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Schmerz bei Früh- und Neugeborenen Heike Jipp 6.9.2012 Was ist Schmerz? Was ist Schmerz? Akuter Schmerz: Warnfunktion Chronischer Schmerz: keine Warnfunktion => emotionale, psychische und familiäre Belastung für die Kinder Schmerz bei Frühgeborenen: STRESS = SCHMERZ Stressanzeichen im Zusammenhang mit schmerzhaften Interventionen = Schmerzerleben

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Schmerz bei Früh- und

Neugeborenen

Heike Jipp

6.9.2012

Was ist Schmerz?Was ist Schmerz?

� Akuter Schmerz: Warnfunktion

� Chronischer Schmerz: keine Warnfunktion => emotionale, psychische und familiäre Belastung für die Kinder

Schmerz bei Frühgeborenen: STRESS = SCHMERZ

� Stressanzeichen im Zusammenhang mit schmerzhaften Interventionen = Schmerzerleben

Warum wird bei Kindern nicht vernWarum wird bei Kindern nicht vernüünftig nftig

therapiert?therapiert?

� Negierung des kindlichen Schmerzempfindens

� Medikamente sind schädlich für die Organentwicklung (Paracetamol – Leber)

� Angst vor Überdosierung

� Angst vor Schwellenänderung bei späterer Suchtgefahr

Warum wird bei Kindern nicht vernWarum wird bei Kindern nicht vernüünftig nftig

therapiert?therapiert?

� Schmerzursache wird nicht ernst genommen oder ist nicht abgeklärt

� Aufwendige „Behandlung“ von Eltern und Kind

� Schlechte medikamentöse Kombinationen

� Falsche Berechnung der Schmerzmittel (nicht nach Körpergewicht)

� Alternative Therapieformen gelten als zu aufwendig

� Den Kindern wird eine aktive Teilnahme an der Therapie abgesprochen

Der fatale Irrtum in der Der fatale Irrtum in der

Neonatologie bis 1987Neonatologie bis 1987

� Die zur Schmerzwahrnehmung benötigten kortikalen Strukturen sind bei Frühgeborenen noch nicht ausgereift.

� Neugeborene = hohe Schmerzschwelle. Beweis: NG zeigen geringen Schmerzreaktionen nach Geburt oder Frakturen

� Die Behandlung schwerer Krankheiten steht im Vordergrund, Schmerzen spielen eine sekundäre Rolle.

� Schmerzlindernde Medikamente sind für NG gefährlich und können sich schädigend auswirken (z.B. durch Methämoglobinämien).

Die WendeDie Wende

Paradigmenwechsel 1987 durch Anand et al.

Randomisierten Untersuchung: Nachweis, dass eine hormonelle Stressreaktion während eines kardiologischen Eingriffs bei Neugeborenen durch die Gabe von Fentanyl®nicht mehr auftrat. Die Gruppe der analgesierten Kinder hatte darüber hinaus postoperativ ein deutlich besseres Outcome.

Unterschiede der Schmerzverarbeitung Unterschiede der Schmerzverarbeitung

FrFrüühgeborene hgeborene �� KinderKinder

� Nozizeptoren werden ab der 7. SSW ausgebildet

� ab der 14. SSW über den gesamten Organismus verteilt

� ab 20. SSW ist die gesamte Körperoberfläche sensibel für Schmerzen

� ab der 24. SSW ist das nozizeptive System bei FG genügend ausgereift, um Schmerzen zu empfinden

� Myelinisierung ist bei Geburt noch nicht abgeschlossen, reift aber weiter und ist ausreichend für die Schmerzweiterleitung

� Weiterleitung erfolgt langsamer als bei EW, Wege sind aber kürzer

SchmerzSchmerz

Ist nicht jeder Schmerz gleich (schrecklich)?

Zeitpunkte der Schmerzwahrnehmung Zeitpunkte der Schmerzwahrnehmung

bei Kindernbei Kindern

� Genau wie beim Erwachsenen, aber zusätzlich:

alles, was neu istalles, was Angst machtalles, was unsicher macht

Das heißt, Schmerz kann auch mal hervorgerufen werden durch:eine unerwartete Berührung beim Kinderarztder kalte Zug beim Öffnen des Inkubators

Kinder + kognitive MKinder + kognitive Mööglichkeiten glichkeiten

� Erwachsenen + Kinder: 75% geben mittlere bis starke Schmerzen nach einem chirurgischen Eingriff an.

� keine Änderung in den letzten 50 Jahren trotz neuer Therapiemöglichkeiten

� Verbalisierung mangels kognitiven Reife nicht möglich

� Bewertung des Schmerzes erst nach geistiger Reifung und Erfahrung

� Das Leiden hängt von individuellen Schmerztoleranz sowie der Fähigkeit ab, dem Schmerzereignis einen Charakter oder einem Ereignis zuzuordnen

Schmerz = StressSchmerz = Stress

� SG: hormonellen + metabolischen Reaktionen auf Stress 3 bis 5x stärker sind als bei EW

� FG haben erhöhte Hormonausschüttung als NG

� Negativ empfundener Stress => HF ,RR , elektrischen Muskelaktivität , Ausschüttung Corticosteroiden, Adrenalin, Noradrenalin, Wachstumshormonen, Glucagon, ACTH sowie Reduzierung von Testosteron und Insulin.

� akuten und/oder andauernden Schädigungen bei längerer Einwirkung /Wiederholung von Stressoren

Folgen:

� Sauerstoffbedarf , metabolische Azidose, periphere und pulmonale

Widerstand , Wundheilungsstörung, Hirnblutungen, gastrointestinale

Probleme

Vermutete Langzeitfolgen bei FrVermutete Langzeitfolgen bei Früühgeborenenhgeborenen

� dauerhaften Veränderungen auf der neurobiologischen Ebene

� Änderungen in Struktur und Funktion des Schmerzsystems

� „Reprogrammierung“ in Form von molekularen Veränderungen im ZNS: die „unbewußte Gedächtnisspur“.

� Neurologische- und Entwicklungsdefizite :motorischen Störungen, Verhaltens- und Sozialauffälligkeiten, schmerzinduzierte Angstzustände bis zu Depressionen,

emotionalen Problemen, Lernschwierigkeiten, AufmerksamkeitsstörungenSchlafstörungen,

Schwächung des Immunsystems,erhöhtes Thromboserisiko.

Wie nehmen wir Schmerzen wahr?Wie nehmen wir Schmerzen wahr?

SchmerzleitungSchmerzleitung

� Reizung der Nozizeptoren => Erregung wird durch A-delta (schnell leitend = Auslösung Fluchtreflex) und C-Fasern (langsam leitend) über die Hinterwurzel des Rückenmarknervs geleitet. Hier liegen die sensiblen Nervenzellen + die erste Umschaltstelle.

=> Gleich beim Kind und Erwachsener

Quelle: Thomm: Schmerzpatienten in der Pflege

Wie nehmen wir Schmerzen wahr?Wie nehmen wir Schmerzen wahr?

SchmerzleitungSchmerzleitung

� Aufsteigender Reiz zum Stammhirn

� Von dort zieht ein Teil zur Formatio reticularis (Wahrnehmung von Schmerzqualität + Intensität, räumlich-zeitliches Empfinden)

=> Einschränkungen beim Kind

� Ein anderer Teil zieht zum Thalamus (Verteiler)

Wie nehmen wir Schmerzen wahr?Wie nehmen wir Schmerzen wahr?

SchmerzleitungSchmerzleitung

� Es wird verteilt an:

� Limbisches System: emotionale Wertung des Schmerzes

=>Einschränkungen beim Kind

� Großhirnrinde:

� Beurteilt die beiden anderen Systeme + vergleicht mit früheren Schmerzerfahrungen

=> Bildet sich beim Kind gerade aus

Wie nehmen wir Schmerzen wahr?Wie nehmen wir Schmerzen wahr?

SchmerzleitungSchmerzleitung

� Über efferente Schmerzbahnen werden begünstigende oder hemmende Mechanismen freigegeben, z.B. Endorphinfreigabe zur Schmerzhemmung

Kann das Kind das auch?

Beeinflussende Faktoren der Beeinflussende Faktoren der

Schmerzwahrnehmung bei KindernSchmerzwahrnehmung bei Kindern

� Die „Schmerzpforte“in der substantia gelatinosa des Hinterhorns kann geöffnet und geschlossen werden.

� Die Schmerzweiterleitung kann durch die „Schmerzpforte“moduliert werden.

Beeinflussende Faktoren der Beeinflussende Faktoren der

Schmerzwahrnehmung bei KindernSchmerzwahrnehmung bei Kindern

� Übergeordnete kortikale Systeme wirken hemmend bzw. bahnend für afferent Impulse

� Diese Systeme wirken bis hinab auf Rückenmarksniveau=> sie sind das „zentrale Kontrollsystem“ für Schmerzen

Kann das ein FrKann das ein Früühchen auch schon?hchen auch schon?

� Schmerzabwehrsystem in Form der Ausbildung von A-Beta-Fasern ist beim FG / NG noch nicht entwickelt. Aber:

� ab der 20. SSW können morphinartige

Substanzen (Beta-Endorphine) als Reaktion auf Stress ausgeschüttet werden

=>Eine eingeschränkte, wenn auch unzureichende körpereigene Schmerzlinderung ist damit

möglich

Beeinflussende Faktoren der Beeinflussende Faktoren der

Schmerzwahrnehmung bei KindernSchmerzwahrnehmung bei Kindern

Psychologische Zustände wie

BewusstseinslageAufmerksamkeitVorerfahrungen mit Schmerzder symbolische Gehalt des Stimulus

prägen das Kind

BioBio--PsychoPsycho--Soziale BedingungsfaktorenSoziale Bedingungsfaktoren

z.B. Akutschmerz (z.B. Zahnarzt)z.B. Akutschmerz (z.B. Zahnarzt)

� Schmerz ist entwicklungsgeschichtlich eine der ältesten Reaktionsformen.

� Angst ist eine später einsetzende Reaktionsform

� Angst + Schmerz = Signal für Gefahr!

� Es bestehen Kollaterale zwischen Angst + Schmerzbahnen

� => Jeder Schmerzreiz wird emotional auch mit Angst belegt.

Kann ich das Kann ich das „„zentrale zentrale

KontrollsystemKontrollsystem““ zugunsten der zugunsten der

Schmerztherapie beeinfussen?Schmerztherapie beeinfussen?

Ja! Das ist ganzheitliche Schmerztherapie!

Praxis der SchmerztherapiePraxis der Schmerztherapie

(sowohl bei akuten(sowohl bei akuten-- als auch chronischen als auch chronischen

Schmerzkindern)Schmerzkindern)

� Ausführliche Anamnese erheben, um:

Auslöser- und Risikofaktoren für das Schmerzgeschehen zu erkennen

Eine Therapie zu erarbeiten, die praktikabel und lebensnah ist(dies gilt für Eltern + Kinder)

Therapieschritte bei FrTherapieschritte bei Früühh-- und und

NeugeborenenNeugeborenen

� Akuter (vorübergehender) Schmerz z.B. Blutabnahmen:

Zuckerlösung, Basale Stimulation, Saugen, Zuwendung

� Größere EingriffeMedikamentöse Therapie + Zuwendung

Praxis der GlucosePraxis der Glucose-- oder MModer MM--GabeGabe

2 min vor kleinen schmerzhaften Prozeduren:

� - reifes NG oder >2500g: 1-2ml Glc30% p.o.

� - FG <2500g: 0,5ml Glc30% p.o.

� - FG <1500g: 0,3ml Glc30% p.o.

� - Glc oder Kochzucker wirkäquivalent

� - zusätzlich Schnuller

� - bei gestilltem NG Procedur möglichst während des Stillens durchführen

� - bei „invasiveren“ Eingriffen zusätzlich medikamentöse Analgesie

Keine Toleranzentwicklung gegenüber dem analgetischen Effektes von

Glucose!

Ein Kind hat Schmerzen!Ein Kind hat Schmerzen!Das glaube ich zumindest Das glaube ich zumindest –– oder?oder?

Was kommt noch vor der Therapie oder weiteren Maßnahmen?

SchmerzeinschSchmerzeinschäätzungtzung

Wer kann es besser?Wer kann es besser?

Kind, Eltern oder Pflegekräfte?

FremdeinschFremdeinschäätzung konta tzung konta

SelbsteinschSelbsteinschäätzungtzung

� Die schlechteste Schmerzeinschätzung wird durch Dritte / Fremde durchgeführt!

� Die beste Schmerzeinschätzung und den daraus resultierenden Schmerzmittelbedarf leistet der Patient selber!

FremdeinschFremdeinschäätzung tzung

konta konta

SelbsteinschSelbsteinschäätzungtzung

� Begründung: Auch wir haben alle eine Sozialisation erfahren und Vorerfahrungen gemacht.

� Können und wollen wir akzeptieren, dass das Kind unter Schmerzen leidet, wenngleich wir es medizinisch für unwahrscheinlich halten, ist die Therapie effektiver.

Hilfsmittel zur Erfassung der Hilfsmittel zur Erfassung der

SchmerzintensitSchmerzintensitäätt

� Befragung der Eltern

� Verhalten des Kindes (weinen, schlafen)

� physiologische Messgrößen, z.B. Blutdruck, Herzfrequenz

� Hat das Kind Hunger oder Schmerzen?

� Schmerzskalen und Scores

FremdeinschFremdeinschäätzung bei Frtzung bei Früühgeborenenhgeborenen

� Cave:sehr unreife und/oder schwer kranke Frühgeborene haben häufig nicht mehr die Reserven, auf Schmerzen zu reagieren. Sie werden schlapp und inaktiv!

SchmerzSchmerzääuußßerungenerungen

� schmerzäußerndes Grimassieren: vorgewölbte Augenbrauen, Zusammenkneifen der Augen, naso-labiale Furche, offene Lippen,vertikal und horizontal gezogener Mund; angespannte, gestraffte Zunge

� motorische Zeichen: (reflexhaftes) Zurückzucken,geballte Fäuste und Muskelanspannung

SaO2

Herzfrequenz intracranieller Druck

Berner Schmerzscore fBerner Schmerzscore füür Neugeborener Neugeborene

PIPP PIPP -- Premature Infant Pain Profile Premature Infant Pain Profile (Stevens et al 1996)(Stevens et al 1996)

� Bezieht Gestationsalter mit ein

� 7 KategorienBewusstseinszustand,

HF,RR,Augenbauenkneifen,AugenbrauenwölbungNasolabialfalte

Anwendung: RR-Messungen irritieren;

aufwendig in der Praxis

NIPSNIPS-- Neonatal Infant Pain Scale Neonatal Infant Pain Scale (Laurence et als. 1993)(Laurence et als. 1993)

� 6 Kategorien:Weinen / Schreien,Gesichtsausdruck,Armbewegungen,Beinbewegung,Atmung,Wachheit / Aufmerksamkeit

Anwendung: einfach, aber unscharf

Kindliche Unbehagen und Kindliche Unbehagen und

Schmerzskala Schmerzskala -- KUSSKUSSWeinen gar nicht 0

Stöhnen, Jammern, Wimmern 1

Schreien 2

Gesichtsausdruck entspannt, lächelnd 0

Mund verzerrt 1

Mund und Augen grimassieren 2

Rumpfhaltung neutral 0

unstet 1

Aufbäumen, Krümmen 2

Beinhaltung neutral 0

strampelnd, tretend 1

an den Körper gezogen 2

Motorische Unruhe nicht vorhanden 0

mäßig 1

ruhelos 2

Schmerzskalen findet man unter:

www.dsl-ev.de

www.schmerzliga.de

www.contraschmerz.de

Sinnvoller Einsatz von SkalenSinnvoller Einsatz von Skalen

� Vergleich verbale + nonverbale Schmerzäußerungen

� Einsatz vor Therapiebeginn

� Beurteilung des Therapieerfolges

� Wahrnehmung von Veränderungen bei Therapieanpassungen

� Kommunikation mit Eltern über das Phänomen „Schmerz“

MMööglichkeiten der nichtglichkeiten der nicht--

medikamentmedikamentöösen Schmerztherapiesen Schmerztherapie

Zentral wirkende Techniken:

� Ablenkung

� Imagination ( für ältere Kinder)

� Entspannungstraining

� Akkupunktur

� progressive Muskelentspannung

MMööglichkeiten der nichtglichkeiten der nicht--

medikamentmedikamentöösen Schmerztherapiesen Schmerztherapie

� Basale Stimulation (gut geeignet für kleine Kinder)

� Massage

� Hydro-/Thermotherapie

� Elektrotherapie / Ultraschall

� Schmerzphysiotherapie

MMööglichkeiten der Schmerztherapieglichkeiten der Schmerztherapie

� Medikamentöse Therapie nach WHO-Stufenschema

� Regionalanästhesie

Perioperatives SchmerztherapiekonzeptPerioperatives Schmerztherapiekonzept

Postoperativer Standard

� Piritramid : Bolus 0,1 mg /kg fraktioniertoder PCA

� Ibuprofen 40 mg/kgKG/Tag

� Metamizol 60 mg/kgKG/Tag

� Paracetamol 100mg/kgKG/Tag

� Diclofenac 3 mg/kgKG/ Tag

Herzlichen Dankfür die Aufmerksamkeit!