na de Filosofia 5ndash6 51ndash82

Blumenthal 1979 H J Blumenthal Photius on Themistios (Cod 74) Did Themi-stios Write Commentaries on Aristotle Hermes 107 168ndash182

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Brentano 1992 F Brentano Nous poietikos Survey of Earlier Interpretations inM C NussbaumA Oksenberg Rorty (Hrsg) Essays on Aristotlersquos De ani-ma Oxford 313ndash341

Colpi 1987 B Colpi Die παιδεα des Themistios Frankfurt am Main (Diss)Guldentops 2001 G Guldentops La science suprecircme selon Theacutemistius Revue de

Philosophie Ancienne 19 99ndash120Hamelin 1953 O Hamelin La theacuteorie de lrsquointellect drsquoapregraves Aristote et ses com-

mentateurs ParisKurfess 1911 H Kurfess Zur Geschichte der Erklaumlrung der aristotelischen Lehre

vom sogenannten νος ποιητικς und παθητικς TuumlbingenMahoney 1973 E P Mahoney Themistios and the Agent Intellect in James Viterbo

and Other Thirteenth-Century Philosophers (Saint Thomas Siger of Brabantand Henry Bate) Augustiniana 23 422ndash467

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Martin 1966 S B Martin The Nature of the Human Intellect as It is Expounded inThemistiosrsquo bdquoParaphrasis in Libros Aristotelis de animaldquo in F J Adelman(Hrsg) The Quest for the Absolute (= Boston College Studies in Philosophy1) Boston 1ndash21

Merlan 1963 P Merlan Monopsychism Mysticism Metaconsciousness Problemsof the Soul in the Neoaristotelian and Neoplatonic Tradition The Hague

Moraux 1967 P Moraux Aristoteles der Lehrer Alexanders von Aphrodisias Ar-chiv fuumlr Geschichte der Philosophie 49 169ndash182

ndash 1978 P Moraux Le De Anima dans la tradition grecque Quelques aspects delrsquointerpretation du traiteacute de Theacuteophraste agrave Theacutemistius in G E R LloydG E L Owen (Hrsg) Aristotle on Mind and the Senses (= Proceedings ofthe Seventh Symposium Aristotelicum) Cambridge 281ndash324

ndash 1984 P Moraux Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bisAlexander von Aphrodisias Bd 2 Der Aristotelismus im I und II Jhn Chr Berlin New York (bes 399ndash425)

OrsquoDaly 1973 G OrsquoDaly Plotinusrsquo Philosophy of the Self ShannonPerkams 2006 M Perkams Die neuplatonischen Kommentare zu Aristotelesrsquo De

anima und das Problem der Selbsterkenntnis Jena (Habil)Pines 1987 S Pines Some Distinctive Metaphysical Conceptions in Themistiusrsquo

Commentary on Book Lambda and Their Place in the History of Philoso-phy in J Wiesner (Hrsg) Aristoteles Werk und Wirkung Bd 2 BerlinNew York 177ndash204

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Praechter 131953 K Praechter Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte derPhilosophie Bd I Die Philosophie des Altertums Basel

Stump 1978 E Stump Boethiusrsquos bdquoDe topicis differentiisldquo transl notes and essaysIthaca London

Szlezaacutek 1979 Th A Szlezaacutek Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins Basel Stuttgart

Todd 1981 R B Todd Themistios and the Traditional Interpretation of AristotlersquosTheory of Phantasia Acta Classica 24 49ndash59

Wilpert 1935 P Wilpert Die Ausgestaltung der aristotelischen Lehre vom Intellec-tus agens bei den griechischen Kommentatoren und in der Scholastik des13 Jahrhunderts Beitraumlge zur Geschichte der Philosophie und Theologie desMittelalters Suppl-Bd III 1 Muumlnster 447ndash462

Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios

Praechter 131953 K Praechter Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte derPhilosophie Bd I Die Philosophie des Altertums Basel

Stump 1978 E Stump Boethiusrsquos bdquoDe topicis differentiisldquo transl notes and essaysIthaca London

Szlezaacutek 1979 Th A Szlezaacutek Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins Basel Stuttgart

Todd 1981 R B Todd Themistios and the Traditional Interpretation of AristotlersquosTheory of Phantasia Acta Classica 24 49ndash59

Wilpert 1935 P Wilpert Die Ausgestaltung der aristotelischen Lehre vom Intellec-tus agens bei den griechischen Kommentatoren und in der Scholastik des13 Jahrhunderts Beitraumlge zur Geschichte der Philosophie und Theologie desMittelalters Suppl-Bd III 1 Muumlnster 447ndash462

Leipzig Michae l Schramm

221Goumlttliches und menschliches Denken bei Themistios