frauen in christentum und islam

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9 Vorwort

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Vorwort

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Einleitung

Die Menschen

Wenn es an die Vorbereitung einer Kinder-Veranstaltung ging, trafen sich Frauen in der Gemeinde zur ehrenamtlichen Arbeit für die Kirche – früher war das üblich, heute findet man das gelegentlich. »Ich habe drei Kinder und eine Verantwortung für sie – ich möchte auch mit ihnen leben und ihnen Perspektiven für die Zukunft eröffnen, darum bin ich nicht berufs-tätig«. »Mein Mann ist in seiner Firma total engagiert. Ich genieße es, so-viel freie Zeit zu haben, soviel positiven Spielraum, um mich meinen bei-den Töchtern, meinen Hobbys und meinen ehrenamtlichen Engagements zu widmen.« Diese Frauen verstanden sich als Hausfrauen in christlicher Kon-vention. Mit ihnen engagierte sich eine Lehrerin für Musikveranstaltungen in ihrer Gemeinde, besonders für die Kinder – berufstätig und doch gebun-den an ihre spirituelle Tradition.

Die Selbstverständlichkeit im Rollenbild von Frauen als Ehefrauen, Mütter und Hausfrauen ist für das Christentum sicherlich weitgehend Ge-schichte geworden. Gerade deshalb schien es mir interessant herauszufin-den, welche Formen gelebter Frauenspiritualität es im Christentum gibt. Meine Nachforschungen nahmen in einer Reihe von persönlichen Gesprä-chen Gestalt an. Sie blieben nicht dabei stehen, das Selbstverständnis christlicher Frauen zu dokumentieren, sondern darüber hinaus war es mir wichtig, mit muslimischen Frauen ins Gespräch zu kommen und Neues über ihr Leben und Denken zu erfahren. So möchte ich einige Eindrücke an den Beginn stellen:

Mir gegenüber sitzt eine Nonne, die ich um ein Interview gebeten habe: Sie ist motiviert, aus ihrem langen Ordens- und Berufsleben zu erzählen, von Fortbildungen, die sie leitet, von mancherlei Widersprüchen in ihrer Kirche. Sie betont, dass sie die Kirche als ihre geistige Heimat ansieht; auch wenn sie manches nicht versteht, z. B. warum Frauen in der Kirche ir-gendwie doch nicht ganz so wertvoll und weniger in leitender Stellung zu finden sind als die Männer.

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Ich interviewe die Gleichstellungsbeauftragte einer kleineren deutschen Stadt. Selbst Akademikerin, berichtet sie doch von noch immer schwieri-gen Bedingungen für Frauen im Berufsleben, davon, dass wenige Akade-mikerinnen, wenige Frauen in leitenden Positionen in ihrer Stadtverwaltung arbeiten.

Diesmal sitzt mir gegenüber eine junge Frau – 35 Jahre alt. Sie ist gebo-ren in Deutschland, absolvierte Schule und Studium in Deutschland und legte hier ihr erstes und zweites juristisches Staatsexamen ab. Ihr Schreib-tisch ist geschmackvoll kombiniert aus Holz und Metall, ihr Büro anspre-chend. Die Anwaltskanzlei besteht seit zwei Jahren. Sie erzählt aus ihrem Leben, nicht nur Juristisches.

Erlebe ich nun den Übergang zur »Welt emanzipierter Frauen«? Der Frauen, die mit den Ansprüchen unserer Berufswelt erfolgreich umzugehen wissen?

Was trägt diese Frau? Hosenanzug, weiße Bluse, Kurzhaarschnitt, exakt, aber unauffällig frisiert? Über die Frisur kann ich mir nur ein vorläufiges Bild machen, der schwarze Pullover und der weiße lange Rock sind dezent und elegant.

Die Rechtsanwältin mit Kopftuch erzählt im folgenden Gespräch einige Erfahrungen aus ihrem Berufsleben, aber auch vieles über ihr Engagement im interkulturellen und interreligiösen Dialog zwischen den Religionen in Deutschland.

Im Vorstand des Interkulturellen Rates in Deutschland, Mitglied in einem Arbeitskreis der Evangelischen Akademie Arnoldshain, im Arbeits-kreis Interreligiöses Frauenforum des Hessischen Sozialministeriums und Kuratoriumsmitglied der Muslimischen Akademie Deutschland – bleibt bei ihrem vielfältigen Engagement noch Zeit für ein wenig Freizeit, für Hob-bys? Eigentlich seien Hobbys selbstverständlich, sie treibe auch gerne Sport, etwa Joggen.

Sie habe aber auch schon die Pilgerfahrt nach Mekka durchgeführt, ob-wohl das der Konvention nach noch nicht in ihr Lebensalter passt.

Sie ist noch nicht verheiratet, nimmt ihren Beruf sehr ernst – und sie hofft, wie viele Frauen, auf eine gute zukünftige Kombinationsmöglichkeit von Familie und Beruf, wenn es denn einmal so weit ist.

»Unsere Frauen haben es sicher manchmal schwer« – so sagt meine Ge-sprächspartnerin – »aber Frauen haben es generell nicht leicht«. Ihre Le-bendigkeit, ihre Ehrlichkeit, ihr Humor sind ansteckend.

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Sie ist verwurzelt in einer großen Familie, die in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist und die in Deutschland zuhause ist. Sie ist Deutsche, Muslimin, Europäerin, Demo-kratin – und sie ist der Ansicht: Es wird im Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen in Deutschland ein tragfähiges Fundament ent-stehen können. Voraussetzung ist allerdings, dass von beiden Seiten der Dialog gesucht wird.

Das Buch

Christentum und Islam haben vielfältige gemeinsame Wurzeln, auch im Hinblick auf das Leben von Frauen. Dies gilt für die theologischen Tradi-tionen, für die Geschichte beider Religionen in vielen Ländern der Welt, aber auch für die Gegenwart.

In diesem Buch soll das Augenmerk besonders auf die Möglichkeiten zur Entwicklung des Dialogs von Christinnen und Musliminnen gerichtet werden, die in Deutschland miteinander leben. Dabei soll das politische Konzept der Gleichstellung von Frauen mit Männern im öffentlichen Leben in Bezug auf seine vielfältigen historischen und sozialen Implikationen im Umfeld beider Religionen gesehen werden.

Frauen im Rahmen der Gesamtsysteme zweier Religionen zu betrachten, bedeutet, thematische Schwerpunkte zu setzen. Welcher Zugang soll be-sonders betont werden? Soll die Geschichte gesehen werden? Oder soll in den Blick genommen werden, wie Frauen in Christentum und Islam heute leben? Wie lässt sich beides verbinden?

Im ersten Teil wird das Thema in seiner historischen Perspektive be-arbeitet. Zum einen gehört dazu, die grundlegenden Quellenschriften der beiden Religionen Islam und Christentum darüber zu befragen, was sie über Frauen mitteilen. Dann wird, in exemplarischen Ausschnitten, die Rolle der Frauen in der Geschichte des Islam und in der Geschichte der Kirche betrachtet. Dazu gehört, die weiblichen Seiten im Gottesbild, aber auch die psychologischen Aspekte zur Rolle und zum Verständnis von Frauen in den verschiedenen Gesellschaften der beiden Religionen zu un-tersuchen.

Im zweiten Teil werden Aspekte und Ausschnitte der Geschichte und Gegenwart von Frauen im Christentum und im Islam zu Wort kommen.

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Offene Gespräche und persönliche Interviews mit verschiedenen Ge-sprächspartnerinnen – Frauen, die Gleichstellungsfragen bearbeiten, christ-lichen Frauen und Musliminnen – belegen einen breiten Horizont verschie-dener Fragestellungen und Selbstverständnisse.

Im dritten Teil schließlich werden Perspektiven zur gegenseitigen Wahr-nehmung und Verständigung gegeben. Begegnung muslimischer und christlicher Frauen in Deutschland heißt: Alle Beteiligten, sowohl die christlich als auch die muslimisch sozialisierten Frauen, können voneinan-der lernen und die jeweils andere kulturelle Eigenart zur Kenntnis nehmen.

Ethnopsychoanalytische Ansätze, die ihre eigene abendländische Her-kunftskultur kritisch hinterfragen, können helfen, den sensiblen Hinter-grund multikultureller Kommunikation transparent zu machen. Konzepte der interkulturellen Seelsorge wie die »narrative Seelsorge« eröffnen Wege zum Dialog. Es ist zu wünschen, dass in der breiteren Begegnung von Christinnen und Musliminnen im Horizont ihrer Religionen zukünftig auch interkulturelle Formen gelebter Spiritualität entstehen können.

Christliche und islamische religiöse Lebensentwürfe bilden einen Kon-trapunkt zur Säkularität der umgebenden Gesellschaft. Von ihnen gehen Herausforderungen aus, die zur Auseinandersetzung nötigen. Frauen aus beiden Religionen haben an diesem Prozess gegenwärtig einen wesentli-chen Anteil.

Das Verständnis von Familienleben wird sich in der Begegnung der bei-den Religionen für beide Seiten wandeln. Verändernde Fragen an die Part-nerschaft von Frauen und Männern und an die Integration von Familien – und Berufsleben werden sich zunehmend im interreligiösen Kontext stel-len. Beide, MuslimInnen und ChristInnen, partizipieren an denselben ge-sellschaftlichen Bedingungen. Manchmal werden sogar beide religiöse Tra-ditionen in den Familien vorhanden sein.

So soll ein Denkanstoß gegeben werden – zum ersten Begegnen, zum Weiterdenken, zum Fragen und zum Gespräch.

Danksagungen

Ich danke Prof. Dr. Martin Mittwede, Frankfurt, für seine Gesprächsbereit-schaft, Prof. Dr. Wolfram Kurz, Gießen, für informative Beratung. Mein Dank gilt meinem Kollegen, Dr. Fritz Huth. Die evangelische Kirche in

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Hessen-Nassau hat mir im Rahmen eines dreimonatigen Studienurlaubs Zeit zur Verfügung gestellt. Auch dafür möchte ich danken.

Meinem Mann, Helmut, meinen Kindern, Matthias, David und Claudia ein herzliches Dankeschön für die vielfältige Hilfe während des Entstehens dieses Buches.

Meiner Schwester, Christel Anbargi, und meinem Schwager, Moham-med Fauzi Anbargi, gilt meine Verbundenheit für Einsichten in die oft schwierige Situation multikulturellen Lebens in Deutschland.

Ein Dank allen Frauen, die durch Beiträge und die Bereitschaft zu Inter-views zur Ausfächerung der Thematik beigetragen haben – Schwester Ber-nadette Bargel, Äbtissin des Klarissen-Klosters in Kevelaer, Schwester Maria Regina Wessel, Exerzitienleiterin im Exerzitien- und Bildungshaus der Franziskaner in Hofheim/Ts., Schwester Gabriele, Schwester Maria und anderen Schwestern aus dem Orden der Ursulinen in Königstein/Ts., Christine Kölbl, pädagogische Referentin im FrauenWerkStein/ Franken , Kadriye Aydin, Rechtsanwältin in Darmstadt, Beate Großmann-Hofmann, Historikerin und Stadtarchivarin in Königstein/Ts. und Petra Trimmel, Per-sonalbeauftragte einer Bank in Frankfurt/Main.

Teil I

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1 Gemeinsame Wurzeln – Frauen in der Bibel und im Koran

Die beiden grundlegenden Quellenschriften von Christentum und Islam, die Bibel und der Koran, bieten vielfältiges Material über die Frauengestalten, die sie beschreiben.

Ebenso wichtig wie die historische Überlieferung über einzelne Perso-nen ist der gesamte Zugang, den die heiligen Bücher dieser beiden Religio-nen zum Phänomen des Weiblichen innerhalb des Gottesbildes liefern. Bei-des ist miteinander verbunden und muss miteinander betrachtet werden. Es ergibt sich die Frage, ob und wie sich weibliche Gottes- und Menschen-bilder in Bibel und Koran miteinander verzahnen.

Sicherlich wird kein einheitliches Bild entstehen, wenn dieser Frage nachgegangen wird. Vieles, was hier betrachtet wird, ist als Denkanstoß für weitere Auseinandersetzung gedacht. Vor allen Dingen besteht nicht die Absicht, die Darstellung der Frauen des Alten und Neuen Testamentes un-ter einen im engeren Sinne detaillierten, an der historischen Kritik zur Bibel orientierten Blickwinkel zu stellen. Dies würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Der Fokus liegt ausschließlich auf den herauszu-arbeitenden religionspsychologischen Aspekten.

Unter den Frauen der Bibel ist vor allem als die wesentliche weibliche Gestalt Maria zu nennen, die in manchen Ausprägungen der christlichen Frömmigkeit einen göttlichen Charakter errungen hat.

Neben der einen Frau mit Namen »Maria«, die als Mutter Jesu gilt, hat der Name »Maria« eine vielfache Verbreitung in den Überlieferungen, die den Schriften des Neuen Testamentes zugrunde liegen. In manchen Fällen ist sogar unklar, ob der Bericht über Frauen mit dem Namen »Maria« auf eine oder mehrere verschiedene historische Vorlagen zurückgeht. Wenn-gleich Maria die wichtigste weibliche Gestalt des Christentums ist, so sind sie und die Frauen gleichen Namens noch nicht die ältesten und ursprüng-lichsten Frauen in den jüdisch-christlichen Überlieferungen, auf die auch der Islam zurück greift.

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In die Anfänge der biblischen Überlieferung gehört als erstes die Frau, die in der Umgangssprache »Eva« genannt wird. Ihr Name lautet im hebräi-schen Urtext »Chava«. Das hebräische Wort für »Erde« oder »aus Erde ge-nommen« ist also zugleich der Gattungsname für einen Teil der Menschen: Die Frauen.

Eva – als Vertreterin der Gattung – steht aber auch für die »verführbare« und »verführende« Seite in der Seele des Menschen, die die kritischen und versuchenden Einflüsterungen der Schlange an sich heran dringen lässt. Evas Seele lässt sich hinreißen von der Eigenwilligkeit der Schlange und der Lust an dem, was Jahwe verboten hat – so stellt es die biblische Über-lieferung dar.1 Adam – der Mann – folgt ihr zwar; dennoch wird die männ-liche Seele tendenziell eher als die im Einklang mit dem Willen Gottes stehende Seite im Menschen dargestellt.

Die Bibel erzählt in den ersten Kapiteln noch von anderen Ur-Frauen – wie etwa von den Frauen der Urväter der Glaubenstraditionen, die den Ju-den, den Christen und den Muslimen gemeinsam sind. Sie berichtet die Ge-schichten der Frauen Abrahams, Isaaks und Jakobs, von Sara und Hagar, Rebecca, Lea und Rahel.

Nicht nur namentlich genannte, mehr oder minder individuelle Personen kennt die biblische Tradition; sie greift ebenso bestimmte »Erscheinungs-formen« von Frauen auf, wie sie in den antiken Kulturen zu finden waren.

Priesterinnnen und Kriegerinnen – von Männern unabhängige, nicht un-bedingt in erster Linie durch die Ehe und Kinder definierte Frauen – waren weithin bekannte, typische Gestalten in der Überlieferung der alten Kultu-ren des vorderen Orients. Sie sind in der Bibel vertreten, allerdings eher in den »Nebenrollen«. Die wesentliche Überlieferungsschicht gehört den Müttern, den Ehefrauen, den Jungfrauen.

Mirjam, die Schwester Moses und Aarons, vereinigt Züge einer Prieste-rin und einer Kriegerin in sich, als sie das Volk Israel zusammen mit ihren beiden Brüdern aus Ägypten führt und dabei das Rote Meer durchzieht. Sie führt den Zug an der Spitze mit Tanz und Musik an – eine Heerführerin.

Natürlich kennt die Tradition von Bibel und Koran auch berühmte Er-zählungen von Liebesgeschichten – im Hohen Lied der Liebe ist eines der Motive aus der weisheitlichen Tradition von Liebesgeschichten verwendet. Allerdings bleibt die Darstellung im Hohen Lied typologisch, sie beschreibt die Beziehung der beiden Menschen und nennt nicht die Namen der Lie-benden.

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Eine der bekanntesten Liebesgeschichten in der Bibel stellt die Überlie-ferung von der Frau des Potiphar dar; sie war mit einem Beamten des ägyp-tischen Pharaos verheiratet. Sie liebte Josef, den schönen jüdischen Sklaven des Haushalters des Pharao und begehrt ihn. Er aber verweigerte sich ihr aus Treue zu seinem Gott.

Im Koran erscheint dieses Motiv in breiterer Ausschmückung in der Er-zählung von Yussuf und Suleika.2 Diese Geschichte bildet den Anknüp-fungspunkt für literarische und psychologische Betrachtungen der weibli-chen Seele im Islam.3

Insgesamt sind die in den heiligen Schriften überlieferten Frauen eines »Frauentyps« in der Geschichte des Judentums, des Christentums und des Islam vielfach beschrieben, besungen und nachgeahmt worden.

1.1 Frauen des Alten Testamentes

1.1.1 Eva – die Urmutter

Während die Urmutter Eva bereits in ihrem Namen erkennen lässt, dass es in der Schilderung ihrer Gestalt den Verfassern der biblischen Quellen nicht um eine individuell beschriebene Frau geht, wird das im Zuge der berichteten Geschichte des Alten Testamentes in Bezug auf die anderen Frauen, je nach Gattung der Gesamt-Erzählung, anders.

Frauen werden zunehmend nicht nur als »Typen« vorgestellt, an denen nicht wesentlich mehr interessiert, als dass sie ein lehrhaftes Beispiel ge-ben. Sondern es interessiert auch, wie sie ihre Rolle, ihre historische Auf-gabe, derentwegen sie in der Überlieferung bekannt wurden, ausgefüllt haben. Es interessiert, wie sie persönliche Gefühle ausdrücken und welche Entscheidungen sie treffen.

Natürlich sind sie in ihrer »Rolle« Beispiel für »die kämpfende Frau«, die gute Ehefrau, die Mutter, die Prophetin oder Priesterin. Aber immerhin ist dabei mitgeteilt, in welcher Form und individuellen Ausprägung sie ihre Beispielhaftigkeit lebten.

Eva »Chava« (hebräisch), die »aus Erde genommene«, die in der Über-lieferung als die »Urmutter« bezeichnet wird, wird in zwei unterschiedli-chen Qualitäten dargestellt.

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Im einen Falle geschah ihre Erschaffung zeitlich nach der des Mannes, im anderen Falle tritt es eine zeitliche Koinzidenz des Entstehens und eine inhaltliche Gleichwertigkeit der beiden Menschen auf. Dies hängt davon ab, welcher der beiden historisch weit voneinander getrennten Schöpfungs-berichte zugrunde gelegt wird.4

Im Buch Genesis wird erzählt, wie Gott den Menschen in einen Tief-schlaf versetzt, um dann eine Operation an ihm zu vollziehen, die ihn in ge-wisser Weise vervielfältigt. Gott schafft dem Mann, den er zunächst als Höhepunkt der Schöpfung alleine hergestellt hat, eine Partnerin, von der dieser sagen kann: » Sie ist’s. Eine wie ich!«5

Angeschlossen an diese Form des Schöpfungsberichtes ist einer der äl-testen Quellen-Texte der Bibel. Es klingt wie ein überlieferter Merksatz, wenn behauptet wird: »Darum verlässt ein Mann Vater und Mutter, um mit seiner Frau zu leben. Die zwei sind dann eins, mit Leib und Seele.«6

Die Grundsätze matriarchalen Rechtes führen nach dieser Auslegung da-zu, dass ein Mann sich nach der Eheschließung der Familie seiner Frau an-schließt – und nicht umgekehrt, wie es weithin in den Traditionen des Ju-dentums und des Christentums verstanden und praktiziert wurde.

Die Schlange, die im zweiten Schöpfungsbericht7 eine Rolle spielt, er-scheint noch einmal im Alten Testament. Während der 40-jährigen Wande-rung durch die Wüste, kurz vor dem Ziel – dem Einzug in das verheißene Land, ereignet sich folgende Begebenheit:

… unterwegs verlor das Volk die Geduld, und sie beklagten sich bei Gott und bei Mose: »Warum habt ihr uns aus Ägypten weggeführt, damit wir in der Wüste sterben ? Hier gibt es weder Brot noch Wasser, und dieses elende Manna hängt uns zum Halse her-aus.« Da schickte der Herr zur Strafe giftige Schlangen unter das Volk. Viele Israeliten wurden gebissen und starben.

… Moses betete für das Volk, und der Herr sagte zu ihm: »Fertige eine Schlange an und befestige sie oben an einer Stange. Wer gebissen wird, soll dieses Bild ansehen, dann wird er nicht sterben! Mose machte eine Schlange aus Bronze und befestigte sie an einer Stange. Wer gebissen wurde und auf diese Schlange sah, blieb am Leben.8

Nach beiden Berichten ist zu schließen, dass in der Überlieferung über die Schlange alte Schichten matriarchaler9 Religion einfließen. Die Schlange hatte die Kraft, zu heilen, und sie hatte die Kraft, den Menschen ein erwei-tertes Bewusstsein zu verleihen; dies könnte Überlieferungen über die Qua-litäten früher Göttinnen beinhalten.

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1.1.2 Die »Urmutter« im Gottesbild

Diese alte, um 800 v. Chr. entstandene Überlieferung im zweiten Kapitel des Buches Genesis schließt demnach, entsprechend dem oben genannten Zitat, noch weit älteres, mündlich tradiertes Material in sich ein.

Die Priesterschrift,10 die die Quelle für den Schöpfungsbericht im ersten Kapitel des Buches Genesis darstellt, das allerdings erst um 350 v. Chr. Ge-schrieben wurde, weiß schon etwas anderes zu berichten:

Die Priesterschrift sieht die Schöpfung der ersten Menschen folgender-maßen: » So schuf Gott die Menschen nach seinem Bild, als Gottes Eben-bild schuf er sie als Mann und als Frau.«11

Eine prinzipielle Gleichheit vor Gott wird in diesem Text dem Mann und der Frau verliehen – gemäß dem Wunsch Gottes, sich beide Ge-schlechter ebenbildlich zu machen. Dies heißt nicht, dass in der Tradition und Auslegungsgeschichte auch dieses Textes gesellschaftliche Unterschei-dungen zwischen der Position, den Rechten und Pflichten von Männern und Frauen gemacht wurden.

Es heißt aber, dass – religionspsychologisch betrachtet –, hier die Aus-sage eingeschlossen ist, dass Gott selbst männlich und weiblich ist, bezie-hungsweise dass er männliche und weibliche Eigenschaften in sich trägt. Denn er schuf die Menschen »nach seinem Bild«.12

Die Aussage von Gottes männlichen und weiblichen Eigenschaften ist in späteren Überlieferungen oft verdeckt worden zugunsten der Hervorhebung der männlichen Attribute. Aber sie ist trotzdem nicht verloren gegangen. Wenn man genauer hinsieht, beweisen viele Texte des Alten Testamentes in anschaulichen Bildern, dass Gott eine weibliche Seite in sich trägt.

Gott ist die »gebärende Frau«. Jahwes Schmerzen werden mit Wehen verglichen. Es kostet eine Zeit der Entwicklung, bis Jahwe schließlich die Frucht seiner Erkenntnis gebiert. Er wendet sich gegen die Götzendiener, die »fremde« Gottheiten in Israel etablieren wollen und die ihm diese schmerzliche Entwicklung zu einer neuen Geburt abverlangen: »Ich hatte sehr lange geschwiegen, ich war still und hielt mich zurück. Wie eine Ge-bärende will ich nun schreien, ich schnaube und schnaufe.«13 Aus Gottes Geburtsschmerzen entsteht schließlich eine neue religiöse Ordnung auf dem Boden des Willens, den Jahwe vorgibt – in seinem Sinne entsteht da-mit eine bessere, gerechtere Welt.

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Nach der mit Schmerzen erlittenen Geburt aber entlässt Gott seine ihm lieb gewordene Kreatur nicht; er fühlt sich weiter mit ihr verbunden, und sie bleibt nun auch weiterhin nicht nur auf sich selbst gestellt.

Im Gegenteil, es wird gefragt: »Kann denn eine Frau ihr Kind verges-sen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht.«14

Das in alten Religionen weit verbreitete Motiv von der gebärenden Mut-ter und ihrem Sohn – das matriarchale Motiv in allen vorderorientalischen Religionen –, wird hier auf das Handeln Jahwes übertragen.

An anderer Stelle15 gerät Mose in einen Wettstreit mit Gott um das Tra-gen, Gebären und Nähren des Volkes Israel. Wenn Gott die Mutter ist, war-um bürdet er Mose den schweren Ammendienst der Ernährung des Volkes ganz alleine auf?16

Tragend, nährend, gebärend ist Gott – oder auch ein Geburtshelfer: »Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog, an der Mutterbrust hast du mich vertrauen gelehrt. Von Geburt an stehe ich unter deinem Schutz, vom Mutterleib an bist du mein Gott.«17

Verschiedene, die weibliche Seite Gottes darstellende Beispiele aus dem Tierreich ergänzen die beschriebenen Eigenschaften Gottes. Gott als »Ad-lermutter, die ihre Jungen unter ihren Flügeln schützt,18 als Taube und schließlich: Gott als Bärin. »Ich falle sie an wie eine Bärin, der man die Jungen geraubt hat …«19

1.1.3 Sara, Hagar, Rebecca, Rahel, Lea – die Frauen der Urväter

Mehr typologisch als individuell sind die Berichte über die Frauen der Ur-väter.

Sara, die Frau Abrahams, steht vor allem im Mittelpunkt der Ankündi-gung der Geburt Isaaks durch den Engel. Sarah lacht und erweist sich als ungläubig gegenüber der Nachricht, dass sie nun noch ein Kind bekommen soll, nachdem sie so viele Jahre darauf gewartet hatte.20

In der Hoffnungs auf Kinder war sie bereits hinlänglich enttäuscht wor-den.

Betrachtet man den Text auf Saras individuelle Verfassung hin, so mag er von ihrer durch manche gesellschaftlichen Kränkungen bereits entstan-denen Verbitterung sprechen. Keine Kinder zu haben war für eine Frau gleichzusetzen mit Wertlosigkeit. Der Mann hatte das Recht, sich eine an-

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dere Frau dazu nehmen und mit dieser Frau einen Erben zu zeugen. Dieser Erbe wurde dann als rechtmäßiges Kind aus der Ehe seines Vaters ange-sehen.

Theologisch-religionsgeschichtlich geht es in dem Bericht über die späte Geburt eines wichtigen Erben für den Stamm Abrahams um die Hervorhe-bung eines ganz bestimmten theologischen Motivs.

Die ganze Bibel wird durchzogen von dem Gedanken, dass besondere Geburten, auf die sich Gottes Handlungen stützen, besondere Umstände brauchen. Erst in dem Moment, den Gott erwählt hat, kommt der erwartete Erbe, der zukünftige Prophet, zur Welt. Diese Tradition widerspricht einem anderen Motiv, nach dem die Vorgeschichte eines Menschen zunächst be-liebig ist, bis Gott ihn für eine Aufgabe erwählt hat, indem er ihn »adop-tiert«.

Auch das Neue Testament erzählt, dass Gott sich einer nahezu unfrucht-baren Frau bedient – der Elisabeth –, um ein besonderes Kind zu gebären.

Elisabeth gebiert in hohem Alter den Johannes, den Vorläufer Jesu. Sie, die nach menschlichem Ermessen kein Kind mehr bekommen kann, wird doch auf den Wunsch Gottes hin schwanger.

Mit dieser ersten, fast unnatürlichen Geburt ist die Voraussetzung ge-schaffen, dass noch etwas Unnatürlicheres geschieht: Das Wunder der Ge-burt Gottes (Jesu) durch Maria, die eine Jungfrau ist.

In den Erzählungen über die Geburten in der Reihe der Urväter der Isra-eliten und Ismaeliten überwiegen die typologischen Berichte, aber dennoch werden gelegentlich auch individuelle Züge der handelnden Personen über-liefert.

Sara lässt ihre Verbitterung und ihren Neid an Hagar aus, die an ihrer Stelle einen Sohn für Abraham geboren hat.

Insgesamt betrachtet, geht es in beiden Berichten nicht darum, eine Per-sönlichkeitsschilderung dieser Urfrauen der jüdischen, christlichen und is-lamischen Geschichte zu geben. Es geht um den Nachweis der Abkommen-schaft Isaaks und Ismaels, der sehr viel später von Christen und Muslimen für ihre jeweiligen Traditionen in Anspruch genommen wurde.

Rebecca spielt in der Überlieferung vor allem dadurch eine Rolle, dass sie die reine Abstammungstradition verkörpert. Abraham, der auf Jahwes Wunsch zwar in ein fremdes Land gezogen ist, sendet doch, um die Ab-stammungslinie seines Volkes zu sichern, seinen Knecht in die alte Heimat zurück. Hier soll eine passende Frau für seinen Sohn gefunden werden.

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Diese Ur-Mutter steht für die Reinheit der Erwählungstradition. Es findet keine Vermischung mit den Völkern aus der Umgebung Israels statt.

Sara und Hagar, aber vor allem Lea und Rahel gehören in die Linie der sich im Vorderen Orient etablierenden Harems-Traditionen – und es ver-wundert nicht, dass diese Frauen um Ansehen in ihrer Familie, um die Lie-be des Mannes, um beschränkte Macht konkurrieren müssen. Dementspre-chend gibt es hier zwar Charakter-Schilderungen, die eine gewisse Doppel-züngigkeit und Verschlagenheit der Frauen im Verfolgen ihrer Ziele be-richten. Aber auch diese mögen eher typologisch aufzufassen sein als individuell. Die patriarchale Gesellschaft hatte sich hier bereits ausgeformt und den Frauen dementsprechend nur noch »Umwege« im Erreichen von Zielen ermöglicht. (Rahel entwendet den Hausgott – möglicherweise eine(n) Vertreter(in) ihres matriarchalen Erbes, das sie auf dem Zug in ein fremdes Land nicht verlieren möchte – und verbirgt ihn (sie) in ihrem Sattel, als sie Labans Haus verlässt.)21

1.1.4 Mirjam – Priesterin und Kriegerin

Das Alte Testament kennt aber auch Frauen-Gestalten, die nicht nur im Verborgenen der Familie eine Rolle spielten, sondern die sich öffentlich für das Wohl ihres Volkes eingesetzt haben ; so ist etwa Mirjam zusammen mit Mose und Aaron vor dem Volk Israel durch das Rote Meer gezogen.

Mirjam verkörpert hier nicht die Tradition der Ur-Mutter, die einzig und allein ihren Lebenssinn darin sieht und sehen soll, durch die Geburt eines Sohnes den Familienstamm lebendig zu erhalten.

Von ihr wird zumindest nicht in erster Linie berichtet, dass sie der Vor-herrschaft der Männer unterworfen war und dass es ihre Rolle war, dafür zu sorgen, dass die Linie der Familie erhalten wurde. Sie entwickelte in einer prophetisch-kriegerischen Tradition als Führerin des Volkes ihre eigene, subjektiv handelnde Identität.

Seit früher Zeit kennt die vorderorientalische Kultur Frauengestalten als Kriegerinnen oder Führerinnen eines Volkes.

Mirjam, die ihren Bruder Moses im Schilf findet und ihn vor dem Tod bewahrt, hat zunächst eine typisch weibliche, vorbereitende Funktion für das Auftreten des männlichen Helden. Sie rettet das Kleinkind und übergibt es seiner leiblichen Mutter, die als Amme – verdeckt – ihren eigenen Sohn aufziehen kann, bis er erwachsen ist. Die Entwicklungslegende des männli-

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chen Helden sieht in vielen Überlieferungen eine solche verborgene Be-wahrung vor bis zu dem Tag, an dem die öffentliche Berufung des Mannes beginnt. Frauen haben ihren dienenden Anteil daran.

Nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten wird Mirjam aber neben ihrem Bruder zu einer selbständigen Gestalt, die dem Volk voraus zieht und es zu führen vermag. Sie leitet den Zug des israelitischen Volkes auf eine spezielle, weibliche Weise. »Die Prophetin Mirjam, die Schwester Aarons, nahm ihre Handpauke, und alle Frauen schlossen sich ihr an. Sie schlugen ihre Handpauken und tanzten im Reigen«.22,23 Der Tanz, der Aus-druck der Durchhaltekraft und der Lebensfreude, ist ein weibliches Ele-ment – wobei er nicht nur von Frauen ausgeführt wurde. Auch König David tanzte vor der Bundeslade, und darüber hinaus ist der rituelle Tanz generell eine Form der Anbetung des Göttlichen und ein Ausdruck des Dankes.

1.1.4.1 Ester und Judith – Frauen in der Tradition der schützenden Göttin

»Göttinnentraditionen sind mit in die Gestaltung einer Reihe von biblischen Frauenfiguren eingeflossen« – so bemerkt Marie Theres Wacker in ihrer Abhandlung über den Stand der Diskussion um die Göttinnen in den frühen vorderorientalischen religiösen Traditionen.24 Figurinen der angebeteten Gottheit gab es in vielen Häusern – eine solche Figur entwendete Rahel dem Haushalt ihres Vaters, um sie mit auf die Reise zu nehmen (s.o.). Hatte man diese Figurinen dabei, konnte man dem Schutz der dargestellten oder symbolisierten Göttin sicher vertrauen (s. die Erzählung von der Schlange in der Wüste, S.9).

Ester und Judith – Frauen, die ihr Volk in bedrängter Situation bis hin zur Gewaltanwendung und List verteidigten, mögen als biblische Gestalten nach den Traditionen der Schutzgöttinnen dargestellt worden sein.

1.1.4.2 Jerusalem – die Stadt als Frau

Die »Stadtfrau Jerusalem« hat in der neueren feministischen exegetischen Literatur einen Stellenwert gefunden.

Die »klagende Frau Zion/Jerusalem« wird in den alttestamentlichen Klageliedern erwähnt. Vorbild für diese Gestalt ist die klagende Stadtgöt-tin, wie sie in den sog. Mesopotamischen Stadtklagen auftritt.25 Hier klagt die Göttin über das Schicksal der Stadt, weil sie vorausahnt, dass die Götter ihren Untergang beschlossen haben. Sie versucht, die Zerstörung aufzu-

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halten, aber letztlich bleibt ihr nur die Klage. Jerusalem als Stadt sieht sich einem einzigen Gott gegenüber, der in ambivalenter Haltung die Stadt zu-gleich liebt und sie dennoch zerstört. Die Rolle der Klagefrau liegt bei der weiblich personifizierten »Stadt«.

Jerusalem kann in der Tradition als Ehefrau Jahwes angesehen werden – besonders als untreue Ehefrau. Die Stadt ist aber vor allem die Mutter ihrer Bewohner. Sie schützt und nährt ihre Kinder, manchmal in der Überliefe-rung zusammen mit dem Gott Jahwe. Manchmal erscheint sie aber auch als Mittlerin zwischen Jahwe und ihren Kindern. So »ist dieser Status Jerusa-lems mit den mythologischen Farben von Göttinnentraditionen gezeichnet worden.«26

1.1.5 Schechina und Hochma – weibliche Anteile Gottes

Mit den beiden hebräischen Begriffen »Schechina« und »Hochma« werden im Alten Testament Eigenschaften Gottes beschrieben. Beide Begriffe sind im Hebräischen weiblich.

Obwohl die jüdischen Namen für Gott hauptsächlich männlich sind und jede Aussage über Gott oder jedes ihn näher bestimmende Adjektiv seine Männlichkeit durch entspre-chende grammatische Formen bekräftigt, wird die »Schechina« in ihrer Weiblichkeit in den talmudischen Quellen als eine Art weiblicher Manifestation der Gottheit be-trachtet.27

Ein beispielhaftes Bild für diese in der Welt präsente Eigenschaft Gottes ist: Die Wolke, die dem Volk Israel voraus zieht. Sie verhüllt das verzeh-rende (männliche) Feuer auf dem Berg Sinai.28 Es wird erzählt, dass Jahwe in der Wolke vom Berg herab steigt, um mit Moses zu reden. 29

»Schechina« ist überall da erkennbar, wo im Alten Testament von der »Herrlichkeit Gottes« geredet wird – etwa auch dort, wo Mose sich in einem Felsspalt verbirgt, damit die Herrlichkeit Gottes vorüberziehen kann und ihn mit ihrem Hauch berühren kann.30 »Hauch – Ruach« – sie sind der Uratem der Schöpfung – eine Taube oder ein weiblicher Adler, die über der Urflut ihre Flügel ausbreiten und die Schöpfung ausbrüten.

In der »Schechina« zeigt Gott seine erkennbare, dem Menschen fühlbare Präsenz in der Schöpfung. Wolke und Feuer, als Schatten für den hellen Tag und als Erleuchtung für die Nacht – beides sind Gestalten der »Sche-china«, die in jeder der beiden Formen die Welt belebt. In sich vereinigt sie also verschiedentlich mehrere Qualitäten, auch gelegentlich in Bezug auf Geschlechter-Repräsentanz

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»Hochma« steht für die weibliche Seite Gottes, die im Alten Testament im Hohen Lied der Liebe, in den Sprüchen Salomos, in den historisch spä-ten Schriften, niedergelegt ist. »Die Weisheit ist diejenige biblische Dar-stellung von Gott als Frau, die von fast allen gelehrten Kommentatoren anerkannt wurde, obwohl man die Bedeutung ihrer Weiblichkeit nicht dis-kutiert hat.«31

Die Weisheit wird näher definiert als »Furcht vor dem Herrn«, als weib-liche Ergänzung zur Autorität Jahwes. Anschaulich wird geschildert, wie die Weisheit, die Hochma, ihre Stimme erhebt und ihren Rat allen anbietet, die ihn hören wollen. »Die Weisheit ruft auf den Straßen, auf den Plätzen erschallt ihre Stimme; wo die Leute sich treffen, hört man sie, am Stadttor trägt sie ihre Rede vor«.32 Sie ist also nicht eine verschämt in Frauengemä-cher verschlossene Gestalt, sondern sie tritt selbstbewusst als Gesprächs-partnerin dort auf, wo Menschen sich treffen – und in der Zeit des Alten Testamentes trafen sich auf den Märkten vorzugsweise die Männer. Dort erhebt sie ihre Stimme, um zu warnen:

Wann werdet ihr endlich reif und erwachsen, unreife Grünschnäbel, die ihr seid? Ihr unverbesserlichen Schwätzer, wie lange wollt ihr euch nicht bessern? Wann kommt ihr endlich zur Einsicht, ihr alle, die ihr mich missachtet? Nehmt euch doch meine Mah-nung zu Herzen! Dann öffne ich euch den Schatz meines Wissens und gebe euch davon, soviel ihr wollt.

Die Weisheitsliteratur hat einen großen Fundus an Lebenserfahrungen ge-sammelt, die in Sprüchen und kleinen Geschichten weiter gegeben werden. Bekannt sind die Beschreibungen für das gesellschaftlich angemessene, passende Verhalten und Denken von Frauen.

Eine tüchtige Frau ist das kostbarste Juwel, das einer finden kann. Ihr Mann kann sich auf sie verlassen, sie bewahrt und vermehrt seinen Besitz. Ihr ganzes Leben lang macht sie ihm Freude und enttäuscht ihn nie.33

Obwohl dies nicht in partnerschaftlichem Sinn für den Mann in der glei-chen Weise formuliert wird, kann doch unterstellt werden, dass im Rahmen der kulturellen Bedingungen der Zeit durchaus ein vergleichsweise partner-schaftliches Verhaltensmodell für beide Geschlechter entworfen wird. Das Bindeglied für das partnerschaftliche Verhalten ist das gegenseitige Ver-trauen.

»Sie hat einen Mann, der von allen geachtet wird; sein Wort gilt etwas im Rat der Gemeinde.«34 Im Rahmen des Katalogs über die Fähigkeiten der Frau wird auch erwähnt, dass sie im Haushalt viel herzustellen vermag und dass sie Land mit Geld kauft, das sie selbst verdient hat.35

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So ist in dieser Tradition und nach der Beschreibung des Textes anzu-nehmen, dass die Frauen zu dieser Zeit eine größere Selbständigkeit zu öf-fentlichem Auftreten hatten als in späteren Epochen und dass sie ein Selbst-bestimmungsrecht im Umgang mit Besitz und Geld besaßen.

»Frau Weisheit« ist also keine »Dame«, sondern eine »Frau«, die ein eigen verantwortetes und selbstbewusstes Verhalten zeigt.

Die »Maat« ist die altägyptische Vorläuferin der »Hochma« des Alten Testamentes. In der jüdisch-hellenistischen Tradition wird sie auch »So-phia« genannt, und sie wird mit den Eigenschaften »Wahrheit, Gerechtig-keit und Ordnung« gekennzeichnet.

Die Weisheit schwebt in göttlichen Sphären, war in manchen Überliefe-rungen schon vor Beginn der Schöpfung präexistent bei Gott und wird wie-derum deshalb als Vorläuferin des Begriffes »Logos« gesehen. Ihre Tradi-tionen leiten über zur Logos-Theologie des Neuen Testamentes. Dort findet sich die Weisheit, die hier einen Teil der männlichen Eigenschaften Gottes bezeichnet, sinngemäß wieder. Gott ist »Geist« oder »Wort«.

1.2 Frauen des Neuen Testamentes

1.2.1 Maria, die Mutter Jesu

Über die Wirkungsgeschichte der Gestalt der Maria wird im Zusammen-hang der religionspsychologischen Betrachtung biblischer Quellen noch-mals zu reflektieren sein.

Die Bibel berichtet von Maria im Zusammenhang der Vorbereitung auf die Geburt Jesu. Sie erzählt im Anfang des Lukas-Evangeliums die Ge-schichte von der Geburt Jesu. Später erscheint Maria im Bericht des Evan-gelisten noch einmal bei der Hochzeit zu Kana. Hier hat Jesus einen seiner ersten öffentlichen Auftritte. Es wird von einem Wunder berichtet, das er vollbringt; Jesus erfreut die Hochzeitsgäste, denen der Wein ausgegangen war, dadurch, dass er Wasser in besten Wein verwandelt und damit die Festfreude auf den Höhepunkt bringt.

Ferner wird Maria am Ende der Evangelien erwähnt. Sie steht nach dem Bericht des Johannesevangeliums unter dem Kreuz Jesu und wird von diesem beim Abschied vor seinem Tod seinem Lieblingsjünger Johannes

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anvertraut: »Jesus sah seine Mutter dort stehen und neben ihr den Jünger, den er besonders lieb hatte. Da sagte er zu seiner Mutter: ›Frau, er ist jetzt dein Sohn!‹ Und zu dem Jünger sagte er: ›Sie ist jetzt deine Mutter!‹ Von da an nahm der Jünger sie bei sich auf.«36

Andere Quellen berichten von weiteren Geschwistern Jesu, was nahe legen würde, dass Maria ihre eigene Familie hatte und nicht von Johannes aufgenommen werden musste. Auch hier liegt wohl bereits eine Überliefe-rung vor, die von Ehrfurcht vor der Rolle der »Mutter« geprägt ist. Der Jünger wird verpflichtet, sich der Mutter anzunehmen, sie zu versorgen, wenn der Sohn nicht mehr lebt.

Maria selbst erschrickt über das, was ihr vom Engel zugemutet wird. So berichtet es das Lukasevangelium. Sein berühmter »Lobgesang Marias« ist eine Reaktion der Gemeindebildung, die bereits in die beginnende Marien-verehrung des Christentums hinein gehört. »Jetzt werden die Menschen mich glücklich preisen in allen kommenden Generationen.«37 Die geringe Dienerin wird erhöht, und die Stolzen und Mächtigen werden vom Thron gestoßen. Eine solche, die herkömmlichen Maßstäbe verändernde Botschaft wird ausgerechnet einer Frau eröffnet.

Dies mag ein Anfang für die Überlegungen sein, die Jesus als einen Mann kennzeichnen, der im Zuge seiner Berufung seine weibliche Seite entdeckt und in sein Bewusstsein hinein genommen hat. Mit der »Integra-tion« seines weiblichen Schattens, seiner Anima,38 war die Leidens-geschichte Jesu bereits verknüpft. Er war nun imstande, die als unwichtig, böse, minderwertig und schlecht abgespaltene Seite seiner Seele anzuneh-men. Zugleich konnte er auch die annehmen, denen die negativen Seiten der Seele auf dem Wege der Projektion unterstellt wurden.

Da dies für einen Mann nicht zum üblichen Verhalten gehörte, stellte Jesus sich damit außerhalb der männlichen Traditionen seiner Zeit. Er machte sich angreifbar und setzte sich den Angriffen aus dem Unbewussten anderer Männer aus.39

1.2.2 Frauen im Umfeld Jesu

Anhand der Erzählung von Maria und Martha, die Jesus mit seinen Jüngern in ihrem Haus besucht, werden spezifische weibliche Seelen-Eigenschaften und Verhaltensformen dargestellt. Maria sitzt zu Jesu Füßen und lauscht bewundernd seinen Worten, Martha folgt der Tradition aller Hausfrauen

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und bemüht sich um die Bewirtung der Gäste. Sie ist unermüdlich tätig, entwickelt aber ihre Geist-Seite dabei nicht weiter.

Martha findet mit ihrer Tätigkeit weniger Beifall bei Jesus, obwohl auch Jesus sicher die Früchte ihrer Bemühungen gerne angenommen hat. Aber trotzdem wird von ihm die passive, rezeptive Weiblichkeit der Maria, die seine Gedanken und Worte aufnehmen will, als die größere geistige und menschliche Leistung des Weiblichen gewertet.40

Maria öffnet sich ihrer männlichen Seelenseite (ihrem Animus, die Verfasserin) und wird damit zur integrierten Frau, die die »Weisheit« Got-tes verstanden hat. Maria wird in manchen Quellen als »Maria von Betha-nien« benannt. Es fällt aber auf, dass in den verschiedenen Traditionen über Frauen namens »Maria« viele Überlieferungen zusammen kommen. Die Frauen am Kreuz, die Mutter Jesu, die Frau, die Jesus salbte und damit die Kritik der Männer auf sich zog – sie alle trugen den Namen »Maria«. »Ma-ria« steht eher für den Typus der Frau, für die »Gattung« – mehr, als dass es um ihre Individualität ginge.

Frauen standen unter dem Kreuz, Maria aus Magdala, Maria, die Mutter Jesu, und Frauen, deren Namen nicht einzeln genannt werden. Sie zeigten besondere Anhänglichkeit gegenüber Jesus und besonderen Mut gegenüber der beobachtenden Besatzungsmacht der Römer.

Die Frauen besuchten als erste das Grab und so wurden sie die ersten ZeugInnen der Auferstehung.

Maria aus Magdala, die Jesus salbte, die ihm verschiedentlich eine be-sondere Hingabe und Zuneigung erwies, ist die Frauen-Gestalt, die ein lie-bendes, geliebtes (die Verfasserin) weibliches Gegenüber zu Jesus darstellt. Aber andererseits ist auch dieses Gegenüber nicht eindeutig auf eine einzi-ge, konkrete Frauen-Gestalt festzulegen. Das scheint nach den biblischen Befunden insgesamt schwierig, weil es immer wieder um »Frauen-Typen«, um weibliche Seelenanteile, geht.

Auch in der Erzählung von Martha und Maria heißt die rezeptive Frau Maria; sie ist die Frau, die hörend und lernend die Weisheit des Gegen-übers in sich aufnimmt.

Mehrere Marien-Gestalten können der gleichen Erzähl-Tradition ent-stammen, müssen aber nicht notwendig identisch sein.

Jesus begegnet der Frau am Brunnen, die in der Mittagszeit Wasser schöpft.41 Diese Frau gehört zu den gesellschaftlich ausgegrenzten Frauen, und Jesus kann an ihr seine Berufung zur »Erwählung« der Verlorenen ent-decken.42

33

Ähnlich »gerettet« wird eine andere Frau von Jesus. Die Gesetzeslehrer und Pharisäer bringen eine Ehebrecherin, um sie auf einem öffentlichen Platz zu steinigen. Zuvor aber befragen sie Jesus, was er dazu sagt. Er stellt die Frage. »Wer von Euch ist ohne Sünde? Der soll den ersten Stein wer-fen«. Alle entfernen sich, nur die Frau bleibt zurück. Sie wird von Jesus an-gesprochen. »Keiner ist mehr da, dich zu verurteilen. So verurteile ich dich auch nicht. Du kannst gehen; aber tu diese Sünde nicht mehr.«43

In beiden Erzählungen aus dem Johannes – Evangelium tritt Jesus mit seiner wissenden, reinen Seele den schwachen, anfechtbaren Seelen mora-lisch gescheiterter Frauen entgegen.

Es zeichnet ihn aus, dass er sich dieser Frauen annimmt und dass er überhaupt sein Augenmerk auf deren Schicksal legt.

In rechtlicher und spiritueller Sicht erweist sich Jesus hier als der »Ret-ter« der Frau.

Die Ausstrahlung Jesu führt auch dazu, dass eine Frau alleine durch das Berühren seines Kleides gesund wird.44 Allerdings ist anzunehmen, dass der Erweis der »theios aner«-Tradition45 in Jesus hier wichtiger ist als die Tatsache, dass er eine Frau heilt. Diese mag vielleicht besonders aufnahme-bereit für die Ausstrahlung Jesu gewesen sein.

1.2.3 Weibliche Gottesbilder und im Neuen Testament

Paulus beschreibt in seiner Rede auf dem Areopag in Athen46 einen trans-zendenten, geistigen Gott, für den die Griechen kein Bildnis und keinen Altar errichtet haben.

Paulus beschreibt diesen Gott in weiblichen Bildern. Gott stellt einen beschützenden Raum dar, vergleichbar für die menschliche Erfahrung nur mit dem vorgeburtlichen Raum, den eine Frau ihrem Kind bieten kann. »Gott ist nicht fern von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben wir, be-wegen wir uns und sind wir.«47 Gott – schützend, bewahrend, vorgeburtli-che Trägerin und Garantin des Lebens.

Andererseits wird aber gerade die Seite des Christentums, in der Frauen minder bewertet werden, auch auf Paulus zurückgeführt. Er gibt den Hin-weis darauf, dass die Frauen in den Gemeinden, wenn sie öffentlich reden, ihren Kopf bedecken sollen.48

Für die Traditionen, die Paulus zugrunde legt, ist der Mann nach dem Abbild Gottes geschaffen. Die Frau spiegelt nur in zweiter Reihe Gott wi-

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der, indem sie das Abbild des Mannes ist.49 Die Frau wurde für den Mann geschaffen, zeitlich nach ihm; andererseits konzediert Paulus, dass auch ein Mann insofern seine Existenz einer Frau verdankt, als er von ihr geboren wurde.50

Dies heißt aber nicht, dass es nicht auch Frauen gab, die in den ersten christlichen Gemeinden eine bedeutende Rolle spielten.

Dass sie nicht die Qualifikation zu öffentlicher Rede und Lehre haben durften und dass sie teilnehmen mussten an den Bekleidungssitten der Zeit, schloss noch nicht aus, dass sich Frauen motiviert fühlten, mit ihrer spiritu-ellen Kraft für die erstarkende Religion eine eigene Rolle zu spielen.

Im Hinblick auf die neue Welt Gottes betont Paulus, dass dort Unter-schiede nach Rasse oder Geschlecht von Menschen hinfällig und endgültig überwunden sein werden.51

1.2.4 Frauen in den frühen christlichen Gemeinden

In der Apostelgeschichte werden verschiedentlich Frauen erwähnt, die ihre Häuser öffneten für die Treffen der Gemeinden und die dann in diesen Treffen eine führende Position innehatten. Lydia aus Thyatira war eine Ge-schäftsfrau, die ihr Haus der Gemeindeversammlungen und der urchristli-chen Mission zur Verfügung stellte.52

Paulus grüßt Apphia, die zusammen mit Philemon und Archippus eine Leiterin der Hauskirche in Kolossä war, an die der Philemonbrief gerichtet wurde.53

Priska und Aquila sind ein Ehepaar, in dessen Haus sich die Gemeinde traf.54,55

Solche Hauskirchen gehörten zu den frühesten Gemeindetraditionen der Christenheit und schlossen nicht aus, dass dort die Frauen auch leitende Funktionen übernahmen, die ihnen später unter der Herrschaft des »ur-christlichen Liebespatriarchalismus«56 nicht mehr zugestanden worden sind.

In fast allen Briefschlüssen erwähnt Paulus Frauen als Adressaten seiner Grüße; daraus lässt sich schließen, dass fast in allen urchristlichen Gemein-den Frauen an auffallender Stelle tätig waren.

35

1.3 Frauen und weibliche Bilder im Koran

Im Wesentlichen werden in den Suren des Korans die Überlieferungen der christlichen und jüdischen Tradition übernommen, die zur Zeit Moham-meds bekannt waren.

Eva, die Urmutter und die Frauen der Patriarchen sind in den Überliefe-rungen des Korans bekannt, spielen dort aber eine nicht so große Rolle. Die Schlange wird im Zusammenhang der Überlieferung von Mose und der Wüstenwanderung des Volkes Israel, wie auch im Alten Testament, als Tier mit heilender Kraft dargestellt.

Die Tradition der Priesterschrift57 des Alten Testamentes, also des Schöpfungsberichtes in Genesis 2, nach dem Gott den Menschen als Mann und Frau gleichzeitig erschaffen hat, erscheint auch im Koran. »Ihr Men-schen! Wir haben euch von einem männlichen und einem weiblichen We-sen erschaffen.«58 In der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Islam« vom 19. September 1981 wird auf diese Sura Bezug genommen.59

In der gleichen Erklärung wird von Allah berichtet, er habe die Kinder Adams auf dem Festland und auf dem Meer getragen – ein weiblicher As-pekt im Bild von Allah.60

Maria als Mutter Jesu, eines Propheten in der Reihe vieler anderer Pro-pheten, wird im Koran namentlich genannt – die Sura 19 ist ihr gewidmet. Sie wird in der islamischen Frömmigkeit besonders anerkannt und verehrt.

… in der allgemeinen Überlieferung und Frömmigkeit spielt Maria eine wichtige Rolle – bis heute kann man sehen, wie fromme Türken das angebliche Mariengrab auf dem Bülbüldaghi nahe Ephesus andachtsvoll besuchen.61

Interessant ist in diesem Zusammenhang natürlich, dass Paulus sich einige Jahrhunderte vorher bereits in Ephesus mit der christlichen Verkündigung schwer tat, weil dort eine matriarchale Gottheit, Artemis,62 verehrt wurde. Noch heute befindet sich in der Nähe des Marienhauses und -grabes eine Quelle, deren Wasser nach der Volkstradition die Fruchtbarkeit fördern soll. Die alte Göttinnen-Tradition ist also an diesem Platz über die Jahrhun-derte bewahrt worden.

Maria zählt im Islam zu den vier besten Frauen, die je gelebt haben. »Hatte Gott sie nicht auserwählt63 und sie über alle Frauen der Welt ge-setzt? Der Koran berichtet sogar von der Geburt der Maria und von ihrem Aufwachsen in einer Zelle im Tempel in Jerusalem, wo sie von dem Pries-ter Zacharias behütet und bewacht wird.64,65

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Eine eigene Tradition in einer besonderen Sura des Korans,66 die in der Bibel zwar existiert, aber nicht so ausführlich überliefert wird, kommt der Gestalt der Suleika67 zu. Ihr Name ist in der religiösen Überlieferung des Islam bekannt, im Koran ist sie nicht namentlich erwähnt. Sie erscheint als die Frau, die mit einem Ägypter namens Aziz68 verheiratet ist.

Sie verliebt sich unglücklich und tief in Yussuf, den Aziz auf dem Markt als einen Sklaven erworben hat.

Yussuf empfindet wohl diese Liebe auch, aber seine männliche Seele verpflichtet sich an erster Stelle dem Gott, der ihn zu seinem Zweck in das Haus des Aziz gebracht hat.69 So erhört Yussuf die Frau des Aziz nicht.70

Suleika muss allerlei Demütigungen ertragen, sie muss sich zu ihrem Verführungswillen bekennen.71

Sie ersinnt verschiedene Situationen, um ihrem Geliebten nahe zu sein, ihn aufzuhalten, wenn er sie verlassen will. Aber er weist sie dann doch zu-rück, weil er den Plan Gottes, erfüllen will, den dieser mit ihm und seinen Träumen hat.72

Yussuf erfasst mit seiner »männlichen Seele« oder seinem männlichen Seelenanteil den Plan Gottes, den dieser durch ihn ausführen will. Diesen Plan erkennt er als höchstes Gesetz für sich an.

In der religiösen Volkstradition gibt es Erzählungen über ein letztes Happy-End für die beiden, in dem sie doch heiraten. So hat die »Volks-seele« eine Befriedigung gefunden.

Die Überlieferung des Korans zieht sich allerdings darauf zurück, dass in der Handlungsweise der Frau des Aziz die »weibliche Seele«, die »nafs«,73 der weibliche Anteil der Seele, am Werk war.74 Diesem weibli-chen Anteil der Seele wird ein Hang zum Widerspruch gegen den Willen Gottes unterstellt. Er will seinen eigenen Wünschen und Eingebungen nachgehen, und er beugt sich ungern dem Wunsch eines Höheren.75

1.3.1 Frauen in der religiösen Tradition des Korans und der Hadithe76

Nach der Überlieferung des Korans und der religiösen Tradition, die sich seiner schriftlichen Entstehung angeschlossen hat, ist es den Frauen vorbe-halten, ihr Leben in dem ihnen zugestandenen privaten Bereich zu verbrin-gen. Es existiert eine eigene »Frauen«-Welt, die aber von Männern kontrol-liert wird.

37

Angehörige und enge Vertraute Mohammeds sammelten und tradierten mündlich seine Gedanken und Aussprüche, die Hadithe. Wenn auch nach diesen Überlieferungen – zeitbedingt – die Qualitäten der Frauen im öffent-lichen Leben und in der Politik77 gering geschätzt werden, so werden Frau-en doch gepriesen in ihrer Rolle als Mütter. In dieser Eigenschaft werden sie tief verehrt. Mohammeds Frauen wurden von den Gläubigen alle als »Mütter« angesprochen.

Das Bild der Mutter ist hier sicher in seiner Funktion als ein religiöser »Archetyp«78 zu betrachten. Der Koran selbst wird als die Schrift bezeich-net, die die »Mutter« aller anderen autoritativen Schriften der Religionen ist.79 In Hinsicht auf ihre Rechte und Pflichten vor Allah sind Frauen und Männer gleich.80 Es geht in erster Linie darum, dass nach seinem Willen gehandelt wird.81 Hier unterscheidet sich die Auffassung des Korans nicht von den theologischen Aussagen des Alten Testamentes und des Paulus.

In der gesellschaftlichen Stellung beider Geschlechter und der Annahme über konstitutionelle psychische und physische Bedingungen werden aber Unterschiede gemacht.82 Frauen können nicht in gleichem Masse erben wie die Männer, ihre Aussage vor Gericht zählt halb so viel wie die eines Man-nes.83 Begründet wird dies Letztere mit der Auffassung, dass Frauen emo-tional unsteter und intellektuell schwächer als die Männer seien. Frauen können keine religiösen Führungspositionen (Imam) übernehmen und dürfen auch kein Richteramt bekleiden.

Nach dem Koran ist es dem Mann gestattet, sich bis zu vier Frauen gleichzeitig zu nehmen.84 Dies ist in der Entstehungszeit des Islam aber auch unter dem Aspekt der Rücksichtnahme auf die soziale Situation der Frauen formuliert.

Zur Zeit der Entstehung des Korans waren die Frauen trotz allem in ihren Entfaltungsmöglichkeiten nicht eigentlich beschränkt. Sie konnten Geschäfte führen, sie nahmen an den Gottesdiensten in der Moschee teil. Dies war in späteren Jahrhunderten nur unter bestimmten Einschränkungen noch möglich.

Selbst der Schleier wurde zu dieser Zeit erst langsam zum zugleich um-strittensten und bedeutsamsten Symbol der neuen Religion. Über ihn gibt es mehrere Aussagen im Koran, die allerdings in bestimmten Kontexten verwendet sind.85 Der Harem als eingegrenzte Lebenswelt der Frauen spielt zwar in der islamischen Tradition eine Rolle, ist aber älter als sie und muss nicht genuin dem Islam zugeordnet werden. Er wird bereits in den Texten des Alten Testamentes erwähnt.86

39

2 Frauen-Traditionen in beiden Religionen

Im dritten Jahrtausend der Geschichte des Christentums, in der Mitte des zweiten Jahrtausends der Geschichte des Islam lässt sich beobachten, dass die Welt sich rascher und unvorhersehbarer verändert als je zuvor.

Die regionalen Einflussbereiche der großen Weltreligionen verschieben sich ständig auf der Weltkarte. Nicht nur in ihren Ursprungsländern, son-dern vor allem in den Staaten auf dem nordamerikanischen Kontinent fin-den alle großen Weltreligionen derzeit Millionen von Anhängern.

Mit der globalen Verbreitung und der daraus resultierenden Vernetzung mit verschiedenen säkularen Gesellschaften, denen die Religionen unter-worfen sind, verändert sich das Bild der Religionen. Sie sind in vielen Gegenden der Welt gezwungen, in den Dialog mit anderen Religionen zu treten oder den Infragestellungen der säkularen Gesellschaften mit ihren je-weils eigenen Traditionen und Interpretationen standzuhalten.

Gemeinsam stehen sie vor den Herausforderungen, die technische und wirtschaftliche Entwicklungen allen Gesellschaften bieten.

Alle Religionen sind aufgefordert, ihren Beitrag für Frieden und Bewah-rung der Schöpfung zu entrichten, indem sie diejenigen Quellen ihrer Tra-ditionen verfolgen, aufsuchen und offen legen, die dem Frieden dienen. Einen weltweit beachteten Versuch in diesem Sinne hat in der Neuzeit Ma-hatma Gandhi gemacht.

Anfänge zu einem Dialog zwischen den Religionen, wie sie ihm damals bekannt waren, sind bereits bei Franz von Assisi im 13. Jahrhundert zu fin-den. Eine Pilgerreise führte ihn an den Hof des Sultans Malik-al-Kamil in Ägypten.

Sie setzen (im Jahre 1219, die Verfasserin) in einem Boot über den Nil, um sich am geg-nerischen Ufer gefangen nehmen und gefesselt zum Sultan führen zu lassen. Dass ihnen das gelungen ist, mag wesentlich daran gelegen haben, dass die beiden Bettelbrüder in Kleidung und Verhalten islamischen Sufis ähnelten, die in ihrer Armut und mystischen Tiefe auch bei al-Kamil große Achtung genossen.1

Darüber hinaus war gerade in der Entstehungsregion von Islam und Chris-tentum, historisch betrachtet, nie eine sorgsame Abgrenzung der verschie-

40

denen dort beheimateten Religionen gegeben – die Traditionen aller drei Religionen waren im alltäglichen, gemeinsamen Leben bekannt.

Der Dialog des Alltagslebens hat für viele Jahrhunderte und in vielen Gegenden der Welt reibungsloser stattgefunden als es heute üblich ist. Das gilt für die Länder des Vorderen Orients genauso wie etwa für das Zusam-menleben von Hindus, Muslimen und Christen in Indien.

Europa ist in vieler Hinsicht in den letzten Jahrhunderten eine religiöse »Monokultur« gewesen, in der das Christentum seine Alleinherrschaft be-wahren konnte. Heute ist ein Umdenken notwendig, da viele europäische Länder aus verschiedenen Gründen bleibend multikulturell sein werden.

Solche Verlagerungen verstärken nur noch die Wichtigkeit der Beziehung des Christen-tums zu anderen historischen Weltreligionen. In dieser Hinsicht könnte der Spiritualität eine wichtige Rolle zufallen, nicht zuletzt, indem man betont, dass es bei dieser Bezie-hung nicht primär um doktrinäre Formulierungen geht; außerdem gilt es anzuerkennen, was immer deutlicher wird: dass die großen spirituellen Traditionen der Menschheit vieles gemeinsam haben.2

Im Sinne dieser Gemeinsamkeit der spirituellen Traditionen wird im Fol-genden ein Teilaspekt von Islam und Christentum betrachtet werden. Es handelt sich um die Ausprägung weiblicher Vorstellungen im Gottesbild, im Selbstverständnis der Frauen in vergangenen Jahrhunderten und in dem, was davon heute für eine globalisierte Welt relevant sein kann.

Es geht zunächst um den historischen Vergleich. An erster Stelle steht werden die Unterschiede in der Entwicklung der beiden Religionen und ihres speziellen Schwerpunktes auf die Rolle der Frauen in ihnen zu sehen sein.

Dann aber wird auch eine gegenwärtige Bestandsaufnahme versucht, um einzuschätzen, inwieweit diese historischen Traditionen für den Beginn eines neuen Jahrtausends noch wegweisend sein können und in welcher Form sie ergänzt werden können.

Es geht nicht darum, sich aus allen Traditionen die Rosinen heraus zu picken, um daraus eine eigene Spiritualität – speziell für Frauen – künstlich zu schaffen. Diese würde der Realität unserer Gesellschaft und der vorlie-genden Traditionen nicht gerecht werden und damit nicht das erwünschte Ziel erreichen.

Aber die Toleranz, die wechselseitige Achtung und das gegenseitige Verständnis können wachsen, wenn die Geschichte beider Religionen ge-meinsame Quellen offen legt, wenn innere, spirituelle Linien in beiden Re-ligionen sichtbar sind.

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Fatima Mernissi, die bekannte marokkanische islamische Soziologin, benennt eine Schwierigkeit, die im gegenseitigen Verstehen zwischen Christentum und Islam heute besteht: Das ist nach ihrer Auffassung das Denken und Fühlen in verschiedenen politischen und gesellschaftlichen »Epochen«, obwohl alle in derselben Zeit leben.3

Dies gilt besonders für den Dialog, den Frauen miteinander führen könnten: Die Frauen in den christlichen, westlichen Ländern sind in säkula-ren Lebensformen verhaftet, so dass sie selbst auf der Suche nach einer spi-rituellen Verankerung in ihrer Religion sind. Die Frauen in den Ländern der südlichen Erdhälfte sind, soweit sie Christinnen sind, sicher näher an der Lebenswelt der meisten Musliminnen; hier aber findet der Dialog auf-grund vieler widriger Umstände, die bis zu Kriegen zwischen den Religio-nen führen, oft nicht statt.

Zudem ist der Islam durch die weltweite politische Situation in eine Schieflage geraten, die es oft verhindert, ihn historisch und inhaltlich sach-lich wahrzunehmen. In der vorliegenden Studie soll deshalb ein Versuch der Annäherung gemacht werden und nach Quellen und Perspektiven ver-bindender Traditionen gesucht werden, in der christliche und muslimische Frauen in einen Dialog treten können.

2.1 Theologische Traditionen von Frauen im Christentum

2.1.1. Spiritualität in der Geschichte der Bibel und der Kirche

In einem Überblick über 2000 Jahre Spiritualität in der Kirchengeschichte und entsprechender Vorgeschichte im Judentum bemerkt Gordon Mursell: »Mit dem Wort ›spiritus‹ umschrieb man also jene unsichtbare, aber wirkli-che Formkraft, die dem Leben eines Menschen oder einer Gruppe Gestalt verleiht und Charaktereigenschaften wie Liebe, Mut, Friedfertigkeit oder Wahrheitsliebe eingibt.«4 Ergänzt wird: »Im Deutschen wird diese innere Identität der Seele, die jemanden oder eine Gruppe dank all der unsichtba-ren, aber wirklichen Kräfte, die sie beeinflussen, zu dem machen, was sie sind, als ihr ›Geist‹ bezeichnet.«5

Spiritus steht im Lateinischen für »Atem«, »Hauch«. Sie gehören zur Welt der physischen Wahrnehmung und sind in sich noch keine Begriffe,

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die eine vergeistigte, unstoffliche, imaginierte Dimension der Wahrneh-mung bezeichnen.

In den ersten Versen der Bibel sagt der Verfasser der Genesis: »Der Atem (der Wind) Gottes schwebte über den Wassern«, und so ist damit in der folgenden Interpretation des biblischen Sprachgebrauches immer wie-der auf ein Atmen, einen Hauch, einen Wind aus dem Geist Gottes heraus hingewiesen. In der hebräischen Tradition wird zudem noch nicht so klar unterschieden zwischen einer materiellen, stofflichen und einer spirituellen Welt, wie es später durch den Einfluss der griechischen Philosophie im Neuen Testament vorkommt.

Atem und Geisthauch Gottes kommen zusammen, indem Gott Worte spricht, die schöpferischen, materiell formenden Wert haben: »Gott spricht: Es werde Licht!« und was Gott durch seine stoffliche, an die Materie ge-bundene Wirkung ins Leben setzt, mit Atem füllt, wird lebendig, wird Wirklichkeit, wird mit seinem Geist gefüllt.

So ist »Spiritualität« ein Prozess, in dem Gott auf rohes und instabiles Chaos ein wirkt. Er verleiht dem, was noch ungeformt ist, Form und damit Sinn, Identität und einen Zweck.6

Paulus entwickelt diese grundsätzliche Vorstellung vom Spirituellen in Gott weiter, indem er im 2. Korintherbrief formuliert: »Der Herr aber ist der Geist, und wo der Geist (»logos«, die Verfasserin) des Herrn wirkt, da ist Freiheit«. Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit (»Schechina«, die Verfasserin) des Herrn wider und werden so in sein eige-nes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn.«7

Hier wird bereits angenommen, dass der Mensch und die Schöpfung ebenso wie Gott selbst die stoffliche und die spirituelle, geistige Kraft ha-ben, um »Transformationsprozesse« (Gott schied Licht von Finsternis, Meer vom Land) zu erleben oder selbst herbei zu führen.

Eine »Spiritualität«, die sich vom Geist Gottes her entwirft, ist auch im Menschen fähig zur grundsätzlichen Scheidung von verschiedenen Elemen-ten – ist fähig, die »Geistseite« wachsen zu lassen – so verstanden es die, die in der Geschichte der Kirche von der »Gnosis« Anleihen machten – etwa die MystikerInnen des Mittelalters. Ihre Seelen-Eigenschaften korres-pondierten mit den Seelen-Eigenschaften Gottes.

Paulus tendierte wohl mehr dazu zu sagen: Wir werden ganz – mit Leib und Seele – verwandelt durch den Geist Gottes, es gibt keine Trennung von »spirituell« und »materiell« aus der Sicht des Auferstehungsglaubens.

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Insgesamt bedeutet »Spiritualität« für Paulus das, was mit dem Hauch Gottes über den Wassern begann und schließlich in der Freiheit der Kinder Gottes durch den Geist seine letzte Transformation erlebt.

Für die vorliegende Studie ist sicherlich der Einfluss des Denkens Platos und des Neuplatonismus, der Eingang in die neutestamentlichen Texte – wie auch in die Schriften des Islam – gefunden hat, als erheblich zu be-trachten.

Wenn auch des Paulus Theologie grundsätzliche Bedeutung für das Christentum gewonnen hat, lebten die Erneuerungsbewegungen der Kirche immer wieder aus dem Impuls, eine existente und immer wieder verschüt-tete »Geistseite« des Menschen und der Kirche höher zu bewerten als die »stoffliche« Seite. Und so wurden aus den hoch geschätzten geistigen Im-pulsen von Jesu Wirken und Reden immer wieder Vorbilder geschaffen, um in der jeweiligen Gegenwart Transformationen zu erwirken. Damit soll-te die Kirche neu an die ursprüngliche Botschaft herangeführt werden.

Die Betrachtungen beginnen historisch mit Klara, der Gefährtin des Franziskus, im Hochmittelalter in Italien. Ihre Spiritualität knüpft an die Armuts- und Wandertradition Jesu an und macht sich zum Ziel, die geisti-gen und spirituellen Ziele Jesu aus der Lehre Jesu, der Bergpredigt in welt-lich erkennbare Form zu übertragen. »Radikale Nachfolge« in der Lebens-form Jesu ist zugleich »Spiritualität« – ein geistiges Durchwirktsein des Menschen, der auf materielle Vorteile verzichtet, von Gottes Liebe, Mut und Friedfertigkeit.

Der Einfluss des Platonismus auf das Christentum war gewaltig. Er führte viele Christen dazu, »Spiritualität« als im Wesentlichen weltveräch-terisch zu verstehen und sich Disziplinen zu verschreiben, die physische Antriebe und Bedürfnisse unterdrücken oder umlenken sollten, um schon in diesem Leben möglichst intensiv ein »geistliches« Leben führen zu kön-nen.8

Andererseits wurde auch die Schönheit der geistigen und spirituellen Welt sichtbarer und deutlicher betont und damit der Wunsch, diese Welt als Erfüllung von Sehnsüchten zu betrachten.

Festzuhalten ist, dass die Ziele der Spiritualität: – »Integrität« (des Individuums nach seiner Spaltung in materielle und

geistige Seiten, auch männliche und weibliche, die Verfasserin), – »Integration« (allumfassende Heiligkeit aller Lebensbereiche, wenn sie

durch den Geist durchwirkt sind) und der

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– »Sehnsucht«, die immer wieder nach neuen Horizonten der Erfüllung des Lebens Ausschau hält,

ihr über die Jahrhunderte eine nicht erlöschende Lebendigkeit und Spann-kraft erhalten haben.9

2.1.2. Der Begriff »Spiritualität« in der gegenwärtigen Theologie

Weniger eingegrenzt in Bezug auf die kirchenhistorische Dimension und näher am Zeitgeist der Moderne, der jedem Phänomen, vom Yoga-Kurs bis zur künstlerischen Freizeitgestaltung einen Hauch von »Spiritualität« bei-misst, betrachtet Hans-Martin Barth den Begriff.

In seiner Abhandlung »Spiritualität« diskutiert Hans-Martin Barth die Frage, ob der schillernde Begriff der »Spiritualität« sich auf Dauer in der deutschen Sprache etabliert hat oder doch nur eine Modeerscheinung dar-stellt.10

Ein direkter Bezug auf das Wirken des Heiligen Geistes wird von Barth zumindest für den Gebrauch des Begriffes für die deutsche Sprache ver-neint. Es existieren eine Reihe von Konnotationen, die das »Nebulöse« des Begriffes und seiner Anwendung kennzeichnen(Spiritismus, Spirituosen).

Zudem ist der Begriff nicht direkt auf einen biblischen Sprachgebrauch zurückzuführen. Er gehört zur Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der Bibel und muss daher immer wieder kritisch hinterfragt und präzisiert werden.

Allerdings gibt es innerhalb der Kirchengeschichte regionale und zeitli-che Traditionen, in denen der Begriff rege benutzt wurde, so etwa, um Le-ben und Frömmigkeitsstile der orthodoxen Kirchen zu beschreiben.

Auch in der katholischen Kirche werden zumindest Versuche unternom-men zu definieren, was »Spiritualität« ist. »Leben aus dem Geist« – so be-zeichnet es Karl Rahner.

»Das wahrnehmbare geistgewirkte Verhalten des Christen vor Gott« – so formuliert eine EKD-Studie. Spiritualität ist »die gelebte Grundhaltung der Hingabe des Menschen an Gott und seine Sache« und daher » eine so vielgestaltige Größe wie das Leben selbst und wie die Vielgestaltigkeit möglicher Beziehungen zu Gott.«11

Auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Can-berra 1991 wurde formuliert:

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Es ist gesagt worden, dass Spiritualität bedeutet, sowohl das Leben gestalten als auch Raum schaffen, damit der Heilige Geist wirken kann. Spiritualität hat daher eine prakti-sche Dimension. Sie hat zu tun mit Prioritäten, dem Kalender und dem Lebensrhythmus. Zeiteinteilung und Strukturen, Kultur, Tradition und Persönlichkeit haben einen Einfluss auf die Art und Weise, wie Gemeinschaften und einzelne ihre Spiritualität zum Aus-druck bringen. Die verschiedenen Erfahrungen von Gottes Gegenwart durch den Heili-gen Geist im Wort, in der Kirche und im Leben bestimmen ebenfalls unser Verständnis von Spiritualität.

Die Menschen sehnen sich zutiefst nach Erfüllung, sie haben ein geistliches Verlangen, das zu werden, was wir nach der Schöpfung sein sollen, in Christus schon sind und noch werden sollten. Wir wurden nach Gottes Bild geschaffen (imago dei trinitatis), wir wachsen in der Ebenbildlichkeit mit Christus.

Spiritualität ist die Feier der Gaben Gottes, Leben in der Fülle, Hoffnung in Jesus Chris-tus, dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn, und Verwandlung durch den Heiligen Geist.

Spiritualität ist auch das unablässige, oft mühsame Ringen um das Leben im Licht in-mitten von Dunkelheit und Zweifel. Spiritualität bedeutet, das Kreuz um der Welt willen auf sich nehmen, an der Qual aller teilhaben und in den Tiefen menschlichen Elends Gottes Antlitz suchen.

Spiritualität – in ihren vielfältigen Formen – heißt, Leben spendende Energie empfan-gen, geläutert, inspiriert, frei gemacht und in allen Dingen in die Nachfolge Christi ge-stellt zu werden. Sie ist ein fortdauernder Prozess des Sich formen Lassens und der Nachfolge …12

Die Mystik aller Zeiten ist ein wichtiger Träger der Entwicklung von Spi-ritualität, die eine ständige Entfaltung der Entwicklung des Menschen unter dem Geist Gottes bedeutet. Große kirchengeschichtliche Umbrüche aller-dings wertet Barth eher als Folgen von sich verändernden Machtkonstel-lationen. »Im Verhältnis zwischen Byzanz und Rom scheint nicht die Spiri-tualität, sondern das Credo bzw. die Machtfrage das entscheidende Hin-dernis dargestellt zu haben.«13

Ökumenische Spiritualität ist heute ein wichtiger Beitrag zur kirchlichen Zeitgeschichte.

Orthodoxer, katholischer und evangelischer sowie charismatischer Spiri-tualität, der Spiritualität der Befreiung widmet Barth ausführliche Überle-gungen, sowie auch spezifischen Prozessen und Lebensäußerungen der Spi-ritualität. Gebet, Feier der Sakramente, der Liturgie gehören dazu ebenso wie die Spiritualität von Kampf und Kontemplation.

Weibliche Spiritualität einzureihen in liturgisches Erleben, in den geist-lichen Spannungsbogen von Kampf und Kontemplation, in befreiungstheo-logische Ansätze – ist eine noch offene Herausforderung – besonders, wenn sie den Horizont zweier Religionen umgreifen soll.

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2.1.3. Weibliche Spiritualität – Teil der Theologie

Dem Aspekt weiblicher Spiritualität als einer eigenen Erscheinungsform des Wirkens Gottes in der Kirchengeschichte widmet Barth einige Seiten seiner Studie.

Während sich selbst die Spiritualität der Befreiung noch in gewisser Weise einem kon-fessionellen Frömmigkeitstyp zuordnen lässt, nämlich dem römisch-katholischen, geht dies bei feministischen Ansätzen nicht mehr. Weibliche Spiritualität entzieht sich allen Zugangsmodellen, ja selbst der Definition. Schon eine geeignete Überschrift zu finden, ist schwierig; streng genommen, handelt es sich um »weibliche Spiritualität in feministi-scher Perspektive.

… es wird hier aber zu beobachten sein, dass die von feministischen Überzeugungen le-benden Spiritualitäten noch im Fluss sind, ja sich ohne einen ständigen Fluss weiterer Entfaltung gar nicht denken lassen … Schließlich scheint es leichter, dass ein Protestant über orthodoxe oder römisch-katholische Frömmigkeit schreibt, als dass ein männlicher Autor feministisch orientierte Spiritualität sachgemäß zu erfassen vermag.14

Barth erkennt die großen Leitlinien »Reise zum Selbst«, Solidarisierung von Frauen, neue Identifikationsmöglichkeiten in der Suche nach religions-geschichtlichen Quellen (in den frühen Göttinnen, die Verfasserin), »Weg als Ziel« und neue Sprache und Symbol-Findung, umfassende Ganzheit-lichkeit als Existenz- und Erlebensform.

Folgende Fragen treten auf: Sollen Belange der Psyche oder gesellschaftliche Notwendigkeiten im Vordergrund stehen? Braucht es primär eine Spiritualität der Selbstentfaltung oder eine Spiritualität des Kampfes, die den feministischen Aufbruch den Befreiungsbewegungen zuordnen würde? Wie verhält sich beides zu einander?

Männlich dominiertes Effektivitätsdenken ruft, nachdem es bis zur ökologi-schen Katastrophe hin durchschlagend erfolgreich war, nach Ablösung durch ein Modell schützender und integrierender Spiritualität. So gesehen, hat auch die christliche Spiritualität gerade in ihren weiblichen Elementen und Verwirklichungen eine globale Aufgabe.15

Grundlegend für Barths Betrachtung und Einordnung der weiblichen Spiritualität sind die Publikationen im Umfeld der feministischen Theolo-gie der 80er Jahre, die ihre Positionen aus dem Gegenüber zur vorherr-schenden, männlich formulierten Theologie herleiten.

Es soll im Folgenden schwerpunktmäßig untersucht werden, welche Formen von weiblicher Spiritualität in vielen Jahrhunderten in der Kirchen-geschichte neben der formulierten Theologie bereits existierten und z. T. zeit-übergreifende Gestaltungen gefunden haben.

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Die Geschichte der Frauen-Kongregationen und -Orden im Christentum gibt Auskunft darüber, welche spirituellen Impulse hinter den Lebens-geschichten der damaligen Ordengründerinnen gestanden haben. Auch von diesen Frauen wurden bereits wesentliche gesellschaftliche und daraus resultierende psychische Probleme der Frauen in ihrer jeweiligen Zeit er-kannt, und mit ihren Aufbrüchen innerhalb der katholischen Kirche suchten diese Frauen den großen gesellschaftlichen Benachteiligungen der Frauen in ihrer Zeit entgegen zu wirken. So wollten sie den Frauen ein selbststän-diges Leben, oft jenseits von Ehe und Klostermauern, ermöglichen.

Zugleich strebten die Gründerinnen von Orden neue Formen der Spiri-tualität an – dies allerdings in ihren Zielsetzungen gemeinsam mit männli-chen Ordensgründern.

Mit den verschiedenen Regeln und Formen geistlichen Lebens in Ge-meinschaften standen Männer und Frauen im beginnenden und hohen Mittelalter, aber auch noch in der Zeit der Renaissance, in einer gewissen Distanz zum Mainstream der jeweiligen Theologie. Das intendierte Anlie-gen liegt darin, die Wurzeln einer eigenständigen Theologie und Religiosi-tät der Frauen im Christentum zu suchen, sodass bereits aus der Geschichte eine Brücke zu entsprechenden theologischen Traditionen der Frauen im Islam möglich wird.

Die westliche feministische Theologie des 20. Jahrhunderts fußt in vie-ler Hinsicht auf den Möglichkeiten und Denktraditionen europäischer und amerikanischer Frauen. Sie ist selbstverständlich eine Dialogpartnerin im Gespräch mit den Frauen im Islam. Besonders der Ansatz Fatima Mernissis zeigt Affinitäten zu manchen Anliegen der westlichen feministischen Theo-logie wie etwa, die Rolle der Frauen in den Anfängen der Religionen als bedeutsamer zu beschreiben als in den folgenden Jahrhunderten.

Dennoch ist damit nur ein Ausschnitt dessen umrissen, was in der Ge-schichte der beiden Religionen Spiritualität und Religiosität von Frauen be-deutet.

Zunächst soll die westlich-feministische Theologie des 19. und 20. Jahr-hunderts in ihren wesentlichen Grundzügen zu Wort kommen:

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2.2 Exkurs: Christine Kölbl: Feministische Frauenspiritualität

Die Entwicklung (nicht nur) in den letzten 150 Jahren zeigt, dass die Lebensumstände und Entfaltungsmöglichkeiten von Frauen eng mit der jeweils in der Gesellschaft vor-herrschenden Sicht des Geschlechterverhältnisses und daraus resultierenden Rollenzu-weisungen zusammenhängen. Die Dominanz von Männern in Politik und Wirtschaft konnte – trotz vollzogener Rechts- und propagierter Chancengleichheit – bislang nicht überwunden werden. (Information zur politischen Bildung)

2.2.1 Christlich-Feministische Theologien

Viele christliche Feministinnen verstehen sich nicht nur in Deutschland einer Frauenbewegung zugehörig, die weit mehr fordert, als Gleichberech-tigung im Sinne von »das gleiche haben oder sein zu wollen« wie Männer. Sie kritisiert nicht nur die patriarchalen Hierachien und ihre Unrechtsstruk-turen, sondern fordert deren vollständige Aufhebung. Dadurch wirkt sie über die Religion hinaus in die Gesellschaft hinein. Eine Gleichberechti-gung im Sinne von gleichen Rechten in einer patriarchalen Un-Rechtsord-nung ist also für viele christliche Feministinnen kein erstrebenswertes Ziel. Ihre Vision ist nicht eine Gleich-Stellung mit Männern in einer institutiona-lisierten Kirche, sondern eine komplette Um-Stellung dieser Kirche, eine durch Frauen veränderte Kirche, wie sie zum Beispiel im Konzept der »Ek-klesia der Frauen« von Elisabeth Schüssler Fiorenza im Rückgriff auf das biblische Modell der Nachfolgegemeinschaft entwickelt wurde und in de-ren Tradition sich viele feministische Theologinnen in Deutschland heute noch verstehen.

Der Selbstfindungs- und Selbstbestimmungsprozess von Frauen (und Männern) steht noch ganz am Anfang. Der Verlauf ihres Sozialisations-prozesses bestimmt noch immer ihr Selbstverständnis, im Sinne von »wir werden nicht als Frauen geboren, sondern zu Frauen gemacht« (Simone de Beauvoire, 1951). Der derzeit geführte Genderdiskurs braucht daher die Impulse aus den Feministischen Theologien als wichtige Korrektur. Denn feministisches Christentum ist für eine Wahrnehmung der frauenspezifi-schen Bedürfnisse, eben auch im Bereich der Spiritualität. Es möchte aber auch Männer einladen, sich einem solchen Bewusstwerdungsprozess zu un-terziehen. Nur so ist eine grundsätzliche Veränderung in Kirche und Ge-

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sellschaft möglich, im Sinne einer gerechten Gemeinschaft von Frauen und Männern. Gute Ansätze finden sich hierzu bei Richard Rohr (Jesuitenpater; USA) und Anselm Grün (Benediktinermönch; Deutschland).

In der Entstehung einer Frauenkirche sehen feministische Christinnen die Chance der Umsetzung ihrer Visionen. Dabei sollen die offiziellen Kir-chen nicht abgeschafft werden, also eine weibliche Kirche entstehen, son-dern die bestehende »Männerkirche« im Sinne des Evangeliums durch eine Befreiungsbewegung von unten radikalisiert werden. Frauen fordern, dass diese Impulse der kirchlichen Frauenbewegung und der feministischen Theologie, die sich als eine Befreiungstheologie versteht, endlich anerkannt und umgesetzt werden. Catharina Halkes schreibt 1980, dass sie hofft, dass Kirche dadurch den »Exodus der Frauen aus der Kirche« zum Stehen brin-gen wird. »Wir Frauen sind Kirche« schreibt die Schweizer Theologin Marga Bührig und bringt damit zum Ausdruck, dass es für sie nicht nur darum gehen kann, weibliche Anteile in eine ansonsten von Männern domi-nierte und definierte Kirche einzubringen.

Die anhaltend hohe Zahl von Kirchenaustritten in den alten Bundeslän-dern zeigt, dass sich viele Frauen in unserer Kirche nicht mehr beheimatet fühlen. Teilweise haben Frauen auch in Deutschland, nach dem Konzept von postchristlichen, feministischen Theologinnen wie Mary Daly, tatsäch-lich eigene Kirchen (spirituelle Schwesternschaften) gegründet, davon aus-gehend, dass das wichtigsten Instrument zur Legitimierung und Stabilisie-rung der Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen die Kirche und die großen Religionen waren. Sie organisieren sich nun in kleineren Grup-pen und verzichten ganz auf die institutionelle Einbindung und Absiche-rung.

2.2.2 Geschichte der Feministischen Theologie in Deutschland

Feministische Theologie ist aus der kirchlichen Praxis entstanden und we-niger aus der kritischen Reflexion an den Universitäten. Es ist eine Bewe-gung von unten und ihre Wurzeln sind weit verzweigt.

Historisch lassen sich diese Wurzeln u. a. weit in die Geschichte der Ar-beiterinnenbewegung und der deutschen (konfessionellen) Frauenbewe-gung, wie der Evangelischen Frauenhilfe, dem Deutsch-Evangelischen Frauenbund und dem Katholischen Frauenbund zurückverfolgen, die Ende des 19. Jahrhunderts gegründet wurden.

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Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wurde im Protestantismus die For-derung nach der Ordination von Pfarrerinnen diskutiert. Erreichtes ging während der Nazi-Zeit wieder verloren.

In der römisch-katholischen Kirche waren vor allem die theologischen Diskussionen im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils und die Anfänge der Befreiungstheologie in Lateinamerika für die Feministische Theologien prägend, so wie die Impulse aus der kritischen Laienbewegung, welche ab 1968 das Priestertums der Frauen einforderte.

Später kamen in die protestantischen Kirchen wichtige Impulse aus der Arbeit des Ökumenischen Rates der Kirchen.1974 berief Brigalia Bam, Re-ferentin des Ökumenischen Rates des Kirchen (ÖRK), in Berlin eine Welt-konsultation gegen die Diskriminierung von Frauen ein, die als Sexismus-konsultation in die Geschichte der Ökumene eingegangen ist. Viele Forscherinnen gehen davon aus, dass seither die feministisch-theologische Bewegung in (West-)Deutschland greifbar wurde und für Frauen in der Kirche und an den Hochschulen langsam an Bedeutung gewann. Dies lässt sich an den in dieser Zeit vermehrten Publikationen über Frauen in der Bibel und feministische Ethik und Hermeneutik ablesen und daran, das Forschungsergebnisse von Feministischen Professorinnen und Dozentinnen aus den USA ab Mitte der 1980er Jahre verstärkt an die deutschen Hoch-schulen gelangten, wenn auch noch lange nicht in die Kirchengemeinden. Ab 1979 fanden feministisch-theologische Werkstätten an der evangeli-schen Akademie Bad Boll statt, 1981 schlossen sich Theologinnen im uni-versitären Bereich zu der AG »Feminismus in der Kirche« und 1985 wurde in der Schweiz die »European Society of Women in Theological Research – ESWTR« gegründet.

Heute lässt in Deutschland das Interesse der jüngeren Generation für Fe-minismus allgemein und für Feministische Theologien offensichtlich wie-der nach. Bezeichnender Weise sind nur etwa 3 % der Autorinnen, die an dem Wörterbuch der Feministischen Theologie (2002) mitgeschrieben ha-ben, jünger als 40 Jahre.

In den Gemeinden ist der Begriff »feministisch« vielen kirchlich orien-tierten Frauen auch heute noch zu radikal und bildet daher eine große Hemmschwelle, die eine breite Auseinandersetzung mit Feministischen Theologien bisher verhindert.

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2.2.3 Was beinhaltet christlich-feministische Theologie?

Feministische Theologien ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl an Posi-tionen und Richtungen im Feminismus und verschiedener theologischer Konzeptionen. Eine einheitliche Feministische Theologie kann es daher nicht geben. Die Bindung an die jeweilige Konfession (jüdisch, katholisch, evangelisch) bleibt meist erkennbar.

Feministisch-theologische Netzwerke, die – wie bereits erwähnt – in der 80er Jahren von Nordamerika ausgehend in Westdeutschland entstanden, waren von Anfang an ökumenisch gedachte Eine-Welt-Bewegungen im konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöp-fung.

Feministische Theologien und ihre Ethik forderten neben globaler, poli-tischer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit die Geschwisterlichkeit aller Menschen im Sinne der Menschenrechtskonventionen und dabei insbeson-dere die Abschaffung der Unterdrückung von Frauen durch Sexismus und Patriarchat in allen Lebensbereichen. Dazu gehört auch, dass sie sich für mehr Achtsamkeit im Umgang mit Mensch, Tier und Natur einsetzen (Ökofeminismus), da alle Lebewesen und Lebensprozesse vollständig von einander abhängig sind (Ruether, 1994).

Ökologische Sorgfalt, aber vor allem wirtschaftliche Gerechtigkeit war und ist für befreiungstheologische Feministinnen, wie Dorothee Sölle und Luise Schottroff auch deshalb von großer Wichtigkeit, weil für sie mensch-liches Heil ganzheitlich zu denken ist und ökonomische Rahmenbedingun-gen wesentlich am Wohlbefinden des Menschen beteiligt sind.

Feministische Ethik definiert Ina Praetorius (1991), in Anlehnung und Ergänzung der Definition von Ethik des griechischen Philosophen Aristote-les, als das »Nachdenken und Sichverständigen über gutes Überleben und über die Frage, wie Männer und Frauen durch ihr Tun und ihr Lassen zum guten Überleben beitragen können«.

Bereits in den 70er Jahren versuchte die feministische Matriarchatsfor-schung, den matriarchalen Ursprung der gesamten Menschheitsgeschichte nachzuweisen, mit dem Ziel, die vorherrschende patriarchale Kultur zu ver-ändern. Als Grundlage dieser Forschung gelten Mythen, die als getreues Abbild gesellschaftlicher Praxis verstanden werden (Heide Göttner-Abend-roth, Christa Mulack und Gerda Weiler). Die Definition des Bösen als männlich und die Überlegenheit des Weiblichen stieß in der ökofeministi-schen Szene auf große Kritik, da die Ideologisierung der Fruchtbarkeit

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bzw. der Mütterlichkeit wieder zu einer Reduzierung des Frauenbildes führte, wie sie der Feminismus überwinden wollte. Ende der 70er Jahre machten jüdische Feministinnen in den USA und ab 1986 auch in Deutsch-land u. a. auf den Antijudaismus (religiös und theologisch begründete Ju-denfeindschaft) in der Matriarchatsforschung aufmerksam, die behaupten, »die Juden« hätten die vormals matriarchalen Kulturen und Göttinnenreli-gionen in Israel zerstört und dem Patriarchat den Weg bereitet.

Die praktische Umsetzung Feministischer Theologien findet in Frauen-liturgiegruppen und Frauengottesdiensten statt. Maßgeblich für die Frauen-liturgiebewegung war dabei u. a. die Religionswissenschaftlerin Rosemary Radford Ruether, deren Buch »Women-Church. Theology and Practice of Feminist Liturgical Communities« in der Übersetzung 1988 in Deutschland veröffentlicht wurde. Sie geht davon aus, dass Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft und Kirche vorerst eigene liturgische Wege gehen müssen, um ihre Theologie und eine eigene Sprache zu finden und gibt der Frauen-kirchenbewegung ihre theologische Legitimation: Frauen der Frauenkirche sind Erbinnen einer spirituellen Tradition, auf die sie stolz sein können.

Der befreiungstheologisch-gesellschaftsbezogene Ansatz geht in der heutigen feministisch-theologischen Diskussion stark zurück. Prof. Dr. Jost vertritt die Auffassung, dass derzeit die sehr unterschiedliche, wissen-schaftliche Arbeit feministischer Theologinnen vor allem durch diese di-versen Feminismus- und Theologietraditionen geprägt ist. Dazu käme der jeweilige Hintergrund, neben der (Befreiungs-)Theologie, z. B. die Sym-bollehre oder die tiefenpsychologische Archetypenlehre und die methodi-schen Zugehensweisen, wie die historisch-kritische, die sozialgeschichtli-che, literaturwissenschaftliche, kulturkritische oder sprachkritische. Ent-scheidend ist auch, aus welchem Fachbereich, historische, systematische oder die praktische Theologie, sie kommen.

2.2.4 Frauenspiritualität

Seit ihrer Wiedergeburt in den 80iger Jahren hat sich die feministisch-theo-logische Frauenbewegung auch in Deutschland verbreitert und ausdifferen-ziert. Die traditionellen kirchlichen Frauenverbände spielen beispielsweise heute in der säkularen Gesellschaft Deutschlands, vor allem für jüngere, engagierte Frauen nur noch eine untergeordnete Rolle.

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Die überregionale Frauenkirche-Bewegung geriet in den 90er Jahren, nach der ersten und bisher letzten deutschen Frauensynode 1994 in Geln-hausen ins Stocken. Neue Aufbruchstimmung zeigte sich auf der 2. Euro-päische Frauensynode in Barcelona (5.-10. August 2003), bei der neben den gastgebenden Spanierinnen die Deutschen die größte Gruppe stellten. Aus 36 Ländern waren über 700 religiös engagierte Frauen aus vielen ver-schiedenen Kirchen und Konfessionen Europas gekommen.

Frauenspiritualität wird heute verstanden, als »gelebte, religiöse Identi-tät« (Andrea Schulenburg) und ist aus der Suche nach neuen Formen und Inhalten gelebter, religiöser Praxis für Frauen entstanden. Sie ist heute nur zum Teil eine vernetzte Bewegung einzelner, nicht nur feministisch orien-tierter Frauen und Gruppierungen, entwickelt aus den unterschiedlichsten religiösen Traditionen und bisher eher im Westen Deutschlands etabliert. Zentrales Merkmal von (feministischer) Frauenspiritualität ist das Fehlen eines Absolutheits- oder Allgemeingültigkeitsanspruchs. Meist ist ihr die Abgrenzung zu den kirchlichen Institutionen und ihren starren Liturgien und Inhalten, manchmal sogar zu den traditionellen Religionen an sich, ge-meinsam. Es sind Frauen, die außerhalb, am Rande oder im Zentrum der Kirchen leben.

2.2.5 Frauenliturgien im feministisch-christlichen Kontext

Im christlichen Umfeld finden viele Frauen in der mystischen Tradition Er-mutigung für ihr eigenes Engagement, gerade auch in der Kirche. Sie ent-decken im Leben und in den Schriften von mittelalterlichen Mystikerinnen (Theresa von Avila, Hildegard von Bingen, Gertrud von Helfta, usw.) Vor-bilder für ihr eigenes Bemühen, in einer von Männern dominierten religiö-sen Struktur eigene spirituelle Wege zu gehen – und zuweilen auch eine Rechtfertigung dafür, sich trotz aller Männerdominanz weiterhin dort zu engagieren, die Kirche also von innen heraus zu verändern, anstatt sie zu verlassen (Antje Schrupp, 2004).

Nicht nur katholische Frauen fordern die Teilhabe (Partizipation) an der Gestaltung von Gottesdienst (Liturgie) ein und berufen sich dabei auf das Priestertum und die spirituelle Kompetenz aller Gläubigen. Liturgie sollte mit neuen, auch frauenspezifischen Inhalten gefüllt und ganzheitlicher ge-feiert werden und will somit Ausdruck gelebten, lebendigen Glaubens sein. Wichtig war dabei die aktive Beteiligung vieler im Gottesdienst. Aus dieser

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Bewegung heraus entstand auch der Weltgebetstag der Frauen, welcher, wie alle Frauenliturgien, ökumenisch gestaltet und heute weltweit gefeiert wird. Ein weiteres Anliegen bei der (Wieder-)Entstehung von Frauenlitur-gien war die Verwendung einer gerechten Sprache. »Sprache bildet Wirk-lichkeit nicht ab, sie stellt Wirklichkeit her« (Wittgenstein, 1984). Beson-ders postmoderne Denkerinnen, wie Luise Pusch, haben in diesem Bereich viel geforscht. Derzeit entsteht in Deutschland aus Spendengeldern eine Bibelübersetzung in gerechter Sprache. Auch unter dem Genderaspekt ein lange überfälliges Projekt.

2.2.6 Elemente einer Frauenliturgie

Durch den ganzheitlichen Ansatz in der Frauenliturgie wird auf Gestaltung des Raumes, in welcher die Liturgie gefeiert werden soll, viel Wert gelegt. Als Räume dienen Gruppenräume, Kirchen, Wohnräume oder auch Orte im Freien. Frauenliturgie wird an vielen Orten gefeiert. Nicht nur in Gottes-diensten und Andachten, sondern auch in Frauenbibelkreisen, Frauengrup-pen, an Wallfahrtsorten, bei Frauentagungen oder in Form von meditativem Tanz.

Stuhlkreis mit Mitte

Wo möglich, wird dem Kreis im Gegensatz zur frontalen Ausrichtung der Vorzug gegeben, da dieser Hierarchien auflöst und zu einer stärkeren Parti-zipation und besseren Kommunikation in der Gruppe führt. Außerdem rich-tet sich die Aufmerksamkeit der Beteiligten im Kreis automatisch zur Mitte hin aus und fördert dadurch auch die Konzentration auf das Wesentliche und führt zur inneren Ruhe und Bereitschaft. Die Gestaltung der Mitte (Blumen, Symbole, Bilder,...) richtet sich nach dem Thema oder der Jahres-zeit.

Offene Formen

In der Frauenliturgie gibt es keine festgelegte Ordnung. Manche Ideen wer-den wieder aufgegriffen und können so mit der Zeit zu wiederkehrenden Elementen bzw. Handlungen (Rituale) führen. Spirituelle Ausdruckformen sind Lieder (passend gewählt zum Thema, zur Tageszeit, zum Ort in der Liturgie...), das Gebet (in gerechter Sprache; als offenes Gebet mit Kyrie-

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ruf; als Gebet mit ganzem Körper), der Austausch (jede darf sich einbrin-gen; die Aussagen werden achtsam getätigt und nicht gewertet), die Stille (Exerzitien deutscher Mystikerinnen, verschiedene Meditationsformen...), der Tanz (Leiblichkeit und Bewegung in Form von meditativem und sakra-lem Tanz) und das Segnen (Salbung, Zuspruch).

Inhalte

Die Inhalte der liturgischen Feiern werden sehr unterschiedlich gewählt und in der Gruppe ausgearbeitet. Oft richtet sich das Thema nach den Jah-reszeiten bzw. dem Kirchenkalender (Passionszeit; Frühlingsanfang) oder nach bestimmten Fest- oder Gedenktagen (Heiligabend, als Fest der Liebe; Welt-Aidstag, über den verantwortlicher Umgang mit Sexualität; Inter-nationaler Frauentag mit Lilith und Eva). Ebenso eignet das aktuelle Tages-geschehen (Tsunami und die Theodizeefrage), ein interessantes Bild (Miri-am von Sieger Köder; Die hungernden Kinder von Oskar Kokoschka; Iko-nen;...) oder ein Bibelwort (Frau, warum weinst du? Gott hat seinen Engeln befohlen...) gut zur Vertiefung. Grundlage der Liturgie kann auch eine bi-blische Geschichte (über biblische Frauengestalten oder das Hohelied), ein aktuelles, gesellschaftliches Problem sein (Stress und Zeitdruck; Globali-sierung, Individualisierung und Einsamkeit) oder sich aus dem Ort der Ver-anstaltung ergeben (ein Labyrinth; ein Wallfahrtsort, ein Kloster). Die Kraft der Symbole (Wasser; Licht; Labyrinth) wurde in den letzten Jahren ebenfalls wieder neu entdeckt.

Themen aus dem Lebensalltag von Frauen werden in Beziehung zu Gott gesetzt. Die Liturgie dient, auch durch die Gemeinschaft mit anderen Frau-en, der Ermutigung von Frauen bei der Bewältigung ihres Alltages. Frauen-feindliche theologische Traditionen werden aufgedeckt (Abwertung des weiblichen Körpers und der Sexualität) und ihre Wirkungsgeschichte be-trachtet und/oder betrauert.

Bei der Umsetzung der Inhalte werden auch neuere Methoden, wie z. B. das Bibliodrama (inszenierte Begegnung der Anwesenden mit dem bibli-schen Text) angewandt.

Gerechte Sprache

Texte, Gebete und Lieder der gottesdienstlichen Feier sind so gestaltet, dass sie sowohl von den heutigen Frauen nachvollzogen und mitgetragen werden können, als auch unterschiedliche Lebensformen berücksichtigen.

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Leitung

Es gibt kein ausdrückliches Leitungsamt. Die Leitung ist jeweils auf eine Liturgie beschränkt und kann von jeder Frau, die es sich zutraut, übernom-men werden. Alle Teilnehmerinnen sind grundsätzlich für den Ablauf mit-verantwortlich und dafür, wie viel sie sich im Gottesdienst im Austausch mit anderen bei aller Offenheit einbringen möchten.

Gottesbild

Es wird kein für alle verbindliches Gottesbild festgelegt. Alte Bilder wer-den aufgenommen und neue unterschiedliche Bilder des Göttlichen (Freun-din; Quelle des Lebens) entwickelt. Wichtig ist für Frauen die Aufhebung eines einseitig männlichen Gottesbildes und dessen häufig militärische, gewalttätige Ausrichtung.

Christologie

Angelika Strotmann weist auf die Verknüpfung Jesus Christus/ Sophia hin: »In einigen Teilen des Neuen Testaments,... wird Jesus eng mit der alttesta-mentlichen und jüdischen göttlichen Weisheit (Sophia) verbunden. Diese göttliche Weisheit ist dadurch ausgezeichnet, dass sie als weibliche Person dargestellt wird und als solche auch handelt.« Durch die Verknüpfung Jesus Christus/ Sophia darf sich auch jede Frau befähigt fühlen, »...den einen Gott zu symbolisieren und zu repräsentieren, der weder männlich ist noch weiblich, sondern SchöpferIn und ErlöserIn beider und durch beide Ge-schlechter zusammen verbildlicht wird.«. Eine Sichtweise, die vor allem in-nerhalb der katholischen Kirche bisher auf großen Widerstand stößt.

2.3 Frauentraditionen im Islam

Gemeinsame Quellen aus den Kulturen des vorderorientalischen Raumes sowie das Erbe biblischer Frauengestalten haben den Islam genauso ge-prägt wie das Christentum.

Im Islam gibt es eine Geschichte der weiblichen Spiritualität – sowohl im Hinblick auf bestimmte religiöse Seelenbilder wie auch auf die soziale

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Gestalt der Religion und ihre Ausprägung in männlichen und weiblichen gesellschaftlichen Erscheinungsformen.

Diese Geschichte wird im Folgenden gesucht werden. Sie hat andere Er-scheinungsformen als die Geschichte der weiblichen religiösen Traditionen im Christentum, dennoch werden sich im Laufe der Untersuchung auch Möglichkeiten zum Vergleich und innere Verbindungen auftun.

Liebesmystik, meist angelehnt an die im Koran erzählte Geschichte von Yussuf und Suleika – der alttestamentlichen Erzählung von Joseph und der Frau des Potiphar, steht neben der mystischen Erhebung der mütterlichen Seite Gottes, hier wie im Christentum meist personifiziert in der Gestalt der Maria, aber auch den Frauen Abrahams, Sara und Hagar.

Wichtig für das Verstehen der weiblichen Traditionen im Islam sind die Überlieferungen über die Frauen des Propheten Mohammed, besonders über seine Ehefrauen, die verschiedene Rollen für die Entwicklung der neu-en Religion spielten.

Chadidscha, seine erste Frau, gab ihm sowohl materielle als auch fami-liäre Sicherheit. Sie war die erste, die ihn in seinen Offenbarungen als Gründer einer neuen Religion anerkannte und unterstützte.

Aisha war lange über seinen Tod hinaus eine der wichtigsten Zeuginnen in der Überlieferung seiner Reden, der Hadithe. Sie spielte nach seinem Tod eine wesentliche politische Rolle und führte sogar im Namen Moham-meds einen Krieg, in dem sie allerdings unterlag.

Andere Frauen übten zu seinen Lebzeiten religiösen und politischen Einfluss aus und begleiteten Mohammed zu seinen Gebeten in die Mo-schee.

Fatima, die Tochter, war mit Ali verheiratet und die Mutter von Hassan und Hussein. Alle Männer aus der Familie seiner Tochter spielten in der Nachfolge des Propheten eine wichtige Rolle, da er keine direkten männli-chen Erben hatte. Fatima ist die einzige Frau, die zu den »heiligen fünf« Gründergestalten des Islam gehörte: Mohammed, Ali, Hussein und Hassan und Fatima als die familiär verbindende Frau.16

Der Schleier spielt in der Tradition der Hadithe eine wichtige Rolle; er ist darüber hinaus aber ein kulturelles arabisches Erbe, das der Islam aus verschiedenen gesellschaftlichen Erfordernissen heraus übernehmen muss-te. Zum ursprünglichen Selbstverständnis der islamischen Frau ist er nicht so relevant, wie er in der Geschichte der islamischen Völker späterhin an-gesehen wurde.

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Über die Funktion des Schleiers gibt es viele verschiedene Vorstellun-gen, Sicht- und Erlebensweisen in der Geschichte der muslimischen Völ-ker. Die Schutzfunktion für die Frauen gegen Übergriffe von Männern, aber auch gegen die Angriffe von Wetter und Wüstenklima ist deutlich. Daneben ist natürlich die Funktion der Besitz ergreifenden Kennzeichnung, der Unterdrückung individuellen Auftretens, der Absonderung nicht zu übersehen.

Was in der Geschichte vielleicht in Grenzen als sinnvoll gewertet wer-den konnte, wurde von kritischen Muslimen im 19. Jahrhundert scharf ver-urteilt, als diese mit der damaligen aufblühenden Kultur Europas in Berüh-rung kamen und als von Europa her das Interesse an orientalischen Ländern wuchs. Der Schleier und die Absonderung der Frauen wurden als Hindernis für die kulturelle Entwicklung der islamischen Welt gesehen, da ja die Frauen Trägerinnen von Bildung und Erziehung der nachfolgenden Gene-ration waren.

Gleichzeitig wurde ihnen selbst aber nur eine grundsätzliche Bildung – bis zur Pubertät – zugestanden, um sie dann in den Frauengemächern zu verstecken und sie geistig regredieren zu lassen. Denn um sich in einer sich wandelnden Welt zu behaupten, muss zur grundsätzlich in der Jugend er-worbenen Bildung immer neue, an der jeweiligen Realität gewachsene Er-fahrung dazukommen, sonst verliert die Bildung ihren Wert – so versteht es der ägyptische Reformpolitiker des 19. Jahrhunderts, Qasim Amin. Diese weiterführenden Erfahrungen eigener geistiger Entwicklung über die Ele-mentarbildung heraus zu machen, wurde den Frauen in den damaligen isla-mischen Gesellschaften verwehrt.17

Fatima Mernissi vertritt die Auffassung, dass seit der Niederlage von 1967 die arabische Welt in die Todessehnsucht und in die Vergangenheit geflüchtet ist.18

Es ist erst ein Fortschritt im Dialog mit dem Islam möglich – so Mernis-si –, wenn arabische Intellektuelle

die Litanei beendet haben. Erst eine solche Haltung ermöglicht es uns, von der Zeit der Verletzungen zu sprechen. Nicht der gelähmte Blick auf die militärische Überlegenheit des feindlichen Westens als Rechtfertigung für die Flucht in die Vergangenheit hilft uns weiter, sondern das reflektierende Nachdenken, das nach einem geeigneten Rahmen zur Selbstentfaltung sucht.19

In diesen Rahmen der Selbstentfaltung gehört sicher das Nachdenken über die Rolle der Frauen im Islam und in den arabischen Gesellschaften an vor-derster Stelle. Zumal islamische Frauen ständig der Lebenssituation von

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Frauen in christlichen Ländern in Europa begegnen, sich mit ihr auseinan-dersetzen und in ihr orientieren müssen.

Es ist somit ein Interesse von einigen Frauen in islamischen Ländern, einerseits zu den Quellen der Überlieferung zurückzugehen und ein Bild des Islam zu zeichnen, das jenseits der die Frauen unterdrückenden Erbteile der arabischen Kultur angesiedelt ist. Zugleich suchen sie aber auch Wege und neue Perspektiven, um sich an die Anforderungen anzunähern, die glo-bale Veränderungen für alle Frauen mit sich bringen. Ein solches Interesse verbindet sie mit den Frauen, die das Christentum und seine Quellen auf für die derzeitige Situation hilfreiche Perspektiven hin untersuchen.

Christliche Theologinnen forschen darüber, wie ein erweitertes, männli-che und weibliche Anteile sachgemäßer und sachdienlicher unterscheiden-des Erscheinungsbild ihrer Religion entstehen kann, das für unsere Zeit weiter trägt.

2.3.1 Die Mit-Begründerinnen des Islam

Wer da eine Tochter hat und sie nicht lebendig begräbt, sie nicht be-schimpft und ihr nicht seine männlichen Kinder vorzieht, den möge Gott ins Paradies führen

Der Prophet Mohammed

Frauen sind die Zwillingshälften der Männer Der Prophet Mohammed

Chadidscha leitete ein gut gehendes Karawanenunternehmen im Mekka des 7. Jahrhunderts und sie war eine Witwe von 40 Jahren. Sie verheiratete sich mit dem 25jährigen Mohammed, der zu ihren Angestellten zählte. Sie führ-te mit ihm zusammen das Geschäft weiter und bekam trotzdem noch sechs Kinder innerhalb dieser Ehe. Sie unterstützte ihn bei der Gründung und Verbreitung des Islam, der durchaus damals eine frauenfreundliche Reli-gion war.

Nach Chadidschas Tod heiratete Mohammed Aisha, die zu diesem Zeit-punkt noch ein Kind war und zum Zeitpunkt des Todes Mohammeds eine junge Frau von etwas über 20 Jahren. Sie war eine kluge und gebildete Frau und verstand die Lehren Mohammeds. Nach seinem Tod wurde sie seine Interpretin. In mehreren politischen Entscheidungssituationen war Aisha das »Zünglein an der Waage«, weil sie die Menschen einnehmen

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konnte für die »Meinung des Propheten«. So betrieb sie Politik, die bis zur Einmischung in Kriege und bis zur Ermordung politischer Gegner von ihr durchgehalten wurde. In späteren Jahren und nach gemachten Erfahrungen zog sie sich aus dem öffentlichen Leben zurück.

Mohammed war während der Ehe mit Aisha auch noch mit mehreren anderen Frauen verheiratet. Er hatte zahlreiche Kinder, von denen aber nur die Mädchen überlebten. Deshalb stellte sich für die spätere Frage nach der rechtmäßigen Verwaltung des Islam durch einen Erben die Problematik, dass nur Schwiegersöhne dafür zur Verfügung standen, bzw. später ein En-kel Mohammeds.

Aufgrund dieser Tatsache des mangelnden direkten Erben wurde die kluge Aisha auch öffentlich zu einer der bedeutendsten ersten InterpretIn-nen der Visionen, der Lehren und des Lebens des Propheten. Sie kannte ihn aus eigener Anschauung auch aus privaten Bezügen, und das konnte ihr so leicht niemand streitig machen.

In der einen Hinsicht knüpfte Aisha mit ihrem öffentlichen Auftreten an die arabische Tradition der Kriegerinnen an, die damals nicht unbekannt war. Zum anderen wurde ihr späterer Rückzug aus dem politischen und öf-fentlichen Leben, wie alles, was sie tat und sagte in der Interpretation des Erbes Mohammeds, von ihren Anhängern dogmatisiert. D. h. ihr Rückzug ins Private wurde zugleich als religiöses Vorbild für alle Frauen im Islam umgedeutet, nicht als persönliche, biographisch bedingte Entwicklung.

Frauen sollten zu Mohammeds Zeiten und auf seinen Wunsch eine Aus-bildung erhalten und ihr Einkommen selbst verdienen und verwalten dür-fen. Beim Ableben des Vaters sollten Töchter neben ihren Brüdern als ge-setzliche Erben anerkannt werden. Die Ehefrauen hatten ein Anrecht auf sexuelle Befriedigung und materiellen Unterhalt. Für die Scheidung ge-nügte es nicht mehr, die Frau ohne finanzielle Abfindung aus dem Haus zu werfen.20

Das oben genannte Zitat Mohammeds deutet darauf hin, dass er als Erbe der arabischen Kultur seiner Zeit eine sehr rüde Umgangsform mit Frauen vorgefunden hat. So gesehen, schränkte er mit seiner Empfehlung die Gewalt gegen die Frauen ein. Er stellte sie den Männern gleich, was für die geistliche Bewertung der Frauen dann auch für den Islam immer gegolten hat. Vor Allah sind die Frauen den Männern gleichwertig.

Anders sieht es aus nach der Scharia, dem islamischen Recht, das sich aus dem Koran und aus den überlieferten Lehren Mohammeds, z. T. wei-tergegeben von Aisha, ableitet. Hier gelten die Aussagen der Frauen vor

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Gericht nur halb soviel wie die der Männer, Männer dürfen mehrere Frauen heiraten. Heute gilt in allen islamischen Länder, in denen die Heirat mehre-rer Frauen noch erlaubt ist, der Grundsatz, dass die erste Ehefrau eine Scheidung unkompliziert und ohne weitere Begründung bekommen kann, wenn der Mann eine zweite Frau heiratet.

In der Türkei ist es vom staatlichen Recht her den Männern verboten, zwei Frauen zu heiraten.

Zur Vielehe gilt generell die Überlegung – zumindest zur Zeit der Ent-stehung des Korans, aber auch heute noch in Afrika: Es gibt in der Regel unter der Bevölkerung einen Überschuss an Frauen (z. T. wegen der Krie-ge, in denen die Männer ihr Leben verlieren). Und wenn die Bevölkerung arm ist, sind die Frauen bzw. alle Menschen in der Regel ungebildet und können ihren Lebensunterhalt nur durch einfache Arbeit bestreiten. So sind die Frauen durch einen Mann, der mehrere Ehefrauen hat, zumindest finan-ziell gesichert – und umgekehrt hat der Mann mehrere Arbeitskräfte für seinen kleinen Handwerksbetrieb oder für die Landwirtschaft. Vielehe hat also vielfach einen ökonomischen Hintergrund.

2.3.2 Seelenbilder des Weiblichen im Islam

Mit anderem Ansatz bearbeitet Annemarie Schimmel die Situation der Frau, bzw. des Weiblichen im Islam. In ihren Beobachtungen, Zitaten, Auf-zeichnungen aus religiösen und literarischen Quellen des Islam im Vorde-ren Orient, aber auch bis nach Pakistan und Indien, stehen Seelenbilder im Vordergrund.

Mohammeds Sicht der Frauen, die Frauen im Sufismus, die Urbilder »Mütter« und »alte Frau« sowie die »Bräute Gottes« (die »Dame Seele«) geben einen Einblick darein, dass der Islam in seiner inneren Dimension al-les andere als eine frauenfeindliche Religion ist.

Es fällt auf, dass der Islam einen speziellen Begriff für die weibliche Seite der Seele hat- »nafs« – es ist die schwache, weltzugewandte, unbe-ständige Seite der Seele. Wann immer eine Frau in der Geschichte des Islam sich als Gelehrte, Heilige, gebildete oder religiöse und philosophi-sche Fragen verstehende Figur zeigte, legte man ihr den Ehrentitel »Gottes-mann« zu. Nach Ansicht der damaligen Interpreten hatte sie dann aus-nahmsweise männliche Eigenschaften in ihrer Seele, sonst wäre es nicht zu der Entwicklung ihrer Persönlichkeit gekommen.

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Ein Ausspruch Mohammeds lautet: »Mir wurden lieb gemacht von eurer Welt die Frauen und der Duft, und mein Augentrost ist im Gebet.«21

Wenn auch in den Anfängen der Geschichte der neuen Religion die Frauen eine durchaus gleichgestellte Funktion hatten, so ist doch für die Folgezeit eine Wandlung zu verzeichnen, die Schimmel »legalistisch und asketisch« nennt, und innerhalb derer die Frauen in eine Position verwiesen wurden, die weit von dem entfernt ist, was man aus der Zeit des Propheten und seiner Nachfolger weiß.22

In der islamischen Mystik, dem Sufismus, spielte Rabi’a al Adawiyya eine wesentliche Rolle, weil sie erstmals das Element der absoluten Gottes-liebe in den asketischen Sufismus des 8. Jahrhunderts einfügte.23

Die Gleichung Frau – Seele spielt im Islam eine wichtige Rolle. »Seele« oder »Selbst« ist ein feminines Wort, das im Koran dreimal vorkommt – es wird von der »zum Bösen anreizenden Seele« gesprochen,24 von der »sich anklagenden, tadelnden Seele«25 und von der »Seele im Frieden«.26

Die »nafs«, die weibliche Seele, ist hier ein Abbild der irdischen Welt, die äußerlich ist und zum Bösen anreizt. Es ist die Rede von der verschlin-genden »Frau Welt«. »Frau Welt« wird gefürchtet, weil sie versucht, den Mann von seinen intellektuellen oder religiösen Bemühungen abzubringen. Dennoch behauptet ein islamischer Dichter des 12. Jahrhunderts: »Eine gute Frau ist besser als tausend Männer«.27

Die »Mutter« ist die überragende Gestalt der arabischen Welt und der islamischen Religion. Das Wort »Rachma« – »Barmherzigkeit« – ist in sei-nen Wurzeln gleich mit »Rachim«, dem Mutterschoß. Deshalb ist es auch möglich, von weiblichen und mütterlichen Attributen Gottes, des Schöpfers und Erhalters der Menschen und der Welt, zu sprechen. »Das Paradies liegt unter den Füßen der Mütter«, sagte der Prophet, und den Müttern gilt die nimmer endende Fürsorge des Menschen. 28

So ist jede Vereinigung von weiblichen und männlichen Seelenanteilen in der Religion oder im Vollzug ihrer Rituale eine Ehe, aus der etwas Neu-es geboren wird. Denn nur das Zusammenwirken von männlichen und weiblichen Elementen kann das Leben auf einer höheren Stufe weiter füh-ren, so wie etwa das maskuline, harte Element »Furcht« und das feminine sanfte Element »Hoffnung« zur Geburt des wahren Glaubens führen.29

Eine wichtige, beispielhafte Rolle für diese Vereinigung der weiblichen und männlichen Seelenanteile ist in der Geschichte von Yussuf und Suleika im Koran aufgezeichnet. Suleika ist das Beispiel der »nafs« Seite der Seele. Sie lebt ihre grenzenlose Liebe aus und erfährt in der Nichterfüllung gren-

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zenloses Leid, um dann, am Ende, mit Yussuf vereinigt, geläutert zu wer-den. So wird sie nach ihrer Läuterung zum Urbild der Seele, die sich nach der Vereinigung mit Gott, dem Urgrund und der Quelle aller Schönheit, sehnt.

»Zulaikha die Verführerin« – so erscheint sie im Koran, und für diejeni-gen, die in asketischer Furcht vor dem Weiblichen lebten, muss es sehr er-freulich gewesen sein, dass eben in der Sura30 Yussuf, die solche Verfüh-rungskünste anprangert, von der »nafs« die Rede ist, die »zum Bösen anrei-zend« beschrieben wird«.31 Die Furcht vor den Frauen und ihren Seelen-anteilen bewegt viele Erzählungen aus der Frühzeit des Islam. »Die Frau ist ganz und gar übel, und das übelste an ihr ist, dass man sie unbedingt braucht«, soll Ali, der Schwiegersohn des Propheten und Ehemann der Pro-phetentochter Fatima, gesagt haben. Möglicherweise stammt dieses Wort aber aus einer späteren Ehe nach dem Tode dieser ersten Frau.

Im Sufismus wird mit den Seelenanteilen oft in Geschichten und Ge-dichten argumentiert. In den Versen von Jalaluddin Rumi32 findet sich eine Schilderung eines Ehestreites, in dem die gutmütige Mutter äußert, ihr zar-tes Söhnchen solle doch nicht zur Schule gehen, sondern sich lieber von ihr verwöhnen lassen. Aber der Vater, dessen besondere Eigenschaft der Intel-lekt ist, möchte dem Menschenkind eine gute Erziehung geben und ihn da-her in eine harte Schule schicken, damit er auf dem Weg der Vervollkomm-nung vorwärts gehen kann.33

In vielen Erzählungen über die Frauen wird geradezu der Dreischritt von der »unbeständigen« zur »sich anklagenden, tadelnden« weiblichen Seele, die dann im letzten ihren Frieden findet, zum inneren Faden der Hand-lung.34

Zuletzt sind noch die zwei Gestalten der »alten Frau« und der »Mutter« zu nennen. Zum einen ist die verabscheuungswürdige »Frau Welt«, die den Menschen verschlingt, gern als altes Weib dargestellt;35 zum anderen hat das Bild der »alten Frau« natürlich auch eine positive Seite. Im Koran er-klingen die Mahnungen, die Eltern zu ehren und sich der Waisen und der Armen anzunehmen.36 Der Glaube der alten Frauen galt als besonders sta-bil und unkompliziert, weil sie als einfache Seelen offenbarte Wahrheiten ohne Haarspaltereien annahmen.

»Ein altes Weib kam einmal zum Propheten und fragte ihn, ob denn triefäugige alte Weiber ins Paradies kämen. Auf die verneinende Antwort des Propheten seufzte sie betrübt, und er antwortete ihr: »Nein, alte trief-

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äugige Weiber kommen nicht ins Paradies; sie werden alle in schöne Jung-frauen verwandelt.«37

Zur Gestalt der »Mutter«. Es wird erzählt, dass ein Jüngling zum Pro-pheten kam und ihn fragte: »Wer verdient meine Liebe und Fürsorge am meisten?« Der Prophet sprach: »Deine Mutter!« Und an zweiter Stelle? »Deine Mutter!« »Und wer an dritter Stelle ?« Der Prophet sprach: »Deine Mutter!«.

Die Kinder wurden in den ersten sieben Jahren ihres Lebens ganz in der Frauenseite des Hauses erzogen. So wurden sie von der Frömmigkeit in einer weiblichen Interpretation zuerst durchdrungen. Es gibt Legenden, die davon berichten, dass Pilger ihre kranken Mütter nach Mekka trugen.

Für den Gedanken der Wandlung der Seele innerhalb der Religion durch Läuterung und Schmerz steht als erstes, hervorragendes Beispiel der Ge-burtsschmerz, den die Frauen erleiden, bevor ein neuer Mensch die Welt erblickt. Sie erfüllen damit ein tiefes religiöses Symbol. »Das Paradies liegt zu Füssen der Mütter«.38

Die Mutter, die im Kindbett stirbt, steht im Paradies höher als die Para-diesjungfrauen, weil auch ihr Kind, wenn es bei der Geburt gestorben ist, gleich ins Paradies kommt, wohin es sie nach sich zieht.

Mit der Läuterung durch den Schmerz bei der Geburt wird die Frau zu einem Sinnbild für die Entwicklung jedes Menschen auf dem Weg zu Gott. Nur durch Leiden und neue Entwicklung kann eine Wandlung der Seele in ihrem Bezug zu Gott eintreten. Das gilt auch für die Entwicklung der männlichen Seele.

Der Mann kann sich orientieren an den Seelenqualitäten der Frau, die Mutter geworden ist. Der Mutterschoß ist ein Sinnbild für Gottes Güte. Die Mutter ist oft auch noch für den erwachsenen Sohn die religiöse Begleitung und so etwas wie eine Rückversicherung. »… andererseits war das Gebet der Mutter besonders wirksam und konnte ihren gefangenen und verlorenen Sohn wieder zurückbringen.«39

Der Mann trägt auch die Seelenbilder von jungen Frauen – die Jungfrau, die Geliebte – in sich. Sie spielen aber in der religiösen Beachtung eine un-tergeordnete Rolle. Hier ist sicher ein Unterschied zwischen Christentum und Islam zu beobachten – in Bezug auf das religiöse Seelenbild der Jung-frau.

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2.3.3 Die Bedeutung der Frauen für die Entstehung des Islam

»Der politische Harem« ist der Titel einer recherchierenden und analysie-renden Schrift der Marokkanerin Fatima Mernissi.

Mernissi ist bemüht, in Mohammed einen Menschen zu zeigen, der eine egalitäre Gesellschaft wollte, der in Bezug auf die Frauen geradezu bis zum Revolutionären an den ständischen Vorstellungen der arabischen Stämme- Gesellschaft seiner Zeit gelitten hat.

Zur Zeit Mohammeds mussten die Frauen sich nicht generell verschlei-ern, die Frauen in seiner nächsten Umgebung nahmen am öffentlichen und religiösen Leben seiner Zeit teil, indem sie ihn begleiteten. Umm Salma, eine der Frauen Mohammeds, nahm aktiv Partei für einen Kriegsgefange-nen und erwirkte seine Freilassung, indem sie die Männer beeinflusste, die darüber zu entscheiden hatten.40

Aischa war, wie auch andere Quellen berichten, verantwortlich für Schlachten in der Nachfolge Mohammeds. Die berühmte Kamelschlacht verlor sie gegen Ali, und danach wurde ein Hadith Mohammeds berühmt, das der Verfasserin heute noch in den örtlichen Gesprächen in Marokko entgegengehalten wurde: »Niemals wird das Volk zu Wohlstand gelangen, das seine Geschäfte einer Frau anvertraut!«41

Nicht nur Mernissi, auch andere VerfasserInnen betonen, dass Moham-med selbst seinen Wohlstand, seinen Aufstieg und seine erste Unterstüt-zung als Prophet seiner ersten Frau Chadidscha verdankt, die eine erfolg-reiche Geschäftsfrau war.

Mernissi legt immer wieder Wert darauf, die Kontextualität aller Hadi-the hervorzuheben. Hadithe sind etwa entstanden aus Dialogen zwischen Aischa, der späteren engsten geistigen Vertrauten und Lieblingsfrau Mo-hammeds und einem männlichen Begleiter Mohammeds, Umar. Zwischen diesen beiden entstanden zum Teil kämpferische Dialoge, weil Umar den Frauen die Rechte nicht zusprechen wollte, die Mohammed ihnen gewährte und weil Aischa hier entsprechende Gegenpositionen aufzeigte. Sie fühlte sich in der Regel als die wahre Interpretin der Meinungen des Propheten.

Die Verfasserin beschreibt anschaulich, wie in Medina zur Zeit Moham-meds Moschee (heiliger Raum) und Wohnzimmer des Propheten fast inein-ander übergingen; wie die Räume der Frauen Mohammeds, auch die Woh-nung seiner Tochter Fatima und ihrer Familie, vor allem der beiden Söhnen Hassan und Hussein, kaum getrennt waren vom Platz der Moschee. In der Architektur war vorgegeben oder nachempfunden, was den Islam kenn-

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zeichnet: Keine oder nur eine geringe Trennung von privatem, politischem und religiösem Raum. Mohammed hat Kriege geführt, um seine Anhänger gegen andere zu verteidigen, um der Ausrottung des Islam durch mannig-faltige Gegner vorzubeugen. Mernissi sieht in Mohammed einen allseits fähigen, seine menschlichen, geistigen und spirituellen Kräfte voll auskos-tenden Menschen, der dementsprechend viele Feinde und Neider hatte. Ins-besondere in seiner Zeit in Medina habe er unter diesem Umstand sehr leiden müssen.

Entsprechend dieser voll entwickelten Lebenszugewandtheit, die Mo-hammed gelebt hat und die auch in den Lehren des Islam enthalten ist, wenn man sie kontextuell und nicht dogmatisch interpretiert, hatte Moham-med ein wenig verkrampftes Verhältnis zu den Frauen und damit zur Se-xualität.

So resultiert der berühmte Hadith, der auf das Schleier-Tragen der isla-mischen Frau abzielt, aus einer konkreten Lebenssituation des Propheten. Eben hatte er Zainab geheiratet und wollte nach dem Hochzeitsmahl mit ihr allein sein. Aber einzelne Gäste wollten das ansonsten für Publikums-verkehr offene und damit räumlich übersichtliche Haus nicht verlassen. In dieser Situation kam ein Schleier vom Himmel und trennte die Räume des Propheten und damit Zainab von den Blicken der störenden Gäste. Dies ist die eine Variante der Überlieferung. Nach einer anderen Tradition ging Mohammed in den Garten und empfing dort eine Offenbarung, die in der Sura 33,59 festgehalten wurde, in der von dem Schleier die Rede ist.

Diese Geschichte kann als eine symbolische Aussage angesehen wer-den. Man kann sie dahin gehend deuten, dass der Islam auch eine Trennung von verschiedenen Bereichen im Leben der Menschen kennt, dass er Ab-stand und einen Platz für das Persönliche und Intime akzeptiert; die Ge-schichte wurde doch zugleich als die Grundlage einer Lehre ausgelegt und bekam damit einen normativen Charakter. Mohammed selbst war an dem Wohl der Gemeinschaft gelegen, in der alle Menschen gleichen Wert ha-ben, unabhängig vom Geschlecht oder anderen trennenden Umständen.

Aber auf dem Wege der Überlieferungen und der Debatten seiner An-hänger, wurde der Volksglaube der arabischen Stämme und seine Sitten mit in den Islam eingewoben – so stellt Mernissi die Entwicklung dar, in der sie immer wieder bemüht ist, zu den Quellen der wahren Absichten Mo-hammeds zurückzugehen.

Über die Frauen zur Zeit Mohammeds bemerkt Mernissi:

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Heim und Hof waren für sie nicht die einzigen Orte, die ihnen regelmäßig zustanden. Dies änderte sich jedoch, als der »Hijab«42-Vers die Welt der Frauen und Männer trenn-te, als die Frauen an den heimischen Herd verbannt und ihnen der Zugang zum öffentli-chen Leben verwehrt wurde. Anders gesagt, die Einführung des »Hijab« wäre an einem Ort, an dem die Geschlechter bereits getrennt und die Frauen bereits vom öffentlichen Leben ausgeschlossen waren, gar nicht erfolgt. Allein durch sein Erscheinen enthüllt uns der »Hijab« eine soziale Wirklichkeit, die der bestehenden völlig widerspricht. Das Herabkommen des »Hijab« während der Hochzeit Zainabs wird nur verständlich, führt man sich vor Augen, mit welcher außerordentlichen Leichtigkeit sich die Frauen im öf-fentlichen Leben bewegten.43

In ihrem abschließenden Kapitel »Der ›Hijab‹ senkt sich über Medina« geht Mernissi noch einmal detailliert auf den bereits erwähnten Hadith ein. Hinter der Situation in Mohammeds Haus steht für sie noch die gesell-schaftspolitische Situation der damaligen Zeit. Die arabischen Stämme la-gen in Kriegen miteinander, und Mohammed musste ständig um das Über-leben seiner Gemeinschaft kämpfen. Man machte Kriegsbeute und Sklavin-nen, Prostitution gedieh, und Frauen waren in den Straßen von Medina wie in denen anderer Städte der Zudringlichkeit und den Angriffen von Män-nern ausgesetzt. Mernissi vermutet, dass der Hadith auch den Schutz der Frauen in der Öffentlichkeit im Blick hat, weil auf andere Weise damals keine Unterscheidung zwischen Sklavinnen und Ehefrauen oder freien Frauen vorgenommen wurde – etwa durch besondere, unterscheidende Kleidung.

Wie schon früher erwähnt, war der Schleier ein Statuszeichen der arabi-schen Frau aus höheren Kreisen, und obwohl es nicht im Interesse Moham-meds lag, Unterscheidungen einzuführen, mag hier in den beginnenden Islam ein Element der vorhandenen Kultur eingedrungen sein – vielleicht zum damaligen Zeitpunkt sogar zum Schutz der Frauen innerhalb der Ge-meinschaft.

Um den Schleier gab es frühe Auseinandersetzungen unter den Musli-men, auch unter den nahen Vertrauten Mohammeds und mit ihm. »Wenn der ›Hijab‹ die Antwort auf die sexuelle Aggression ist, so ist er aber auch gleichzeitig ihr Spiegel«.44

Im Kampf zwischen Mohammeds Traum von einer Gesellschaft, in der die Frauen un-behelligt ausgehen konnten, weil allein der muslimische Glaube als soziale Kontrolle wirkte, die der Begierde Schranken auferlegte und der Moral der Heuchler, die in der Frau nichts anderes als einen Gegenstand von Gewalt und Missgunst sahen, siegte schließlich letztere. Der Schleier war der Triumph der Heuchler: Den Sklavinnen wurde weiterhin auf der Straße nachgestellt und Gewalt angetan. Die weibliche muslimische Bevölkerung wurde künftig durch einen »Hijab« in zwei Kategorien gespalten: die frei-en Frauen, gegen die Gewaltanwendung untersagt war, und die Sklavinnen, bei denen

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sie erlaubt war. Mit der Logik des »Hijab« tritt die Gewalt des Stammes an die Stelle der Vernunft des Gläubigen, die der muslimische Gott als unabdingbar für die Unter-scheidung von Gut und Böse betrachtet.45

2.4 Religionspsychologie und weibliche Spiritualität

Mit dem Rückgriff auf die frühen Göttinnen des vorderasiatischen Raumes wird religionsgeschichtlich begründet, woher bestimmte, meist verborgene weibliche Traditionen im Koran und in der Bibel kommen.

Diese Quellen aus den babylonischen, altägyptischen, assyrischen und persischen Kulturen bezeugen matriarchale Gottheiten und manchmal auf mutterrechtlicher Basis beruhende Gesellschaftsformen.

In meiner Studie soll die religionsgeschichtliche Betrachtung unterstützt und aktualisiert werden durch den religionspsychologischen Ansatz C.G. Jungs, der in beiden Geschlechtern männliche und weibliche Seelenanteile wahrnimmt. Nach C.G. Jung ist es eine wesentliche Aufgabe für unsere Gegenwart, diese Seelenanteile in der einzelnen Psyche und in der Psyche von Gemeinschaften bewusst zu machen und damit ausgleichend umzuge-hen. Die Polarität der weiblichen und männlichen Seelenanteile führt so-wohl im Mann als auch in der Frau erst dann, wenn sie bewusst wahrge-nommen wird, zur integrierten, reifen Persönlichkeit. 46

2.4.1 Tiefenpsychologische Aspekte zur weiblichen Spiritualität

In der tiefenpsychologischen Konzeption C.G Jungs wird alles Leben als ein energetischer Prozess aufgefasst, der von Gegensätzen aufrechterhalten wird. Ohne Gegensätze, »Polaritäten«, gibt es keine Entwicklung. Die Ge-gensatzspannung, wie sie im chinesischen »Yin« und »Yang« dargestellt ist, beschreibt ein Weltgesetz.

Spätestens seit Jung wissen wir, dass allen psychischen Eigenschaften eine solche Pola-rität innewohnt, wie sie in der Spannung zwischen Es und Ich, Natur und Geist, Extra-version und Introversion und eben letztlich auch in der Polarität der Geschlechter und ihrem Aufeinander-Angewiesensein zum Ausdruck kommt, und so liegt auch jedem typologischen Denkansatz dieses Gesetz der Polarität zugrunde.47

Grundlegend erklärt ist dieses Gesetz der Polarität in der Psychologie der Geschlechter durch die Archetypenlehre C.G. Jungs. Stellt man sich dem-

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nach die Psyche als einen Kegel vor, so liegt obenauf das Ich, dann folgt das Bewusstsein, darunter rangiert dann das persönliche Unbewusste. Da-nach folgt das kollektive Unbewusste, das direkt auf einer Schicht eines nie ganz zu erfassenden, noch ursprünglicheren Teiles des kollektiven Unbe-wussten basiert.

Zwischen diesen verschiedenen Schichten der Psyche erfolgt normaler-weise ein fließender Austausch, Verdrängungen können das unbewusste Fließen verhindern, die Energie der Psyche bleibt dann im Unbewussten gebunden und geht dem Bewusstsein verloren. Diese Energie kann sich auch, gelegentlich in gefährlichem Umfang, in einem verdrängten Bereich stauen und dann eruptiv ins Bewusstsein hinein brechen.

Generell unterscheidet Jung zwischen dem individuellen Unbewussten, das im Laufe des Lebens von jedem Menschen entwickelt wird, in dem im-mer wieder psychische Materialien durch Verdrängung dazu kommen, und dem kollektiven Unbewussten, das ein Erbe der Menschheit und ihrer Ge-schichte in jedem einzelnen ihrer Mitglieder ist.

Die Psyche neigt dazu, Verdrängungen, wenn möglich, aufzuheben und tiefere Schichten des Bewusstseins ans Licht zu bringen, um den ungehin-derten Austausch und Fluss der seelischen Energie beizubehalten. In den tiefsten Schichten der Psyche wird eine »Selbstregulierung«48 vorgenom-men, um einen formalen Augleich der Energien zu erreichen.

Der kollektive Unterboden der Psyche ist so etwas wie ein Magnetfeld, das verschiedene Erlebnisformen an sich zieht, die zunächst nicht inhaltlich bestimmt sind. Das Magnetfeld der Seele, der »Archetypus«, ist im unbe-wussten Bereich der Psyche zugleich präexistent, ihr vorgegeben durch eine größere Seinswirklichkeit; zugleich ist der Archetypus aber auch durch die Sedimente der Seelenerfahrungen von Generationen den Tiefenschich-ten der individuellen Seele immanent, so formuliert es Jung.49

Die Erfahrung mit den tiefsten Schichten der eigenen Psyche, die tiefste Selbsterfahrung, ist zugleich die Gotteserfahrung, die der Mensch machen kann. Mystiker und Gnostiker aller Zeiten haben nach Jung diese Erfahrung gemacht.

Das Unbewusste des Menschen ist von den seelischen Eigenschaften des jeweils anderen Geschlechtes geprägt – nach Jung. So ist das Unbewusste der Frau männlich – der Animus, das Unbewusste des Mannes weiblich – die Anima.

»Persona« ist die Seite des Bewusstseins, die der Welt zugewandt wird, »Animus«, »Anima« die unbewusste Seite der Seele. Beide stehen komple-

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mentär zueinander, d. h. was der einen fehlt, ergänzt die andere, was in der einen Form stark entwickelt ist, findet eine komplementäre Entsprechung in der anderen Form. »Ist die Persona intellektuell, so ist die Seele ganz si-cher sentimental«.50 In den Träumen von Männern erscheint die Persona als Mann, als bewusst auftretend und handelnd, die Anima in weiblichen Bil-dern.

Hier ist auch die Unterscheidung in Bewusstheit und Triebhaftigkeit ent-standen, die oft zuungunsten des Weiblichen einfach undifferenziert auf die jeweiligen Geschlechter übertragen wird. Dem Mann wird es möglich, durch Verdrängung seine unbewussten triebhaften Seiten von seiner be-wussten Wahrnehmung fernzuhalten und sie stattdessen auf die Frau zu übertragen. Dieser Mechanismus ist nicht nur eine individuelle Gepflogen-heit, die sich manche Männern zu eigen machen. Er wurzelt tiefer in den kollektiven Schichten des abendländischen Bewusstseins bis hinein in seine religiösen Anschauungen.

Andere Kulturen, etwa ostasiatische, machen keine so deutliche Tren-nung zwischen Außen und Innen – Persona und Anima. Deshalb sind sie auch nicht der Versuchung ausgesetzt, hier so ausschließend zu verdrängen. Der weibliche Schatten (der verdrängte Seelenanteil des Mannes) lag über Jahrhunderten, ja Jahrtausenden über dem Abendland und der Menschheit. Sie kann es sich aber heute nicht mehr leisten, ihn weiter im Unbewussten zu lassen.51

Der »Niederschlag aller Erfahrungen der Ahnenreihe«, der Archetypus des Weiblichen in diesem Falle, äußert sich in bestimmten psychischen Wahrnehmungen und bewussten und unbewussten Zuordnungen, die von beiden Geschlechtern getroffen werden. »Nacht, Meer, Wasser, Erde, Berg und Tal, Höhle, Drache, Hexen, Blumen, Kuh und Katze, Mutter, Groß-mutter« – das ist eine noch lange nicht vollständige Erscheinungsreihe der Anima. Wobei vorherrschend und an erster Stelle das Bild der Mutter steht, weil sie das erste ist, was Kinder beiden Geschlechts in der Welt erleben.

Und hier liegt der wesentliche Unterschied in der Entwicklung von Ani-mus und Anima, weil Junge und Mädchen sich zu der Gestalt der Mutter grundsätzlich verschieden verhalten und verhalten müssen.

Das Mädchen wird von der Mutter in die Welt eingeführt, indem sie sich grundsätzlich nur identifizieren muss, um eine eigene Existenz zu gewin-nen. Sie muss »nachahmen«, kann daher prinzipiell rezeptiv bleiben, da die nachzuahmenden Bilder und Gestalten ihr vorgeführt werden. Die Frau hat

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sozusagen eine wesentlich geringere seelische Leistung zu erbringen als der Mann, um zu einer seelischen Identität zu gelangen – nach C.G. Jung.

Anders ist es für den Jungen, der natürlich auch an die frühe Geborgen-heitserfahrung bei der Mutter anknüpfen möchte. Er findet aber sehr bald heraus, dass seine Individuation nur in der Abgrenzung und in der Flucht vor dem Seelenbild liegt, das die Mutter in ihm darstellt. Sonst findet er keine Autonomie. Der Mann muss sich also entwickeln, indem er Seiten in sich »abkoppelt«, um in der Persona seine »Aktivität« zu fördern. Sein Ent-wicklungsgang ist weit schwieriger und erfordert innere Brüche und Ab-grenzungen, während die Seele der Frau rezeptiv im Fließen bleibt – nach C.G. Jung. Zusammenfassung: Die psychische Haltung des sich Identifizierens weibli-cherseits und die des sich Unterscheidens männlicherseits bildet die grund-legenden Kontraste, von denen das Leben beider Geschlechter anhaltend bestimmt wird.52

Zu fordern ist, dass diese beiden Haltungen ineinander verschmelzen, die jeweils positive Seite des anderen komplementär aufnehmen. In dieser »Verschmelzung« würde in der Seelenkultur etwas nachgestellt, was die Naturwissenschaft längst erprobt hat. Aus Verschmelzung entsteht neue Energie, und es wird sogar ein Höchstmass an Energie gewonnen.53 Dies letztere ist eine mögliche Schlussfolgerung im Rahmen verschiedener An-sätze der feministischen Theologie. Sie wird in dieser Art von Christa Mu-lack und Hanna Wolff vertreten.54

Zu beachten ist, dass Jungs Gleichsetzung der Identifikation des Mäd-chens mit der Rolle der Mutter und der Abgrenzung des Jungen gegenüber der Rolle der Mutter in der feministischen Theologie weitreichende Kritik erfahren hat. Es geht in manchen feministisch- kritischen Überlegungen ge-radezu darum, dass Mädchen in der Abgrenzung gegen die traditionelle Rolle der Mutter und in der kritischen Übernahme männlicher Eigenschaf-ten lernen können, sich in ihrer Umgebung besser zu positionieren. Es wird generell davon abgesehen, Zuordnungen zu soziologisch bedingtem Rol-lenverhalten als psychologischen Tatbestand zu sehen.

Dennoch ist im Ansatz Jungs davon die Rede, dass generelle Einstellun-gen grundlegender Art wie etwa jahrtausende alte Zuschreibungen von Frauen- und Männer-Rollen zur »Sedimentschicht« der Psyche gehören; dies würde darauf schließen lassen, dass auch in der Gegenwart noch weit-

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gehend danach gelebt wird, und dass ein Wandel in dieser Hinsicht einen langen Prozess mit sich bringen wird.

Es ist auch kritisch zu sehen, dass von Christa Mulack behauptet wird, eine postulierte Verschmelzung männlicher und weiblicher Seelenanteile müsse in jeder Hinsicht eine positive Konsequenz haben. Verschmelzung kann in der Kernenergie zu großen neuen Energien führen, die dann aller-dings verschieden anwendbar sind. Generell ist es sicher schwer, von natur-wissenschaftlichen Kriterien her Analogien auf psychologische Sachverhal-te abzuleiten.

Deshalb soll der dargestellte Ansatz Mulacks lediglich eine Diskus-sionsgrundlage darstellen, die vor allem darin ihren Wert hat, mit ihr eine Sichtweise der Tiefenpsychologie als Kriterium in den Diskurs der feminis-tisch-theologischen Ansätze hinein zu bringen.

2.4.2 Die weibliche Gestalt des Göttlichen im Bewusstsein Jesu

Die »Maat« – die ägyptische Göttin der Weisheit – wird in ihren Eigen-schaften bezeichnet als »Wahrheit, Gerechtigkeit und Ordnung«. Sie ist im ägyptischen die Tochter des Weltschöpfers und -lenkers Re. In enger Be-ziehung zur Maat steht die Göttin Isis; beide wechseln sich als Herrscherin-nen über die Weltordnung ab.

Im Hellenismus – bei Philo von Alexandrien – schwebt die himmlische Weisheit in göttlichen Sphären, verwandelt sich in manchen Überlieferun-gen in den männlichen »Logos«, der als schaffendes oder geschaffenes Wort aus der göttlichen Höhe in die Welt zurückkehrt.

Der göttliche Logos als männliches Element wird vielfach auf Christus gedeutet und verdrängt damit die weisheitlich-weibliche Tradition in wei-ten Teilen des Neuen Testamentes, besonders bei Paulus.

Jesus dagegen wird55 als weit mehr mit der weiblichen Gestalt der Weis-heit verbunden angesehen, als es die Logos -Theologie nahe legt. Jesus selbst macht eine Entwicklung durch, die in ihm immer mehr die Anima-Seite seiner Seele ans Bewusstsein bringt. Dies zeigen die verschiedenen Formen, in denen er seine Wahrnehmung für die Situation der Frauen schärft, denen er begegnet.

Weisheit in den verschiedenen Gestalten der kulturellen Überlieferung tritt da auf, wo das patriarchale Ich-Bewusstsein überwunden wird, (dort) »beginnt die Weisheit der Anima.«56

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Was forschst du nach den Beleuchtungsarten des Mondes … was nach dem Wesen der anderen Sterne…? Was springst du als Erdenbewohner über die Wolken? … Nicht das, was über dir und oben ist, mein Lieber, sondern das, was dir nahe ist, betrachte; erforsche lieber rückhaltlos dich selber.57

Das patriarchale Ich-Bewusstsein verliert sich in der Erkenntnis und Be-herrschung der Welt nach außen. Wenn aber die Anima nicht verdrängt, sondern integriert wird, kann eine sinnvolle und ergänzende Innenschau möglich werden, die das Göttliche in der Seele des Menschen zutage fördert.

Zwei Schwangerschaften stehen am Beginn der Geschichte der christli-chen Botschaft. Beides sind keine »normalen« Schwangerschaften. Eine Frau war ihr Leben lang unfruchtbar und damit für die Vorstellungen der Zeit erniedrigt. Die andere war eine nicht verheiratete Frau, die ebenfalls durch ihre Schwangerschaft eine gesellschaftliche Ausgrenzung erfuhr. Für beide Frauen sind die Schwangerschaften damit Beweis einer göttlichen Tat. Sie reihen sich ein in alle Urmütter-Gestalten des Alten Testamentes, deren Schwangerschaften etwas Besonderes sind: ein geistig-schöpferi-scher Akt Gottes.

Männern in der Geschichte Jesu wird die typisch männliche Benenn-Funktion aberkannt, sie müssen schweigen (Zacharias), als sie das Kind se-hen, während die Frauen (besonders Maria) ihre Schwangerschaft als einen göttlichen Akt feiern, der sie erhebt.58 Der Mythos von der Geburt des Got-tes durch die göttliche Mutter, der alle alten matriarchalen Kulte durch-zieht, feiert im Neuen Testament in Maria und Jesus und ihren Vorläufer-Innen Elisabeth und Johannes eine Auferstehung.

Das Mutter-und-Sohn-Paar ist das Vorbild für die Liebe schlechthin und zieht sich durch alle Kulturen.59 Die Geburt in der Höhle – war es eine Kultstätte einer antiken Göttin unter einem Wohnhaus? –, Gold, Weihrauch und Myrrhe spielen auch als Gaben im Kult des Dusares, eines von einer jungfräulichen Mutter geborenen Gottes, eine Rolle.60

Die Versuchungsgeschichte zeigt, wie das Weiblich-Göttliche, das in Jesus begegnet und sich zur Innenschau in die Wüste zurückzieht, dem Männlich-Dämonischen begegnet und es mit seiner weisheitlichen Klugheit besiegt.61

Die Hochzeit zu Kana: Es ist Maria, die als Mutter die in Jesus schlum-mernden Kräfte ans Licht bringt, indem sie beharrlich seine Stärke aus ihm heraus ruft. Sie lässt ihn nicht los.

Die Beharrlichkeit der weiblichen Anima ist es auch, die Jesus in der ka-naanäischen Frau zu spüren bekommt. Sie folgt ihm so lange, bis sie ihr

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Ziel erreicht hat und er ihr Aufmerksamkeit schenkt und ihre Tochter62 heilt.

Schließlich ist es die Begegnung mit der Samaritanerin am Brunnen,63 die endgültig in Jesu Seele die Bestandteile seiner Anima ans Licht ruft, so-dass er sie integrieren kann. Er lernt langsam und verstrickt in Vorurteilen die wirkliche Situation der Frauen kennen und zu verstehen. So entwickelt er sich zu einem anima- integrierten Mann, der, je mehr er seinen Schatten integriert, sich zugleich auf seinen Leidensweg vorbereitet; denn er lebt in einer Gesellschaft, die eine solche Integration normalerweise bei einem Mann nicht vorsieht.

Maria und Martha und die Geschichte von der Salbung Jesu vor seiner Gefangennahme durch eine Frau finden folgende Deutung: Jesus kann in allen entgegengebrachten Formen der Frauen-Liebe seine Anima spiegeln und sie immer mehr zur Ganzheitlichkeit seiner Seele vervollkommnen. Jesus wird im Laufe seiner Entwicklung und auf dem Weg seiner Berufung der integrierte Mann, der seine weiblichen Anteile ins Bewusstsein erhoben hat, der als Logos in die Auferstehungswelt eingeht.

Leben ist Tod und Tod ist Leben; das heißt, der Tod muss durchlitten werden und durchs Mysterienleiden getötet werden. Vor dem Hintergrund dieser Auffassung ergibt sich eine innerste Einheit der frühen Wandlungsmysterien mit dem Auferstehungs-mysterium des Neuen Testamentes64.

Und Wandlungsmysterien sind die immer gleiche Wiederkehr von Geburt und Tod im Mythos der Grossen Mutter.

Auch hier gilt, dass in der neueren exegetischen feministischen Literatur nicht mehr von der Voraussetzung der »Großen Mutter« als flächendecken-der grundlegender Erfahrung der Kulturen ausgegangen wird. Es werden zwar aus früher Zeit Nachweise für existente Göttinnen-Kulte gegeben (Ausgrabungen in Ugarit bestätigen das), aber es ist nicht wirklich zu er-kennen, welchen Stellenwert die Göttinnen im Rahmen der gesamten Reli-gionen hatten.

Die These, dass das Matriarchat als die flächendeckende Urform der Menschheit zu gelten hat, wird von hier aus als Wunschdenken betrachtet, das in bestimmten Phasen der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts seinen Stellenwert hatte. Marie Theres Wacker setzt sich dazu in folgender Form mit dem Ansatz Christa Mulacks auseinander: Auch Mulack geht es um die psychische Ganzheit, die Frauen im religiösen Symbolsystem des einen männlichen Patriarchengottes nicht zugänglich ist. Um Zutrauen zu ihren eigenen Kräften und Fähigkeiten zu bekommen, um

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Perspektiven eines gegen die patriarchale Bevormundung widerständigen Handelns und Energien dafür zu gewinnen, brauchen Frauen das Symbol der Göttin als Projektion ihres weiblichen Selbst.«65

2.4.3 Maria – die geheime »Göttin«

Mit dem Referat einer weiteren Schrift Mulacks wird ihr Ansatz noch fort-führend dargestellt:

Die Jungfrau, die Mutter Gottes, die reine Magd und die Himmelsköni-gin – das sind die Titel, die Maria aus dem Erbe der vorderorientalischen Kulturen beigelegt wurden. Es sind Titel, die den Kulten der Göttinnen ent-lehnt sind; das Christentum dogmatisierte sie.

Wie schon bereits erwähnt, ist die Vorstellung von der Geburt Jesu durch eine Jungfrau eine symbolische Darstellung des Begriffes von der »Geburt durch den Geist«. Es geht in erster Linie darum, zu symbolisieren, dass hier eine Geburt aus dem göttlichen Urgrund heraus stattgefunden hat und dass damit die biologische Herkunft des göttlichen Kindes zweitrangig wird. Das Motiv der Geburt aus dem Geist gibt es auch in der Geburts-geschichte Buddhas, nicht nur bei Jesus.

Später, vor allem in der gnostischen und späten hellenistischen christli-chen Literatur, wurde diese symbolische Aussage legalistisch gedeutet. Man fing an, sich Gedanken zu machen über die biologischen Umstände der Jungfrauen-Empfängnis und der Jungfrauen-Geburt (berühmt ist die Geschichte von der »Empfängnis« Jesu durch das Ohr der Maria – denn in dieses hat ja der Engel seine Nachricht hinein gesprochen).

Für Christa Mulack ist die Geschichte der Mariendogmen eine einzige Selbstoffenbarung der Gottheit in der Geschichte, die alles Mögliche zu un-ternehmen scheint, um der Menschheit ihre Weiblichkeit zu signalisieren.66

Dogmen sind nach Mulack »in Worte übertragene Urbilder des Seins«, die von der Menschheit zu allen Zeiten in wechselndem Auftreten erfahren werden. Wenn Maria im Verlauf der Geschichte immer wieder auch Kin-dern erscheint, so heißt das, dass eine Reaktion auf die starke Vermännli-chung der Religion durch das Unbewusste der Menschheit vorgenommen wird. Da das Unbewusste auf einen Ausgleich aller Einseitigkeiten ausge-richtet ist, produziert es weibliche Bilder und Symbole des Göttlichen, um so die männliche Einseitigkeit zu kompensieren.67

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Der Ursprung der Mariendogmen ist Jahrtausende alt und liegt nicht in der Außenwelt, sondern in der menschlichen Seele.68 Dogmen entwickeln sich aus ursprünglichen Inspirationen durch den Heiligen Geist, insofern er eine das Bewusstsein transzendierende Kraft ist, die nicht voll mit dem Verstand erfasst werden kann – die sich aber andererseits des Bewusstseins des Menschen bedient.

Die »Jungfrauensymbolik« existiert in den Kulten der Ischtar und Isis, die »nicht empfangen und doch einen Sohn gebären«.69 »Alle Göttinnen der frühen ägäischen Kulte sind Jungfrauen und Mütter.«70

Als Große Göttin des Anfangs taucht sie aus dem Meer auf, tanzt und schwebt mit oder ohne Muschel über dem Meer und verwandelt sich schließlich in eine Taube. Über dem Chaos fliegend, legt sie das Weltenei, aus dem dann die Dinge der Welt entstehen. Die-ser Kern ist selbst im biblischen Schöpfungsmythos erhalten geblieben. Dort ist es die Ruach, die Heilige Geistin, deren Symbol ja auch die Taube ist, die über den Wassern schwebt und die Schöpfung einleitet. Wen wundert es nun, dass das Symboltier aller orientalischen Fruchtbarkeits- und Liebesgöttinnen die Taube ist?71

Neben der Symbolik für die gebärende Jungfrau gibt es in den antiken Kul-turen die Amazonen, die kriegerischen Jungfrauen und die Tempeljung-frauen (kultische Prostitution).

Aspekte des »Schattens« der Jungfrauenverehrung für die realen Frauen sind und waren: 1. Die Jungfrau und die Hure 2. Die Jungfrau als Feindin der realen Frau 3. Die Jungfrau als Freundin und Seelenführerin der realen Frau 4. Die Jungfrau als Urbild der Selbständigkeit der Frau (sie braucht den

Mann nicht). In diesem Sinne ist für manche Mystikerinnen und auch Ordensgründerin-nen die Jungfräulichkeit in erster Linie eine Geisteshaltung (Mechthild von Magdeburg, für die Maria zur Göttin wird: »Ihr Sohn ist Gott und sie die Göttin«).72 Ich verweise hier auch auf die Ausführungen über die Jung-frauen in der Gesellschaft der Heiligen Ursula, die Angela Merici gemacht hat – (Frauen, die ohne die Beherrschung oder Protektion eines Mannes leben).73

»Für heutige, insbesondere protestantische Frauen, stellt sich die Frage, was uns das Symbol von der Jungfräulichkeit vermittelt, beziehungsweise, welche von uns oftmals schmerzlich vermissten religiösen Erfahrungen im Umgang mit Weiblichkeit es eröffnen könnte.«74 – so fragt abschließend Christa Mulack.

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3 Unterschiedliche Geschichte von Frauen in beiden Religionen

3.1 Christliche Frauen-Orden

Tiefenpsychologisch fundierte Zugänge zum Verstehen religiöser Traditio-nen im Hinblick auf weibliche Anteile im Gottesbild und auf die Rolle der Frauen in der Religion können einen erweiterten Blick auf die Frauen in der Geschichte der Kirche eröffnen.

Wenn es heute auch nicht mehr unmittelbar im öffentlichen Bewusstsein präsent ist und vielleicht auch aufgrund der weitgehend unbekannten Tradi-tion nicht unmittelbar einleuchtet, so ist doch eine Betrachtung der Ge-schichte der Frauenorden der katholischen Kirche gleichzusetzen mit einer Studie von kritischen kirchen- und gesellschaftskritischen Positionen von Frauen innerhalb vieler Jahrhunderte. Es lässt sich erkennen, dass von dem Wirken und den Persönlichkeiten der Gründerinnen von Frauenorden we-sentliche vorwärts weisende Impulse für das Wachsen und die Veränderung der Kirche in ihrer jeweiligen Zeit ausgingen.

Für die Gesamtschau der Bedeutung von Frauen als Tradentinnen spiri-tueller Impulse in der Kirche ist aber historisch weit vor der Entstehung monastischer Orden anzusetzen.

Erste Traditionen einer speziellen Überlieferung weiblicher Spiritualität in der Zeit nach der Entstehung der Bibel sind im 4. und 5. Jahrhundert zu finden. In den »Apophtemata Patrum«1 ist die Weisheit der in der Wüste le-benden EinsiedlerInnen aufgezeichnet.

Die drei Wüstenmütter des 4. und 5. Jahrhunderts – Sarrha, Synkletia und Theodora –, deren Sprüche uns in einer Sammlung der »Apophtegmata Patrum« überliefert wurden, stehen für viele andere, deren Namen verborgen blieben. Sie waren Asketinnen und zu-gleich Lehrerinnen und Seelsorgerinnen in einer besonderen, uns bis heute berührenden Prägung. Im bewussten Abstand zur Luxusgesellschaft des unterdrückenden römischen Reiches gestaltete sich eine bodenständige koptische Lebensform, so etwas wie eine so-

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ziale Gegenwelt. Man zog aus der Tyrannis der Triebe und Bedürfnisse, des Luxus und der Unterdrückermechanismen aus und in die Freiheit der Armut und Familienlosigkeit, schließlich auch in die Freiheit von römischer Bildung und Herrschaft ein … Nur die ständige Ausrichtung auf Gott, das Eingedenksein Gottes, der »eine und einzige Kampf des Herzens« … lieferte die Kräfte, den Kampf in der Einsamkeit, in der Wüste mit sich selbst, den Dämonen und der harten Natur zu bestehen und eine neue geistliche und so-ziale Identität zu gewinnen.2

Aber trotz dieser gemeinsamen Zielsetzung fühlten sich die Männer durch ihren gesellschaftlichen Status den Frauen überlegen:

Ein anderes Mal kamen zwei Altväter … zu ihr. Und da sie fort gingen, sprachen sie zu-einander: »Wir wollen dieses alte Weib demütigen!« Und sie sprachen zu ihr: »Schau zu, dass sich dein Denken nicht überhebt« und du sprichst: »Siehe, … sie kommen zu mir, die ich ein Weib bin.« Amma Sarrha antwortete ihnen: »Wohl bin ich der Natur nach ein Weib, nicht aber dem Denken nach.«3

In dieser Zeit wurden ganz offenbar geistige und religiöse Qualitäten auch im Christentum als männliche Eigenschaften eingeordnet. Wenn eine Frau also denken konnte, so hielt sie sich selbst für einen Mann. So ließ sich Sarrha nicht beeindrucken und teilte ihren Brüdern mit: »Ich bin ein Mann, ihr aber seid Weiber.«4 Bemerkenswert ist, dass sie, um sich selbst zu be-weisen, auf eine Umkehrung der Geschlechterverhältnisse hin zielt.

Insgesamt beweist der Dialog, dass schon in der Frühzeit der überliefer-ten christlichen Spiritualität in Hinblick auf Wertungen der Geschlechter Kontroversen entstanden sind.

Fast in jeder Epoche der Kirchengeschichte gab es Gründe, aus denen heraus sich Menschen entschlossen, einen neuen und ihrer Meinung nach der christlichen Überlieferung näheren Weg der Nachfolge Jesu einzuschla-gen. Zeitgeschichtliche Bedürfnisse wechselten, und es gab immer wieder geistliche und politische Missstände zu beobachten. Soziale Ungerechtig-keiten und Mangelerscheinungen ihrer Gesellschaft haben Frauen und Männer veranlasst, ihr Leben dem Aufbruch zu besseren Zielen des Mitein-anders zur Verfügung zu stellen. Das frühe Mittelalter ist in dieser Hinsicht eine besonders wichtige Epoche.

Herausragende Menschen waren in dieser Zeit Franziskus und Clara von Assisi und ihre Anhänger.

In späteren Jahrhunderten haben andere auf den von ihnen gelegten Fun-damenten aufgebaut. Hildegard von Bingen, Teresa von Avila oder Mecht-hild von Magdeburg haben in ihrer Zeit neu beschrieben, vor allem gelebt, was authentische Spiritualität sein und bewirken kann. Sie haben das im Regelfall in erheblichem Widerstand zu ihren eigenen familiären Lebens-

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umständen getan. Auch die Kirche ihrer jeweiligen Zeit hat ihnen oft Steine in den Weg gelegt, wenn nicht gar manchmal ihre Existenz bedrohende Maßnahmen gegen sie und ihre Gemeinschaften ergriffen.

Exemplarisch werden hier einzelne Frauen-Orden und die Geschichte ihrer Gründerinnen betrachtet. Die Biographien der Frauen sind zunächst wichtige Beiträge zur Geschichte der christlichen Kirche und als zeitge-schichtliche Dokumente auch Aussagen über die jeweiligen Gesellschaften in ihren Epochen. Die dargestellten religionspsychologischen Inhalte lassen gelegentliche Blicke auf den Islam und seine Frauengestalten – und weibli-chen Seelenbilder zu.

Im Christentum lässt sich eine lange, literarisch dokumentierte spirituel-le Tradition von Frauenleben und -denken verzeichnen, meistens von Frau-en selbst aufgezeichnet. Ordensmitglieder der Ursulinen, der Franziskane-rinnen und der Klarissen gaben mir die Gelegenheit, die Geschichte ihres jeweiligen Ordens, ihre heutige Situation, ihre Fragestellungen und Proble-me im Hinblick auf das Leben und die Spiritualität ihrer Gemeinschaften zu erörtern.

In manchen Fällen wurde detaillierte Literatur über die Geschichte des Ordens überlassen. Diese soll nun beispielhaft für das Suchen nach den Quellen weiblicher Spiritualität in der Geschichte und darüber hinaus in der heutigen Situation der Kirchen sprechen. Im Rahmen der Beantwortung eines Fragebogens und innerhalb von einer kleineren Anzahl von persönli-chen Interviews haben sich dankenswerter Weise viele Schwestern aus den genannten Orden an dem Entstehen der Studie beteiligt.

3.1.1 Ursulinen

3.1.1.1 Die Gründerin Angela Merici

Zwischen 1470 und 1475 wurde Angela Merici in Desenzano del Garda ge-boren. Von der Familie ihres Vaters her besaß sie ein kleines Landgut, ihre Mutter stammte aus einer adligen Familie in der Stadt Salo, die ebenfalls am Gardasee gelegen war. Der Vater konnte lesen und schreiben, was zu dieser Zeit eher selten war. Er bewirtschaftete mit der Familie sein Land-gut.

Angela verlebte eine kurze, glückliche Kindheit im Kreise von mehreren Geschwistern; auch sie lernte über das damals übliche Maß hinaus lesen und schreiben und konnte die lateinische Sprache verstehen. Ihr Vater las

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ihr in ihrer frühen Kindheit schon Heiligenlegenden vor, so dass ihre Phan-tasie sich bereits in sehr jungen Jahren in die Welt des christlichen Glau-bens und der katholischen Tradition der mittelalterlichen Kirche einlebte.

Leider verstarben Angelas Eltern früh, auch verlor sie in der Kindheit bereits ihre ältere Schwester.

Sie lebte ab ihrem achtzehnten Lebensjahr in der Familie ihres Onkels in Salo. Dieser führte ein in gesellschaftlichen Umgangsformen gewandtes und für die kulturellen Gepflogenheiten der Zeit offenes Haus. Angela lern-te zugleich damit das gesellschaftliche Leben ihrer Epoche kennen, wobei sie sich in ihrer eigenen Lebensform früh davon abgrenzte.

Sie regelte ihren Tagsablauf gemäß den Zeiten, die sie zu Rückzug, Ge-bet und Meditation benötigte und half sonst selbstverständlich in allen An-gelegenheiten des Haushaltes in der Familie ihres Onkels mit.

In Salo kam Angela in Kontakt mit dem dort ansässigen Franziskaner-kloster. Sie wurde Mitglied des Dritten Ordens der Franziskaner, eine Ter-tiarin. Sie hielt sich in ihrer Lebensweise an die Regeln der Franziskaner, ohne, wie diese, dabei in der Klausur der klösterlichen Abgeschiedenheit leben zu müssen. Durch diese Zugehörigkeit zum Dritten Orden der Fran-ziskaner erwuchs aber in ihr eine Vorstellung von einem gemeinschaftli-chen Leben, die immer mehr Gestalt annahm. Zu der speziellen Ausprä-gung der Tertiaren gehörte auch ihr apostolischer Dienst – vor allem im Bereich der Seelsorge und geistlichen Begleitung der Menschen. Kranke besuchen, Hungrige speisen, Durstige tränken, Nackte bekleiden, Fremde beherbergen, Gefangene befreien und Tote begraben gehörten zu den »leib-lichen« Werken, die nach dem Matthäusevangelium jedem Mitglied der Gemeinschaft aufgegeben sind.

Zu diesen gesellten sich in der frühen »Neuzeit« die »geistlichen« Wer-ke, die als Antwort auf die Verunsicherung einer Epoche gedacht waren, in der das ganze Weltbild durch Eroberungen und Entdeckungen aus den For-men geriet, die die mittelalterliche Gesellschaft entwickelt und vorgegeben hatte.

So musste man Unwissende belehren, Zweifelnden raten, Trauernde trösten, Sünder zurechtweisen, dem Beleidiger verzeihen, Lästige und Schwierige ertragen, für alle beten. Auch das war zunehmend die Aufgabe der geistlichen Gemeinschaften dieser Zeit – also im engeren Sinne eine Verpflichtung für Seelsorger.

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Solchen Aufgaben unterzog sich der »Dritte Orden«, der mehr in Zu-wendung an die Welt arbeitete und lebte als die Mönche und Nonnen in den Klöstern.

Angela Merici bildete eine persönliche Begabung für die Seelsorge aus und war geschätzte Ratgeberin für viele Menschen in Trauer oder Konflik-ten. Unter diesen Personen befanden sich auch hochgestellte Persönlich-keiten ihrer Zeit, die sie als geistliche Ratgeberin und »Geistliche Mutter« betrachteten, wie etwa der Herzog von Mailand.

Als Seelsorgerin und Tröstende wurde sie im Alter von 40 Jahren von ihrem Orden nach Brescia entsandt, um einer durch den Tod mehrerer Fa-milienmitglieder betroffenen Witwe in ihrer seelischen und materiellen Notlage beizustehen.

Brescia blieb der Ort ihres Wirkens bis zu ihrem Tod im Jahre 1540. Hier wechselte sie mehrmals die Wohnung, war zunächst Gast von Men-schen, die sie bewunderten, ihre spirituelle Begabung und Tiefe erkannten und als geistliche Ratgeberin beherbergten, später finanzierte sie ihre eige-ne Wohnung aus dem Erlös der Verpachtung ihres kleinen Besitzes und aus eigener Arbeit, vorwiegend innerhalb der Hauswirtschaft.

Mit Familienangehörigen unternahm Angela eine Pilgerreise nach Jeru-salem, sie lebte für eine Weile in Venedig und besuchte Rom, wo sie vom damaligen Papst empfangen wurde. Nach der Legende wurde sie von die-sem gebeten, in Rom zu bleiben, wie man sie auch in Venedig und Mailand gerne behalten hätte. Dies ist nicht unbedingt durch literarische Quellen belegt und könnte eher dem Zweck gedient haben, den Ort der Berufung, Brescia, und die Bedeutung der Berufung besonders zu betonen.

In einer Berufungsvision sah Angela den Himmel geöffnet und darin ihre verstorbene ältere Schwester zu ihr sprechen. Diese erteilte ihr den Auftrag, für Frauen und Mädchen im Sinne des Evangeliums zu wirken.

Angelas Lebenswerk bestand zunehmend darin, Frauen aus armen Fami-lien oder Dienstbotinnen in ihrer Gemeinschaft einen Platz anzubieten, in dem sie ein sinnerfülltes und würdevolles Leben führen konnten. Denn in ihrer Zeit galt das Leben einer Frau nur dann als ehrenvoll, wenn sie ver-heiratet war oder innerhalb den Mauern eines Klosters untergebracht war. Da aber beide Lebensformen eine Mitgift voraussetzten, wurde der Mangel an familiären Mitteln für eine Aussteuer, also ihr Sozialstatus von Geburt an zum größten Hindernis für die Frauen, um ihre Würde zu behalten. Sie mussten sich dann in fremden Familien als Hausangestellte durchschlagen oder konnten eigenständig in manchen Fällen nur als Prostituierte über-

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leben. Sie vor einem solchen Schicksal zu bewahren und diesen Frauen ein selbstständiges Leben zu ermöglichen, war das »revolutionäre« gesell-schaftliche Anliegen Angelas, das sowohl in ihrer eigenen Zeit als auch noch in späteren Jahrhunderten immer wieder Anstoß erregte. Letztlich konnte ihr Ansatz in dieser Weise in vielen Ländern nicht aufrechterhalten werden, und die Gemeinschaft der Ursulinen wurde im 17. Jahrhundert um ihres Engagements und Auftrages willen fast überall zu einem monasti-schen Orden mit dem Apostolat zur Erziehung und Bildung von Mädchen umgewandelt.

Angela versammelte ihre »Schwestern« um sich zu regelmäßigem, geistlichem Leben, zu Gebet und Schriftlesung, zum wöchentlichen, wenn möglich täglichen Empfang der Eucharistie. Für den Zeitgeist war es eine Neuheit, die Eucharistie mehr als zwei bis dreimal im Jahr zu feiern.

Angela aber gründete das geistliche Leben der Frauen geradezu auf den häufigen Empfang der Eucharistie und damit der erneuernden Gemein-schaft mit Christus. Ansonsten lebten sie alle in ihren jeweiligen privaten Bezügen, in ihren eigenen Familien oder in den Familien, in denen sie ar-beiteten, und sie kamen nur für ihre spirituelle Gemeinschaft regelmäßig zusammen. Sie verpflichteten sich, in ihrer weltlichen Umgebung gemäß ihrer geistlichen Prägung und Gemeinschaft zu wirken.

Angela Merici wollte keinen Orden gründen, schon gar nicht eine klös-terliche Gemeinschaft hinter Mauern, als sie am 25.November 1535 mit 28 Frauen aus ihrer Gemeinschaft nach dem Empfang der Eucharistie die »Ge-meinschaft der Heiligen Ursula« gründete, zu der sich alle mit ihrer Unter-schrift verpflichteten. Regeln für diese Gemeinschaft stellte Angela in ihren letzten Lebensjahren auf und diktierte sie ihrem Sekretär Gabriele Cozza-no, da sie selbst nicht in ausreichender Weise lateinisch schreiben konnte.

Als Angela 1540 starb, war ihre Gemeinschaft auf die Zahl von 150 Mitgliedern gewachsen.

Angela wurde nicht, wie es für die Tertiaren des Franziskanerordens üb-lich war, in einer Franziskanerkirche bestattet. Sie konnte ihren Wunsch durchsetzen, eine eigene Kirche in Brescia für ihre Beisetzung zu wählen, die sie schon zu Lebzeiten nach eigenen Angaben künstlerisch hatte aus-statten lassen. Allerdings wurde sie im schlichten grauen Gewand der Ter-tiaren des Franziskanerordens bestattet.

Nach ihrem Tod wurde der so genannte »Prozeß Nazari« begonnen. Ein Anwalt gleichen Namens sammelte Dokumente und Aussagen über Erfah-rungen und Erlebnisse mit Angela, die deren Visionen, ihre spirituelle Be-

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gabung, ihre seelsorgerliche Ausstrahlung belegen sollten. So sollte dem Papst nahe gelegt werden, sie heilig zu sprechen. Dies geschah, nach vielen Wegen und Entwicklungen der Gemeinschaft und des Ordens, erst im 18. Jahrhundert.

Sehr schnell zeichneten sich aber, bedingt durch Einfluss- und Ausle-gungsunterschiede, nach Angelas Tod Spaltungen innerhalb der Gemein-schaft ab; sie stellten zeitweise eine ernsthafte Gefährdung für deren ge-samtes Überleben dar.

3.1.1.2 Geschichte des Ursulinenordens

Zeitgleich mit der Entstehung der Gesellschaft der Jesuiten, wollten auch die Ursulinen sich als eine Gemeinschaft verstehen, die zwar nach den apostolischen Räten Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam lebt, dies aber nicht in der Abgeschiedenheit des monastischen Lebens verwirklichen wollte.

Man wollte in weltlichen Gemeinschaften zusammen sein, die sich der Arbeit an den Menschen verpflichtet fühlt. In den Anfängen bedeutete das, bedingt durch die hohe geistliche und seelsorgerliche Ausstrahlung der Gründerin, eher eine seelsorgerliche und karitative Ausrichtung, die sich immer der Armut anderer Menschen verpflichtet sah, ob sie materiell, see-lisch oder geistlich begründet war.

Leider war aber diese freie, gemeinschaftliche Lebensweise innerhalb der Gesellschaftsformen der Zeit für Frauen zu ungewöhnlich, und so wur-den die Kongregationen der Ursulinen immer wieder beargwöhnt und ange-feindet. Selbstständig lebende Frauen, die nicht verheiratet waren und nicht hinter dicken Mauern verborgen blieben, konnte man nicht verstehen und ertragen. Das entsprach nicht dem Ehrgefühl für eine Frau in dieser Zeit.

So haben schließlich die Mitglieder der Ursulinengemeinschaften selbst den Angeboten der katholischen Kirche, ihre Gemeinschaft als einen regu-lären Orden mit Regeln und unter dem Schutz des Papstes zu etablieren, zögernd und schrittweise zugestimmt, zunächst in Mailand, wo die Ursuli-nen eine große Aufgabe in der Errichtung von Schulen und der Ausbildung von Mädchen aus einfachen Familien fanden.

Später breitete sich der Orden in Frankreich aus, beginnend in Bor-deaux. Dort entwickelte er sich ebenfalls vor allem zu einem Schulorden, d. h. das Selbstverständnis der Ursulinen neigte sich immer mehr dahin, ihre Aufgabe nicht mehr in der allgemeinen Seelsorge und Fürsorge, son-dern in der Ausbildung und der Erziehung von Mädchen zu sehen und ent-

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sprechende Primarschulen, aber auch weiterführende Schulen mit Pensio-naten zu führen.

Diese Entwicklung setzte sich über die Jahrhunderte fort und fand eine erste deutliche Unterbrechung in der Zeit der Aufklärung, in der die Unter-richtstätigkeit großenteils untersagt und die Klöster geschlossen wurden.

Die zweite große Herausforderung für das gesamte Überleben des Or-dens lag in Deutschland in der Zeit von 1933-1945, in der die Schulen ge-schlossen, die Klöster oft enteignet oder im Zweiten Weltkriege zerstört worden sind.

Der Ursulinenorden hat sich im Verlauf der Jahrhunderte als ein Schul-orden über die ganze Welt verbreitet. Ursulinen sind zusammen mit den Je-suiten als erste Missionare in Kanada gelandet und haben somit als erste katholische Missionare den gesamten nordamerikanischen Kontinent be-treten.

In Deutschland gibt es seit 1964 eine »Föderation Deutschsprachiger Ursulinen«, in der sich 28 Klöster zusammengeschlossen haben, um in de-mokratischer Absprache das Leben der Ursulinengemeinschaft in spirituel-ler und verwaltungsmäßiger Verbindung zu regeln.

Allerdings gibt es neben den Klöstern noch andere Lebensformen für die Ursulinen: das Säkularinstitut der Heiligen Ursula, d. h. eine lockere Form des Lebens nach den Klosterregeln; sie erfolgt besonders dann, wenn das Apostolat, d. h. die Zuwendung zu anderen Menschen eine vorüber-gehende oder auch längere Lebensform erfordert, die außerhalb des Kon-ventes liegt.

Die alte ursprüngliche Form der Ursulinengemeinschaft, wie sie Angela Merici intendiert hat, existiert noch unter dem Namen »Compagnia di Sant’ Orsola« – in Italien.

3.1.1.3 Grundlegende Schriften

Angela Merici hat ihrem Sekretär Gabriele Cozzano grundlegende Regeln für die Gemeinschaft der Hl. Ursula diktiert.5

Im Namen der heiligen und ungeteilten Dreieinigkeit: Geleitwort für die neue Lebens-weise, die die Jungfrauen als Gemeinschaft der heiligen Ursula zu führen begonnen ha-ben. Den geliebten Töchtern und Schwestern der heiligen Ursula.

»Töchter« sind die »normalen« Mitglieder der Gemeinschaft, die leitenden Frauen nennt Angela »Mütter«.6 Diese werden vom Konvent der Nonnen gewählt. »Mütter« müssen nicht notwendigerweise Jungfrauen sein, die sich in Ehelosigkeit Jesus geweiht haben; es können auch verwitwete Frau-

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en sein, die ihre Erfahrung und manchmal auch ihren Besitz der Gemein-schaft zur Verfügung stellen. Außerdem gehörten mindestens zu Angelas Lebzeiten auch vier Männer in den leitenden Rat der Gemeinschaft. Sie sollten angesehene Bürger der Stadt sein, und sie sollten den Schwestern in Rechtsangelegenheiten, in Regelungen ihrer finanziellen Situation oder, wenn diese sich irgendwo ungerecht behandelt fühlten, helfend beistehen. So war Angela klug genug, die gesamte weltliche Lage ihrer Schwestern mit ins Kalkül zu ziehen und entsprechend abzusichern.

Euch, meine herzlich geliebten Töchter und Schwestern, hat Gott die Gnade erwiesen, euch von der Dunkelheit dieser unglücklichen Welt zu trennen und euch zusammenzu-schließen, um seiner göttlichen Größe zu dienen … Denn wie viele Angesehene sowie Menschen in unterschiedlichen Lebensverhältnissen haben es nicht und werden solche Gnade nicht erhalten.7

Bereits in der Einleitung ihrer Regel weist Angela auf die soziale Kompo-nente hinter der Gründung ihrer Gemeinschaft hin: Den weniger Angesehe-nen, den nicht Privilegierten, eine Berufung in der Welt und vor Gott zu verschaffen, die ihnen und Gott zur Ehre gereicht.

Für die Frauen in Angelas Gemeinschaft geht es vor allem um die Be-wahrung der Jungfräulichkeit, was zum einen ein Stück Unabhängigkeit von der Welt bedeutet, in der Frauen sonst nur in Beziehung und Abhän-gigkeit zu Männern leben konnten. Zum anderen sind sie damit aber auch mit ihrem ganzen Wollen und Wünschen auf Christus als ihrem »Bräuti-gam« hin ausgerichtet.

Es ist bemerkenswert, wie sie den »Müttern« die Sorge um die »Töch-ter« aufträgt und dabei ein geläufiges gesellschaftliches Modell ihrer Zeit wählt: Eine »weltliche Mutter« hat in der Regel die Sorge, ihre Tochter so schön wie möglich herauszuputzen, damit diese dem Bräutigam gefällt. Und wenn die Tochter gefällt, hat die Mutter damit die indirekte Hoffnung, auch noch etwas von dem Glanz der Sympathie des Schwiegersohnes zu erhaschen.

So sollen sich auch die »geistlichen Mütter« um ihre »Töchter« bemü-hen, immer in dem Wissen, dass sie damit dem Bräutigam ihrer Töchter, Christus, gefallen. Ansonsten sollen die »Mütter« danach sich ausrichten, als Vorbild gesehen zu werden.

Lebt und verhaltet euch so, dass sich eure Töchter in euch spiegeln können. Tut zuerst selbst, was ihr von ihnen verlangt.8

Der Umgangston, den Angela empfiehlt, ist von ihrer grundsätzlich seelsor-gerlich geprägten Grundhaltung durchdrungen:

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Seid wohlwollend und menschlich zu euren Töchtern. … Denn ihr erreicht mehr mit Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit als mit scharfen Worten und hartem Tadel; …. Wenn ihr eine der Schwestern verzagt und furchtsam seht und zur Verzweiflung ge-neigt, dann stärkt sie, macht ihr Mut, versprecht ihr Gutes von der Barmherzigkeit Got-tes, weitet ihr das Herz mit jeder Art von Trost.9

Mit den theologischen Zeitläuften geht Angela in ihrem Vermächtnis an die »Mütter« sehr gelassen um. Die Häretiker, die in dem Ruf stehen, etwas Falsches zu lehren, solle man in Ruhe lassen und sich selbst überlassen.

Denn es ist besser, dem zu folgen, was sicher ist ohne Gefahr, als dem Unsicheren, das Gefahr in sich birgt. … Die anderen Ansichten, die jetzt aufkommen und noch aufkom-men werden, lasst vorübergehen, als ob sie euch nichts angingen. Betet aber, und veran-lasst andere, zu beten, dass Gott seine Kirche nicht verlassen, sondern erneuern möge, wie es ihm gefällt…10

So hatte Angela keinen Ehrgeiz in der theologischen Lehre. Sie wollte mit ihrer Neuerung in der Gestalt der katholischen Kirche lediglich einen ein-geständigen Lebensraum für Frauen aus meistens einfachen Verhältnissen schaffen – einen Raum, der nicht notwendig durch Ehe oder Klostermauern oder sozialen Abstieg definiert sein muss.

Die Regeln selbst haben durchaus den Charakter von Klosterregeln. Es gilt,

… alle Mittel und Wege zu erstreben, die notwendig sind, um durchzuhalten und voran-zuschreiten bis zum Ende. Denn es genügt nicht, anzufangen, wenn man nicht durch-hält.11

Die Schwestern sollen sich unauffällig kleiden, sie sollen sich nicht auf Märkten, offenen Plätzen und Balkonen aufhalten, nicht zu leichten Ver-gnügungen gehen, nicht allzu viele Kontakte mit Männern pflegen, auch nicht mit den Priestern. Denn Angela erkannte, dass auch über die geistli-che Gemeinschaft eine seelische Beziehung und damit eine Versuchungs-situation entstehen können. Diese Abwendung vom eigentlichen geistlichen Ziel wollte Angela ihren Schwestern ersparen.12

Fasten und Beten werden als selbstverständliche Regel empfohlen, auf jeden Fall im Rahmen der allgemeinen Fastenzeiten der katholischen Kir-che, darüber hinaus das freie Studium meditativer Texte und geistlicher Anregungen. Wer nicht lesen und schreiben kann, soll stattdessen dreiund-dreißig Vaterunser beten und dreiunddreißig Ave Maria.13

»Dreiunddreißig« war zu dieser Zeit das angenommene Lebensalter, das Jesus erreicht haben soll, und zudem ist die Doppelung der Zahl »Drei« als die Vollendung der Trinität anzusehen und damit besonders heilig. So kön-

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nen sich auch die, die nicht über die angemessene Bildung verfügen, in einem anderen Sinne geistlich vervollkommnen.

Der tägliche Besuch der Messe, der tägliche Empfang des Abendmahls, die häufig praktizierte Beichte, vor allem auch der Gehorsam als bindende Qualität jedes geistlichen Lebens stehen im Mittelpunkt der Regeln von Angela Merici. Bei aller Strenge verfasst sie ihre Regeln mit einem seelsor-gerlichen Unterton.

Schließlich ermahnen wir jede, die Armut hochzuschätzen, nicht nur im Hinblick auf materielle Dinge, sondern vor allem die Armut im Geiste, durch die der Mensch sein Herz von jeder Anhänglichkeit und Hoffnung auf geschaffene Dinge und auf sich selbst befreit. In Gott hat er alle Güter, und er weiß, dass er ohne Gott ganz arm und ein völli-ges Nichts ist und dass er mit Gott alles hat.

Angelas geistiges Vermächtnis lässt sich mit ihren eigenen Worten so zu-sammenzufassen: »Habe leidenschaftliche und selbstlose Liebe, und du kannst tun, was dir gefällt.« In Bezug auf den Umgang mit anderen Men-schen empfiehlt sie, nicht nur Namen einzuprägen, sondern auch die Her-kunft, die Veranlagung, das ganze Sein und Leben. »Vor allem aber hütet euch, etwas mit Gewalt durchsetzen zu wollen.«

Gabriele Cozzano, dem sie ihre Regel und ihr geistliches Vermächtnis diktierte, formulierte ein Vorwort dazu. Er unterstreicht den hohen Wert der geistlichen Gemeinschaft, die Angela zum Leben erweckt hat. In den Zeiten des Verfalls, in denen er lebe, sei hier ein neuer Zugang zu urchrist-lichen Lebensformen geschaffen worden. Es sei ein Mittelweg zwischen Ehe und Kloster geschaffen worden, der vielen Menschen entspreche und ihren Möglichkeiten entgegenkomme.

Wer weiß, ob dies nicht vielleicht ein von Gott gewirkter Anfang zur Neugestaltung der Kirche ist. Hat man nicht schon vorausgesagt, dass in Kürze eine solche Veränderung bevorstehe? Kann es denn eine bedeutendere, ja überhaupt eine andere Neugestaltung der Kirche geben als die Erneuerung des Geistes und die Umgestaltung des Lebens ge-mäß den Werken und der Wahrheit des Glaubens, den schon die Apostel als erste grund-gelegt und in das Herz der Welt eingepflanzt haben?14

Sie führen keine Neuerung ein; sie streben nur danach, sich selber und durch ihr Bei-spiel auch andere zu erneuern … Sie verlangen nach allem Guten, sind voll Lebenskraft und Freude und strahlen gleichsam Liebe zu den göttlichen Dingen aus. Wer ist denn so neidisch und boshaft, dass er es wagte, hier frech den Mund zu öffnen?

Und schließlich resümiert er: Es werden hier keine Gesetze als Verpflichtung, sondern Ratschläge aus Liebe ge-geben.15

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Soweit sprechen die originalen Texte der Angela Merici und ihrer Anhän-ger. Nachdem sie diese Weisungen verfasst hatte, starb Angela bald und hinterließ als Nachfolgerinnen unter den »Müttern« gebildete Frauen aus adligen Familien, die über Einfluss und Kontakte in Kirche und Gesell-schaft verfügten. Dies hatte verschiedene Wirkungen: zum einen garantier-te es das Überleben der Gemeinschaft aufgrund der aufrechterhaltenen Be-kanntheit – zum anderen gerieten diese Frauen untereinander in Rivalitäten und Auslegungsstreitigkeiten, die Angelas Vermächtnis und dem Anliegen der Sache nicht so dienlich waren.

Heute gibt die Föderation deutschsprachiger Ursulinen »Weisungen für das gemeinsame Leben im Orden der Ursulinen« heraus. Diese enthalten die wesentlichen Ansätze der Regeln Angelas, in eine zeitgemäße, der heu-tigen Lebensrealität des Ordens und der angegliederten Säkularinstitute an-gemessenen Form.

Ich beziehe mich auf eine Ausgabe aus dem Jahre 1987, in Rom ediert.16 Der Orden der Ursulinen ist in allen grundsätzlichen Fragen direkt Rom unterstellt und erhält von dort Empfehlungen für die Gestaltung seiner Lebensform.

Unser Erbe ist Angelas Denken und Tun. Es war erfüllt von der Liebe zum gekreuzigten und auferstandenen Herrn, der sein Leben für alle hingegeben hat.

Es ist der Auftrag der Ursulinen, das Werk der Heiligen Angela in ihrem Geist weiterzu-führen. Ein wichtiger Punkt dabei ist aber, sich den veränderten Zeiten anzupassen, so dass eine wirkliche Rezeption des Geistes der Heiligen Angela möglich wird.

In den letzten Worten, die Angela an ihre Gemeinschaft richtet, fordert sie uns zu stän-diger Offenheit auf: »Wenn Zeiten und Erfordernisse in irgendeinem Punkt neue oder veränderte Bestimmungen verlangen, so stellt diese mit Klugheit auf und nach weisem Rat. Und immer sei eure erste Zuflucht zu den Füßen Jesu Christi.«17

Dies ist ihr letztes Vermächtnis. Die Gemeinschaft der Ursulinen ist »nicht nur eine Gemeinschaft in der

Kirche, sondern selbst Kirche«. »Liebe und Rücksicht sind der Maßstab für Reden und Schweigen. Durch Schweigen wächst die Fähigkeit des Hörens und wird das Gespräch mit Gott und den Menschen vorbereitet. Darum braucht die Gemeinschaft den Raum und die Zeiten der Stille«.

Die Schwestern verpflichten sich zu einem einfachen, unauffälligen Le-bensstil in Kleidung, Wohnung und allem sonstigen Auftreten Als Zeichen der Armut wird das allen gemeinsame gleiche Ordenskleid getragen. Es kann aber aus gewichtigen Gründen (etwa Arbeit außerhalb des Ordens, die Verfasserin) erlaubt werden, das Ordenskleid mit einer einfachen weltli-chen Bekleidung zu tauschen.18

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Jede Schwester muss persönliche Formen der Armut finden, die sie dem Herrn ähnlich machen und durch die sie die Verbundenheit mit der Armut dieser Welt bezeugen kann.19

Unsere Armut wird im letzten nicht am Maß von Besitz und Verzicht gemessen, son-dern sie orientiert sich an der Gemeinschaft und an der Zugehörigkeit zu den Menschen, zu denen wir vom Herrn gesandt werden. Im Hinblick auf die Botschaft Jesu sind alle Menschen Arme und Hilfsbedürftige. Gemeinsam mit ihnen zu Gott zu gehen, verlangt von uns, dass wir nach den Worten des Apostels »allen alles werden, um einige zu ge-winnen«.20

Der Konvent feiert täglich die heilige Eucharistie, an der nach Möglichkeit alle Schwes-tern teilnehmen. … Im kirchlichen Stundengebet treten wir mit Lob, Dank und Fürbitte für das Heil der Welt ein. … Jede Schwester soll sich eine Stunde am Tag, wenigstens aber eine halbe Stunde für das persönliche Gebet Zeit nehmen. … Wir verehren Maria als Mutter des Erlösers und »als überragendes und völlig einzigartiges Glied der Kir-che.21

Postulat, Noviziat, Juniorat (letzteres im Normalfall über den Zeitraum von drei Jahren mit zeitlicher Profess, danach ist bis zu zweimalige Verlänge-rung dieser Phase möglich, die Verfasserin) werden in dem Dokument ge-regelt, mit möglichen Ausnahmen; dahinter stehen Vorgaben und Vor-schriften über die Wahl der Oberin und der gesamte Leitung des Klosters und der Föderation, über die Verwaltung des Besitzes, über die Zusammen-arbeit der einzelnen Klöster innerhalb der Föderation. Diese Regeln, die insgesamt eine demokratische Ausrichtung haben, binden die einzelnen Mitglieder des Ordens. Gleichzeitig bleibt bei aller formalen Bindung an Richtlinien eine innere Freiheit, die im Verstehen und Anwenden der geist-lichen Regeln der Heiligen Angela und ihrer Töchter begründet ist. Immer wieder gilt der Grundsatz der Heiligen Angela, die Angelegenheiten der Gemeinschaft nicht mit bloßen Prinzipien und daraus resultierender unnöti-ger Härte, sondern mit Einfühlung und Liebe gegen jede einzelne Schwes-ter zu führen. Angela hatte einen seelsorgerlichen Ansatz und eine entspre-chende annehmende Ausstrahlung.

Ihr ging es von der Gründung ihrer Gemeinschaft an darum, jede einzel-ne Schwester mit ihren individuellen Begabungen und Möglichkeiten in den Blick bekommen und sie ebenso individuell zu fördern.

Im XVI. Jahrhundert lebte die Frau durchweg in einem offenkundigen Zustand der Min-derwertigkeit. Für gewöhnlich war sie dem Willen ihrer Eltern oder dem ihres Vor-mundes unterstellt … Dennoch waren in dieser Epoche auch Frauen bekannt, die auf mannigfachen Gebieten eine Rolle spielten; aber dafür hatten sie Vorurteilen die Stirn bieten müssen; ihr Engagement war als Herausforderung empfunden worden und – was noch schlimmer war, es konnte sie teuer zu stehen kommen, falls es sich nicht gerade

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um eine Frau handelte, die durch besondere Verhältnisse privilegiert war und die ihre Vorrechte zu nutzen verstand. Die große Mehrheit jedoch wurde in den Ehestand oder zum klösterlichen Leben geführt.

Angela war ohnmächtige Zeugin dieser prekären Lage der Frau. Bei ihren Begegnungen erlebte sie schmerzliche Zeugnisse von geheimen inneren Zerreißproben, von Klagen, von verstecktem Aufbegehren. Demgegenüber konnte sie nicht unempfindlich bleiben.22

Die Lösung, die Angela vor sich sah, war für die Epoche beispiellos. Es ging darum, eine Alternative zum klösterlichen Leben zu finden, die – auch außerhalb der Klausur – dessen eigentlichen Sinn einer totalen und end-gültigen Hingabe behielt und die gleichzeitig der Frau selbst und ihrer Wahl Schutz und Sicherheit garantierte: man musste daher die Möglichkeit finden, sie gegen eventuelle Widerstände von Seiten ihrer Verwandtschaft zu schützen.23

Angela Merici wurde in ihrer Zeit nicht verstanden und angegriffen. Der eigentliche Grund für die Beschuldigungen war also die Tatsache, dass Angela »Jungfrauen« mitten in der Welt zurückgelassen hatte, was keiner der Patriarchen gewagt hatte. Es gab noch einen zweiten Grund: Die Ge-sellschaft entsprach keiner der Lebensformen, die durch die geltende Praxis gebilligt wurden. Das »neue Leben«, das Angela vorgeschlagen hatte, ent-fernte sich so weit von den traditionellen Schemata, dass die Gründerin des Hochmuts bezichtigt wurde: »Sie hat ein Werk schaffen wollen, wie es noch keiner der Heiligen jemals versucht hat.«24

3.1.1.4 Ursulinen heute

Ich berichte von einem ausführliches Gespräch mit zwei Schwestern aus dem Ursulinenorden:

Schwester G., heute 75 Jahre alt, ist seit 1948 Mitglied in einem Kloster. Sie erzählt, dass bei den Ursulinen mit dem Eintritt in den Konvent eines bestimmten Klosters auch der Ort festgelegt ist, an dem man sein weiteres Leben bis zum Ende führen wird. Einen Wechsel gibt es nicht, es sei denn, der gesamte Konvent müsste aus irgendwelchen Gründen den Ort wech-seln. Dies war z. B. der Fall, als das Kloster in der Zeit des Dritten Reiches aufgelöst wurde und ein Teil der Nonnen in einem Privathaus am gleichen Ort untergebracht worden war, andere an anderen Orten.

Schwester G. war bereits als Lehrerin mit allen staatlichen Examina fer-tig, als sie in den Orden eintrat. Sie war bis zum Jahre 1988 die Leiterin der dem Kloster angegliederten St. Angela-Schule. Sie ist Lehrerin, in ihrer Fächerkombination in den Naturwissenschaften angesiedelt.

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Schwester M. ist 1953 in den Orden eingetreten, sie ist heute auch schon über 70 Jahre alt. Sie war damals gerade mit dem Abitur an der zum Klos-ter gehörigen St.- Angela -Schule fertig. Ihre Eltern wollten, dass sie einen Beruf lernt, so hat sie erst eine Ausbildung als Hauswirtschaftslehrerin ab-solviert und dann später, schon als vorläufige Angehörige des Ordens, Theologie und Altphilologie studiert.

Beide berichten über die derzeitige Gestalt und Gliederung der Klöster in Deutschland: 28 autonome Klöster haben sich zu einer Föderation der Klöster der Ursulinen zusammengeschlossen. Ihre Mitglieder treffen sich alle drei Jahre und beraten über alle entscheidenden Angelegenheiten des Ordens, zum Teil dient die Föderation auch dazu, die Verwaltung mehrerer Klöster in einer Hand zusammen zu fassen, sofern die einzelnen Klöster sich dazu vorher bereit gefunden haben.

Der Vorstand der Föderation wird von den Mitgliedern gewählt, ebenso wird die Oberin eines Klosters für jeweils drei Jahre gewählt.

Das Kloster wird derzeit von 12 Nonnen bewohnt, deren Durchschnitts-alter derzeit bei 74 Jahren liegt, d. h. eine Nonne ist über 90 Jahre alt. Aus einem aufgelösten Konvent in einem anderen Ort werden demnächst noch weitere 5 Nonnen übersiedeln.

Da früher bis zu achtzig Nonnen in dem Haus wohnten und als Lehre-rinnen im Kloster tätig waren, gibt es viel benutzbaren Raum. So werden die Räume benutzt, um dort Fortbildungsveranstaltungen durchzuführen. Ganz generell bietet das Kloster seine Räume für Tagungen und als Über-nachtungshaus an.

Es gibt Nonnen, die zum Konvent des Klosters gehören und doch die Dispens vom Orden erhalten, in einer privaten Wohnung zu leben, um sich dort im allgemeinen an die Ordensregeln zu halten, soweit das außerhalb der Gemeinschaft möglich ist. Diese Nonnen verbinden ihr Leben mit einer sozialen Aufgabe vor Ort.

Bedingt durch ihre Ausrichtung auf das Leben in weltlichen Zusammen-hängen, legte Angela Merici Wert darauf, aus der täglichen Feier der Messe die Kraft zu der Arbeit an Menschen zu gewinnen. Dies ist bis heute in den Klöstern beibehalten. Früher feierte man die Messe morgens im Anschluss an die erste Gebetszeit um 6 Uhr, dann folgten Gebetszeiten um 12 Uhr, 15 Uhr, 18 Uhr und abends gegen 22 Uhr zum Tagesabschluss.

Mit dem zunehmenden Alter der Nonnen im Konvent wurde die erste Gebetszeit auf 7 Uhr morgens verlegt, die Messe wird abends um 18 Uhr gehalten, in der Regel von ausländischen, meist polnischen Priestern, die

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sich in Deutschland aufhalten, um Deutsch zu lernen. Der Abschluss des Tages erfolgt bereits nach dem Abendessen bzw. der Tagesschau.

Es werden auch nicht so viele Stundengebete gefordert; von den Non-nen, die bereits ihr 50 jähriges Ordensjubiläum gefeiert haben, wird nicht mehr erwartet, dass sie sich der Verpflichtung zu den Stundengebeten un-terwerfen. Die meisten tun es aber unverändert. Es besteht eine Verpflich-tung zu einer täglichen 30 minütigen »Betrachtung« eines frei gewählten Themas.

Für den Eintritt in den Orden gelten folgende Bedingungen: ½ Jahr Po-stulat, zwei Jahre Noviziat, dann drei Jahre Juniorat mit einem zeitlich ge-bundenen Gelübde, dann Profess und das »Ewige Gelübde« zu Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam.

Heute werden allerdings andere Zeiträume gegeben, die oft viel länger und sehr viel variabler auf die einzelne Person zugeschnitten sind als das früher war. Die beiden Damen berichten über die zu ihrer Zeit und weithin in der Geschichte des Ordens bislang geltenden Bedingungen.

Das Gebet, die Kontemplation, gilt vor allem der Welt außerhalb der Klostermauern. Es wird – wohl von allen Orden – als stellvertretendes und fürbittendes Gebet verstanden.

3.1.2 Franziskanerinnen

Um über Franziskanerinnen zu sprechen, ist es notwendig, auf die männli-che Form, nämlich »Franziskaner«, zurückzugehen. Die Franziskaner bil-den einen großen Orden innerhalb der katholischen Kirche. Er entwickelte sich aus der Bruderschaft um Franziskus von Assisi im 13. Jahrhundert. Franziskus lebte nach einer tief greifenden Bekehrung in radikaler Armut und widmete sich dem Gebet und der Predigt.

Fast zur gleichen Zeit entstand ein zweiter Orden, der von der franziska-nischen Spiritualität geprägt ist: Die Klarissen. Gründerin ist Clara von As-sisi, die enge geistliche Gefährtin von Franziskus.

Um die Franziskaner sammelten sich schon bald Laiengruppen, die in abgeschwächter Form die franziskanische Spiritualität leben wollten. Für sie schrieb Franziskus die »Regel vom Dritten Orden«.

Im 19. Jahrhundert entwickelten sich aus dem Dritten Orden eine Viel-zahl von Kongregationen, besonders viele Frauengemeinschaften: die Fran-ziskanerinnen. Ihre Mitglieder widmeten sich karitativen Tätigkeiten wie

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der Krankenpflege und der Erziehung, womit sie auf die Nöte ihrer Zeit antworten wollten.

Eine dieser Kongregationen ist die der Franziskanerinnen von Thuine/ Emsland. Ihre Gründerin ist Anselma Bopp, geboren im Jahre 1835 in Steinbach am Neckar. Sie gehörte zum Konvent vom Hl. Kreuz in Straß-burg – einem Schwesternorden, der sich nach der Regel des Augustiner-ordens ausrichtete. Sie kam 1857 im Rahmen einer Kollektenreise ins Ems-land in das kleine Dorf Thuine bei Lingen im Emsland. Der Pfarrer des Ortes interessierte sich für ihre Gemeinschaft, weil sie sich sowohl armer Kinder als auch der Kranken annahm. Er bat die Generaloberin in Straß-burg zunächst darum, dass sich zwei Schwestern in seinem Ort ansiedeln und dort caritative Arbeit leisten könnten. Bis 1869 blieb der Konvent, der sich vergrößerte, eine Filiale von Straßburg. Er hatte sich aber aus den ärm-sten ersten Anfängen zu einer ansehnlichen und von der Bevölkerung sehr geschätzten Einrichtung entwickelt.

Aus verschiedenen Gründen erfolgte dann aber 1869 die Trennung von der Kongregation der Kreuzschwestern in Straßburg. Einer der Gründe war die weite Entfernung. So konnten die Schwestern die Reise nur sehr selten machen.

Ein anderer Grund lag darin, dass junge Menschen, die Mitglieder der Gemeinschaft werden wollten, zugleich im Emsland bleiben wollten und nicht nach Straßburg übersiedeln wollten. Dort musste aber das Noviziat abgelegt werden.

So fürchtete der Ortspfarrer, dass die Generalleitung in Straßburg die Schwestern zurückziehen könnte. Die Einrichtung wurde deshalb selbst-ständig und nahm als Regel die franziskanische Dritt-Ordensregel an. Die Kongregation der Franziskanerinnen in Thuine entwickelte sich von da an kontinuierlich weiter und ist heute außer in Deutschland in den Niederlan-den, in den USA, in Brasilien, in Indonesien und in Japan tätig. Ihre Nie-derlassungen in Afrika/Tansania musste sie aus Nachwuchsmangel vor etwa zwei Jahren aufgeben.

Die Kongregation ist Rom unterstellt, so dass sie sich in grundsätzlichen Fragen direkt an die zuständige Stelle im Vatikan wenden kann. Andere Orden sind der jeweiligen Autorität des örtlichen Bischofs unterstellt. Die direkte Anbindung an Rom wird bevorzugt und gibt mehr Autonomie.

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3.1.2.1 Franziskanerinnen heute

Zwei Stunden dauerte ein ausführliches Gespräch mit Schwester M.R. aus der oben genannten Kongregation der Franziskanerinnen von Thuine. Zur Zeit lebt sie in einem von Franziskanern geleiteten Exerzitien- und Bil-dungshaus, wo sie mit drei weiteren Schwestern ihrer Kongregation einen Konvent bildet.

Es wurden mir zunächst äußere Fakten beschrieben: Die Franziskaner, die dieses Bildungshaus leiten, gehören der thüringischen Ordensprovinz an; sie ist eine der vier Ordensprovinzen der Franziskaner; Bayern, Sach-sen, Norddeutschland und Thüringen.

Schwester M.R. lebt und arbeitet hier seit sechs Jahren, d. h. seit ihrer Pensionierung. Zuvor war sie im Emsland und später im Eichsfeld als Leh-rerin an einem Gymnasium im staatlichen Schuldienst tätig, bis sie 1998 pensioniert wurde. Während ihrer letzten Jahre im Schuldienst absolvierte sie berufsbegleitend eine Ausbildung zur Geistlichen Begleiterin und Exer-zitienbegleiterin in Augsburg. Als solche arbeitet sie in diesem Haus zu-sammen mit den Franziskanern und gehört mit zum Referententeam. Ihre drei Mitschwestern sind in der Küche, der Hauswirtschaft und an der Pforte tätig. Einen Konvent der Thuiner Franziskanerinnen gibt es in diesem Haus schon seit 1926, seit das Exerzitienhaus erbaut wurde. Zusammen mit den Franziskanern dienen sie der gleichen Sache.

Schwester M.R. erklärt mir einige Schwerpunkte der franziskanischen Spiritualität, die sich schon bei Franziskus von Assisi finden: einfaches Le-ben führen, Solidarität mit den Armen zu leben, sich einsetzen für Frieden und Gerechtigkeit, eine lebendige Beziehung zu Christus leben, das Evan-gelium verkündigen.

Der ältere Frauen-Orden in der Linie der Franziskaner, der Klarissen-orden, der stärker kontemplativ ausgerichtet ist und der sich von Clara, der geistlichen Gefährtin des Franziskus, herleitet, führt Exerzitien und Ein-kehrtage der Klarissen im Hause durch.

Schwester M.R. ist sehr jung in den Orden eingetreten und hat ihre Aus-bildung zur Lehrerin als Ordensschwester gemacht. Aber es ist auch mög-lich, später, nach der Berufsausbildung, in den Orden aufgenommen zu werden.

Der Eintritt in den Orden beginnt mit dem Postulat, das in der Regel acht Monate dauert. Das Noviziat dauert zwei Jahre, danach werden Teil-gelübde abgelegt, die jeweils für ein Jahr gelten, bis man das »Ewige Ge-lübde« ablegen kann. Für die Aufnahme in den Orden gibt es feierliche

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Formen, – das Gelübde wird von der einzelnen Schwester in Gegenwart der Generaloberin und gegenüber einem Bischof oder seinem Stellvertreter ab-gelegt. Die Gelübde der katholischen Ordensleute sind Ehelosigkeit, Armut und Gehorsam. Um sie sinnvoll leben zu können, bedarf es der Lebensform der Gemeinschaft.

Das Verständnis und Vorgehen unterscheidet sich nicht vom Entwick-lungsgang der Mönche. Natürlich können diese zusätzlich, aufgrund eines eigenen Ausbildungsweges, als Priester geweiht werden. Die Priesterweihe erfolgt aber nicht zum gleichen Zeitpunkt wie die Gelübdeablegung, son-dern in einer eigenen Feier.

Schwester M. R. empfindet es als bedauerlich, dass Frauen in der katho-lischen Kirche nicht Priesterin werden können. Ihrer Meinung nach gibt es keine überzeugenden theologischen Gründe für diese Vorschrift. Sie findet es schade, dass sie Menschen in Kursen oder als Einzelne auf einem geistli-chen Weg begleiten kann, aber am Ende – etwa bei einem Abschlussgottes-dienst – für die Eucharistie einen Priester bestellen muss.

Im Hause gibt es zwei Priester, so dass sie kein formales Problem mit dem oben angeschnittenen Thema hat, wohl aber ein inhaltliches. Trotz allem aber hält sie die Frage der Priesterweihe für Frauen für nicht so rele-vant, dass es ihre grundsätzliche Loyalität zur Kirche berühren würde.

Ein Exkurs über die Marienverehrung in der katholischen Kirche schließt sich an. Als wichtigstes der Mutter Jesu zugeschriebenes Wort in der Bibel erscheint Schwester M.R. das Wort: »Was er euch sagt, das tut (Joh. 2,5b). Damit weise Maria auf Jesus hin. Wenn Maria diese Rolle für die Glaubenden spiele, hätten Auswüchse in der Marienverehrung, die in den Bereich des Aberglaubens fallen, keine Chance. Unter seelsorgerli-chem Aspekt hat Schwester M.R. Verständnis dafür, dass Beter sich manchmal an Maria wenden; man spricht in manchen Situationen lieber mit einer Frau als mit Gott selbst. Dies hat aber nichts mit einer Anbetung Mariens zu tun, sondern ist eine Bitte um ihre Fürbitte bei Gott, bei Jesus Christus, ihrem Sohn.

Wie aus diesem Gespräch noch zu erfahren war, haben die Mitglieder der Franziskanerinnen-Kongregation folgende Vorschriften des geistlichen Lebens einzuhalten: z.B. viermal täglich Stundengebete innerhalb der Hausgemeinschaft, täglich eine halbe Stunde der persönlichen Meditation zu widmen, täglich – sofern möglich – an der Eucharistiefeier teilzuneh-men, sich entsprechende Tage und Zeiten für Besinnung zu nehmen.

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Es entsteht der Eindruck, dass hier zwar einer uralten Regel gefolgt wird, aber viel individuelle Freiheit zur Ausgestaltung des geistlichen Le-bens existiert. »Wenn ich es nicht gewollt hätte, wäre mir jederzeit die Freiheit geblieben, aus dem Orden auszuscheiden … einen Beruf und eine Existenzgrundlage hätte ich auch so gehabt « – in dieser Form äußert sich Schwester M.R und drückt damit aus, dass sie dieses Leben in Freiheit gewählt hat und noch immer bejaht.

3.1.3 Klarissen

Clara, die Gründerin des Ordens, lebte in enger geistiger Verbundenheit mit Franz von Assisi.

Ursprünglich eine Tochter aus einer adligen Familie in Oberitalien, ver-ließ sie wie Franz unter einem erheblichen Bruch ihre Verwandten. Die Tochter des Favarone die Offreducio hat schon als Mädchen im Frauenge-mach des Hauses ein religiös und sozial sensibles Leben geführt. Nun widersetzt sie sich den Eheprojekten ihrer Sippe und sucht ebenfalls den Kontakt zu den Brüdern. Ihre beste Freundin berichtet, sie hätte im Auftrag Claras »Geld zu den Arbeitern bei der Portiuncula« gebracht, »damit diese sich Fleisch davon kaufen könnten«.25

Im Jahre 1211 kommt es zu ersten Treffen zwischen der Grafentochter und Franziskus. Clara möchte sich seiner Bruderschaft anschließen. Dies aber wirft auch für Franziskus erhebliche Fragen auf: Ist einer Frau das Le-ben am Rand einer Stadt mit seinen Härten und mit völliger Schutzlosigkeit überhaupt zumutbar?

Franziskus sucht mit Clara einen gangbaren Weg für ihr Vorhaben, im Sinne seines Vorbildes die apostolische Armut zu leben und allen Besitz unter die Armen zu verteilen. Clara verkauft zunächst ihren Anteil am Be-sitz ihrer Familie und verteilt ihn, sodann verlässt sie heimlich ihre Familie und ihre Stadt. Franziskus und seine Brüder empfangen sie an den Stadt-mauern und begleiten sie zu ihrer Kapelle. Clara lässt sich im Rahmen einer Aufnahmefeier die Haare schneiden und zieht feierlich das Büßer-gewand über.

In Erwartung, nun von ihrer Familie gesucht zu werden, wechselt Clara am nächsten Morgen in das nahe gelegene Benediktinnerinnenkloster über, wo sie als Magd arbeitet. Frauen ihres Standes wurden normalerweise auf-

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grund ihrer Mitgift in einem solchen Kloster ohne das Angebot eigener kör-perlicher Arbeit aufgenommen.

Sie widersteht in der Folgezeit dem gewaltsamen Versuch ihrer Familie, sie wieder nach Hause zurück zu holen. Dies führt, wie bei Franziskus, zum totalen Bruch mit der Familie, die ihren Entschluss nicht nachvollziehen kann.

Mit der Zeit gründet sie eine eigene kleine Gemeinschaft von Schwes-tern, die mit ihr in der Nähe der Bruderschaft des Franziskus in San Damia-no bei Assisi leben. Sie gleichen ihre geistlichen Lebensformen an die der Brüder des Franziskus an, mit der Ausnahme, dass die Schwestern nicht als Wanderpredigerinnen umherziehen. Kurzzeitig wurde auch dies versucht, aber die Frauen waren aufgrund ihrer Erziehung zu wenig an die Strapazen und Gefahren eines solchen Lebens gewöhnt, und es war auch unter den Bedingungen der Zeit für Frauen zu ungewöhnlich und zu gefährlich.

Offiziell wurde diese Wanderpredigerinnen-Tätigkeit den Frauen sogar von Papst Gregor IX verboten, der aus den Kreisen der Anhänger des Fran-ziskus stammte und Clara persönlich kannte. Mit ihm erwuchs für Clara ein persönlicher Konflikt, weil dieser Papst, trotz aller spirituellen Überein-stimmung, den Frauen keinen Freiraum für eigene Gestaltung ihrer Lebens-form einräumen wollte. Er meinte, er sei dazu berufen, sich »väterlich« um die Frauen in ihren Gemeinschaften zu bemühen. Klara aber lehnte genau diese Form des Umgangs, die für sie eine Bevormundung darstellte, für ihre Gemeinschaft innerlich ab.

Der Herr Papst Gregor seligen Andenkens…liebte diese Heilige mit väterlicher Zunei-gung noch inniger. Als er ihr zuredete, sie solle ob der Zeitläufte und Weltgefahren ihre Zustimmung geben und einige Besitzungen annehmen, die er freiwillig anbot, wider-stand sie mit unerschrockenem Mut und ließ sich nicht im Geringsten dazu herbei.26

Clara äußert sich gegenüber einer Mitschwester nach ihrer Erfahrung mit Gregors Protektion, die sie nicht wollte, folgendermaßen: »Sollte dir je-mand etwas anderes sagen oder etwas anderes einreden, was deiner Voll-kommenheit hinderlich wäre, so sollst du ihn zwar ehren, seinem Ratschlag jedoch nicht folgen.« 27

Einzig die Geisteshaltung des Franziskus versprach Clara eine innere Freiheit im Gegenüber zu ihm als Frau. In seinen Schriften deutet nichts darauf hin, dass er sich zu einer »väterlichen« Gestalt für andere hochstili-sierte. Er wollte der »Bruder« sein, der andere Menschen, aber besonders die Frauen, in gleichem Recht neben sich gelten ließ. »Verwendet er für sich oder für Brüder familiäre Bilder, dann ist es die mütterliche Liebe.«28

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In dieser Geisteshaltung des Franziskus offenbarte sich schon viele Jahrhunderte vor der feministischen Betrachtung von Spiritualität und Gottesbild eine Tendenz, weibliche und männliche Anteile als sich gegenseitig ausgleichende Aspekte von Religion zu erkennen.

3.1.3.1 Klarissen heute

Hier berichte ich von einem Gespräch mit Schwester B. B., Leiterin eines Konventes der Klarissen: Anders als die beiden vorhergehenden Ordens-schwestern, geben die Klarissen mit dem Eintritt in das Kloster, bzw. nach den entsprechenden Probezeiten, ihren weltlichen Beruf ab.

Dann leben sie gemeinsam nach der Regel des Ordens, die von Clara aufgestellt wurde. Sie verrichten alle im Haus anfallenden Arbeiten und alle Arbeiten, die die gegenseitige Versorgung betreffen. Dazu gehört das Kochen, Putzen, Waschen und Bügeln, Gartenarbeit und Einkaufen wie auch die Pflege der alten Schwestern.

Die Klarissen leben miteinander als Mitglieder eines kontemplativen Ordens. Dazu gehört es geradezu, sich vom früheren Lebensweg mit allen seinen Implikationen zu lösen, um ganz für Gott da und für die Begegnung mit ihm frei zu sein.

Clara, die Gründerin, wollte sich dem Ideal der Armut und des Wander-prediger-Daseins in der Nachfolge Jesu verpflichten. Ihr lag an der Gleich-stellung der Frauen auch in dieser Hinsicht, aber es gelang ihr nicht, sich gegen die Vorstellungen der Kirche zu behaupten. Clara war die erste Frau, die in der Geschichte der Kirche eine Ordenregel verfasst hat – wobei die Regel nur für ihre eigene Kongregration galt.

Es war auch von ihr gewollt war, dass andere, nachfolgende Gemein-schaften sich ihre eigenen Regeln in sinngemäßer Auslegung der Vorgabe Claras aufstellen sollten.

In den Anfängen des Ordenslebens war auch keine volle Klausur ange-strebt, sondern nur das gemeinsame Leben – aber hier erging es dem Orden wie allen Reformgruppen innerhalb der katholischen Kirche des Mittel-alters – es mussten im Laufe der Zeit und in Konfrontation mit Macht und Recht der bestehenden kirchlichen Institutionen Zugeständnisse gemacht werden.

In San Damiano stand das Gründerinnen- Kloster, weitere Klöster folg-ten in Brixen und dann jenseits der Alpen in Süddeutschland.

Jedes Klarissenkloster ist autonom. Im Mittelalter breitete sich der Or-den in Frankreich, Italien, Spanien, in Tschechien und der Slowakei aus.

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In Deutschland gibt es derzeit Klarissenklöster in Mainz, Speyer und Köln, außerdem nannte meine Gesprächspartnerin vier Klöster im Bistum Münster. Die Klarissenklöster sind zu einer Föderation deutschsprachiger Klarissenklöster zusammen geschlossen. Wesentliche Verwaltungs- und fi-nanzielle Angelegenheiten werden von dem leitenden Gremium der Klöster gemeinsam geregelt.

Zur Leitung eines Klosters wird eine Schwester für längstens drei Jahre gewählt. Wiederwahl ist zulässig. Die Klöster unterstehen den jeweiligen Diözesen und Bischöfen.

Die Zugangsvoraussetzungen in den Orden sind nicht total festgelegt. Generell gilt: 1-2 Jahre Postulat, 2-4 Jahre Noviziat, 3-5 Jahre Juniorat, Verlängerungen sind möglich, wenn sich eine Schwester in der gegebenen Zeit noch nicht entscheiden kann. Allerdings hält Schwester B. endlose Verlängerungen als Entscheidungshilfen nicht für sinnvoll.

Schwester B. lebt in einem Kloster, das Mittelpunkt eines Wallfahrts-ortes ist. In ihrem Haus sind oft Besucher zu Gast, und eine der sich selbst gestellten Aufgaben der Klarissen ist es, ihnen Seelsorge anzubieten, wenn sie das wünschen.

Im Internet-Auftritt dieses Klosters heißt es: »Wir leben mitten in der Welt. Die Klarissen sind ein kontemplativer Orden, der in Klausur lebt, um intensiv ein geistliches Leben zu führen. Das Gebet bestimmt den straffen Tagesablauf.«

In der Regel verlassen die Schwestern das Kloster nur zu Fort- und Weiterbildungen und zum Arztbesuch. »Das bedeutet aber nicht, dass wir uns von der Welt getrennt haben«, erklärt die Äbtissin, Schwester B.

Die Klarissen leben den Gedanken der Stellvertretung: Für die Men-schen, die sie zum Teil nicht persönlich kennen, erbitten sie bei Gott Kraft für ihren Alltag und ihre Lebenssituationen. Sie informieren sich über das Weltgeschehen und nehmen es mit in ihr Beten. »Immer wieder setzen wir uns mit der Frage auseinander: ›Was ist wesentlich, was ist unwesent-lich?‹«

Anders als in manchen anderen Orden wird bei den Klarissen sieben Mal am Tag die Arbeit unterbrochen zum Gebet. Die Schwestern sehen ihr Gebet stellvertretend für viele Menschen, die nicht mehr beten können und wollen. Ihr apostolischer Auftrag besteht darin, stellvertretend für andere Menschen Zeit und Konzentration zum Gebet und der Kommunikation mit Gott aufzubringen.

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3.1.4 Ordensfrauen informieren über sich

Mit fünf Schwestern, die zum Teil in leitender Position ihres Klosters tätig waren, hat die Verfasserin lange und informative Gespräche über die Ge-samtsituation ihrer Lebensgestaltung innerhalb des Ordens geführt.

Daneben wurde ein Fragebogen erstellt, der den jeweiligen Gesprächs-partnerinnen gegeben wurde mit der Bitte, ihn von ihren Mitschwestern ausfüllen zu lassen. Es kamen 28 teilweise ausgefüllte Fragebögen zurück. Bei einigen Fragen hatten sich die Schwestern der jeweiligen Konvente da-hin geeinigt, dass nur Einzelne antworten. Die Antworten waren in ihren Augen repräsentativ für die ganze Gemeinschaft. Auf die erste gestellte Frage »Wie lange leben Sie schon in Ihrer christli-chen Gemeinschaft?« wurden folgende Antworten gegeben: 16 Frauen leben seit einem Zeitraum von 46-56 Jahren im Kloster, meistens auch ört-lich in demselben Konvent, eine gehört schon 70 Jahre zu ihrem Konvent. Acht Frauen haben die Profess (ihr Gelübde) vor 44-35 Jahren abgelegt, drei Frauen sind seit 23, 20 und 18 Jahren dabei.

Eine der Schwestern hat im Laufe ihrer Beruf(ung)sgeschichte den Or-den gewechselt: Sie war 17 Jahre im ersten, kontemplativen Orden und da-nach seit 25 Jahren einem Orden zugehörig, in dem sie ihren erlernten Be-ruf innerhalb »weltlicher« Bedingungen ausüben konnte. Zweite Frage: »War Ihre berufliche Ausbildung bereits ein Teil Ihrer Or-denszeit oder haben Sie sich später für diesen Weg entschieden?«

26 Frauen beantworten die Frage so: Ich habe vor dem Eintritt in den Orden bereits einen Beruf gehabt. Angegeben wurde in den meisten Fällen nicht, welcher Beruf das war. Eine Schwester berichtet von einer Ausbil-dung als Hauswirtschaftslehrerin, eine andere hatte eine kaufmännische Ausbildung, eine dritte hatte bereits das zweite Staatexamen für das Lehr-amt. Sie war im Verlauf ihrer Ordenszeit von Anfang in ihrem Beruf als Gymnasiallehrerin tätig.

Zwei Schwestern waren schon vor Eintritt in ihren Orden in zwei ver-schiedenen Berufen ausgebildet. Nach dem Eintritt in den Orden erfolgte eine weitere Ausbildung, in beiden Fällen ein Studium für den Beruf der Gymnasiallehrerin. Die Studienfächer waren Latein und katholische Theo-logie und Geschichte und katholische Theologie.

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Im Regelfall folgte auf den schon gelernten Beruf innerhalb des Ordens ein Studium mit dem Ziel, Gymnasiallehrerin zu werden. Dies resultiert aus der Zielsetzung eines der befragten Orden.

Drei Schwestern sind direkt nach dem Abitur an der vom Orden geführ-ten Schule in das Noviziat eingetreten. Sie haben ihre erste und einzige Be-rufsausbildung, das Studium mit dem Berufsziel Gymnasiallehrerin, inner-halb des Ordenslebens, aber an staatlichen Universitäten, durchgeführt.

Eine Schwester berichtet von ihrer den oben genannten Berichten ge-genläufigen Erfahrung: Mit der fertigen Ausbildung als Lehrerin fühlte sie sich hingezogen zu einem kontemplativen Orden, in dem ihr Beruf als weltliche Angelegenheit keine Rolle mehr spielte. Das Leben spielte sich innerhalb der Klostermauern ab, dort wurden Aufgaben verteilt, bei denen man natürlich gelegentlich dasselbe tun konnte, was außerhalb des Klosters der gewählte Beruf war. So wurden Mitarbeiterinnen in der Küche, an der Pforte und in der Hauswirtschaft im Kloster genauso gebraucht wie außer-halb. Außerdem brauchte auch diese Gemeinschaft Menschen, die erfahren waren in der Krankenpflege.

Allerdings war der Beruf der Lehrerin hier nicht mehr unbedingt hilf-reich. Und so fiel es der genannten Schwester in den ersten Jahren immer besonders schwer, zu hören, wenn am benachbarten Gymnasium die Pau-senglocken läuteten.

In ihrem Orden gehörte der Verzicht auf den weltlichen Beruf mit dem daraus resultierenden Einkommen allerdings zu einem Teil der geistlichen Ziele und Übungen der Gemeinschaft.

Auch der Wechsel des Klosters von einem kontemplativen Orden zu einem apostolischen Orden wird damit begründet, dass in der Berufsaus-übung dann doch ein so wesentlicher Lebensinhalt gesehen wurde, dass die Schwester nicht auf Dauer darauf verzichten wollte. Im nächsten Punkt wird nach der speziellen Gestaltung des geistlichen Lebens im Konvent gefragt.

Diese Frage wurde nur von sieben Schwestern überhaupt beantwortet. Das hängt daran, dass in vielen Fällen die Antworten übereinstimmend ge-wesen wären; so hat man drauf verzichtet, weil das, was die Mitschwester schreibt, denselben Tatbestand erklärt.

Für die formale geistliche Gestaltung des Tages sind bereits die Regeln des jeweiligen Ordens eine auskunftsträchtige Grundlage. Stundengebete

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werden von allen eingehalten, 5–7mal, je nach Regel, sowie im Falle eines Ordens die tägliche Eucharistiefeier.

Einige Schwestern beginnen ihren Tag individuell mit einer geistlichen Lesung. Manche nehmen nicht mehr am ersten Gebet teil, weil es sehr früh am Tag angesetzt ist. Heute ist »früh« um 7 Uhr morgens, früher war es bereits um 5 Uhr. Die Ausnahmen werden für die Schwestern gemacht, die über 50 Jahre zum Konvent gehören und bereits ein Lebensalter erreicht haben, in denen ihnen das regelmäßige frühe Aufstehen nicht mehr zuge-mutet wird. Selbstkritisch meinten aber einige Schwestern, wenn sie nicht trotzdem kämen, sei kaum noch eine Gemeinschaft im Morgengebet vertre-ten. (Das Alter der Schwestern habe ich natürlich nicht in meinem Frage-bogen erfragt. Einige gaben mir aber freiwillige Auskunft. Ihr Konvent habe ein Durchschnittsalter von 68 Jahren bei 18 Konventsmitgliedern; in diesem Falle gehörte allerdings die Schwester zum Konvent, die schon 70 Jahre dabei war und an Lebensalter 90 Jahre zählte – die Verfasserin). Die vierte Frage zielte weniger auf den Inhalt des geistlichen Lebens als auf die kirchenrechtliche Einordnung des Status der Nonnen: Gab oder gibt es eine formale Berufung für den Weg als Ordensschwester – vergleichbar einer Priesterweihe?

Vom allgemeinen Fragezeichen als einzigem Text bis zu längeren Er-läuterungen erstreckten sich hier die Kommentare. Auch hier wurden nur etwa zehn Antworten gegeben, weil die anderen sich darin mit repräsentiert sahen.

Die ewige Profess nach längstens neun Jahren der Vorbereitung ist ein Gelübde, aber sie ist kein Sakrament. Dieses Gelübde wird feierlich ge-genüber einem Bischof abgelegt und in Gegenwart der Generaloberin des Ordens. Inhaltliche Erklärung: »Sowohl die Berufung zur Ordensschwester wie die zum Priesterberuf haben ihren Ursprung in einem persönlichen in-neren Anruf. Nach einem langen Weg der Vorbereitung legen Ordens-schwestern ihre Profess ab und ein Kandidat empfängt die Weihe als Dia-kon und danach als Priester.«29 Frage 5: »Wie ist die Stellung Ihres Ordens innerhalb der katholischen Kir-che?«

Zum einen sahen sich die Schwestern als Ausübende eines speziellen sozialen und spirituellen Auftrages innerhalb der Gesamtkirche, zum an-de-

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ren legten sie aber durchweg auch Wert auf die Unabhängigkeit ihres Kon-ventes als eigener verfasster Lebensform innerhalb der Kirche.

Zwei Orden sind direkt den päpstlichen Behörden unterstellt, sie sind Gemeinschaften päpstlichen Rechtes. »Das bedeutet eine Bindung, die sich aber im Alltagsleben nicht weiter bemerkbar macht« – so äußert sich eine Schwester. »Nur ganz grundsätzliche Fragen unserer Verfassung oder sehr schwerwiegender finanzieller oder verwaltungsmäßiger Veränderungen müssen wir mit den Behörden in Rom abstimmen«. So betrachten sie ihre formale Bindung an die Kirche im Ganzen als eher »lose Zuordnung« (wie bereits stichwortartig vorgegeben worden war – die Verfasserin). Die inne-re, geistliche und menschliche Bindung an die Kirche vor Ort sei allerdings nah.

Überwiegende Antwort aller Ordensmitglieder: Unser Orden ist eine Gemeinschaft in der Kirche, aber weitgehend frei in seinen Entscheidungen und Lebensformen.

Zur Frage nach der eigenen psychischen Motivation, die vielleicht hinter ihrem Lebensweg steht, wurde geäußert: »Die Geborgenheit, die Ruhe, die Stetigkeit sind mir wichtige Lebensgüter«. »In meinem Orden bin ich im Alter geborgen und versorgt und habe eine stabile, gleich gesinnte Gemein-schaft.«

Den befragten Schwestern war diese Erfahrung der beständigen, glei-chen Gemeinschaft, meistens lebenslang am gleichen Ort, gelegentlich als eine große seelische Herausforderung erschienen.

Die Schwestern hatten aber alle nicht den Eindruck, dass ihre Situation irgendwann in ihrem Leben zur bedrängenden Enge geworden sei. Sie be-stätigten allerdings, dass es immer wieder Schwestern gäbe, die die Ge-meinschaft und vor allem den geistlichen Rhythmus des Tages phasenweise als einengend erlebten.

Daher gibt es die Möglichkeit, eine zeitlich begrenzte Befreiung von der Ordensregel zu bekommen. Diese gilt nicht nur im Fall von innerer Über-lastung bzw. Rekreation. Auch Schwestern, die wegen ihres Studiums oder einer lang andauernden Berufsausübung an einem Ort außerhalb des Kon-ventes leben, sind von den engen Verpflichtungen der Regel für das tägli-che Leben befreit. Es gilt natürlich generell die Erwartung, dass sie sich sinngemäß an eine spirituelle Gestaltung ihres Lebens binden, die dem Orden entspricht.

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3.2 Geschichte islamischer Frauen

Es soll nun zunächst noch keine Gegenüberstellung zwischen der Spiritua-lität in der Geschichte christlicher und islamischer Frauen vorgenommen werden.

In der Geschichte der katholischen Frauen-Orden spielte die Verhüllung des Körpers und des Kopfes für die Frauen durchaus auch eine Rolle – wie im Islam. Mitglieder aller katholischen Orden tragen Kleidungsstücke, die in der Zeit der Gründung des Ordens in der Regel allgemeine Mode waren. Im Verlauf der Geschichte wurden dieselben Kleidungsstücke aber zum Merkmal der religiösen Gesinnung und einer bestimmten Lebensform. Sie wurden in der säkularisierten Öffentlichkeit als ein Zeichen wahrgenom-men, welches von vornherein die Zugehörigkeit zu einer christlichen Grundhaltung signalisiert.

Dieser Tatbestand kann wohl am ehesten überleiten zu dem, was heute eine säkularisierte Öffentlichkeit in aller Welt am deutlichsten am Islam wahrnimmt: Die verhüllten und verschleierten Frauen – wenn auch in vie-len arabischen Staaten die Männer ebenfalls in langen Gewändern gekleidet sind und eine Kopfbedeckung tragen.

Über die Verhüllung lässt sich folgendes sagen: Der Begriff »Hijab« hat eine dreidimensionale Bedeutung. Die drei Dimensionen über-schneiden sich mehrfach. Die erste Dimension ist die visuelle: dem Blick entziehen. Die Wurzel des Verbs »hajaba« bedeutet: verstecken. Die zweite Dimension dagegen ist die räumliche: trennen, eine Grenze ziehen, eine Schwelle aufbauen. Die dritte Dimension schließlich ist ethischer Natur: sie gehört dem Bereich des Verbotenen an. Hierbei han-delt es sich nicht mehr um fühlbare Kategorien, die in der Realität der Sinne existieren, wie das Visuelle oder das Räumliche, sondern um eine abstrakte Realität, eine Idee. Ein hinter dem Hijab verborgener Raum ist ein verbotener Raum.30

Im Frauenbild des Islam ist sicherlich manches vorhanden, was ebenso im Christentum und in dem Selbstverständnis der Nonnen vorkommt: Die Funktion der weiblichen Seele als »Braut Gottes«, die geistige »Mutter-schaft«.31

Es ist auch davon aus zu gehen: Der Islam hatte bereits in seiner Entste-hungszeit in allen Gegenden die christlichen Traditionen vor Augen, um sich daran zu messen. Das Christentum prägte die asketische Linie der Re-ligion deutlicher aus – Rückzug aus dem Alltagsleben galt als eine beson-dere Form der Suche nach der Nähe zu Gott.

Auch im Islam gibt es mystische Strömungen, am bekanntesten in der Gestalt des an der Grenze zu Afghanistan geborenen und in Anatolien le-

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benden Jalaluddin Rumi, in dessen Tradition der Orden der Derwische steht.32 Diese Mystik befasst sich mit der Dimension des Weiblichen in Gott, sie ist aber in der Geschichte nicht direkt dafür offen gewesen, Frauen an der Lebensform der Derwische gleichberechtigt zu beteiligen.

Der Islam kennt keine Klöster, wie sie im religiösen und auch kulturellen Leben des mittelalterlichen Europa eine große Rolle spielten, doch existieren schon relativ früh Konvente, wo Frauen, die den mystischen Pfad der Gottesverehrung oder generell ein gottgefälliges Leben suchten, zusammenkamen. Im Ägypten der Mamlukenzeit leitete dort eine Scheicha das Gebet und predigte. Weibliche Heilige kannte und kennt man also überall in der Welt des Islams. Es gibt auch Schreine solcher Heiligen, zu denen Menschen kommen, um in Lebensnöten Zuflucht und Trost zu suchen.33

Der Gründer des Islam, Mohammed, hat mit seiner Lebensform und seiner Persönlichkeit einen Akzent für das Zusammenleben von Männern und Frauen gesetzt: und der liegt in der Verwirklichung der Aufgabe der Frauen innerhalb der Ehe und der Mutterschaft.

Polygamie mag der Persönlichkeit Mohammeds entsprochen haben und nicht wesenhaft zur Religion gehören – sie war darüber hinaus in dieser Zeit eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Dennoch wurden sowohl Reden als auch Handlungen des Propheten aus dem Kontext gerissen und »sakra-lisiert«, und damit war die Ehe als Lebensinstitution für die Frauen fest ge-schrieben – bis heute in der traditionellen Auslegung der Scharia.

3.2.1 Frauen in der Nachfolge Mohammeds

Fatima Mernissi bedauert, dass in der Geschichte des Islam höchstens zwei Frauen des Propheten als bedeutend angesehen wurden, Chadidscha und Aischa, während es sowohl unter den anderen Frauen interessante und selbstsichere Gestalten gab, wie es auch in der Familie des Propheten in den nachfolgenden Generationen interessante weibliche Mitglieder gab.

Umm Salma, eine der anderen Frauen Mohammeds, war schön und selbstsicher und mischte sich über Einflussnahme auf Männer ins politische Tagesgeschäft.34

Fatima, die Tochter des Propheten, spielte eine bedeutende Rolle für die Erbfolge der ersten Kalifen, vor allem dadurch, dass sie zwei Söhne hatte, Hassan und Hussein, während Mohammed in seiner direkten Nachkom-menschaft nur Töchter hatte. Fatima ist in der Überlieferung durch eine be-sondere Anhänglichkeit an den Propheten bekannt, mit der sie die Eifer-sucht seiner oft gleichaltrigen Frauen hervorrief.

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Den Frauen Mohammeds wurde der Titel »Mutter der Gläubigen« zuge-legt. Ihnen wurde im Koran geboten, ihre Reize zu verhüllen.35 Das wird damit begründet, dass damals nur die Frauen der Unterschichten sich leicht bekleideten, was sie dann auch auf offener Straße den Angriffen von Män-nern aussetzte. Es war also eine Ehre, sich zu verhüllen, in dieser Zeit galt dies noch nicht unbedingt als Symbol der erzwungenen Abschließung Dies wurde erst als Konsequenz sozialer Wandlungen in den folgenden Jahrhun-derten oder in anderen Gegenden des islamischen Einflusses strenger auf-gefasst.36

Die Überlieferung erzählt von vielen Frauen in der Umgebung des Pro-pheten; einige von ihnen wanderten in der Frühzeit des Islam mit ihren Fa-milien nach Abessinien aus, andere begleiteten Mohammed in mehreren Schlachten und versorgten die Verwundeten. Es war selbstverständlich, dass sie am Gottesdienst teilnahmen, denn der Hadith sagt: »Hindert nicht die Dienerinnen Gottes daran, die Orte zu betreten, in denen ER angebetet wird.« Dieser Anordnung mussten sich auch einige spätere Kalifen noch fügen, obwohl sie immer mehr dazu neigten, sie außer Kraft zu setzen.

Frauen in religiösen Ämtern sind nahezu nicht zu finden – auch nicht vorzustellen.

Nur von einer einzigen Frau berichtet die frühe Geschichtsschreibung, dass sie als Vor-beterin einer gemischten Gemeinde, nämlich ihrer Sippe, auftrat, die so umfangreich war, dass sei einen eigenen Gebetsrufer hatte: Umm Waraka Bint Abdallah. Mohammed selbst soll ihr den Befehl dazu gegeben haben. Sie gehört zu den wenigen Frauen, die den Koran überlieferten, bevor es zu einer endgültigen schriftlichen Fassung kam. Außerdem war sie so darauf bedacht, als Märtyrerin bekannt zu werden, dass sie Mo-hammed bat, mit seinen Truppen in die Schlacht von Badr ziehen zu dürfen, um sich um die Verwundeten zu kümmern. Mohammed soll sie von da an »die Märtyrerin« genannt haben.37

Aus dieser Frühzeit des Islam wird auch von einer Frau berichtet, die nicht als Kranken-pflegerin, sondern um zu kämpfen an einigen Schlachten der Muslime teilnahm. Ihr Name war Umm Umara. In die erste Schlacht zog sie mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in der Absicht, Verwundete zu pflegen und ihnen Wasser zu reichen. Doch dann focht sie wacker mit, die Gewänder bis zur Taille aufgeschürzt. Bei einer der Schlachten verlor sie eine Hand; sie wurde darüber hinaus mehrfach verwundet.38

Die Frauenfreundlichkeit des Propheten sowie seine zahlreichen Ehen ha-ben seit alters das Missfallen der christlichen Theologen erweckt. »Wie konnte ein Mann, der behauptete, Prophet zu sein, sich so dem Sinnlichen zuwenden?«39

Bemerkenswert ist die Rolle der Enkelin Fatimas, Sukaina, die im Jahre 49 (ca. 671) geboren wurde. Sie war schön, intelligent und gebildet und

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hatte als Urenkelin des Propheten eine besondere Stellung. Prinzen und Ka-lifen trugen ihr die Ehe an. Sie lehnte mehrmals ab, wurde aber zuletzt in ihrem Leben doch Ehefrau von fünf (manche Überlieferungen sagen sechs – die Verfasserin) Ehemännern. Sie ließ jeweils Eheverträge machen, die sie nicht zum Gehorsam gegenüber dem Ehemann verpflichteten; sie for-derte von den Ehemännern, monogam zu bleiben und brachte sogar einen ihrer Ehemänner vor ein Gericht, weil er sich gegen den Ehevertrag verhal-ten hatte. Sie empfing Künstler in ihrem Haus und wohnte den Ratsver-sammlungen der Stadt bei. Sie war die Tochter Husseins, der auf das Kali-fat verzichtet hatte, um in den Wirren ständiger Kriege lieber mit seiner Fa-milie in Frieden zu leben. Er dichtete und liebte die Frauen. Aufgrund der Verweigerung einer politischen Gefolgschaft wurde er in Kerbala von einem dortigen Machthaber im Beisein Sukainas ermordet.

Sukaina starb im Alter von 68 oder 77 Jahren – die Quellenlage ist hier verschieden.

3.2.2 Frauen in der politischen Blütezeit des Islam

Die mündlich überlieferte religiöse Tradition erzählt von der Hochzeit Adams und Evas, bei der Gott selbst sowohl die Schönheit Evas preist, als er auch Äußerungen über die zukünftige Rolle der Frau macht: »Ich mache dich mangelhaft in Gedanken und Religion, und der Fähigkeit, Zeugnis abzulegen und zu erben.« Dies sind Worte, die auf der Tradition des Ko-rans fußen,40 die aber gleichzeitig der Volksfrömmigkeit späterer Jahrhun-derte entnommen sind. Bis dahin hatte sich Wesentliches für die Frauen zum Negativen gewendet gegenüber den Anfängen der Religion.

Es wird von einer göttlichen Strafe berichtet, die darin besteht, dass die Frau ihr Leben lang eingesperrt sein soll, was die Funktion von Harem und Schleier bekräftigen soll. Auch soll die Frau, wie es Eva in dieser Tradition verkündet wird, nicht am Besten im Leben, dem gemeinschaftlichen Frei-tagsgebet, teilnehmen.

Letzteres lässt sich nicht aus dem Koran ableiten, und es war auch nicht so in der frühen Praxis zur Zeit Mohammeds; hier waren die Frauen rege und zum Teil mit großem Engagement an den Gebeten in der Moschee beteiligt.

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In den Legenden der islamischen Tradition ist davon die Rede, dass Eva und Adam sich lange nach der Vertreibung aus dem Paradies nicht mehr sahen, bis sie sich in der Nähe von Mekka wieder fanden.

Mit einer Pilgerfahrt wird auch Hagar in Verbindung gebracht, die sie-benmal in der Wüste zwischen zwei Quellen hin und her lief, um für ihr Söhnchen Ismael, den Stammvater der Muslime, Wasser zu holen. Der sie-benfache Lauf der Pilger zwischen zwei Anhöhen wird mit dieser Tradition begründet.

Zahlreiche Legenden ranken sich auch um die Frauen Mohammeds und um seine Tochter Fatima. Aisha wird von den Sunniten sehr verehrt, weil sie eine große Zahl der Aussprüche und Lehren Mohammeds überliefert hat. An diese Lehren und Traditionen sieht sich die sunnitische Glaubens-richtung gebunden. Andererseits wird sie von den Schiiten gehasst, weil sie gegen Ali, einen der ersten Kalifen der Schiiten, Krieg geführt hat.41

Im Islam ist es keiner Frau gelungen, eine religiöse Würdestellung ein-zunehmen – wie etwa Imam oder Kalif zu werden. Religiöse und politische Führerschaft durfte nur ein Mann für sich beanspruchen. Dennoch sind Frauen in Positionen gekommen, in denen sie Macht ausübten – gelegent-lich direkt als Sultanin, etwa im maurischen Spanien, aber vielfach indirekt über die Männer, mit denen sie verheiratet waren.42

So entwickelte sich der Einfluss des Islam in wenigen Jahrhunderten über einen großen Teil der damals bekannten Welt, und mit dem Ende »des Anfangs« und dem Erstarken etablierter Machtverhältnisse wurden die Be-dingungen für die Frauen schlechter, ein selbst bestimmtes Leben an der Öffentlichkeit zu führen.

Über die Epoche der Abassidenherrschaft – um 800 bis ca.1300 n. Chr. – schreibt Sayyid Fayyaz Mahmud in seiner »Geschichte des Islam«:

Mit wachsender Macht und dem Einsickern neuer Elemente bedeutete das Wort »Ara-ber«, das seinen sprachlichen und geographischen Begriffsinhalt schon unter den Omay-yaden verloren hatte, schließlich nicht mehr und nicht weniger als »Moslem«. Im Ein-zelnen bedeutete es an jedem Ort etwas anderes.43

Zu dieser Zeit erstreckte sich das Abassidenreich und damit der Islam von Spanien bis nach Indien und über Nordafrika und den Kaukasus. Mahmud fährt fort:

Ausgewählte Sklavenmädchen, die nicht nur schön, sondern auch begabt waren, wurden Kalifen und Königen, Würdenträgern und Reichen zum Geschenk gemacht, die übrigen öffentlich verkauft. Seit unter dem Islam auch Sklavenkinder erbberechtigt waren, dau-erte es nicht lange, bis in Spanien die Söhne christlicher Sklavinnen, in Afrika die von Berberinnen, in Syrien und Palästina syrische, in Bagdad persische und türkische einen

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mohammedanischen Thron bestiegen. Später, unter den Ottomanen, kamen noch die Kinder bulgarischer, slavischer und griechischer Sklavinnen und Edelfrauen und in In-dien die von Hindu-Prinzessinnen hinzu.

Diese hochkultivierten Damen übten, selbst unter mächtigen Kalifen, be-trächtlichen politischen Einfluss aus – wie viel mehr erst in den Tagen der schwächeren Nachkommen, als sie oft zur treibenden Kraft hinter dem Thron wurden.44 Dennoch verschlechterte sich die selbständige Position der Frauen zusehends gegenüber dem Ansehen und den Freiheiten in der Grün-derzeit des Islam. Die Frauen hatten noch unter den Omayyaden viel Frei-heit genossen; sie wurden z. T. ihrer Bildung wegen bewundert, dann aber zusehends in die Abgeschlossenheit des Harems zurückgedrängt. Danach begann man, sie zusehends geringschätziger zu behandeln. »Tausend und eine Nacht« beweist, dass sich im Hinblick auf die Frauen in der islami-schen Welt ein Wandel vollzogen hatte.45 Hier wurden die Frauen zuneh-mend Objekte der Unterhaltung und Lust der Männer. Wenn sie eine Rolle spielten, dann hinter den Kulissen der jeweiligen männlichen Macht – in-dem sie sich an Intrigen und Geheimpolitik beteiligten und damit indirekte Macht ausübten.

3.2.3 Das Problem des Schleiers – islamische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert

Der Schleier ist ein gesellschaftliches Brauchtum aus der arabischen Kul-tur. Er war weit vor der Zeit Mohammeds üblich, und zwar ist die Ver-schleierung und Absonderung in einer eigenen Frauenwelt – dem Harem- eigentlich eher ein Privileg und Statussymbol für die reicheren Frauen ge-wesen (s. im Mittelalter die Frauen der Ritter, die Verfasserin).

Die Frauen der Bauern haben nie einen Schleier getragen, auch nicht in der islamischen Zeit (zumindest in der Vergangenheit, die Verfasserin). Schleier waren keine günstige Bekleidung für die Feldarbeit.

Der Schleier ist wohl erst ins öffentliche Interesse der Welt gerückt, als die islamischen Länder in der Moderne den Vergleich aufnehmen mussten mit dem Rest der Welt, speziell den christlichen Traditionen und dem Den-ken in der Folge der Aufklärung in Europa und Amerika. Dies ist zeitlich wohl eher mit der Mitte des 19. Jahrhunderts anzusetzen – als auch von Europa her das Interesse am Orient wuchs.

Sehr ausführlich schildert Naila Minai ihr zufällig entstandenes Mit-leben in der familiären Gemeinschaft von Menschen, die in einer Oase le-

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ben.46 Hier ist Traditionalismus gepaart mit sinnvollen, bzw. nachvollzieh-baren Gründen, um das Überleben der Gemeinschaft, die aufeinander ange-wiesen ist, zu erleichtern oder überhaupt zu sichern. Deshalb werden Frau-en vor Gefahren geschützt, die das Leben in der vergleichbaren Wildnis mit sich bringt, indem sie nicht allein in der Öffentlichkeit auftreten. Insgesamt betont Minai an dieser Stelle, dass der Wunsch der Männer, Frauen zu be-schützen, ihnen das Leben zu erleichtern, ihr dort neu und auch anspre-chend begegnet ist.

In den Zusammenhang des Interesses an Europa und in der Bewunde-rung des dortigen Fortschritts, vor allem auf technischen, aber auch auf kul-turellem und sozialem Gebiet, hat der Ägypter Qasim Amin bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Schrift »Die Befreiung der Frau« gestellt.47

Erstaunlich ist für uns heutige Leser, dass schon in dieser Zeit das Schleiertragen scharf verurteilt wird. Amin hält das Tragen eines Schleiers für eine alte arabische Sitte aus vorislamischer Zeit und zudem als ein Re-likt aus Stammes-Traditionen. Es ist ihm ein großes Anliegen, zu beweisen, dass diese Sitte dem Islam als Religion sekundär beigelegt wurde.

Psychologisch sensibel beschreibt er, welche Folgen das Wegsperren und Uninformiert-Lassen für die Psyche der Frauen hat, bzw. er überlegt, was es für ein Mädchen bedeutet, wenn sie eine grundsätzliche Schulbil-dung erhält, lesen und schreiben kann und ein paar Gedichte kennt – aber mit der einsetzenden Pubertät darf sie das Haus nur noch verhüllt und in Begleitung eines Mannes verlassen. Für Amin setzt in diesem Alter bereits die Regression der Seele des Mädchens ein. Während sie sich vorher zu-sammen mit der Seele des Jungen ausbilden konnte, wird ihr ab der Puber-tät eine künstliche Entwicklungsschranke auferlegt.

Amin geht davon aus, dass jede in der Jugend erworbene Bildung nur dann einen Sinn hat, wenn sie als grundsätzlicher Baustein verstanden wird, auf dem der Mensch lebenslang mit neuen Erfahrungen aufbauen kann. Wenn den Frauen dann aber neue Erfahrungen außerhalb des Hauses und der Familie verwehrt werden, verkümmern sie seelisch und intellek-tuell. Und, so ist die These Amins, können sie auch nicht gute und adäquate Erzieherinnen für die nächste Generation sein.

Als Quintessenz leitet Amin geradezu die von ihm gegenüber Europa empfundene Rückständigkeit der islamischen Gesellschaften von der Weg-sperrung der Frau aus der Öffentlichkeit und von ihrer Unterdrückung her.48

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Der ausschlaggebende Faktor für unsere Weiterentwicklung jedoch ist die Fortsetzung unserer Studien und unserer intellektuellen und moralischen Fortbildung, und zwar ohne dass dabei eine Unterbrechung einträte. Und dies lässt sich nicht durch bloße Lektüre er-reichen, sondern erfordert auch den Augenschein und den sozialen Verkehr, d.h. die Er-probung von Menschen und Dingen.49

So sehen wir, dass die meisten christlichen Frauen im Orient, wenn sie auch gleich in den Schulen nicht mehr gelernt haben als manche von unseren Töchtern, sich doch bes-ser auf die Erfordernisse des Lebens verstehen, und zwar ob all dessen, was sie durch den Umgang mit Männern gesehen und gehört haben, insofern ihnen damit Ideen und Vorstellungen zugehen, wie sie sie aus den Büchern allein nicht lernen können. So ge-langen sie, dank diesem Umgang, auf ein höheres geistiges Niveau als die muslimische Frau, die doch ihre Landsmännin ist, obschon im übrigen Rasse und Klima ja ein und dasselbe sind.50

Ist es ja bekannt, dass die Lebensweise und das Temperament eines Volkes und das Kli-ma, in dem es lebt, seine Sitten und sein geistiges Niveau einen großen Einfluss auf die Qualität seiner Charaktereigenschaften ausüben. Aus diesem Grund sehen wir auch, dass die Lockerung der Sitten in den einzelnen europäischen Ländern aufs augenschein-lichste differiert.

Ohne Frage ist die freie Frau, die auf ihre Ehre und Tugend bedacht ist und jede Unan-ständigkeit aus freien Stücken zu meiden sucht, um ein vielfaches vorzüglicher und ver-dienstvoller als die unter dem Zwang des Hijab – des Körperschleiers – sich anständig Haltende. Ist ja die Tugend der Letzteren eine notgedrungene, dagegen die der Ersteren eine freiwillige. In der Bewertung dagegen ist also ein gewaltiger Unterschied zu ma-chen. Deshalb verstehe ich nicht, wie wir uns mit der Tugend unserer Frauen brüsten können, wo wir doch wissen, dass ihre Tugend lediglich in der Gewalt ihrer Wächter, der Festigkeit von Schloss und Riegel und der Höhe der Mauern beruht. Wie könnte man einem Eingesperrten das Verdienst der Anständigkeit zubilligen, solange er im Ge-fängnis sitzt und sich daher nichts zuschulden kommen lässt?51

Qasim Amin wurde für diese veröffentlichten Meinungen heftig angegrif-fen. Dennoch blieben sie nicht ohne Wirkung in der islamischen Welt.

In der Türkei wurde 1863 das erste Seminar zur Ausbildung von Lehrerinnen eröffnet. Man wollte die Familien der Oberschicht daran hindern, Ausländerinnen zur Erziehung ihrer Töchter ins Land zu rufen. Schon 1893 – zu einer Zeit drückender politischer Ty-rannei unter dem Sultan Abdulhamid – wurden Frauen als Hörerinnen an der medizini-schen Fakultät der Universität Istanbul zugelassen, und seit 1899 war ihnen ein Medi-zinstudium gestattet. In Deutschland war das Medizinstudium für Frauen auch erst seit 1899 erlaubt. In der Türkei freilich war es eine dringende Notwendigkeit. Denn nur we-nige Frauen in den islamischen Ländern jener Zeit hätten sich der Behandlung durch einen männlichen Arzt anvertraut.52

Der Schleier wird aber auch noch immer im Bewusstsein der Menschen, von den Frauen selbst, als ein Schutz angesehen. Darüber hinaus ist er so etwas wie ein »Status-Symbol«, d. h. Bevölkerungsgruppen, die früher auf-grund ihrer schweren körperlichen Arbeit den Schleier nicht trugen, be-

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trachten ihn heute als ein Zeichen ihres sozialen Aufstiegs. Er war eben in der Gründerzeit des Islam ein Kleidungsstück für die begüterten Frauen, und in der Geschichte war er ein Symbol der gesamten Haremskultur, die durchaus auch großen Reichtum und Einfluss symbolisieren konnte. Man-che islamischen Länder haben im Zuge der Angleichung an die westliche Welt versucht, von Regierungsseite gegen das Schleier-Tragen vorzugehen. So wurde im Jahre 1936 im Iran das Schleiertragen verboten. Aber die Be-völkerung missachtete das Gesetz, und so wurde es 1941 widerrufen.53

Zudem avanciert der Schleier in der Gegenwart gelegentlich im Zuge des »Re-Islamisierung« und der bewussten Ablehnung des Westens zum ideologischen und politischen Symbol. Er steht in einer bestimmten Auf-fassung gegen die Ver-Westlichung der arabischen und islamischen Kultur. Er garantiert somit der Trägerin eine kulturelle Identität, die die westliche Kultur ihr im Rahmen der Kolonialisierung genommen hatte.

Andererseits wird berichtet, dass es immer große Überwindung kostete, gerade auch für die führenden Politiker eines Landes, Frau oder Tochter ohne Schleier in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Damit wurden in der Regel politische Signale gesetzt, die nicht immer im Interesse der jewieli-gen Popularität waren.

Diese Beobachtung bezieht sich nicht nur auf das Tragen oder das Able-gen eines Schleiers, sondern auch auf jede andere Form unkonventionellen Verhaltens innerhalb der üblichen Geschlechter-Differenzierungen. So wird berichtet, dass einmal ein iranischer Polizeichef den Vorstoß gewagt habe, mit seiner verschleierten Frau ein Kaffeehaus aufzusuchen – eine der ur-sprünglichen Domänen der Männer in der arabischen Kultur.54 Dies schien ein seltenes und daher erwähnenswertes Ereignis zu sein.

Teil II

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4 Unterschiedliche Gegenwart für Frauen in beiden Religionen

4.1 Frauen in Deutschland unter dem Einfluss des Christentums

Die greifbarsten Grunddaten für das Leben von Menschen in jeder Gesell-schaft liefert sicherlich die ökonomische Situation, in der sie sich befinden. Diese hat sich im letzten Jahrhundert in den Ländern, in denen das Chris-tentum die vorherrschende Religion ist, grundlegend geändert.

Unter anderem ist die ökonomische Situation der einzelnen Familien da-von abhängig, dass im Regelfall Männer und Frauen – und nicht der Mann alleine – für den Unterhalt der Familie aufkommen müssen, da der Lebens-standard sonst nicht gehalten werden kann – insbesondere, wenn in der Fa-milie mehrere Kinder aufwachsen.

Ökonomie und Religion treten hier in eine Spannung, weil von der einen nahe gelegt wird, was die andere in vielen Jahrhunderten auch im Christen-tum weitgehend verhindert hat: Die ökonomische Selbständigkeit der Frau durch die Ausübung eines Berufes mit gleichen Rechten gegenüber dem Mann. Denn nicht nur der Islam, auch das Christentum, hat viele Traditio-nen, die Frauen an Haus und Herd fesseln und ihnen die Übernahme weite-rer gesellschaftlicher Verantwortung verweigern. Diese Traditionen sind heute nicht mehr öffentlich oder gar juristisch relevant, aber sie sind im Be-wusstsein vieler Menschen durchaus noch lebendig.

Es ist noch heute in den christlich geprägten Ländern so, dass Frauen durch Berufe und gleichzeitige Familienarbeit doppelt belastet sind und dennoch gegenüber den Männern vielfach in der beruflich schlechteren Po-sition zu finden sind.

Viele Ursachen sind dafür zu nennen, und das Nachdenken über die oft belastete Situation der Frauen mit Beruf und Familie gehört nicht zu den vorherrschenden Trends unserer Gesellschaft. Die Kirchen haben bis jetzt zu dieser Problematik noch nie eine Denkschrift heraus gegeben. Es exis-tieren keine sozialethischen Stellungnahmen in dieser Frage.

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So meine ich, gerade hier sind Frauen herausgefordert, ihre Kreativität und ihre Spiritualität zu entwickeln: Nur so können sie eine Aufgabe ange-hen, die nicht oder im Sinne der Tradition oftmals nachteilig für sie defi-niert worden ist.

Frauen können diese Aufgabe im Hinblick auf ihr religiöses Erbe in den Traditionen aller beteiligten Kirchen befriedigend lösen; indem sie die je-weiligen Traditionsstränge ihrer Kirche und ihres Glaubens entdecken und von ihnen profitieren, in denen schon von jeher Bemühungen um eine an-gemessene Stellung der Frauen in der Gesellschaft stattfanden.

Hierin liegt sogar eine herausfordernde gesellschaftliche Aufgabe, vor allem, wenn der weitere Rahmen sich entwickelnder multikultureller und multireligiöser Lebenspraxis in Deutschland mit einbezogen wird.

4.1.1 Gleichberechtigung von Mann und Frau – Beispiel Deutschland

Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern gehört zu den verfas-sungsmäßig garantierten Rechten in Deutschland.

Zur Ausführung des verfassungsmäßigen Gleichstellungsauftrages exis-tieren entsprechende ausführende Organe in den Verwaltungen – im Bund, in den Ländern und auf den Ebenen der Kommunen.

Im Interview mit der Gleichstellungsbeauftragten einer kleineren deut-schen Stadt habe ich die wesentlichen Grundlagen und Grundprobleme in der Verwirklichung des verfassungsmäßigen Auftrages kennen gelernt.

Die Verwirklichung des Verfassungsauftrages der Gleichberechtigung von Frau und Mann ist auch eine Aufgabe der Gemeinden. Durch die Einrichtung von Frauenbüros oder vergleichbaren Maßnahmen wird sichergestellt, dass die Verwirklichung dieses Auftrages auf der Gemeindeebene erfolgt. Dieser Aufgabenbereich ist von einer Frau wahrzunehmen und in der Regel einem hauptamtlichen Wahlbeauftragten zuzuordnen.

Frauenbüro – das ist in ihrem Fall keine hauptamtliche Tätigkeit, sondern der Schreibtisch, der Computer und das Telefon »des Büros« gehören in erster Linie zu ihrer Aufgabe als Historikerin und Stadtarchivarin. Bei ihrer Vorgängerin gehörte der Schreibtisch zur Ausrüstung einer Juristin.

Hätte die Stadt mehr als 50.000 Einwohner, dann sähe das anders aus: Kolleginnen meiner Gesprächspartnerin in entsprechenden Kommunen werden ganz oder teilweise von ihrer sonstigen Berufsarbeit für ihre Tätig-keit als Frauenbeauftragte freigestellt. Mit einem Blick auf das Angebot an Fortbildungen für Frauen in ihrem Landkreis meint meine Gesprächs-

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partnerin: »Wenn ich mehr zeitliche Kapazitäten zur Verfügung hätte, wäre ich dort mit Beratungsangeboten vertreten.«

Leider muss sie sich auf das Beraten im Bedarfsfall – bei einer aktuellen Anfrage oder im Falle eines Konfliktes – beschränken. Allerdings hat sie regelmäßig Zutritt zu den Dienstgesprächen der Personal-Verwaltung, die vom Bürgermeister der Stadt durchgeführt werden, um ihre spezielle Sicht in beruflichen Angelegenheiten von Frauen darzulegen. Sie ist in ihrer Ar-beit dem Bürgermeister direkt verpflichtet und ansonsten unabhängig von einer konkreten Arbeitsstelle innerhalb der Verwaltung der Kommune. Bei Stellenausschreibungen muss sie gefragt werden, im Verfahren der Beset-zung der ausgeschriebenen Stellen muss sie gehört werden, wenn die betroffenen Bewerberinnen das wünschen.

Einmal im Jahr beruft sie eine eigene Teil-Personalversammlung für Frauen, die in der kommunalen Verwaltung beschäftigt sind, ein.

Ziel ihrer Arbeit ist es, dem »Gesetz zur Gleichstellung von Frauen und Männern« zur praktischen Wirksamkeit zu verhelfen.

§ 1: Ziel dieses Gesetzes ist der gleiche Zugang von Frauen und Männern zu öffentli-chen Ämtern. Bis zur Erreichung dieses Zieles werden durch berufliche Förderung von Frauen auf der Grundlage von Frauenförderplänen mit verbindlichen Zielvorgaben die Zugangs- und Aufstiegsbedingungen sowie die Arbeitsbedingungen für Frauen verbes-sert.

§ 3,1: Die Dienststellen sind verpflichtet,…auf die Gleichstellung von Frauen und Män-nern im öffentlichen Dienst sowie die Beseitigung von Unterrepräsentanz von Frauen hinzuwirken und Diskriminierungen wegen des Geschlecht und des Familienstandes zu beseitigen.

§ 3,3: Frauen und Männer dürfen wegen ihres Geschlechts oder ihres Familienstandes nicht diskriminiert werden. Eine Diskriminierung liegt auch vor, wenn eine Regelung oder Maßnahme sich bei geschlechtsneutraler Fassung auf ein Geschlecht wesentlich seltener vorteilhaft oder wesentlich häufiger nachteilig auswirkt als auf das andere, ohne dass dies durch zwingende Gründe gerechtfertigt ist. Maßnahmen zur Förderung von Frauen mit dem Ziel, tatsächlich bestehende Ungleichheiten zu beseitigen, bleiben hier-von unberührt.

Eine »strukturelle Chancengleichheit von Frauen und Männern« soll ent-wickelt werden, d. h. Unterschiede in den Erwerbsbiographien von Frauen und Männern sollen berücksichtigt werden – ob sie etwa mehrere Jahre we-gen der Erziehung der Kinder nicht gearbeitet haben, was ihnen in der Kon-sequenz und in der Logik herkömmlicher Erwerbsbiographien durchaus als Minder-Qualifikation angerechnet werden könnte.

Teilzeitbeschäftigung soll gefördert werden – auch in leitenden Funktio-nen –, so dass Frauen einen Einstieg in die Berufstätigkeit nach einer Fami-

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lienpause finden können und dass Familie und Beruf leichter vereinbar werden; temporäre Ausstiege aus dem Beruf sollen ohne schädigende Fol-gen für die Berufsbiographie, vor allem für die spätere Renten-Versorgung, möglich werden. Die Frauenbeauftragte ist an der Erstellung und Umset-zung solcher genannten Konzepte umfassend zu beteiligen.

Frauenförderpläne sollen in vielen Hinsichten erarbeitet werden, fami-liengerechte Arbeitszeiten und Beurlaubungsregelungen gefunden werden. In allen Anwendungen des Gleichstellungsgesetzes hat die Frauenbeauf-tragte unter Wahrung einer Frist das Recht zum Widerspruch. Dieses Gleichstellungsgesetz gilt in Deutschland seit 1993. Wie sieht nun die derzeitige Realität »unserer« Frauenbeauftragten aus?

Sie unterscheidet zunächst in ihrer Tätigkeit zwischen ihren »internen« und ihren »externen« Aufgaben. Wenn es darum geht, »interne« Sachlagen zu klären, dann heißt das: Sie wird sich einschalten, wenn eine Stelle zur Ausschreibung ansteht. Wie wird diese Stelle auf mögliche Teilzeit-Rege-lungen hin beschrieben? Welche biographischen Voraussetzungen werden gemacht? Werden auch »WiedereinsteigerInnen« akzeptiert?

Der Text der Ausschreibung muss von ihr mit angesehen, beraten und akzeptiert werden.

Wenn sich InteressentInnen vorstellen, so muss sie bei den Einstellungs-gesprächen dabei sein und gehört werden, wenn die BewerberInnen das wünschen. Sie soll möglichst darauf achten, dass die Stellen in gleicher zahlenmäßiger Proportion zwischen Männern und Frauen besetzt werden (50/50).

Nach ihrer Erfahrung und der Statistik ist diese Parität nicht erreicht, und es sind vor allem immer noch zahlenmäßig weit mehr Frauen in den niedrigeren beruflichen Positionen der Verwaltung vertreten (z. B. in einer Beschäftigung als Sekretärinnen, als Sachbearbeiterinnen, aber auch in der Pflege der Gebäude – die Verfasserin). Die Frauenbeauftragte stellt fest, dass es derzeit nur eine einzige Frau in der Verwaltung ihrer Stadt gibt, die ein Ressort leitet.

In der Bezahlung werden keine Unterschiede mehr zwischen Frauen und Männern gemacht, zumindest nicht im Bereich der Beschäftigten in der öf-fentlichen Verwaltung. Den Frauen (natürlich auch den Männern, die von dieser Regelung Gebrauch machen möchten), wird nach der Geburt eines Kindes bis zu drei Jahre lang Elternzeit gewährt, d. h. sie können in Teil-zeitbeschäftigung gehen und daneben ihre Kinder versorgen. Diese Rege-

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lung wird für etwaige spätere Versorgungsansprüche berücksichtigt, d. h. es entstehen keine Nachteile für die Betroffenen. Die Gleichstellungsbeauf-tragte setzt sich für die Belange der MitarbeiterInnen ein, die Elternzeit nehmen, sie berichtet aus ihrer Erfahrung, dass es auch Situationen gab, in denen einzelnen Frauen ein Arbeitsplatz mehr als drei Jahre offen gehalten wurde. Dies betraf aber in der Regel Situationen, in denen eine besondere Notlage geltend gemacht wurde.

Innerhalb der drei Jahre oder auch während der darüber hinaus gehenden Zeit muss die Stelle einer Mitarbeiterin/eines Mitarbeiters in Elternzeit durch eine Vertretungskraft ausgefüllt werden. Die Stelle darf nicht endgül-tig neu besetzt werden. Die Inhaberin / der Inhaber hat das Recht, dann wieder seine alte Stelle einzunehmen.

Zur »internen« Tätigkeit der Frauenbeauftragten gehört auch, Beschwer-den nachzugehen, die im Bereich von »sexueller Belästigung am Arbeits-platz« erhoben werden. Sie kann Betroffene befragen, auf Lösungen und Veränderungen hin arbeiten.

»Externe« Aufgaben nimmt eine Frauenbeauftragte für eine Kommune dann wahr, wenn sie auf Anfragen aus der Bevölkerung reagiert und sozu-sagen als »Anlauf- und Beratungsstelle« zur Verfügung steht. »Wo finde ich im Falle einer Trennung für eine Übergangszeit eine Wohnung? Wie finde ich eine verlässliche juristische Beratung? Wer kann mir in Angele-genheiten des Umgangs mit Verwaltungen helfen, wenn ich das bislang nicht konnte?«

Die Frauenbeauftragte kann hier kurzfristig und ohne ökonomische Vor-teile für Betroffene und vermittelte Personen Ratschläge geben. Diese Hilfsmaßnahmen dürfen nicht dazu führen, spezielle personelle Empfeh-lungen zu geben.

Manche Frauenbeauftragte engagieren sich auch im Bereich von infor-mativer, bewusstseinsbildender Beratung, etwa für Schülerinnen.

Mädchen im Alter von 15/16 Jahren – also in bestimmten Schultypen Absolventinnen von Abschlussklassen – wird im Rahmen eines »Girls’ Day« Gelegenheit gegeben, Berufe kennen zu lernen, die in unserer Gesell-schaft hauptsächlich von Männern ausgeübt werden. So können sie sich Einblicke in Anforderungen und Erwartungen außerhalb des gesteckten Rahmens von »Frauenberufen« ermöglichen.

Das Gleichstellungsgesetz ist eine gute Einrichtung für große öffentliche Einrichtungen und Verwaltungen. Es ist sinngemäß auch für die Leitung eines großen Industrie-Unternehmens anwendbar.

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Leider lassen sich viele andere Formen der Berufstätigkeit in Deutsch-land nicht von einem solchen Gesetz zureichend beschreiben und erfassen. So gibt es viele unterschiedliche Interessenlagen auf dem Arbeitsmarkt.

Teilzeitbeschäftigung, vor allem unterhalb der Grenze der Steuerpflicht, – d. h. hierfür muss überhaupt keine Abgabe entrichtet werden, und das Einkommen steht voll nach der Arbeitsleistung zur Verfügung – ist weithin eine Domäne von Frauen, die im Rahmen von niedrigschwelligen Berufs-angeboten das Familieneinkommen aufbessern möchten.

Hausmeisterin, Küsterin in der Kirche, Zeitungsausträgerin, stunden-weise Verkäuferin zu sein, Reinigungsarbeiten zu übernehmen oder Kinder zu beaufsichtigen und zu beschäftigen, dazu vielfältige Büroarbeiten zu übernehmen, ist ein Terrain von Frauen, die sich hier neben ihrer Familien-arbeit nicht »überfordert« fühlen; sie können eine mit der Familie zu ver-einbarende und eine neben der Familienarbeit noch sinnvolle Tätigkeit aus-üben. Vielfach fragen die Frauen in diesen Berufsgruppen nicht explizit nach der Gleichstellung, sondern sie sehen eher eine Chance in der Flexibi-lität ihrer »Jobs«, – solange sie sich nicht als abhängig von der Sicherheit dieser Tätigkeiten erleben.

Der Gleichstellungsanspruch wird von manchen Frauen in den so ge-nannten »400-Euro-Jobs« eher als eine Belastung erlebt, weil sie nicht die gleichen Verpflichtungen eingehen möchten, wie sie in geregelten Anstel-lungsverhältnissen existieren – etwa zeitliche Bindungen oder bestimmte Urlaubsregelungen.

Allerdings implizieren diese Arbeitsverhältnisse wenig soziale Siche-rung im Hinblick auf Absicherungen im Krankheitsfall oder bei der Alters-versorgung.

Es gibt zunehmend auch Männer, die solche »geringfügigen« Arbeits-verhältnisse eingehen – entweder, weil sie keine anderen Beschäftigungen finden oder, weil sie sie neben einem Studium, einer Berufsausbildung oder einer anderen Tätigkeit ausüben. Selbstverständlich sind diese Männer, in Bezug auf die Vor- und Nachteile und die Risiken ihrer Tätigkeit in jeder Hinsicht den Frauen in solchen Arbeitsverhältnissen gleich gestellt.

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4.1.2 Exkurs: Alltagskonsequenzen aus der Gleichberechtigung

4.1.2.1 Petra Trimmel: Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Deutschland

Wie sieht es in Deutschland mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf aus? Diese Frage ist komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheint. Es gibt sie nämlich nicht, die Prototyp-Familie, anhand derer Erfolge oder Missstände in der Familienpolitik in Deutschland aufgezeigt werden könn-ten. Es gibt stattdessen eine Vielzahl von unterschiedlichen Bedürfnissen von Vätern, Müttern und Kindern, wenn es um die Frage der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familienleben geht.

Beginnen wir mit den Vätern. Heutzutage möchten junge Väter in der Mehrzahl ein wichtiger Ansprechpartner für ihre Kinder sein und mehr zum Familienleben beitragen, als den monatlichen Euroverbrauch zu sichern.

Welche Bedingungen begegnen ihnen 2004 in Deutschland und was tragen sie selbst bei? 1. Unternehmen fordern von ihren Arbeitnehmern tendenziell mehr Ar-beitsstunden – tarifpolitisch vereinbart oder in Einzelabsprachen außertarif-lich festgelegt. Durch die Verringerung von Personal in vielen Unterneh-men hat die Arbeitsdichte an den einzelnen Arbeitsplätzen spürbar zuge-nommen. Arbeitsplätze brauchen heute »den ganzen Mann«, mit einem großen Anteil seiner Energie. Dies führt zu immer früheren »Verschleiß-erscheinungen« bei Männern. Mit 28 Jahren ein Magengeschwür – für Ro-bert, Marketingmitarbeiter, schmerzhafte Realität. Mit 35 Jahren Tinitus – für Andreas, Vertriebsmitarbeiter, eine bittere, bleibende Erfahrung. Mit 42 den ersten Bandscheibenvorfall – für Henning die ungewollte Chance, an seinen Arbeitsbedingungen etwas zu ändern.

Für viele Männer ist der Arbeitsplatz zu einem echten gesundheitlichen Risikofaktor geworden. Aufgetankt und »aufgepäppelt« wird in der Familie – wo auch sonst, denn es gibt nun mal keine 24-Stunden-Power über 40 Ar-beitsjahre ohne »Nachladen«. Zeit und Energie für die Partnerin und die Kinder ist für viele Väter deshalb – vor allem bei Karrierewünschen – ein Luxusartikel geworden. Interessanterweise haben Untersuchungen von Ar-beitszeiten bei Männern ergeben, dass diese nach der Geburt eines Kindes im Schnitt zwischen einer und zwei Stunden mehr am Tag arbeiten als vor der Geburt ihres Nachkömmlings. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein,

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entscheidend bleibt der Aspekt, dass die Mutter weite Strecken des Tages allein mit dem Kind klar kommen muss und der Vater häufig zeitlich sehr eingeschränkt sein Baby in den ersten Jahren erlebt.

2. Vätern, die die gesetzlich geregelte Elternzeit (max. 3 Jahre) oder den gesetzlich geregelten Anspruch auf Teilzeitarbeit für sich in Anspruch neh-men möchten, wird auch im Jahre 2004 noch die Leidenschaft für das be-rufliche Weiterkommen bzw. ein echtes berufliches Interesse abgespro-chen. Die Familien-Welt in Deutschland scheint für viele Führungskräfte auch nach 60 Jahren Demokratie und Frauenemanzipation noch in Mütter und Männer eingeteilt: Mütter haben Kinder und gehen manchmal ein biss-chen arbeiten, Männer haben einen Beruf und zudem ein bisschen Familie.

Interessant ist es immer, sich in Deutschland mit jungen berufstätigen, ehrgeizigen Menschen zu unterhalten: Viele junge Männer begrüßen es, sich später für Familie Zeit zu nehmen. Bei der Frage nach der eigenen Be-reitschaft, Elternzeit zu nehmen, kommt jedoch ein klares Nein. Dies würde dem eigenen Weiterkommen so sehr schaden, dass es nicht in Frage kommt. Genau die gleiche Auszeit aus dem Beruf schadet natürlich den Frauen genauso wie den Männern – bei ihnen wird es jedoch in der Regel als selbstverständlich angesehen und nicht so problemorientiert in der Öf-fentlichkeit besprochen. Den beruflichen Karriereknick aufgrund von Kin-dererziehungszeiten nehmen zur Zeit in Deutschland 98% der Frauen auf sich.

Barbara und Simon, ein junges Paar Ende zwanzig, haben sich nach der Geburt ihres Sohnes eine Sonderregelung überlegt: Simon, Ingenieur in einem Großunternehmen, hat sich mit seiner Chefin verständigt, dass er zweimal im Monat an einem Freitag Überstunden abfeiern darf. Die ande-ren beiden Freitage kommt Barbaras Mutter und kümmert sich um das Baby. Barbara hat somit nach einem halben Jahr Elternzeit die Möglich-keit, erst mal mit einem Tag in der Woche ihre Beruftätigkeit fortzuführen und mit dem zunehmenden Alter des Kindes wieder auszubauen. Sie ist auch an den restlichen Tagen für ihre Kunden telefonisch zuhause erreich-bar und gibt somit ihrem Unternehmen zu verstehen, dass ihr der Arbeits-platz außerordentlich wichtig ist – trotz junger Mutterschaft. 3. »Männer und Frauen teilen sich die Organisation des Haushalts«. Mag dieser Satz in Partnerschaften ohne Kinder noch einigermaßen stimmen, so kehrt sich die Situation ab dem Moment, wo Väter arbeiten gehen und

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Mütter überwiegend zuhause sind, grundsätzlich um: Frauen organisieren zu 90% den Haushalt, Männer gewöhnen sich rasch an gebügelte Wäsche, einen gefüllten Kühlschrank und ein sauberes Heim.

Wir wollten in Deutschland im 21. Jahrhundert in Sachen Partnerschaft weiter sein? Vielleicht, aber solange es in vielen Familien eine Frauenwelt (Kinder, Soziale Beziehungen, Organisation des Alltags) und eine Männer-welt (Beruf, Sport, Status) gibt, werden die Aufgaben klar zugeteilt blei-ben. Und es machen alle mit: Frauen fühlen sich für ein ordentliches Heim zuständig, Männer für den sozialen Status. Wo sind hier die Bedürfnisse der Männer versteckt, es sollte doch in diesen ersten drei Hypothesen um sie gehen? Die Organisation des Alltags hat sehr viel mit einem funktionie-renden, lebendigem Familienleben zu tun: wenn Männer sich mehr an den wichtigen Alltagsthemen beteiligen – Haushaltsorganisation, Kinderarzt-termine, Elternabende, Klassenausflüge, Gute-Nacht-Geschichten – berei-chert sich auch ihr Alltag und sie nehmen etwas von der Fülle des Lebens mit. Das Leben mit Kindern und deren Bedürfnisse macht auch das eigene Leben bunter und emotional reicher. Die gerechte Aufteilung von Haus-haltsaufgaben verringert zudem die Gefahr, sich als Paar in unterschiedli-chen Welten auseinander zu leben. Putzen, Waschen, Einkaufen macht nicht immer Spaß – aber wenn es gerecht geteilt wird, ist das Vergnügen hinterher für beide größer. Für Frauen bedeutet eine gerechte Aufteilung der Arbeiten innerhalb des Haushalts mehr Zeit, um sich selbst eine Berufstätigkeit aufrechtzuerhalten, die sie finanziell unabhängiger macht und persönlich wachsen lässt.

Sascha und Eva haben seit sieben Jahren eine klassische Aufteilung in ihrer Familie: Sascha arbeitet sehr viel, oftmals 12 Stunden am Tag, häufi-ger auch Samstag und Sonntag. Eva ist für die Familie zuständig, möchte sich aber langsam wieder an eine Berufstätigkeit herantasten. Sie bittet ihren Mann, viermal sonntags auf die beiden Kinder (fünf und sieben Jahre alt) aufzupassen, damit sie einen Computerkurs an der Volkshochschule besuchen kann. Die Sonntage sind für Sascha und Kinder eine wichtige Er-fahrung: sie wissen nämlich erst mal nichts miteinander anzufangen. Sa-scha würde gerne Zeitung lesen und Fernseh-Gucken, die Kinder möchten spielen. Die Kinder beklagen sich bei Eva über die langweiligen Sonntage, Sascha beklagt sich bei Eva über die unerzogenen Kinder. Die Familie setzt sich zusammen und überlegt gemeinsam, wie ein Sonntagsprogramm für Sascha und die beiden Kinder interessant sein könnte.

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Dieses Beispiel ist – wie alle anderem in diesem Artikel – nicht erfun-den. Es gibt diese Familie wirklich und auch das aufgezeigte Phänomen ist nicht neu: Männer, die viel Zeit außerhalb der Familie verbringen, müssen aufpassen, nicht ein Fremder zu werden. Um zu fühlen, wie wertvoll meine Familie ist, brauche ich als Vater echtes Interesse und Zeit. Fazit: Väter stehen heute in Deutschland unter einem wesentlich größeren Druck als früher. Es reicht nicht mehr, die Ernährung der Familie zu si-chern. Um Familie und Beruf tatsächlich unter einen Hut zu bringen, brau-chen Väter gute, familienorientierte betriebliche Regelungen und ein star-kes Eigeninteresse an der Übernahme von Familienaufgaben. Sie müssen gesundheitlich für sich sorgen können, ohne ihre Partnerin oder ihre Kinder zeitlich und emotional zu vernachlässigen.

Wenn sie bereits in zweiter Partnerschaft mit Kindern leben (Patchwork-Familien), so sind sie häufig für die finanzielle Absicherung beider Fami-lien zuständig und wollen ihren Kindern aus beiden Partnerschaften ein zu-gewandter Vater sein. Rasche und effiziente Unterstützung erhalten sie in Deutschland für diese wichtigen – auch gesellschaftlich relevanten – Auf-gaben nicht.

Forderungen an Politik und Gesellschaft: Väter brauchen für die Erfül-lung der an sie gestellten Erwartungen und Aufgaben ebenso Unterstützung wie Mütter. Eine Unternehmenspolitik, die bei der Zuschreibung »familien-freundlich« auch die Väter im Blick hat – zum Beispiel mit flexiblen Ar-beitszeiten, home-office-Plätzen, guten Teilzeitregelungen und Betriebs-kindergärten – ist dabei auf dem richtigen Weg.

Denkt man in Deutschland an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, so denkt man unweigerlich an die Frauen. Junge Frauen sagen in Befragun-gen häufig, dass es für sie selbstverständlich geworden ist, Familie und Be-ruf unter einen Hut zu bringen. Sie glauben an diese Möglichkeit auch tatsächlich so lange, bis sie das erste Kind erwarten.

Dann stellen sie sehr rasch fest, – dass ihr Partner deutlich mehr verdient: in Deutschland verdienen für

die gleiche Arbeit Frauen immer noch durchschnittlich 30% weniger. D.h., dass sie es sind, die ihre Berufstätigkeit mit dem Preis des Karrie-reknicks unterbrechen.

– dass es viel zu wenig Krippenplätze in West-Deutschland gibt: für nur 9 % der unter Dreijährigen gibt es einen Krippenplatz, für nur jedes sechste Kind einen Ganztagesplatz im Kindergarten. Qualifizierte Ta-

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gesmütter sind rar und teuer. Zudem haben die meisten Kindergärten berufs-inkompatible Öffnungszeiten und die flächendeckende Ganz-tagsschule ist nach wie vor ein Wunschtraum von bundesdeutschen Poli-tikern

– dass die Einstellung vieler Menschen in Deutschland immer noch so ist, dass ein Kind »zur Mutter gehört« und deshalb die Mutter die drei Jahre Elternzeit nehmen sollte – sonst passiert es rasch, dass die vermeintliche Rabenmutter von allen Seiten ungefragt Ratschläge erhält. Viele berufs-tätige Mütter berichten von massivem schlechtem Gewissen gegenüber ihren Kindern. Männer kennen dieses Gefühl aufgrund ihrer Berufstätig-keit nicht.

– dass Betriebe wenig Probleme mit der Elternzeit haben, aber häufig vie-le Probleme mit einer Rückkehr in Teilzeit – die Frauen »zahlen« den neuen Teilzeitvertrag häufig mit einem deutlichen geringeren Gehalt als vor der Geburt des Kindes.

– dass inzwischen jede dritte Ehe in Deutschland geschieden wird und die finanzielle Abhängigkeit von einem allein verdienenden Ehemann bei einer Trennung zu einem echten sozialen Abstieg führt.

– Dass die fehlenden Beiträge in der Rentenkasse bei Rückzug aus dem Berufsleben oder einer Teilzeitarbeit sich katastrophal auf die Höhe der Rente auswirkt.

Deutsche Familienpolitik:

1. Krippenplätze und Ganztagsschulen sind in vielen europäischen Ländern nicht nur eine Selbstverständlichkeit, sondern werden als eine besondere Möglichkeit der Förderung von Kindern in sozialer und kognitiver Hinsicht gesehen und genutzt. Eltern sind die wichtigsten Bezugspersonen für Kin-der, aber es dürfen nicht die Einzigen sein. 2. Noch nie gab es so viele hoch qualifizierte Frauen in Deutschland wie heute. In anderen europäischen Ländern sind Betriebskindergärten mit sehr guten Öffnungszeiten Standard. In Deutschland nutzt man das Potential dieser Frauen nicht mehr, sobald sie Mütter geworden sind. Es ist allein der Kampf der Mütter, Berufstätigkeit und Familie zu vereinbaren. Mit fitten Omas, langjährigen Freundinnen-Netzwerken, privaten Krabbelgruppen, netten Nachbarinnen und guten Tagesmüttern werden alle organisatori-schen Möglichkeiten genutzt. Manchmal mit Erfolg, manchmal ohne, aber immer mit einem enormen Stresspotential für die Frauen.

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3. Dieser Artikel handelt von der Berufstätigkeit von Frauen mit Kindern. Es geht nicht um Karriere. Nur rund 10 % der Chefs in Deutschland sind weiblich, obwohl die Anzahl der Studienabgänger sich bei Männern und Frauen angeglichen hat. Frauen zwischen 30 und 40 Jahren verlassen das Unternehmen phasenweise für die Elternzeit. In dieser Zeit machen viele Männer die nächsten Karriereschritte.

Der Erdöl- und Erdgasproduzent Wintershall in Kassel bietet seit drei Jahren seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen Betriebskinder-garten mit flexiblen Öffnungszeiten an. Neben der Versorgung unter der Woche können die angestellten Eltern für Dienstreisen auch Nacht- und Wochenendbetreuung buchen. Die Folge: Mitarbeiter nehmen deutlich kür-zer Elternzeit. Noch vor vier Jahren entschieden sich bei Wintershall fast alle Frauen bei ihrer Rückkehr in den Job für Teilzeit, heute sind es nur noch 20 Prozent. Leider ist dieses Beispiel ziemlich einmalig, denn nicht mal zwei Prozent der Unternehmen in Deutschland haben nach einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft einen Betriebskindergarten. Was können nun in Deutschland Familien tun, die Berufstätigkeit und Fa-milie unter einen Hut bringen möchten? 1. Das Gesetz zur Elternzeit mit der Arbeitsmöglichkeit (zwischen 15 und 30 Stunden/pro Woche) nutzen, um den Anschluss im Betrieb nicht zu ver-passen und um zu signalisieren: mir ist mein Arbeitsplatz absolut wichtig! 2. Sich in der Partnerschaft so früh wie möglich auf ein Modell der gerecht geteilten Haushaltsführung verständigen und nach guten Möglichkeiten der Kinderbetreuung suchen. Frühzeitig Plätze auf Wartelisten in Kindertages-stätten und Kindergärten buchen. 3. Sich Entlastung im Haushalt hinzukaufen, dafür – wenn nötig – an ande-ren Ausgaben sparen. Eine Putzfrau ist günstiger, als man denkt. Bei gerin-gem Budget können bereits sechs Stunden/pro Monat hilfreich sein, das sind 60,– Euro Ausgaben beim Familieneinkommen und mindestens 60 % weniger Stress mit Putzen und Aufräumen. 4. Berufstätigkeit und gelebte Elternschaft als Grundrecht für beide Partner sehen: nur viel Arbeiten für Geld macht müde und nur viel Kinder und Haushalt ebenso. Das Leben durch eine Kombination von beidem aus-schöpfen und für den Partner dadurch interessanter bleiben.

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Und die Bedürfnisse der Kinder? Kinder brauchen: – echte Zuwendung: viel Zeit heißt nicht automatisch viel gute Zeit. Wenn

Eltern ihre Kinder wirklich wahrnehmen, so wird die Zeit für die Kinder wertvoll. Dazu gehört zuhören und erzählen, schmusen und toben, strei-ten und schenken.

– das Gefühl, Verantwortung zu bekommen: wenn die Mama alles macht, ist sie in der Familie für Sauberkeit und Problembeseitigung zuständig. Eine berufstätige Mama weiß, dass alle in der Familie mithelfen müs-sen, dass der Alltag klappt. Und das gibt den Kindern einen wichtigen Platz.

– Vorbilder: Eltern, die finanziell nicht voneinander abhängig sind, son-dern aus Wertschätzung, Freundschaft und Liebe zusammenbleiben. Be-rufstätigkeit ist dann für Kinder so selbstverständlich wie zusammen essen, in den Urlaub fahren, wie Zahnarztbesuche und Geburtstags-partys.1

4.1.3 Frauen in den Kirchen

Bisher wurde die Spiritualität der Frauen in den christlichen Kirchen unter einem Blickwinkel betrachtet, der in seinen Ursprüngen weit in die Ge-schichte der Kirche zurückgreift. Es finden sich auch heute in den Kirchen Frauen, die ihre gegenwärtige Lebensform aus den historischen Bildern herleiten. Sie verstehen sich in der Tradition einer vorbildhaften, heiligen Gestalt ihrer Kirche und leben, jeweils historisch überdacht und der verän-derten Zeit angepasst, die Impulse ihrer Ordensgründerinnen nach. Dabei sind diese Impulse als gleichzeitig zeitgebunden und zeitlos zu betrachten.

Von der Spiritualität, die durch jahrhunderte alte, erprobte Traditionen in den Orden der katholischen Kirche gelebt wurde, möchte ich nun den Bogen ausspannen zur Vermittlung mit der Lebenssituation von Frauen in der heutigen Kirche und Gesellschaft. Dabei gehe ich davon aus, dass ich mich hier auf eine Suche nach Spiritualität, nach erfahrener und gelebter Bindung an religiöse Tradition und religiöses Erleben, begeben muss.

In Bahnen gelenkte Vorgaben wie in den Orden werden von den heuti-gen Frauen auf der Suche nach Spiritualität mitten im Alltag von Beruf und Familie, von Anspruch und Karriere, eher abgelehnt.

Es ist offenkundig, dass das Modell der Ordensgemeinschaften eine gro-ße historische Tradition hat und verschiedentlich auch in Neugründungen

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von Kongregationen im 20. Jahrhundert weiterentwickelt wurde. Das be-wahrende Element der Tradition ist wesentlich, um an ihm zu lernen. Des-halb ist es gut, es in Erinnerung zu rufen oder späteren Generationen über-haupt als historischen Erfahrungsschatz zur Kenntnis zu bringen. Dies wur-de mir deutlich während des Studiums der exemplarischen Geschichte der Angela Merici, wie ich sie dargestellt habe.

Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die traditionsreichen katholischen Frauenorden im wesentlichen mit dem Problem kämpfen, junge Frauen heute nur noch selten für ihren Weg gewinnen zu können – oder aber, dass die traditionellen Wege innerhalb der Ordensgemeinschaften durch Spi-ritualität aus anderen Quellen als den in den Regeln des Ordens überkom-menen gespeist werden. Ein solcher Vorgang führt zu Generationenkonflik-ten und inneren Zerreißproben für das Selbstverständnis der Gemein-schaften, wie mir im Interview durch eine Ordensschwester dargestellt wurde. Sie beklagte, dass jüngere Frauen in ihrem Orden aus »unklaren spirituellen« Quellen leben möchten, d. h. sie wollen sich nicht so stringent an die Regeln binden und neigen anstatt dessen zu charismatischen Positio-nen. Dies aber wird von den leitenden Personen im Orden als eine gefähr-liche Herausforderung bewährter Tradition empfunden.

Die feministische Theologie, die in den achtziger Jahren in Deutschland populär geworden ist, sucht deutlich neue Wege gegenüber den vielfach verborgenen oder auch offenkundigen Diskriminierungen von Frauen und ihrer Lebensweise und Lebenswelt innerhalb der Kirchen.

Diese Theologie hat damit Widerspruch hervorgerufen, aber auch Er-folge erzielt.

Die Kritik an benachteiligenden Lebensbedingungen für Frauen ist noch nicht erschöpft, wird aber gleichzeitig durch eine sich ständig wandelnde Welt der Männer korrigiert – und nicht zuletzt dadurch, dass ökonomische Bedingungen und Prozesse zunehmend Frauen und Männer in der gleichen Weise betreffen. Von daher ist am ehesten zu fragen, inwieweit auf der Ebene von sich wandelnden Mentalitäten bei Frauen und Männern, vom Überprüfen und Korrigieren eingeschliffener Gewohnheiten und Vorur-teilen bei Angehörigen beider Geschlechter Veränderungen vorgegangen sind.

Zunächst möchte ich dieser Fragestellung für den Bereich der Theologie und Kirche nachgehen. Weiter ist zu fragen, inwieweit unsere gesamte, als grundsätzlich vom Christentum definierte Gesellschaft ihre Anschauungen und Werte für das Zusammenleben der Geschlechter wandelt. Dazu tragen

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viele Umstände bei, und der spezielle Einfluss der Kirchen wird vielleicht nicht mehr so hoch anzusetzen sein wie in der Vergangenheit.

In Deutschland ist die Gleichstellung der Geschlechter – zumindest vom geschriebenen Gesetz her – in fast allen Gebieten, also auch in den Kir-chen, erreicht.

Ein Antidiskriminierungsgesetz ist auf dem Weg, und das Grundgesetz gewährleistet auch jeder Frau, ihr Leben selbst bestimmt zu gestalten. Sie ist frei in der Wahl ihres Partners, wenn sie möchte auch ihrer Partnerin. Sie bestimmt selbst ihren Aufenthaltsort, die Auswahl ihrer Kleidung und ob sie arbeiten bzw. studieren möchte. Sie kann über ihr eigenes Geld frei verfügen. Sie hat das Recht auf körperliche Selbstbestimmung, kann zur Wahl gehen und sich wählen lassen, und sie entscheidet selbst, welcher Re-ligion sie angehören bzw. wie sie ihr spirituelles Leben gestalten möchte.

Im täglichen Zusammenleben der Geschlechter zeigt sich jedoch, wie schwierig die praktische Umsetzung dieser Gesetze noch immer ist.

4.1.3.1 Rechtslage der Frauen in den Kirchen

Wenn man die Situation der katholischen Kirche betrachtet, so bietet sich ein sehr diffuses Bild darüber, welche Rechte Frauen tatsächlich haben, in-wieweit sie damit angesichts der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung zu-frieden sind und wie das begründet wird.

Sicher ist, dass in Bezug auf das Recht, den Beruf des Priesters auszu-üben, den Frauen immer noch keine mit Männern gleichen Chancen eröff-net werden. Dennoch können Frauen katholische Theologie studieren und im Beruf als Pastoraltheologin weitgehend Gemeinden leiten.

Bei den Gesprächen mit Vertreterinnen der Frauen-Orden, z. T. führen-den Vertreterinnen, wurde schon geäußert, es gäbe keine stichhaltigen Ar-gumente gegen die Frauen-Ordination. Es sei für die entsprechenden Frau-en eine merkwürdige Erfahrung, zu leitenden und unterrichtenden Tätig-keiten zugelassen zu sein, aber nicht in eigener Regie die Eucharistie feiern zu dürfen.

Innerhalb der Ortsgemeinden der katholischen Kirche herrscht eine Auf-gabenteilung nach der Qualifikation des »Amtes«; es sind z. T. Pastoral-referentinnen oder auch Pastoralreferenten da, und sie tun qualifizierte Ar-beit, gleichzeitig aber haben sie nicht die gleichen Rechte wie ein Priester.

Die Definition des Priesteramtes, das noch immer nur Männern vorbe-halten ist, lässt hier eine völlig andere Wertigkeit und Diskussionslage

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entstehen gegenüber den üblichen Gleichberechtigungs-Debatten in der deutschen Gesellschaft.

Die protestantischen Kirchen stehen in Hinsicht auf die Situation von Frauen innerhalb der Kirchen an anderer Stelle, da sie sich im Wesentli-chen dem üblichen gesellschaftlichen Diskurs in dieser Frage anschließen können. Das gilt besonders im Hinblick auf die seit ungefähr 50 Jahren in größerem Umfang praktizierte Ordination von Pfarrerinnen.

4.1.3.2 Aspekte der Praxis in der evangelischen Kirche

Die Betrachtungen zur Praxis der Berufstätigkeit von Frauen in der evan-gelischen Kirche sind eingeschränkt auf die Entwicklung innerhalb des 20. Jahrhunderts und auf die Entwicklung des Pfarrberufes oder ihm ver-wandter Tätigkeiten. Sie beginnen allerdings mit einer Zeit in der evangeli-schen Kirche, in der die explizite Frage nach der Rolle von Frauen in lei-tenden beruflichen Funktionen der Kirche noch nicht gestellt wurde.

Natürlich waren schon lange in der Diakonie tätige Frauen bekannt. Die historische Rolle von Frauen, wie sie in den Orden der katholischen Kirche bereits betrachtet wurde, wird am ehesten im Entstehen des Berufes und »Amtes« der Diakonissen in der Mitte des 19. Jahrhunderts und ihrer theo-logische Fundierung zu betrachten sein; dies müsste aber Gegenstand einer eigenen Untersuchung sein und würde den Rahmen der vorliegenden The-matik sprengen.

Der Zeitabschnitt, um den es hier geht, sticht sicher von vielen anderen in seiner Bedeutung ab. Als die evangelische Kirche in der Zeit des Dritten Reiches unter staatlichen Druck geriet und Teile der Kirche sich zum Wi-derstand gezwungen sahen, waren auch Frauen darunter.

In den historischen Aufzeichnungen über die Zeit der Bekennenden Kirche erscheinen überwiegend Männer. Die illegalen Gremien der Leitung setzten sich aus Männern zu-sammen, und die Beschlüsse und die Abkündigungen der Bekenntnissynode waren von Männern verfasst worden. Dennoch spielten die Frauen auch in jener Zeit in der Kirche eine große Rolle, aber als »Fußvolk«. Sie traten nicht so sehr nach außen hin in Erschei-nung.

So schreibt Renate Scharf in einem Vorwort zu einem Buch, das Männer über »Frauen im Kirchenkampf« verfasst haben.2

Sekretärinnen der Kirchenbeamten, Oberschwestern, Pfarrfrauen be-rühmter Pastoren aus dem Widerstand erhalten in diesem Buch eine ge-rechte Anerkennung für ihre Zu-Arbeit für die Männer in den Ämtern der Kirche. Vereinzelt wird über Frauen berichtet, die ein Theologiestudium

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absolviert hatten, Vikarinnen geworden waren (was das Ende ihrer Karriere bedeutete, denn zur Ordination einer Frau entschloss man sich damals noch nicht, die Verfasserin).

Wenn Vikarinnen einen Pfarrer (oder überhaupt) geheiratet hatten, mussten sie auf die Ausübung ihres Amtes verzichten. In dem oben ge-nannten Band erscheinen die ehemaligen Vikarinnen und Ehefrauen von Pfarrern hauptsächlich, weil ihre Männer im Kirchenkampf eine Rolle spielten.

Der letzte Satz des Buches lautet: »Warum alle diese Beispiele (von Frauen, die Verfasserin)? Weil nun einmal niemand »Kirche« sagen kann, ohne Frauen zu meinen.«3

In der Zeit des Zweiten Weltkrieges wurden gelegentlich Frauen im Pfarrdienst mit gleichen Pflichten wie die Männer eingesetzt, die an der Front waren und die von den Frauen vertreten wurden. Nach dem Ende des Krieges wurden diese Errungenschaften aber weitgehend wieder rückgän-gig gemacht.

Dies wurde nicht nur in der evangelischen Kirche, sondern in vielen Be-reichen des Berufslebens so geregelt. Erst langsam entschlossen sich die Landeskirchen zur Ordination von Pfarrerinnen, zunächst nur befristet für den Dienst, solange sie nicht verheiratet waren. Mit der Eheschließung wa-ren alle Rechte an die Ordination wieder verloren.

Die evangelische Landeskirche von Bayern war die letzte, die sich erst Ende der 70er Jahren des 20. Jahrhunderts dazu entschlossen hat, Frauen zu ordinieren.

Heute können innerhalb der evangelischen Kirche alle Ämter und Auf-gaben von Frauen und Männern in gleicher Weise wahrgenommen werden; dies gilt bis hin zu Bischofsämtern, wenn auch, wie überall in unserer Ge-sellschaft, die zahlenmäßige Repräsentanz der Frauen gegenüber den Män-nern mit der Qualifikation des Amtes abnimmt.

Eine gewisse Erfahrung mit der Ordination von Frauen – verheirateten und unverheirateten – gelegentlich auch Müttern – lag bereits vor, als Bri-gitte Enzner-Probst ihre Studie veröffentlichte: »Pfarrerin. Als Frau in einem Männerberuf«.4

Interessant ist, die Überschriften des oben genannten Buches auszugs-weise zu zitieren, um einen Überblick über die Geschichte des Pfarrerin-nenberufes zu gewinnen: – Gleichstellung auf Raten5 – Die » Gehilfin«6

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– Die Theologin als »Die Andere«7 – Die »Unsichtbarkeit« der Pfarrerin in der pastoraltheologischen Literatur8 Ein führender deutscher Pastoraltheologe hat noch im Jahre 1982 ein Buch herausgegeben unter dem Titel »Der Pfarrer ist anders«.9

4.1.3.3 Aspekte der Praxis in der katholischen Kirche

In einer Studie aus dem Jahre 1983/84 beschäftigt sich Iris Müller mit der zahlenmäßigen und geistigen Repräsentanz von Frauen in der theologi-schen Forschung in Deutschland.10 Es sind weniger die Zahlen von zu die-ser Zeit existenten Mitarbeiterinnen innerhalb der von ihr betrachteten theologischen Fakultät der Universität Münster als vielmehr die Argumen-tationsketten, die sie aufweist, die einen Eindruck der Situation geben.

Theologinnen schieden damals grundsätzlich nach Ablauf ihrer Assis-tentenzeit aus der Hochschule aus, da für sie keine Aussicht auf einen Lehr-stuhl innerhalb der katholischen Theologie bestand. Es wurden zudem nur sehr selten Frauen für eine wissenschaftliche Tätigkeit an der Hochschule vorgeschlagen. Dennoch bemerkt die Autorin, dass die von den Benachtei-ligungen betroffenen Frauen nicht wesentlich auf die Situation reagiert haben. Sie haben nach ihrer Ansicht weder Widerstand geleistet noch Ge-genstrategien entwickelt.11

Die wenigen Studentinnen der Theologie wurden damals von der Auto-rin über ihre Meinung über die Ordination von Frauen zum Priesteramt in der katholischen Kirche befragt. »Als ich in den frühen sechziger Jahren die mir bekannten Theologiestudentinnen mit meiner Auffassung konfron-tierte, der Ausschluss der Frau von der Ordination beruhe auf Diskriminie-rung, Frauen, die die Berufung zum geistlichen Beruf hätten, könnten dem-zufolge den Beruf des Geistlichen genauso wie die Männer ausüben, brachen sie in Lachen aus. Sie erklärten mir, dass das Wesen der Frau nicht mit der Ordination zum Priesteramt zu vereinbaren sei. Sie gestanden mir zu, dass sie wohl wüssten, was sie hätten werden wollen, »wenn sie Jungen wären«, da das aber nicht der Fall sei, hätten sie als Frauen »andere Auf-gaben«.12

Es wurde die Auffassung geteilt, dass in der Kirche zunächst ganz gene-rell die Position des Laien gestärkt werden müsse, bevor Frauen in der Kir-che ein Amt übernehmen könnten.

In Gesprächen mit Studentinnen der frühen sechziger Jahre stellte sich heraus, dass die meisten von ihnen nichts mit dem Verfassungsangebot der Gleichstellung der Frau mit dem Mann anzufangen wussten, die faktische Benachteiligung der Frau in der Gesell-

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schaft der Bundesrepublik, die dem Verfassungsangebot total widersprach, war für sie kein Stein des Anstoßes, sondern rechtfertigte sich ihrer Ansicht nach damit, dass Frau-en nun einmal durch das Kinderkriegen an einer lebenslangen Berufstätigkeit und an einem Wirken in der Öffentlichkeit gehindert seien.13

Diese Debatte ist gesellschaftlich sicher schon lange überholt. Und zudem kann man konstatieren: Nach der schwierigen weiteren historischen Ent-wicklung des Problems der Frauenordination in der katholischen Kirche – zusammen mit der Beibehaltung des Zölibats – wird der Wunsch junger Menschen beiderlei Geschlechts, den Priesterberuf zu ergreifen, von selbst in Deutschland immer seltener.

Dennoch ist es sinnvoll, eine solche vorausgehende Diskussionslage darzustellen, ehe Erhebungen aus aktuellen Publikationen mögliche Verän-derungen aufzeigen.

Die Stellung der Laien hat auf jeden Fall in dem seit der oben genannten Veröffentlichung vergangenen Zeitraum eine positive Veränderung inner-halb der katholischen Kirche erfahren.

So wird vom Kirchenrecht her, wenn man es grob überfliegend darstellt, unterschieden zwischen dem »Dienst« innerhalb der Kirche, den viele Laien, Männer wie Frauen ausüben – etwa als Vorsitzende eines Pfarr-gemeinderates – und einem »Amt«, das nur in seltenen Fällen von Frauen ausgeübt wird, weil es in der Regel an die Weihe gebunden ist. Ausnahmen bilden hohe Laienfunktionen, wie etwa der Vorsitz im Leitungsgremium einer Akademie; hier wird in Anbindung an einen hohen geweihten kirchli-chen Würdenträger dem Laien die Funktion der Ausübung eines »Amtes« zugestanden.

Die kirchenrechtliche Unterscheidung von »Dienst« und »Amt« wird folgendermaßen begründet: Ein Dienst wird nach den Vorgaben einer be-stimmten Kirchenbehörde auf vorherige Definition durch kirchliche Gre-mien ausgeübt, ein Amt wird in der apostolischen Sukzession als göttlichen Ursprungs angesehen und kann nicht per Setzung eines kirchlichen Gre-miums bestimmt werden.

Das Amt ist sakramental verankert. Frauen kommen über die verschie-denen Funktionen der Seelsorge, die ihnen übertragen werden, in Dienste innerhalb der Kirche, die sie oft nahe an die Funktionen der Amtsträger heranführen. Dies gilt natürlich nicht nur für die Frauen, sondern auch für die Dienstausübung der männlichen Laien-Theologen.

Für Frauen speziell gilt, dass es innerhalb der katholischen Kirche Vor-stellungen und auch Rechtsfestlegungen gibt, die sich auf das »Wesen der

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Frau« berufen, das zu Aufgaben der Seelsorge und der Diakonie innerhalb der Kirche besonders geschaffen ist.

Auf dem Weg über diese spezialisierten Aufgaben, die Frauen qualifi-ziert wahrnehmen, wird langsam institutionalisiert, dass der Grad der Un-terscheidung zwischen »Dienst« und »Amt« zumindest für die erkennbare Praxis immer geringer wird.

Unter den Überschriften »Nicht nur Seelsorgerin, sondern auch Amts-trägerin« sowie »Der gestufte Zugang zum Amt als rechtliche Konsequenz seiner sakramentalen Verankerung« behandelt die Kirchenrechtlerin Sabine Demel diese Fragenkomplexe.14 Sie thematisiert in diesem Zusammenhang auch Fragen, die sich innerhalb der ständig von der katholischen Kirche ge-führten Diskussion um die Priesterweihe der Frauen ergeben.15 Es wird von einem Fall berichtet, in dem sieben Frauen nach entsprechender vorheriger Ausbildung von einem »katholisch-charismatischen« Erzbischof zu Prieste-rinnen geweiht wurden. Dies hat sofortige strafrechtliche Reaktionen der Glaubenskongregation ausgelöst.16

4.2 Frauen in islamischen Gesellschaften

Das 19. Jahrhundert brachte eine Wende in der Geschichte der Frauen im Islam. Mit dem Niedergang der politischen Macht der islamischen Staaten wurde die Frage aufgeworfen, worin die Gründe für die Rückständigkeit der Gesellschaften zu suchen seien.

Eine mögliche Antwort wurde gesucht in der Unterdrückung und Weg-schließung der Frauen aus dem öffentlichen und gesellschaftlichen Leben. Weiter oben wurden bereits entsprechende kritische literarische Dokumente erwähnt.17

Wenn auch in der Zeit ihres Erscheinens im Wesentlichen negative Re-aktionen zu verzeichnen waren und der Verfasser der Schrift »Die Befrei-ung der Frau«, Qasim Amin, deren Veröffentlichung mit dem Verlust sei-ner beruflichen Position bezahlen musste, ergaben sich doch langfristige Konsequenzen aus den Ansätzen. Dies geschah sicher auch unter dem stän-digen Einfluss europäischer Länder und Kulturen.

So folgten entsprechende Reaktionen in der Förderung der Mädchen in den islamischen Ländern.

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4.2.1 Bildung und Beruf

In allen folgenden Berichten, Daten und Zahlen wird auf entsprechende, der Verfasserin zugängliche und ihr bekannte Literatur Bezug genommen, die sicherlich im Rahmen jeweils partieller historischer Studien um ein Vielfaches ergänzt werden könnte. Die Daten dienen einem Überblick über die Geschichte der Frauen in den verschiedenen Ländern.

1873 wurde in Kairo die erste Mädchenschule eröffnet.18 Im Irak wurde die erste Mädchenschule 1899 gegründet, im Iran 1917, in Saudi Arabien erst 1959. In Afghanistan wurde dann im Zuge der Taliban-Revolution den Frauen die Schulpflicht wieder genommen.19 Dies ist allerdings ein politi-sches Sonder-Phänomen, das nicht auf die gesamte islamische Kultur zu übertragen ist

Im Oktober 1913 wurde in Istanbul eine Frauenuniversität gegründet, die aber ihrem Ni-veau nach eher eine höhere Schule war. Ab Februar 1914 führte man regelmäßige Frau-enkurse an der Universität ein. Ein Gesetz über allgemeine Schulpflicht wurde im Okto-ber 1913 erlassen. Es konnte zwar noch nicht allgemein durchgesetzt werden, sah aber – ein großes Novum – Koedukation für Jungen und Mädchen bis zum Alter von 12 Jahren vor, etwas, was bis in die Gegenwart noch längst nicht in allen islamischen Ländern üb-lich ist.

1919 eröffnete der türkische Unterrichtsminister Vorlesungen für Frauen an der Philoso-phischen Fakultät der Universität Istanbul.20

Die Frauen mussten getrennt von den männlichen Kommilitonen sitzen und durften nur während der Vorlesungen den Schleier heben. Mitte der zwan-ziger Jahre wurde in Ägypten ein Universitätsstudium für Frauen ermög-licht. Die Universität von Teheran wurde 1935 gegründet, und seit 1938 war es Frauen möglich, Zugang zu Berufen bis zu Positionen in der Regie-rung zu erlangen.

1922 gab es die erste Praxis einer türkischen Ärztin, 1927 die erste Rechtsanwältin in Istanbul, 1930 die erste Richterin, 1932 die erste Staats-anwältin. Die Ausübung solcher Berufe ist Frauen bis heute noch nicht in allen islamischen Staaten möglich. Promotionen von Frauen gab es verein-zelt, 1937 im Irak eine Doktorin der Medizin und später 1960 eine Promo-tion in den Naturwissenschaften.

Diesen formalen Rechte und Möglichkeiten werden noch immer nicht von sehr großen Prozentzahlen der Bevölkerung ergriffen. Viele Frauen, besonders auf dem Lande, haben noch immer keine oder nur eine sehr ge-ringe Schulbildung.

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Auf Grund immer noch vorherrschender Tabuvorstellungen über den freieren Umgang der Geschlechter ziehen Frauen in den islamischen Ländern heute noch bestimmte Be-rufe vor: Akademikerinnen sind vor allem als Lehrerinnen in Mädchenschulen tätig, als Professorinnen vor allem in den Mädchenfakultäten, die viele Universitäten islamischer Länder noch aufweisen. Frauen arbeiten als Krankenschwestern, meistens in Frauen- und Kinderstationen. Werkhallen in Fabriken sind oft Frauen oder Männern vorbehal-ten.

Eine Marokkanerin, die 1974 an einer US-amerikanischen Universität promovierte, schrieb in ihrer Dissertation, in Marokko stände ein Mädchen, das überall dahin gehen muss, wohin es sein Beruf verpflichtet, auf der untersten Ebene der sozialen Skala. Der Rückzug der Frau aus der Öffentlichkeit sei heute noch das Privileg der Frauen reicher Männer.21

4.2.2 Ehe und Familie

In einigen arabischen Ländern, in Libyen seit 1971, in Saudi-Arabien seit seinem Bestehen, auch in Pakistan und Ägypten, gilt die Scharia unverän-dert und wurde zum Teil rückwirkend, wenn es notwendig erschien, aller späteren Zusätze entkleidet. Die meisten islamischen Länder haben an der Scharia festgehalten, aber so, dass auch Elemente der historisch gewachse-nen Bedingungen mit in die heutige Auslegung einfließen. Man erstrebt auf diese Weise eine Gesetzgebung, die sowohl den Regeln des Islam ent-spricht als auch den Erfordernissen der modernen Welt.

Am weitesten im Sinne westlich-demokratischer Vorstellungen ist bis-her die Türkei gegangen, die im Jahre 1926 das Schweizer Zivilrecht über-nommen hat. Damit sind auch gleichzeitig die Vielehe und das Recht des Ehemannes auf die Verstoßung der Ehefrau abgeschafft. Nur zögernd hat sich die Bevölkerung diesen Bedingungen gebeugt und stattdessen oft noch vorgezogen, die Ehen weiterhin von einem Imam schließen zu lassen.

In den muslimischen Ländern, in denen noch die Polygamie erlaubt ist, hat die Frau das Recht auf eine Scheidung, wenn der Mann eine andere Frau dazu heiratet. In manchen Ländern muss der Mann vor einem solchen Schritt nachweisen, dass er in der Lage ist, eine weitere Frau zu finan-zieren.

Das Mündigkeitsalter für die Eheschließung wurde in einigen Ländern heraufgesetzt. Generell liegt es bei 18 Jahren für den Mann und bei 16 Jah-ren für die Frau. In Tunesien wurde es auf 20/17 festgesetzt, im Iran 1974 auf 20/18.22 In Ausnahmefällen werden von Richtern auch Ehen in frühe-rem Alter gestattet.

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In einigen Ländern, so etwa Tunesien, aber auch im Jemen, ist sogar ge-setzlich festgelegt, dass die Frau zusammen mit dem Mann für den Unter-halt der Familie aufzukommen hat. Dazu ist sie nach der Scharia und der islamischen Tradition nicht verpflichtet.

Mit dieser Verantwortung, die ihr zugemutet wird, steigt auch die sozia-le Wertung der Frau, die nun nicht mehr nur als ein hilfloses Wesen ange-sehen werden kann.

Der Vater oder Vormund hatte nach der Tradition der Scharia das Recht, eine Tochter zur Ehe zu zwingen, solange sie minderjährig war. Dies wird heute unter Androhung von Strafen verboten, wird aber leider immer noch gelegentlich so gehandhabt.

Noch immer stehen in manchen Ländern gerechte Regelungen für den Unterhalt einer Frau nach der Scheidung offen. Sie darf aber die Kinder länger behalten, als die Scharia es früher vorsah (bis zur Entwöhnung – die Verfasserin).

In Ländern, in denen zum »Ur-Islam« zurückgekehrt wurde, muss sich nicht automatisch damit die Situation der Frauen und Mädchen drastisch verschlechtern. In Libyen haben Jungen und Mädchen trotzdem das gleiche Recht auf Schulbildung und Berufsausbildung.

Noch immer gehört es zur gesellschaftlichen Sitte, dass die Väter den Töchtern den Ehemann aussuchen. Darin äußert sich auch der Stolz auf die eigene islamische Kultur, der an manchen enttäuschenden Erfahrungen mit der westlichen Welt gewachsen ist. In der Rückbesinnung auf den Islam sucht man in vielen islamischen Ländern heute die Kraft, die Entwicklung der Gegenwart zu bewältigen. Dies umfasst allerdings alle geschilderten Widersprüche auch für die Situation der Frauen – von denen allerdings die christliche Gesellschaft ebenfalls nicht verschont ist.

»Das Emanzipationsgesetz hilft den Frauen in Marokko wenig« – lautet der Titel eines Zeitungsartikels.23

Bisher hat die Revolution nur auf dem Papier stattgefunden. Als in Marokko vor einem Jahr die Gesetze zur rechtlichen Gleichstellung der Frau in Kraft traten, hatten die Poli-tiker dies als den Beginn einer neuen Ära gefeiert. Ausgerechnet das sonst so konserva-tive und traditionalistische Land in Nordafrika wollte mit der Reform zu den fortschritt-lichsten Staaten in der arabischen Welt (wie z. B. Tunesien) aufschließen. Die im Islam erlaubte Vielehe wurde fast unmöglich gemacht, die Frauen wurden von der Jahrhunder-te alten Vormundschaft ihrer Väter und Ehemänner befreit.24

Ein Jahr nach in Kraft treten der Reform hat sich noch nicht viel geändert. Die Praxis der Vielehe besteht noch, auch wenn der Mann dazu jetzt eine richterliche Erlaubnis braucht, die er in der Regel bekommt. Faktisch sind

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sowieso nur noch zwei Prozent aller Männer mit mehreren Frauen verheira-tet, zum einen, weil die Frauen das nicht mehr anders dulden, zum anderen aus wirtschaftlichen Gründen.

Bedeutender für die aktuelle Situation der Frauen war das neue Recht, nach dem die Töchter für die Eheschließung nicht mehr die Einwilligung der Väter brauchen. Dies heißt aber in der Praxis derzeit nur, dass die Un-terschrift des Vaters nicht mehr auf der Heiratsurkunde erscheint. Alle an-deren Regelungen werden weiterhin in alten Formen getroffen. »Von dem Gesetzestext hat eine Frau keinen Schutz zu erwarten, sondern zuerst von ihrer Familie«. So ist die Einwilligung des Vaters auch als eine Form der Sorge und der Protektion der Tochter zu verstehen: »Mein Vater beschützt mich« – als Signal an die Familie des Mannes.

Auch Scheidungen sollen nach dem neuen Recht anders geregelt werden als früher. Sie müssen auf jeden Fall vor einem Gericht vorgenommen wer-den nach einem ordnungsgemäßen Verfahren. Ein Mann kann seine Frau nicht einfach »wegschicken«. In der Praxis heißt es in der Regel doch noch, dass eine Frau freiwillig auf die ihr zustehenden Rechte verzichtet, weil sie mit den Gesetzen nicht umgehen kann oder weil sie die Folgen ihrer »Selbstständigkeit« fürchtet.

Dennoch ziehen marokkanische Frauenrechtlerinnen ein Jahr nach der Reform keineswegs eine negative Bilanz. »Zur Gleichberechtigung bleibt zwar noch viel zu tun. Aber es kommt oft vor, dass sich das Gesetz ändert und danach erst die Mentalität der Leute«, so Aisha Zaimi Sakhri, Journa-listin. »Um die Reform in die Tat umzusetzen, bedarf es vor allem eines grundlegenden Mentalitätswandels bei Männern und bei Frauen.«

4.2.3 Frauenorganisationen – politische Rechte

Auch im Kampf der Frauen um die Emanzipation, Gleichberechtigung und Reformen des Familienrechtes spielte Ägypten eine Vorreiterrolle in der arabischen Welt.25

Malak Hifni Nasif lebte von 1886 bis 1918 in Ägypten. Ihr Vater gehörte dem Kreis um Mohammed Abduh an, einem Sozialreformer des 19. Jahr-hunderts, an, der auch mit Qasim Amin zusammen arbeitete. Nasif publi-zierte meistens unter einem Pseudonym.26 Sie äußerte sich zu Fragen der Mädchenbildung und forderte Schulgeldfreiheit, berufliche Chancengleich-heit, die Zulassung von Frauen zu Moscheen und öffentlichen Ämtern sowie Einschränkungen bei der Verschleierung und der Polygamie. Malak

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Hifni Nasif und Qasim Amin gelten bis heute als die ideologischen Begrün-der der reformorientierten Frauenbewegungen, die erstmals heute noch ak-tuelle Forderungen formulierten.27

Frauenclubs und Frauengesellschaften bildeten sich in der Türkei bereits in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg und vor der Gründung des modernen Staates. 1923 wurde bereits eine Frauenvereinigung im Irak gegründet.28

Dabei sollte eine weitere Alphabetisierung der Frauen vorangetrieben werden, es ging um Gesundheitsfragen und die Verbesserung der geltenden Standards, ebenso um Familienplanung. Natürlich waren in diesen Vereini-gungen nur Frauen vertreten, die zu gut situierten und gebildeten Schichten gehörten und die die genannten Ziele individuell schon erreicht hatten. Be-rühmt unter ihnen wurde Huda Shadawi, die 1922 mit anderen Frauen die ägyptische Frauenunion gründete und die über Jahrzehnte deren Leitfigur blieb.29 »Berühmt wurde sie vor allem dadurch, dass sie 1923 bei der Rück-kehr von einer internationalen Konferenz für das Frauenwahlrecht in Rom ihren damals in gehobenen Kreisen üblichen Gesichtsschleier demonstrativ in das Hafenbecken von Alexandria warf.«30 Huda Shadawi starb 1947.

Hauptabsicht der Vereinigungen war, für die Frauen das Wahlrecht durchzusetzen. In Ägypten wurde dieses Ziel erst 1956 erreicht. »Die eigentliche Nachfolge von Huda Shadawi trat Durriya Shafiq mit der 1948 bis 1954 bestehenden Vereinigung ›Tochter des Nils‹ an, die neben sozia-len und kulturellen Aktivitäten die verfassungsmäßige Verankerung von Frauenrechten verlangte und damit vehemente Proteste von konservativ-islamischer Seite auslöste.«31 Es wurde ein Rechtsgutachten (eine Fatwa) erlassen, in dem das Wahlrecht der Frauen als unvereinbar mit dem Islam bezeichnet wurde.

Nach einem Staatsstreich westlich orientierter Offiziere wurden aller-dings dann doch in Ägypten und allmählich auch in anderen Regionen der arabischen Welt die Forderungen der Reform- und Frauenbewegungen um-gesetzt. Gleichzeitig mit dem Erreichen des Wahlrechts wurden in Ägypten Männer und Frauen für gleichberechtigt erklärt. Frauen konnten dann poli-tische Ämter anstreben, sich wählen lassen, Abgeordnete des Parlamentes werden.

In der Türkei vollzog sich der Weg zum Wahlrecht für die Frauen und zu ihrer politischen Gleichstellung in drei Schritten, zwischen 1930 und 1934. 1935 wurden dann gleich 17 weibliche Abgeordnete für das türkische Parlament gewählt; diese Zahlen blieben aber nicht stabil. In den anderen

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arabischen Ländern haben die Frauen inzwischen überall das Wahlrecht, meistens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Seit 1970 existieren auch moderne Frauenbewegungen. Eine der Spre-cherinnen ist Fatima Mernissi, die die Trennung von Religion und Staat als gesetzliche Grundlage für die Gleichberechtigung der Geschlechter fordert.

Nawal El-Saadawi ist eine andere führende Vertreterin der Frauenbewe-gung.32 Sie ist Ärztin und diskutiert in ihren Publikationen die Sexualität als ein Feld von Gewalt und autoritärer Unterdrückung der Frauen. Sie kämpfte vor allem gegen die Sitte der Mädchenbeschneidung. Sie erlangte nach Verfolgung und Kampf die Anerkennung ihrer Organisation »Solida-rität arabischer Frauen«, die sie zusammen mit der Koptin Marylin Tadros führte und die über 500 Mitglieder in vielen arabischen Ländern zählte.

Aufgrund des konservativen Protestes wurde das Büro der Organisation in Ägypten 1991 geschlossen, ihre weitere Tätigkeit und ihre Publikationen wurden verboten. Trotzdem werden Nawal El-Saadawis Bücher weiterhin in Kairo frei verkauft.

In Ergänzung zur politisch operierenden Frauen-Bewegung unterstützen auch feministisch orientierte Schriftstellerinnen die Anliegen der Frauen.33

Die Problematik der arabisch- islamischen Frauenbewegung liegt aber darin, dass die meisten Frauen nicht über ausreichende Bildung verfügen, um deren Bücher zu lesen, und nicht um ausreichende Freiheit, um deren Gedanken wenigstens ansatzweise umzusetzen.34

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5 Zum Selbstverständnis und zur Darstellung von Musliminnen in Deutschland

Im folgenden Kapitel werden in biographischen Interviews erhobene Selbstverständnisse islamischer Frauen, die in Deutschland leben, referiert. Darüber hinaus werden Informationen über die Situation von Migrantinnen aus islamischen Ländern in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und innerhalb der letzten 4o Jahre in den Blick genommen, wie sie in den zitier-ten Quellentexten erscheinen. Als Quellen wurden die unten genannten, be-reits publizierten Auffassungen verschiedener Autorinnen benutzt.

Die genannten Eindrücke und Meinungen sollen dem Zweck dienen, über in Deutschland entstandene Bilder von Migrantinnen aus islamischen Ländern in einen bi-kulturellen und bi-religiösen Austausch treten zu kön-nen.

Die Berechtigung dieser Bilder und die Realität der vorgenommenen Charakterisierungen wird in den Texten oft selbst in Frage gestellt, oder aber sie wird kritisch und im Sinne eines Denkanstoßes gesehen, der die europäische bzw. deutsche Sicht kritisch hinterfragt.

Es erfolgt dabei nicht eine Zuschreibung oder auch eine Darstellung festgeschriebener Realitäten – im Gegenteil, jedes Betrachten impliziert in sich den Wunsch nach Veränderung im Sinne einer angemesseneren Wahr-nehmung der Realität von Frauen verschiedener kultureller und religiöser Prägung, die mit einander im gleichen Land leben.

5.1 Biographische Selbstkonstruktionen von Musliminnen

In einer qualitativ- empirischen Untersuchung zur Religiosität sunnitisch geprägter Türkinnen in Deutschland beschreibt Gritt Klinkhammer, wel-chen unterschiedlichen Stellenwert der Islam als traditionelle Bindung, als individuelle Sinngebungs-Form, als innere Struktur der Spiritualität für tür-

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kische junge Frauen hat, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind.1

In den meisten Fällen wurde die aus der Türkei von den Eltern mitge-brachte und formal an die Kinder weitergegebene Religion von diesen nicht als echt und auch nicht als nachahmenswert erlebt. Andererseits notierten die Kinder, auch wenn sie in den Schulen einigermaßen integriert waren, die kulturelle und religiöse Differenz zu den deutschen Mitschülerinnen und Mitschülern.

Die Lehrer spielten dabei mit ihren Zuschreibungen eine besondere Rol-le. Zum einen konnten die Zuschreibungen der Lehrer als vorurteilsbehaftet wahrgenommen werden und führten zur Empfindung der türkischen Schü-lerin, ausgegrenzt zu werden. Andererseits beabsichtigten aber auch man-che Lehrerinnen und Lehrer, die Schülerinnen zu integrieren, indem sie sie auf ihre Rolle als Muslima ansprachen. So wurden die Schülerinnen aufge-fordert, sich etwa in einem Referat mit dem Islam auseinander zu setzen. Dies führte für einige von ihnen zu einer ersten inhaltlichen Begegnung mit ihrer Religion. Sie mussten diese nicht nur formal nachvollziehen, wie sie es bei den Besuchen in der Moschee oder in der Familie kennen gelernt hatten, sondern sie wurden aufgefordert, deren Sinn und Inhalte den deut-schen Mitschülern und Mitschülerinnen nahe zu bringen. Für eine türkische Schülerin wurde ein solches Referat das Schlüsselerlebnis mit ihrer Reli-gion. Sie besuchte dann in der Folge eine islamische Sommerschule, um ihren Glauben näher kennen zu lernen; dies führte zu einer Konversion, und sie erschien nach den Ferien wieder in der Schule mit einem Kopf-tuch.2 Die Aufforderung des Lehrers förderte ihre vorher eher schlummern-de Identitätsbildung als Muslima, die sich mit ihrer Tradition nun von den deutschen Jugendlichen abgrenzte, wenn sie auch sonst den Eindruck hatte, in die Klasse integriert zu sein.

Die Annahme des Islam, bzw. das Tragen des Kopftuches hatten für manche Schülerinnen insofern einen emanzipatorischen Wert, als ihnen auf diese Weise eher gestattet wurde, für Freizeitaktivitäten das Elternhaus zu verlassen. Einige Eltern erlaubten ihren Töchtern nicht, an gemeinsamen Klassenfahrten mit der Schule teilzunehmen, und sie schlossen sie auch weitgehend von den nachmittäglichen Unternehmungen ihrer Klassen-kameradinnen und -kameraden aus. Wenn die Töchter aber das Kopftuch trugen, fühlten sich die Eltern sicherer, weil sie die deutlichere, sichtbare Abgrenzung ihrer Tochter als einen Schutz gegen mögliche Identitätsver-letzungen durch die freizügigeren deutschen Jugendlichen betrachteten.

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Andere Eltern gestatteten die Teilnahme an den sozialen, kulturellen und religiösen Aktivitäten der deutschen Jugendlichen. Sie erlaubten ihrer Tochter, am christlichen Gottesdienst teilzunehmen, mit der Maßgabe, statt des rituellen Vater-Unsers der Christen ein eigenes Ritual-Gebet zu spre-chen.

Im Allgemeinen wurde in den Berichten der jungen Frauen deutlich, dass sie in vielen Fällen von Eltern und Schule alleine gelassen wurden in Bezug auf eine innere Beziehung zu ihren religiösen Werten.

Und anstatt dass die uns irgendwelche Hilfen angeboten haben, war das einfach so ein Verbot, das war nicht drin und das sollte man halt nicht tun. Und somit merkte man ja als Kind, dass in der anderen Welt irgendwelche Gefahren lauern, wo man nicht zuge-hörig sein darf, wo man irgendwie verzichten muss und wo man anders ist als diejeni-gen, die mit dir in dieser Welt leben. Und wenn dir das nicht richtig geschildert wird, dann ist das ja irgendwie beängstigend für ein Kind. Und trotzdem musst du in dieser Welt zur Schule gehen. Oder du musst in dieser Welt einkaufen gehen oder so, das ist alles so voller Ängste. So ganz komische Eindrücke waren das.3

Die »zwei Welten« der Schulzeit setzten sich in den zwei Welten fort, in denen Freundschaften mit jungen Männern und Ehen geschlossen wurden. Das Ablegen oder Anlegen des Kopftuches war für einige junge Mädchen ein jeweiliges äußeres Signal, wie sie mit dem derzeitigen inneren Spal-tungs-Zustand umgingen.

In Bezug auf soziales Lernen und Persönlichkeitsbildung empfanden die jungen Frauen die größte Differenz zwischen der deutschen und der türki-schen Erziehung. War in ihrer heimatlichen Umgebung den Interessen der Familie, der Tradition, den Meinungen der älteren Generation zu folgen, galt in Deutschland »Entwicklung der Ich-Stärke« als ein pädagogisches Ziel.

Und das ist das, was mich sehr stört. Also, ich war als Kind nie in diesem Prozess drin, dass ich sagen könnte, als Kind, dass ich meine Persönlichkeit entwickelt habe, dass mir jemand geholfen hat, meine Persönlichkeit zu entwickeln.4

So sahen sich die jungen Frauen genötigt, aus den Teil-Identitäten das für sie Sinnvolle heraus zu suchen. Manche von ihnen benutzten den Islam eklektisch zu diesem Zweck, etwa um eine Inszenierung für bestimmte Wendepunkte im Leben zu haben, wie etwa die Hochzeit; ansonsten lebten sie in einer weitläufigen Religiosität, die sich irgendwie mit der religiösen Tradition ihrer Herkunftsfamilie verband.

Der Islam wurde auch von einzelnen jungen Frauen zu einer verinner-lichten Religion erklärt, in der es »allein auf die Beziehung zu Allah« an-kommt. Es interessiert nicht unbedingt, ob man sich an die rituellen Vor-

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schriften der Religion halten will oder kann. Die Beziehung zu Gott steht im Mittelpunkt, von einzelnen jungen Frauen wird auch die Vokabel »Gott« anstatt »Allah« benutzt. Hier verschwimmen die Grenzen der kon-turierten Religion zugunsten einer offenen Form der Spiritualität, die eine Form der seelischen Stabilisierung und konkrete Lebenshilfe bietet.

Ich glaube an Gott, und es gibt auch so eine Bezeichnung im Türkischen für die, die eben nicht praktizieren, aber eben im Grunde ihres Herzens doch an Muhammed, an Gott und an den Koran glauben. Wenn man das sagt, dann weiß jeder eigentlich, was gemeint ist, dass man eben nicht unbedingt fünfmal am Tag betet oder so was.5

Die Aneignung der Kenntnisse über die Religion, über spezielle dogmati-sche oder gar eschatologische Vorstellungen, wird generell als gering be-schrieben, da es keine sekundären religiösen Sozialisationsinstitutionen für den Islam außerhalb der Familie in Deutschland gibt. Wohl wird in den un-teren schulischen Jahrgängen nachmittags ein Koran-Unterricht angeboten, der aber nicht über das Rezitieren einiger auswendig gelernter arabischer Verse hinausgeht. Eine systematische, reflektierende Auseinandersetzung mit den Traditionen des Glaubens, wie sie im christlichen Religionsunter-richt für Kinder und Jugendliche angeboten wird, fehlt den islamischen Kindern in Deutschland. Einige vermissen dies auch nicht, da sie sich durch Freizeit-Einrichtungen wie die o. g. Sommerschule angesprochen fühlen. Dennoch wird, wenn es zur dauerhaften Koexistenz von Muslimen und Christen in Deutschland kommen wird, eine institutionalisierte Lern-form für die Religion zur Notwendigkeit für die Muslime werden. Die Fa-milien sind mit der Überlieferung der Tradition, vor allem mit der Aufgabe, sie angemessen zu aktualisieren, als einzige Sozialisations-Institution über-fordert.

Eine Problematik entsteht auch für diejenigen Musliminnen, die den Islam nicht nur als ein »ästhetisierendes« Beiwerk ihrer eigenen biographi-schen Konstruktion sehen. Wenn der Wunsch besteht, nicht nur an ein hö-heres Wesen zu glauben und sich gewisser früher Sozialisationstraditionen zu erinnern, wenn es in der eigenen Lebenssituation nötig ist, ergibt sich zugleich die Frage nach der Durchführbarkeit einer normierenden und an-spruchsvollen Religionsform.

Zwar ist es nicht unbedingt problematisch für die Frauen, ein Kopftuch zu tragen, vorausgesetzt, das bringt ihnen keine beruflichen Nachteile ein. Aber bereits für das Einhalten des fünfmaligen Gebetes zu festgelegten Zeiten galt seit jeher in der islamischen Tradition: Wer aufgrund von Ar-beitsbelastung (etwa auch Feldarbeit) diese Gebetszeiten nicht einhalten

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konnte, hatte die Möglichkeit, dies im Alter nachzuholen, wenn dafür Zeit bestand. Dies wäre eine Lösung auch für heutige berufstätige Frauen.

Das Almosen-Geben wird von manchen jungen Frauen aufgrund ihrer eigenen schwierigen Lebenssituation als Studentinnen zeitweise ausgesetzt, eine Pilgerfahrt nach Mekka erwägen viele Frauen auch nicht, da auch dies aufgrund ihrer finanziellen Situation – etwa, wenn sie alleinerziehende Mütter sind, in der ohnehin schon schwierigeren Arbeitsmarktsituation für Migrantinnen – nicht durchzuführen ist.

Zu Freizeitgestaltungen, die in Deutschland gerade für junge Menschen selbstverständlich sind, gibt es aber aufgrund der konventionellen Sitten im Islam Kontroversen. So äußert sich eine von Klinkhammer interviewte jun-ge Frau darüber, dass sie Kritik ertragen muss wegen ihres Besuches von Fitness-Studios oder dem Besuch eines Schwimmbades. Sie selbst hält dies unter gegebenen Einschränkungen für erlaubt innerhalb der von ihr beach-teten religiösen Vorschriften – denn sie besucht etwa das Fitness-Studio nur dann, wenn dort ausschließlich Frauen anwesend sind. Dann kann sie konform gehen mit der Vorschrift ihrer Religion, ihren Körper in Gegen-wart anderer Menschen, die ihr fremd sind, zu verhüllen. Die Gegenwart anderer Frauen kann innerhalb der Auslegung so verstanden werden, dass hier ein Treffen im persönlichen, intimen Bereich der Muslima stattfindet. Generell gilt für viele moderne Freizeitformen, dass innerhalb der Scharia und ihrer Rechtsschulen gesagt wird: »Nach den Grundsätzen der Scharia ist alles erlaubt, was nicht verboten ist.«6

So rangieren Auffassungen des Islam von legalistischem Verstehen und Befolgen bis hin zu einer spirituell begleitenden Randerscheinung unter den von Klinkhammer befragten Frauen. Auffallend ist, dass – sicher nicht nur bei diesen Frauen oder allein bei den Frauen – eine pragmatische Vor-stellung von dem Sinn und Nutzen der Religion für das tägliche Leben bei weitem die spekulativen, verinnerlichten Sichtweisen überwiegt.

Eine der Interviewpartnerinnen versucht, einen Bogen zu spannen zwi-schen dem Islam als selbständiger Religion, die die Beachtung ihrer Vor-schriften nahe legt, und seiner pragmatischen psychologischen Wirkung, die ins eigene Lebenskonzept passt:

Aber ich hab’ gemerkt, dass die fünf Säulen des Islam und auch viel von dem, was und wie man praktiziert, dass das gut für mich ist. Ich hab’ gemerkt, dass eine rituelle Wa-schung oder so, dass das mit Sauberkeit und Hygiene viel zu tun hat. Und ich hab’ auch Kreislaufschwierigkeiten, und einfach, wenn ich meine Pulsadern und meinen Nacken, meine Stirn und das Gesicht benetze und mir Feuchtigkeit gebe und meine Schleimhäute auch befeuchte, das tut mir gut. Ich merke, dass wenn ich mir Zeit nehme und mich zu-

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rückziehe und bete, dass es erst mal von der sportlichen Seite für den Körper unheimlich gut ist, und während ich diese Gebete aufsage, dass mich das stärkt, dass mir das Wil-lenskraft gibt, und dass es eine Art Meditation ist, bei der ich ganz für mich alleine bin und runterkomme von diesem Touch, diesem Materialismus.7

Den Befragten wird selbst klar, dass sie in einer Brückensituation leben zwischen der tradierten, als starr und überholt empfundenen Religion ihrer Eltern und den möglichen eigenen Interpretationen, die sie der Religion für ihr weitgehend säkulares Leben noch geben können. Sie möchten ihre Reli-gion beziehungsweise die für sie gültigen Aspekte frei leben.

Natürlich gibt es auch, und zahlenmäßig sicher eher in der Mehrheit, Frauen, die bereits in der Generation ihrer Eltern eine türkisch-laizistische Weltanschauung erlebt haben. Manche unter den jungen Frauen nehmen für sich den Islam ernster, als das ihre Eltern tun und getan haben, aber sie sind nicht in der bedrängten Lage, sich gegen den religiös einengenden Druck der Familie für oder gegen religiöse Haltungen entscheiden zu müs-sen. Trotzdem berufen sich Frauen ohne Kopftuch und mit einer weniger dezidierten Beziehung zum Islam auf die Traditionen ihrer Familien – auch wenn diese nur noch rudimentär vorhanden waren. Andere Sozialisations-agenturen für die Religion wurden ihnen nicht geboten.

So gehören die meisten von ihnen nicht zu einem organisierten Mo-scheeverein oder zu einer sonstigen islamischen Organisation. »Ich möchte nicht irgendetwas Bestimmtem angehören, weil es immer Sachen gibt, die dazwischen liegen« und »Ich glaube, dass man das nicht mehr sagen kann. Also ich glaube, dass wir Menschen, gerade die zwischen zwei Religionen und Kulturen aufgewachsen sind, dass es da nicht mehr türkisch oder deutsch gibt. Es entsteht etwas Neues. Und ich denke, dass das eigentlich für alle Menschen gelten sollte.«8 Hier wird das Konzept der Hybridisie-rung9 angesprochen, welches den Äußerungen der meisten interviewten Frauen zugrunde liegt, wenn auch die Grade der individuellen Aneignung verschiedener Kulturformen variieren.

Drei Typen islamischer Lebensführung konstatiert Klinkhammer ab-schließend für die Gegenwart. Eine umfassende Integration des Alltags bie-tet die Religion vielfach nicht mehr, sondern sie ist gelegentlich manifest, meistens »diffus« in den Handlungen und Einstellungen der Muslime vor-handen. Es hat eine »Religionisierung«10 stattgefunden, die der Religion einen spezifischen, ausdifferenzierten Ort im gesellschaftlichen Leben ein-räumt. »Die islamische Lebensführung der Türkinnen der zweiten Genera-tion in Deutschland weist eine Pluralität auf, die in dieser Weise nicht al-

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lein durch die Untersuchung des institutionalisierten Islam in Deutschland wahrzunehmen ist.«11

So unterscheidet Klinkhammer zwischen einer traditionalistischen isla-mischen Lebensführung, einer exklusivistischen islamischen Lebensfüh-rung und einer universalisierenden islamischen Lebensführung.

Traditionalisierend zu leben bedeutet vor allem, die religiösen Traditio-nen zu bewahren, besonders im Hinblick auf das private Leben, den kleinen Rahmen der Familie. Hier wird die Religion durch Vorbilder tradiert.

Exklusivistisch wird gedacht und gelebt, wenn bestimmte Grundannah-men der Religion anerkannt werden, wenn zu ihnen eine prägende Ent-scheidung getroffen wurde. Dann aber wird ausgewählt, welche Anteile mit der eigenen Selbstkonstruktion und der eigenen gesellschaftlichen Veror-tung und Problematik korrelieren. Hier ist die Unterscheidung von »tradi-tionellem« und »wahrem« Islam hilfreich, da jenseits der oft als verstellend erkannten Traditionen eine innovative Kraft der historischen Quellen des Islam wahrgenommen und neu entdeckt wird. Von diesen Quellen und ihrer Neu-Interpretation her kann eine Persönlichkeitsentwicklung in Gang kommen, die positiv Religion und Moderne zu integrieren vermag. Verge-meinschaftung findet hier den Rahmen von Gleichgesinnten, nicht mehr den der vorgegebenen Familienbindungen.

Ein universalisierender Islam ist für die alltägliche, säkulare Lebens-führung praktisch nicht mehr relevant. Er bietet den spirituellen »Unterton« für das eigene Lebens-Verständnis. Der Verdienstcharakter von bestimm-ten Ritualen (etwa als Belohnung im Jenseits) tritt hier fast gänzlich zurück vor dem Aspekt der konkreten Lebenshilfe, die die Religion bei Anwen-dung ihrer unterstützenden Seiten bieten kann. Vergemeinschaftung ist hier mehr durch die Verinnerlichung der eignen Tradition gegeben, von der her man letztlich sein Selbstbild entwirft. Dieses lässt sich aber gut im interreli-giösen und interkulturellen Rahmen leben. So haben viele universalisieren-de Musliminnen ihren Freundeskreis in gemischten Gruppen von Deut-schen und Türken, Muslimen und (universalisierenden – die Verfasserin) Christen.

Wenn eine solche Typisierung versucht wird, zeigt sich gleichzeitig, wie divergierend heute die Formen gelebter islamischer Religiosität sind. Dies lässt deutlicher wahrnehmen, dass eine generalisierende Wertung der »Kopftuchträgerinnen« als konservativen Musliminnen einem Fehlschluss oder Kurzschluss entspringt. »Strukturelle Integration« lässt sich beobach-

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ten, von einer nichtmodernen Gegenbewegung der Musliminnen gegen die moderne Gesellschaft kann nicht die Rede sein.12

Abschließend stellt Klinkhammer fest: In allen Fällen demonstrieren die Frauen Unabhängigkeit bis hin zur Überlegenheit ge-genüber den Eltern: Die Wahrheit des Islam entschied sich für sie nicht über die Autori-tät der Eltern (...). Insofern kann man sagen, dass der pubertäre Konflikt mit den Eltern um eine unabhängige Lebensführung bei den befragten Frauen zum Teil zum Streit-punkt um den »richtigen« Islam wurde, denn keine der Frauen akzeptierte für sich eine unbedingte Gültigkeit islamisch-normativer Vorgaben durch die Eltern, gleichgültig ob diese »türkisch-laizistisch« denkende oder »praktizierende« Muslime sind.13

5.2 Deutsche Sichtweisen der Musliminnen

5.2.1 Die Migrantin

Migration wurde lange Zeit im Wesentlichen als eine Sache von Männern angesehen. Als in den späten 50er und 60 er Jahren des 20.Jahrhunderts »Gastarbeiter« nach Deutschland kamen, hatten sie alle Zeitverträge für ein Jahr im »rotierenden« System. So war gewährleistet, dass die deutsche Wirtschaft keine dauerhaften Verpflichtungen eingehen musste – und die Männer waren ausschließlich vor Ort, um Geld zu verdienen, das sie den Familien nach Hause mitbringen konnten.

Mit dem ständigen Aufschwung der Wirtschaft kam es in Deutschland zur Verlängerung der Verträge für die »Gastarbeiter« und schließlich zu der Situation, dass Männer ihre Frauen und Familien aus ihrem Heimatland nach holten. Frauen aus Italien, der Türkei und Spanien waren daher nur als Haus- und Ehefrauen, als Mütter in Deutschland; sie spielten in der Statis-tik der Wirtschaft keine Rolle.

Christine Huth-Hildebrandt zeigt in ihrer Studie den Weg, den die Be-schäftigung mit den Gastarbeitern und ihren Familien nahm.14

... vom Saisonarbeiter der 50er Jahre bis zum Gastarbeiter der 60er Jahre, von dort zum ausländischen Arbeitnehmer und schließlich zum Arbeitsmigranten. Auffallend ist, dass auch die wenigen Texte über Frauen zum Teil im Titel die männliche Form führen:

– Die Betreuung der Säuglinge und Kleinkinder von Gastarbeitern – Zur Problematik der Ausländerentbindung – Gynäkologische und pädiatrische Probleme der Versorgung ausländischer Arbeitneh-

mer15

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Erst ab Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es eine bewusste Auseinandersetzung mit der Lage und den Problemen der ausländischen Arbeitnehmerinnen in Deutschland. Dies entwickelte sich auch dadurch, dass aufgrund der günstigen Wirtschaftslage bis in die frühen siebziger Ausländer entweder Arbeit hatten und in ihrem eigenen kulturellen Rah-men neben der deutschen Gesellschaft lebten – oder sie kehrten in ihr Land zurück.

Mit dem Nachlassen der Vollbeschäftigung, mit beginnender Arbeits-losigkeit entwickelte sich die Situation tendenziell in eine andere Richtung. So blieben manche Gastarbeiter im Land, auch wenn sie nicht unmittelbar Arbeit fanden, z. T. weil sie hier noch einen erworbenen Anspruch auf Un-terstützung hatten, z. T. weil sie sich auch privat und persönlich gebunden hatten. Mit längerer Verweildauer gab es stärkere Vernetzungen und fami-liäre Bindungen zu Deutschen.

Mittlerweile gibt es Hinweise darauf, dass eine »Feminisierung der Mi-gration« stattgefunden hat; vielfach sind aber die konkreten Zahlen zu die-ser Statistik schwer zu erheben. Auch die Mehrheit der Flüchtlinge, die weltweit Unterkunft suchen, sind Frauen und Kinder.16

Spezielle Zuschreibungen wie die an die spezielle Mentalität des »süd-ländischen Weibes«, das für Haushalt und Kinder geeignet sei, aber nicht wie die nordeuropäische Frau auch für die Ausübung eines Berufes prädes-tiniert sei, beherrschten zu Anfang das Bild. Es seien körperliche Unter-schiede zu nordeuropäischen Frauen zu konstatieren, Südländerinnen hät-ten eine andere Reaktionsfähigkeit oder auch mangelnde Disziplin.

Die Gewohnheiten der Südeuropäer und mehr noch der Türken weichen von den unse-ren hinsichtlich Ernährung, Körperpflege, Wohn- und Sexualverhalten erheblich ab. Diese Menschen entstammen einer archaisch-magischen Vorstellungswelt, sie wurden dem Schutz der heimischen Großfamilie entrissen und fühlen sich in unserer technisch- rationalisierten Industriegesellschaft hilflos und isoliert,

so informierten die Autoren ihre Fachkolleginnen und -kollegen in der Zeitschrift Medizinische Klinik.17

Ausländische Frauen als Erwerbstätige kamen spät in den Blick. Sie wurden auch weiterhin eher als die Ehefrau eines ausländischen Arbeiters gesehen; wenn sie allein stehend waren oder gar allein erziehend, wurden sie »klientelisiert.«

Im beginnenden Ethnisierungsprozeß wurde diese Gruppierung der Frauen, die auf sich und ihre eigenen Einkünfte angewiesen waren, bevor-zugt zum Gegenstand der Tätigkeit und forschenden Auseinandersetzungen

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der Sozialpädagogik. Sie verkörperten außer dem »Fremd-Sein« noch einen nicht erwarteten Lebensrahmen und Lebensstil.

Denn gerade unter den »Gastarbeitern« oder späteren »Migranten« galt noch, dass die Frau im Heim zumindest einen Teil der Heimat in der Frem-de verkörpere. Wenigstens im Frauenbild solle etwas bleiben von der ande-ren Kulturtradition, aus der sie kommen und der gegenüber die deutschen Frauen ihnen fremd bleiben mussten – so wurde argumentiert.18

5.2.2 Die Unterdrückte

In der Folge wurden die Frauen der ersten Migrantengeneration zunehmend zu den Verliererinnen gegenüber ihren Töchtern, die inzwischen Deutsch konnten, eine deutsche Schulbildung genossen hatten und die sich, wenn auch mit Fremdheiten, in der deutschen Gesellschaft bewegen konnten.

Versuche, die Töchter über rigide Verhaltensanweisungen an sich zu binden, waren die Folge und machten die Situation zwischen den Genera-tionen oft sehr schwierig; dies weitete sich auch auf das Verhältnis der Schwiegermütter zu den Schwiegertöchtern aus. Hier wurde gelegentlich eine in der Türkei noch übliche Norm der Herrschaft der Schwiegermütter angelegt, die in den Migrantenfamilien zu großen Spannungen und Belas-tungen, auch für die jüngere Generation, führten.

So wurden die Mütter ihrer angesehen Rolle aus ihrer früheren, meistens urbanen Gesellschaft beraubt, und es kam für sie kein Ersatz aus den Wert-vorstellungen der deutschen Gesellschaft nach. Sie waren oft nicht fähig, Deutsch zu sprechen, und konnten weder in Deutsch noch in Türkisch schreiben. Viele Kinder begannen, die Mütter ob ihrer mangelnden Bildung zu verachten, erlebten sie als Belastung. »die Rolle der Mutter beschränkte sich in den Augen der Töchter als die Dienstleistende, die ihr durch ihre Arbeit den Weg dorthin bereitet, wo Menschen gesellschaftliche Anerken-nung bekommen.« Und so mussten die Mütter zusehen, »wie ihre Töchter entschwinden, wie sie selbst an Bedeutung für sie verlieren, ja wie sie zur völligen Bedeutungslosigkeit herabsinken, in die soziale Isolation im Alter, an den Rand der Gesellschaft.«19

Die weiter o. g. Aussagen der Töchtergeneration über ihre Aneignung des Islam vermitteln ja, dass es den meisten befragten Töchtern nicht mög-lich war, in der Situation der Mutter eine positive Identifikation für sich selbst zu finden. Sie mussten sich selbst erst von dem traditionellen Bild

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der islamischen Frau und Mutter entfernen, um dann hinter dem traditionel-len einen »wahren Islam« zu entdecken.

Dennoch zeigt sich, dass die Abwendung von der Elterngeneration, spe-ziell von der Lebensform der Mutter, mehr äußerlich ist und dass in ihren Wertvorstellungen viele islamische Jugendliche am traditionellen Rahmen festhalten – wie etwa noch immer die Zahl der von Eltern in der Türkei ar-rangierten Ehen beweist. Der Bildungsstatus steigt zwar von Generation zu Generation im Sinne der westlichen Gesellschaft, aber die Emotionen ge-hen nicht im gleichen Tempo mit. Viele doppelte Bindungen und emotio-nale Verunsicherungen resultieren aus diesem Tatbestand.

Die Autorinnen Irmgard Pinn und Marlies Wehner geben eine kritische Bestandsaufnahme dieser Entwicklung.20 Ihr Anliegen ist es, alle mögli-chen Vorurteile der Deutschen gegenüber den TürkInnen oder anderen isla-mischen AusländerInnen auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen. Sie unter-suchen die Denksysteme, die Traditionen, die aufeinander treffen; das Er-gebnis ist in der Regel, dass seitens der Deutschen aufgrund mangelnder Einsicht in die Wertevorstellungen und die Kultur der Muslime falsch geur-teilt wird. Dies unterstellen die Autorinnen vielen Sichtweisen der Deut-schen – von konservativer Perspektive bis hin zu sich als weltoffen verste-henden Feministinnen.

Die Selbstverständlichkeit, mit der vom erzwungenen Kopftuchtragen ausgegangen wird, bedeutet zugleich eine Bevormundung all jener Mädchen, die sich aus freien Stücken – womöglich gegen den Willen der Eltern – an islamische Kleidungsvorschrif-ten halten. Sympathie und Mitgefühl gilt den armen Mädchen, die morgens vor der Schule »ihren züchtigen Rock« zum Mini hochbinden und sich vor der Haustür schmin-ken. Und selbst wo sich LehrerInnen um eine neutrale und tolerante Haltung bemühen, ist doch fast immer die Befriedigung unüberhörbar, wenn junge Musliminnen es schaf-fen, das Tuch abzulegen und sich aus den Fesseln ihrer Herkunft zu »befreien«.21

So werden die Anpassungsforderungen der westlichen Gesellschaft, wie auch immer an die jungen Türkinnen herangetragen, von diesen möglicher-weise als genau so großer und bedrohlicher Druck erlebt wie die traditions-gebundenen Forderungen der Eltern.

Deshalb ist es die Forderung der Autorinnen an die Deutschen, wenig-stens ansatzweise eine Bereitschaft erkennen zu geben, dass die Menschen mit islamischer Religion in unserem Land leben, arbeiten, berufliche Erfol-ge und Bildung erlangen können, ohne sich dem gesamten Weltanschau-ungssystem unserer Gesellschaft anpassen oder gar unterwerfen zu müssen. Es wundert nicht, dass türkische Familien rigide an ihren Traditionen fest-

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halten, wenn sie keine Chance sehen, in einer liberalen Akzeptanz ihrer Le-bensform von den Deutschen geachtet und integriert zu werden.

Stattdessen werden Horrorbilder von der Unterdrückung der Frauen in islamischen Ländern geschaffen – wie die Autorinnen bemerken, auch von arabischen Schriftstellerinnen – die bei uns als die einzige »Wahrheit« ge-lesen werden.

Mit etwas Phantasie lässt sich dieser gewiss nicht von allen AutorInnen beabsichtigte Effekt probehalber einmal umkehren: Würde deutsche feministische und sozialkritische Literatur ins Türkische oder Arabische übersetzt und in der Türkei, Jordanien und Tune-sien in vergleichbarer Weise als Wahrheit über das Leben in Deutschland gelesen, dürf-te das Urteil über die BRD grauenhaft ausfallen: ein Land, geprägt von Materialismus und Egoismus, die Familien zerrüttet, Jugendliche der Drogensucht und rechtsextremis-tischen Agitation verfallen, gewalttätig schon die Schulkinder, das Alter überschattet von Armut und Einsamkeit. Und jede human gesonnene Muslima müsste sich unverzüg-lich einer Kampagne anschließen, um deutsche Mädchen und Frauen vor sexuellem Missbrauch, Vergewaltigung, Diskriminierung im Arbeitsleben, treulosen und brutalen Männern, Depressionen etc. zu retten. All das existiert in der deutschen Gesellschaft, und Bücher, die darüber berichten, haben eine wichtige soziale Funktion. Trotzdem weiß jede, weiß jeder, sie kontextuell einzuordnen und würde muslimische Kritik, die nur das Negative wahrnimmt, als einseitig und die komplexe Realität verfehlend zurück-weisen. Doch umgekehrt?22

5.2.3 Zerreißprobe: Leben zwischen zwei Welten

Nach Pinn/Wehner geht es vor allem darum, dass die deutsche Gesellschaft aktiv wird, um ihre eigenen Zuschreibungen, Zumutungen und unbewuss-ten Projektionen auf die ausländischen MitbürgerInnen wahrzunehmen. Es wäre wünschenswert, den beidseitigen Druck zweier divergierender kultu-reller Anforderungen, besonders an junge Menschen – und unter ihnen be-sonders die jungen Frauen – zu reduzieren; so könnten Beratungsinstitutio-nen, eventuelle Wohnheime, die junge ausländische Menschen aufnehmen, ihnen die Chancen eröffnen, sich in den schwierigen Prozessen der geleb-ten Vermischung zweier gegensätzlicher Welten zu orientieren.

Sicher leiden besonders junge Frauen oft unter der Repression, unter dem Druck des traditionalistischen Milieus des Elternhauses, aber Pinn/ Wehner behaupten: »Nach unserem Eindruck sind Sozialwissenschaftlerin-nen, Pädagoginnen und Journalistinnen jedoch allzu sehr auf Revolte und Flucht als die einzig angemessenen Reaktionsformen auf ›türkisch-islami-sche‹ Zwänge fixiert.«23 Damit seien aber die betroffenen jungen Frauen

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alleine gelassen und überfordert. Sie brauchen Hilfe bei der psychischen Bewältigung ihrer alltäglichen Lebenssituation »zwischen den Kulturen.«

So sei es viel sinnvoller, zumindest für die Betroffenen, die sich selbst als Musliminnen verstehen, dass sie Konzepte entwickeln und diese institu-tionell verankern, die ihnen helfen, mit ihrer Situation umzugehen. Hierbei sei eine Aufgabe der deutschen Wissenschaft und Praxis der Beratung ge-stellt, in der Entwicklung solcher Konzepte Kooperation und methodische Hilfe anzubieten.

Nicht nur die traditionellen Vorstellungen der Herkunftsfamilien, auch die deutschen Anpassungsforderungen können von den jungen Frauen als Repression erfahren werden. Sie können für manche Muslimin ebenso schwer werden wie die Forderungen der Religion, zumal manche Maximen sich gegenseitig ausschließen. Auch der praktische Zugang zu Familie oder Freundeskreisen hängt oft direkt mit der Bewältigung der verschiedenen »Zerreißproben« zwischen den Kulturen zusammen.

So müsse Kindern die Möglichkeit gegeben werden, beide Lebens-weisen kennen zu lernen, um sich dann selbst zu entscheiden. Dies muss natürlich auch den deutschen Kindern ermöglicht werden, sodass sie einen Einblick in die Lebensweise ihrer MitschülerInnen gewinnen können. »Ak-zeptanz der anderen Kultur.. ist die einzige Chance, leistungsfähige und psychisch stabile Jugendliche zu erziehen.«24

Es gehört vor allem dazu, dass sich seitens der deutschen Gesellschaft eine Bereitschaft herausbildet, die islamische Lebensform als eine eigene Existenzweise anzusehen, die nicht unbedingt in allem schnellstens an westlich-europäischen Standard angepasst werden muss. Es muss, auch für Frauen mit Bildung und »Kopftuch« oder traditioneller islamischer Reli-giosität eine geachtete gesellschaftliche Stellung möglich sein. Sie müssen in ihrer eigenen kulturellen Ausprägung ein Recht auf Lebensfreude haben, die ihren eigenen kulturellen Wurzeln entspricht und die sich der deutschen Lebensform auch annähern kann.25

Teil III

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6 Perspektiven zur Verständigung

Gritt Klinkhammer setzt sich in ihrem Buch mit den »modernen Formen islamischer Lebensführung« auseinander. Sie hat durch qualitative For-schungsarbeit erhoben, was derzeit im Verständnis von muslimischen Frau-en als Horizonte ihres Glaubens und ihrer Religionsausübung zu erkennen ist. Neben anderen Quellen sind diese Auswertungen zitiert worden, und werden sie auch stellenweise für weitere Erwägungen benutzt werden.

Es liegt im Interesse dieser Studie, sich dem Verstehen im interreligiö-sen Dialog anzunähern, und zwar resultieren dieses Interesse und der Zu-gang prinzipiell aus dem Verstehenshorizont der Verfasserin heraus.

In einem Aufsatz zur »Erforschung nichtchristlicher gelebter Religion«1 weist Klinkhammer darauf hin, dass

eine westliche Beobachterin, die sich mit fremden Kulturen beschäftigt, sich leicht den Vorwurf des Eurozentrismus ein(handelt – die Verfasserin), insbesondere, wenn sie so-zialwissenschaftliche Theorien überprüfen möchte. Auch bei der Untersuchung nicht-christlicher Religionen ist dieser Verdacht immer wieder von Bedeutung, zum einen, weil die Anfänge der Religionswissenschaft geprägt sind von christozentrischen, wer-tenden Vorstellungen … zum anderen, weil von dem, was »Religion« (im Singular) ist, in der Religionswissenschaft, aber auch anderen Kultur- und Sozialwissenschaften, bis heute keine feste Definition vorherrscht und somit allzu oft nur das je eigene (meist christliche) Alltagsverständnis in Betrachtungen und Theorien einfließt.

Klinkhammer verweist darauf, dass die hermeneutische Figur des »Verste-hens« selbst als eine vom christlichen Gottesverständnis getragene angese-hen werden kann und so möglicherweise weder dem islamischen Gottes-verhältnis noch dem islamischen Umgang mit dem Fremden entspreche.2

Klinkhammer bedenkt, dass es ebenfalls »naiv« wäre, »davon auszu-gehen, Eurozentrismen ließen sich nicht nur aufdecken, sondern auch gänz-lich durch wertneutrale Begrifflichkeiten ersetzen«.3

Mit dem Referat wesentlicher Passagen des Buches »EuroPhantasien« von Pinn/Wehner wurde seitens der Verfasserin auf die Problematik des europäischen bzw. deutschen Blickwinkels aufmerksam gemacht.

Die folgenden Erwägungen unter dem Überbegriff »Perspektiven der Verständigung« gehen davon, dass alle vorausgegangenen Studien berück-

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sichtigt werden müssen und dennoch ein Versuch des Dialogs – in der Nä-he zur Alltagssprache und weitgehend aus der Annäherungsperspektive und der Erfahrung einer christlichen Autorin, die zudem praktizierende Theolo-gin ist, möglich sein muss. Persönliche und praktische Erfahrungen im Ge-spräch gingen der theoretischen Betrachtung voraus.

Die Verfasserin wäre erfreut gewesen über einen direkten literarischen Dialog über die Situation von Christinnen und Musliminnen in Deutschland aus der Sicht einer Muslimin. Leider konnte das nicht ermöglicht werden.

Unter diese genannten Voraussetzungen sollen alle weiteren Beobach-tungen, Reflexionen und aus verschiedenen Zugangsbereichen genommene Diskussionsansätze gestellt werden. Und so scheint es, dass sich innerhalb der letzten Jahre in der deutschen Gesellschaft ein gewachsenes Interesse für das Leben der Muslime und Musliminnen in unserem Land entwickelt hat. Dies soll qualitativ zunächst nicht näher bewertet werden.

Meistens flammte das Interesse auf durch besonders publikumswirk-same Vorkommnisse, durch politisch verstandene Fälle, die in der Presse behandelt wurden. So könnte aber auch ein Interesse daran wachsen, unter weniger spektakulären Bedingungen eine Wahrnehmung der kulturellen Unterschiede zwischen den beiden Religionen und speziell den Frauen in ihnen möglich zu machen.

In der alltäglichen Begegnung mit Muslimen und Musliminnen in der Schule, am Arbeitsplatz, an den Universitäten, hat die Vertrautheit der Deutschen mit der Lebenspraxis der Muslime sicherlich Fortschritte ge-macht; allerdings gibt es wenige Informationen darüber, inwieweit in der deutschen Bevölkerung ein wirkliches Interesse besteht, den Islam und die Geschichte und Kultur islamischer Länder, abgesehen von dem, was an der Oberfläche zu erkennen ist, wahrzunehmen.

Anknüpfend an die Darstellungen und die daraus resultierenden Forde-rungen aus den vorhergehenden Kapiteln, wird hier noch einmal detaillier-ter untersucht, was zu politischen und kulturellen Missverständnissen zwi-schen Muslimen und Deutschen beitragen kann und welche Möglichkeiten sich ergeben, hier Wege des Verstehens und des Begegnens auf einer neuen Ebene zu finden.

Das »Kopftuch« steht auch in diesem Abschnitt noch einmal »symbo-lisch« für viele andere Signale des gegenseitigen »Fremdheits-Erlebens«. Zunächst stellt sich aber die Frage, inwieweit der Begriff »Symbol« für das Kopftuch hier nicht zu weit greift, bzw. dem Zweck dient, die Diskussion in eine nicht angemessene Richtung zu verschieben.

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6.1 Interkulturelle und interreligiöse spirituelle Symbole

In ihrem Buch »Der Kopftuch-Streit« legt Heide Oestreich verschiedene, zum Teil durch Gerichtsurteile gefundene Auffassungen dar, was als ein religiöses Symbol gilt.

Unstreitig ist demnach das Kreuz ein religiöses Symbol, das in sich selbst Bedeutung hat; gleiche Bedeutung mag dem Halbmond für den Islam zukommen (allerdings wird das in den genannten Quellen nicht reflektiert – die Verfasserin), während das Kopftuch in der Mehrheit der genannten Auffassungen nur eine vermittelte Symbol-Bedeutung hat – nämlich nur dann, wenn es in Verbindung mit seiner Trägerin steht. Aber auch dann unterliegt es noch verschiedenen Deutungen.

Erst im Zusammenhang mit der Person, die es trägt, und deren sonstigem Verhalten kann es eine vergleichbare Wirkung entfalten. Das von Musliminnen getragene Kopf-tuch wird als symbolisches Kürzel für höchst unterschiedliche Aussagen und Wertvor-stellungen wahrgenommen.4

Das Kopftuch, der von christlichen Nonnen getragene Schleier wird im Kontext der behandelten Themen als ein kulturelles Auslaufmodells der deutschen Gesellschaft gesehen. Dass es im württembergischen Schuldienst Nonnen gibt, die ihre religiöse Bekleidung im Unterricht tragen, wird im Vergleich zur Debatte um muslimische Lehrerinnen mit Schleier damit er-klärt, dass zur Zeit der Beauftragung der Nonnen für den Schuldienst noch eine andere Neutralitäts-Ära vorgelegen habe. Nun könne man feststellen, dass die Gesellschaft pluralistischer geworden sei.5

Auf jeden Fall darf das Kopftuch der Musliminnen, abgesehen von seinem religiösen Gehalt und dessen Wirkung, etwa auf SchülerInnen, nicht länger verkürzt als ein Zeichen der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frau gesehen werden. Vielmehr kann das Kopftuch für junge muslimische Frauen auch ein Mittel sein, um ohne Bruch mit der Herkunftskultur ein selbst bestimmtes Leben zu führen (...).

Zur Definition des Begriffes »Symbol« wird an anderer Stelle des Buches der Große Brockhaus herangezogen. Danach ist das Symbol »inhaltlich nicht eindeutig zu bestimmen, da es als prinzipiell unendliche interpretier-bare Variable in Abhängigkeit von seinem jeweiligen Kontext mit seinen möglichen Inhalten und seinen möglichen Interpreten korreliert und so stets auch neue Bedeutungen erhalten kann.« »Ein Symbol wie das Kopftuch ist also nicht etwas, sondern es wird zu etwas gemacht«.6

Fereshta Ludin, die württembergische Referendarin für das Lehramt an einer Grundschule, ist die wohl bekannteste Kopftuchträgerin, die ihr Recht

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auf das Tragen des Tuches und auf Ausübung ihres Lehrerinnenberufs über mehrere Instanzen von Gerichten klären ließ; sie sieht in dem Symbolwert des Kopftuches nur ein geringes Signal. Ihr ginge es ausschließlich um das Wahren einer Schamgrenze ihres Körpers. Sie wolle damit ihr Haar be-decken. Dies sei konform mit den Überzeugungen, die sie aus ihrer islami-schen Lebensform und Glaubenshaltung ableite. Ludin unterstreicht in ihrer eigenen Aussage ihre Bereitschaft, Toleranz zu leben, wenn sie auch das Recht bekomme, ihre religiöse Überzeugung auszudrücken.

Ein Kleiderzwang, ob er nun zum Kopftuch zwingt oder ob er es verbietet, entspricht nicht meinem freiheitlich-demokratischen Verständnis und ebenso wenig meinem isla-mischen Verständnis. Die Kopftuchdebatte hat die Notwendigkeit eines sehr viel inten-siveren Dialogs und Miteinanders zwischen Muslimen und anderen religiösen und ge-sellschaftlichen Gruppen unseres Landes aufgezeigt.7

Ludins religiös begründetes Argument von der »Schamgrenze« wurde of-fenbar mehrheitlich von den deutschen Juristen nicht geteilt. Auf einen reli-giös-spirituellen Dialog waren sie an dieser Stelle nicht vorbereitet und lie-ßen sich auch darauf nicht ein. Dies beweist, dass religiöse Argumente, wenn sie im gedanklichen Horizont der Empfänger keine Verortung finden, nicht als überzeugend gewertet werden.

Oestreich bemerkt: »Das Kleidungsstück als Bedeckung der Scham scheitert an der mangelnden Auslandserfahrung der deutschen Justiz.«8

Auch Iyman Alzayed, Grundschullehrerin in Goslar, sieht in der Ein-schätzung des Kopftuchs als Symbol zum einen eine zu hoch angesetzte Vorstellung, zum anderen fühlt sie sich dadurch verletzt, dass es als indivi-duelle und zugleich religiöse Form des Selbstausdruckes einer islamischen Frau nicht tolerant betrachtet wird:

Die Einschätzung des Kopftuchs als »Symbol« ist meiner Einschätzung nach bereits die Ursache fataler Fehlurteile. Das Kopftuch (...) stellt einen Teil einer religiösen Glau-benspraxis dar, indem es die Funktion erfüllt, Teile ihres Äußeren zu bedecken, die die Frau als mündiger Mensch zu bedecken wünscht.9

Den Bereich von Lebenserfahrung, den das Kopftuch für die Muslima dar-stellt, kann man insgesamt als ein symbolisches Feld betrachten, das unter anderem auch beinhalten kann: Eine nicht-deutsche Frau hat innerhalb der deutschen Gesellschaft ihren Weg gefunden, ohne ihre herkunftsmäßige Identität aufzugeben. Es wäre somit kein Zeichen der Unterdrückung der muslimischen Frau, sondern geradezu ein Zeichen ihrer Emanzipation.

So ist das Kopftuch in vieler Hinsicht ein »symbolisches Kleidungs-stück«, wobei die religiöse Dimension sicherlich die herausragendste ist,

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wenn auch immer wieder die politische Signalwirkung in Deutschland an ehesten gefürchtet wird.

Trägerinnen des Kopftuches könnten nicht nur die gefürchtete willlen-lose Gefolgschaft von Fundamentalisten sein, sondern durchaus auch »die Avantgarde des reflektierten Islam im öffentlichen Raum.« Trägerinnen von Kopftüchern stoßen die Debatten darüber an, was in Deutschland unter Säkularität und religiöser Neutralität verstanden wird und wie der Islam als Minderheitenreligion in dieses Konstrukt hinein passt. Denn es wird mitt-lerweile deutlich, dass die deutsche Gesellschaft multikulturell ist und dass das Christentum nicht mehr die einzige Religion ist. Es zeigt sich dabei nach der Auffassung Oestreichs, dass die Religionsfreiheit dem Christen-tum abgetrotzt wurde, und dass man ihr das an allen Ecken und Enden an-merkt. »Das deutsche Rechtssystem ächzt unter dem Kopftuch. Es ist, wie das ganze Land, auf Religionen jenseits des Christentums nicht vorberei-tet.« »Dass Deutschland eine so vehemente Debatte führt, liegt auch daran, dass dieses Land keine Tradition der Integration von religiösen Minder-heiten hat.«10

6.1.1 Zur interkulturellen und interreligiösen Bedeutung von Kleidung

Das Abendland und ein Quadratmeter Christentum – so könnte eventuell eine Überschrift lauten, würde man sich mit der Funktion des Schleiers in der Geschichte des Christentums als einem publikumswirksamen Thema auseinandersetzen wollen.

Was für das säkularisierte Christentum aus dem Blickfeld gerückt ist, kehrt als Anstoß über den Islam und seine politische Wirkung in die Öf-fentlichkeit zurück.

Seltsamerweise sind bestimmte Formen von Uniformen – Polizei, Mili-tär – von der öffentlichen Diskussion in dieser Weise ausgenommen. Sie sind international anerkannte, selbstverständliche, zum Teil pragmatische Kleidungsstücke wie etwa auch die Arbeitsuniformen bei der Lufthansa oder bei McDonalds. Was aber bedeuten sie und bewirken sie für ihre Trä-gerInnen?

Vermutlich haben alle Sorten von uniformierter Kleidung, auch ohne re-ligiöse Bedeutung, eine psychische Wirkung auf die TrägerInnen. Sie füh-len sich als Teil der Firma, der Einheit, zu der sie gehören, sie vertreten

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eine Autorität, vor der andere zurückschrecken (Polizei) – allein durch die Art ihrer Kleidung.

Träger einer Uniform haben eine in verschiedener Hinsicht kollektive Identität zu vertreten, die ihnen die Ausübung ihrer Tätigkeit in der Regel erleichtert. Hinter dem Kleidungsstück steht der symbolisierte gesellschaft-liche Wert. Verminderte Individualität und einheitliche Verhüllung des Körpers werden von den Trägern der Uniform in der Regel als entlastend empfunden, da sie sozusagen nicht als Privatpersonen der Ausübung ihrer Pflichten »ausgesetzt« sind.

Denn bei jeder Uniformierung werden individuelle äußere Merkmale re-duziert, sodass einzelne TrägerInnen der Uniformen weniger leicht vonein-ander zu unterscheiden sind. Aggressionen, negative Projektionen richten sich gegen den in der Uniform vorgestellten Wert, nicht direkt gegen die Person, die sie trägt.

Uniform- oder Dienstkleidungsträger entäußern sich eines Teiles ihrer Individualität. Dies wird bei Uniformen als erwünschter Effekt in Kauf ge-nommen – vom Einzelnen und von der Gesellschaft.

Bei religiös bedingter, normierender Kleidung wird dies nach gängigem gesellschaftlichem Verständnis als befremdend angesehen und kritisiert. Es wird vermutet, dass nach der Sicht des Betrachters die menschliche und geistige Freiheit hinter der Kleidung verloren geht. Sie wird den Trägern qua Projektion auf ihr Erscheinungsbild von vornherein abgesprochen.

In beiden Fällen ist die gewünschte individuelle Entfaltung freien Den-kens nicht der höchste zugrunde gelegte Maßstab. Es geht offensichtlich um andere Intentionen, die im ersten Fall aufgrund der Pragmatik der Ziele, die erreicht werden sollen, einsichtig sind, im zweiten Fall fehlt für das Verstehen in der Öffentlichkeit in der Regel der hermeneutische Bezugs-rahmen. Manchmal mangelt es aber auch an der Bereitschaft, sich auf Sachverhalte und Sachlagen einzulassen, die durch die eigenen Klischees nicht erfasst werden.

6.1.1.1 Schnittpunkte

Eine Begründung , die christlichen und islamischen Kopfbedeckungen in beiden Fällen eine negative Funktion zuschreibt, liegt ganz sicher in der neuzeitlichen Vorstellung, eine Frau sei in jedem Falle gut beraten, ihren Körper so öffentlichkeitswirksam wie möglich darzustellen – es sei denn, die Figur lässt es nicht zu; in diesem Falle scheinen lose fallende Ganz-

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Körper-Verhüllungen angebracht. Wenn sie aber religiös begründet sind, so erscheinen sie als rückständig, unmenschlich, erzwungen.

Die Tochter aus einer reichen mittelalterlichen Familie »nimmt den Schleier«. Was wurde in der damaligen Gesellschaft damit ausgesagt?

Auf jeden Fall war damit klar, dass diese Frau auf den üblichen Weg der Frauen – zu heiraten und Kinder zu bekommen – verzichtete.

War damit auch etwas gesagt über ihre Lebenseinstellung, ihre Religio-sität, die Freiwilligkeit oder gar das Wissen von dem, was hinter den Mau-ern des Klosters auf sie wartete?

Von Clara, der Gefährtin des Franziskus, wird gesagt, sie habe »das Büßergewand« übergezogen – man stellt sich eher eine Kutte mit Kapuze vor, wie sie Franziskus und seine Brüder ebenfalls getragen haben. Dieses Kleidungsstück stand offenbar in erster Linie für das religiöse Programm der Gruppe, nicht für die Frauen.

Anders mag es in dem Kloster gewesen sein, in dem Clara für einige Tage vor ihrer Familie Schutz suchte. Dort mag der Schleier ihr zu der Uni-formität geholfen haben, hinter der sie sich verstecken konnte, um die alte »Uniformität« der Lebenszuschreibung, wie die Familie sie ihr aufzwingen wollte, zu entgehen.

Die »Verschleierung« hatte in diesem Moment Schutzfunktion. Solange noch keine andere Identität klar erkennbar war, solange ihr Ziel noch nicht klar war, der Weg gegangen, konnte sie so überleben.

Für viele Frauen mag der Schleier lebenslänglich einen solchen Schutz geboten haben, der ihnen das mühsame Suchen des eigenen Weges ab-nahm, ebenso wie es ihnen eine Unterdrückung in patriarchalen Familien-Verhältnissen abnahm, in die sie oft gezwungenermaßen durch Heirat hineingebracht worden waren.

Der Schleier der arabischen Frauen war ebenfalls als ein »Schutz« zu se-hen, gegen Wind und Wetter – Sandstürme, und gegen die Aggressionen von Männern; so war zunächst bei dem arabischen Schleier nicht von einem religiösen Symbol die Rede – es handelte sich um ein Kleidungs-stück aus gesellschaftlicher Konvention. Nicht anders war es mit den Schleiern, die die Nonnen »nahmen«.

Eine kontroverse Sicht der Bedeutung von Kopftuch und Schleier ver-deutlicht der Blick auf die Veröffentlichungen und Stellungnahmen islami-scher und deutscher Einrichtungen zu dieser Thematik: Die Frauenbeauf-tragte des Zentralrates der Muslime in Deutschland, Maryam Brigitte Weiß,

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argumentiert nach einer Abgrenzung gegen die von ihr negativ gesehene Freizügigkeit der deutschen Gesellschaft so:

Unsere Gesellschaft leistet sich nach außen hin also den Luxus der Individualität. »Er-laubt ist, was gefällt.« Dabei muss nicht dem Betrachter gefallen, was er sieht. Es reicht, wenn es dem gefällt, der es tut. Und was tut der, dem so viel Freizügigkeit, wie oben in der Mode beschrieben, nicht gefällt? Der kann ja weggucken und schweigen, will er nicht in den Verdacht geraten, ein Boykotteur von »Freiheit« und zugleich von Frieden und Sicherheit zu sein. Und was tut die, die sich nicht so freizügig zeigt? Die sich viel-leicht sogar bedeckt? Die vielleicht sogar darauf besteht, langärmelig und ihr Haar be-deckend durch die Strassen zu gehen? Kann für diese Frau auch gelten »Erlaubt ist, was gefällt?« Was ist mit ihrem Recht auf Freiheit?11

Integrations-, Migrations- und Ausländerbeauftragte der Stadt Berlin äußer-ten sich in ähnlicher Richtung:

Mit Sorge stellen wir fest, dass seit Beginn der Kopftuchdebatte muslimische Erziehe-rinnen, die ein Kopftuch tragen, kaum noch einen Praktikumsplatz finden. (...) Der Maß-stab für die Bewertung einer Lehrerin darf nicht sein, was sie auf dem Kopf trägt, son-dern ob sie eine gute Lehrerin ist, die die Achtung der Grundwerte der Demokratie ver-mitteln kann.12

Es gibt massive feministische Kritik gegen das Kopftuch. Aber auch in den Reihen feministischer Frauen gibt es Stimmen, die trotz ihrer inhaltlichen Vorbehalte der Toleranz das letzte Wort zusprechen.

Die Integrationsbeauftragte Marieluise Beck hat sich folgendermaßen geäußert und damit eine breitere Zustimmung unter ihrem Aufruf versam-meln können:

Nicht jede muslimische Frau, die sich für das Kopftuch entscheidet, vertritt den politi-schen Islam oder sympathisiert mit ihm. Gerade Frauen in der Diaspora greifen auf das Kopftuch zurück, um mit Selbstbewusstsein ihr Anderssein zu markieren oder eine Dif-ferenz im Verständnis von Sittsamkeit und Tugendhaftigkeit gegenüber der Aufnahme-gesellschaft zu dokumentieren. Emanzipation und Kopftuch sind für viele Musliminnen eben kein Widerspruch.

Wenn wir ohne Prüfung der individuellen Motive generell Frauen mit Kopftuch vom öf-fentlichen Schulleben ausschließen, treffen wir gerade die Frauen, die mit ihrem Streben nach Berufstätigkeit einen emanzipatorischen Weg beschreiten wollen.

Da das Kopftuch ein geschlechtsspezifisches Merkmal ist, treffen wir zudem immer nur die Frauen und nie den Mann – weder als Unterdrücker noch als politisch Agierenden .... Es steht zu befürchten, dass das Verbot des Kopftuchs für Lehrerinnen die allgemei-ne gesellschaftliche Stigmatisierung derjenigen Frauen, die es tragen, vorantreibt. Mit der Botschaft, das Kopftuch sei per se politisch und gehöre damit verboten, wird diese Einordnung auch die Frau in der Arztpraxis, die Verkäuferin und vielleicht auch bald die Schülerin treffen. Dies kann nicht in unserem Sinne sein. Es gilt, muslimische Frau-

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en auf ihrem Berufsweg zu stärken und es ihnen damit möglich zu machen, einen selbst-bewussten, frei gewählten Lebensentwurf zu verfolgen.

Durch ein Kopftuchverbot würden sich viele Muslime in der Einschätzung bestärkt füh-len, sie seien gesellschaftlich ausgegrenzt und chancenlos. Auf die Erfahrung von Aus-grenzung folgt häufig der Rückzug aus der Mehrheitsgesellschaft. Undemokratische islamische Organisationen wissen dies auszunutzen, dies ist der Nährboden für radikale Gesinnungen.13

Leider schließ auch dieser Artikel, der der Toleranz das erste Recht gibt, mit Argumenten aus dem Bereich des politischen Kalküls.

Meines Erachtens ist damit angedeutet, dass eine wirkliche Begegnung in der kulturellen Differenz, die andere in ihren Äußerungen vorbehaltlos und ohne nützliche Neben-Überlegungen Ernst nimmt, immer noch auf dem Wege ist. Dennoch sind alle diese am konkreten politischen und juris-tischen Fall gegebenen Stellungsnahmen Schritte auf dem Wege zu einer inneren Verständigung, die sicher noch mehr bedeuten kann als nur »Inte-gration« der Fremden.

»Verständigung« ist eine Form des gegenseitigen Verstehens. Es wird von beiden Seiten eine neue oder gewandelte Sprache und ein verändertes Denken angeboten, auf das auch beide Seiten neu reagieren können und müssen. Aus Verständigung entsteht Übereinkunft und damit etwas Neues.

6.2 Interkulturelle Annäherungen an religiöse Lebenshaltungen

Angela Merici strebte für ihre Gemeinschaft an, aus ihr eine Kommunität von selbständig lebenden Frauen zu machen – vom Schleier war nicht die Rede, nur von den üblichen Bekleidungsvorschriften der Zeit. Später wurde auch dieser Gemeinschaft der Schleier, der »Schutz«, die beigelegte kollek-tive Identität, verordnet.

Mit Absicht wurde der Schwerpunkt des Vergleichs zwischen christli-chen und muslimischen Frauen bei den »Schleier-Trägerinnen« angesetzt. Hier verbinden sich alte kulturelle Traditionen mit der Sichtbarmachung einer religiösen Lebenshaltung, die – bei den christlichen Frauen in jedem Fall –, bei den Musliminnen in vielen Fällen bewusst angestrebt wird.

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Setzte man den Vergleich stärker bei der ethnischen Zugehörigkeit oder der sozialen Stellung durch Berufe an, so entstehen sicherlich sehr differen-zierte Bilder, die erst im Laufe der Zeit ihre Facetten entfalten werden.

In den so genannten »emanzipierten« Frauenberufen der westlichen Ge-sellschaft müssen Frauen immer noch um ihre Gleichstellung und Anerken-nung in einzelnen Punkten kämpfen. Dies werden muslimische Frauen in ähnlicher Weise bestätigen, die auch solche Berufe ergriffen haben – ob sie nun Schleier tragen oder nicht.

Sicherlich sind von den Frauen der weitgehend christlichen, westlichen Gesellschaften schon einige Schritte in diesem Kampf zurückgelegt wor-den, sie stehen nicht mehr »an den Anfängen« des Emanzipationsbewusst-seins, an dem manche die »Schleierträgerinnen« vermuten. Der Verlust an Spiritualität und Rückzugsmöglichkeit mag dabei den Preis für die Emanzi-pation darstellen, der gewachsene gesellschaftliche Einfluss und eine grö-ßere Eigenständigkeit bieten sich als der Lohn dieser Entwicklung an.

So ist eigentlich hier in der Reflexion des Vergleichs zwischen den Frauen beider Kulturen noch ein Schritt einzufügen, den James N. Poling im Hinblick auf die interkulturellen Aspekte von Beratungs- und Seelsorge-gesprächen ausgearbeitet hat:

Verallgemeinerungen sind nur dann vertretbar, wenn sie, bei vollem Wissen um ihre Be-grenztheit, kontextuell angelegt werden ... Kulturelle und individuelle Unterschiede sind die interessantesten Aspekte des Menschseins. In den letzten fünfundzwanzig Jahren ha-ben wir gelernt, dass Unterschiede der Kultur und der Machtposition von ganz enormer Bedeutung sind, ganz gleich, ob diese Unterschiede sich von der Sprache, der Religion, der Nationalität, dem Geschlecht, der Rasse, der Klasse, der sexuellen Veranlagung oder aus anderen sozialen Aspekten herleiten ... Nicht alle Unterschiede zwischen Personen und Gruppen können auf Sprache, Wissen, Einstellung, soziale und materielle Erfah-rung zurückgeführt werden. Manchmal gibt es Unterschiede, die als Ungleichheiten oder als Unrecht gekennzeichnet werden müssen ...

Nach dieser Definition beruht kulturelle Vorherrschaft a) auf einem System verkürzen-der Stereotypisierungen, das b) die materiellen Lebensgrundlagen kontrolliert und c) die eigene Kultur anderen als normativ aufzwingt.14

Diese Normativität wird zum einen von der dominanten gegenüber der un-terlegenen Kultur aufgezwungen (etwa ökonomisch), aber auch als männ-liche Dominanz den Frauen. Sie kann aber auch – und das wird deutlich in meiner vorher getroffenen Auswahl der zu vergleichenden Frauen, die Schleier tragen, von Frauen untereinander getroffen werden aufgrund einer Gruppen-internen Wertung und eines Gruppen-internen Machtgefälles (hier etwa die Annäherung an die Werte der Moderne oder der Emanzipation).

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Poling fährt fort, zu erläutern, inwiefern Machtfrage und kulturelle Do-minanz in Bezug auf seine Tätigkeit als Berater, aber auch im Hinblick auf Frauen verbunden sind:

Viele Jahre meiner Praxis als Seelsorger hindurch habe ich die Stimmen der Frauen nicht vernommen, wie sie darum kämpfen, sich von der kulturellen Dominanz des Pa-triarchats zu befreien. Während der gesamten Zeit der schriftlich überlieferten Ge-schichte haben Männer die Wirtschaft, die Politik, die Erziehung und Bildung, die Schaffung und die Veröffentlichung von Ideen kontrolliert. In den letzten Jahrzehnten haben sich Frauen davon befreit und begonnen, neue Ideen auf der Grundlage jahrelan-ger Unterdrückung und gesammelter Weisheit zu entwickeln. Sobald aber ein paar Saat-körner dieser neuen Ideen Triebe bekommen haben, hat sich eine gewaltige, weltweite Gegenreaktion erhoben, um die Frauen wieder zum Schweigen zu bringen: ... der Fun-damentalismus in christlichen, muslimischen, jüdischen und Hindu-Gemeinschaften wächst; Gewalt gegen Frauen nimmt in vielen Ländern zu. Wie finden die einzelnen Frauen ihre Stimme inmitten solcher Spannungen ...?15

Diese Frage stellt sich in der Tat, wenn Haltungen und Erscheinungsweisen von Frauen der beiden Religionen Christentum und Islam und Ausschnitte ihrer Kulturen miteinander verglichen werden. Inwieweit spiegeln diese Ausschnitte die Macht ihrer Kulturen, die Macht der Männer in ihren Kul-turen, und welchen Anteil haben die einzelnen Frauen daran?

Aus der Beantwortung dieser Fragen entwickelt sich eine Hierarchie un-ter den Frauen, manchmal ungewollt und unbewusst, manchmal allerdings auch bewusst hergestellt oder gar für Zwecke der Spaltung benutzt.

So ist das Schleier-Tragen und seine Symbolik aufgrund seiner langen Geschichte in beiden Traditionen zunächst der öffentliche und leichteste Vergleichspunkt für die Frauen beider Religionen.

Was sagt es wirklich aus?

Es wird deutlich, dass in der zweiten und dritten Migranten-Generation das Schleier-Tragen nicht mehr das Symbol der »Unterdrückung der Frau im Islam« schlechthin sein kann. Waren noch, wie oben geschildert, die Frau-en der ersten »Gastarbeiter« mit Sprachbarrieren und hinter ihrem Schleier oder unter ihrem Kopftuch vor der deutschen Gesellschaft verborgen im In-nenraum oft kleiner Wohnungen, und damit auch »eingesperrt« und unfä-hig, die Gesellschaft zu verstehen, in der sie leben, so galt das, wie bereits weiter oben dargestellt, für die Töchter nicht mehr; diese suchten einen deutlichen und schnellen Weg der Lösung von den Müttern. Viele taten das sehr radikal, sodass von den Bekleidungs-Vorschriften des Islam, deren Sinn und Aussage, nichts mehr erkennbar blieb. Andere fanden über die

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Neu-Definition des islamischen Erbes eine vertiefte Identität als Muslimin-nen innerhalb der westlichen Gesellschaft.

Diese zuletzt beschriebenen Frauen, die in der Konsequenz wieder Schleier trugen und tragen, und die dafür abgesehen von Zwang und Kon-vention, Erklärungen geben können, lassen sich den Nonnen vergleichen, die in der »Moderne« den Schleier nehmen.

Beiden liegt etwas an der Lebensform, die durch das Kleidungsstück symbolisiert wird. Beide werten den Sinn ihrer Entscheidung höher als den Zeitgeist, der ihnen »Emanzipation« von äußeren Zwängen nahe legen würde. Es ist ja geradezu so, dass die Gesellschaft es begrüßt, wenn ein junges Mädchen endlich zum »Mini« oder den engen Jeans findet; darin liegt vermeintlich ein Ausdruck ihrer gewachsenen »Ich-Stärke«. Wie viel Ich-Stärke dazu gehört, den westlichen »Bekleidungsvorschriften« zu wi-derstehen und seinen Körper mit anderen als den gängigen Tüchern zu ver-hüllen, wird selten reflektiert. Es wird nicht für möglich gehalten, dass es andere Perspektiven auf diese Fragestellung gibt als die, die in westlichen Gesellschaften in der Uniformierung von bestimmten Kleidungsstilen üb-lich ist.

Zur westlichen Ideologie gehört vor allem, dass man zeigen muss, was man hat, und dass nichts, was in irgendeiner Weise der eigenen öffentli-chen Wahrnehmung dient, im Verborgenen bleiben darf.

Eine »Vorzeige-Gesellschaft« kann es schwer ertragen, dass etwas ver-hüllt bleibt. Und wenn es so bleibt, wird es automatisch der Gegenstand von negativen Projektionen und Vermutungen, warum das so ist.

In beiden Versionen, der christlichen wie der islamischen Form des Schleier-Tragens , beschreibt das Kleidungsstück die spezielle Situation der Frauen, bestimmte Bereiche ihres Lebens, ihrer Erscheinung, ihres Selbst zu verhüllen; damit werden sie zum einen natürlich in die Privatheit abge-drängt, was eindeutig negativ bewertet wird – weil normalerweise alles, was Bedeutung haben soll, in unserer Gesellschaft öffentlich sichtbar ge-macht werden muss. Zugleich sind aber auch damit die Frauen symbolisch Trägerinnen des alten gesellschaftlichen Wissens, dass Personen auch die Würde, das Recht, zugesprochen werden kann und muss, eine private Sphä-re nicht öffentlich jedem Blick zugänglich zu machen.

In der Darstellung des Islam wurde der letztgenannte Bereich – der geschützte, private Raum – als eine wichtige Implikation der Religion gese-hen. Auch das Christentum kennt, kannte und schützte über die Jahrhunder-te die Institutionen des Rückzuges, die Möglichkeiten des Menschen, be-

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stimmte Bereiche seiner Existenz nur sich selbst und der Nähe Gottes zu-gänglich zu machen. Von Wüstenvätern und -müttern über die Klausen der Einsiedler und die Klöster hinaus war dieser Gedanke des Rückzuges, eines privaten Raumes der Verhüllung bestimmter Aspekte des Lebens und der Aspekt der dafür nötigen Zeit, im Christentum präsent.

Leider bewahrte der Gedanke nur seine spirituelle Echtheit, wenn der Rückzug freiwillig war, wenn die Mauern und Schleier nicht von außen aufgezwungen worden waren. In dieser Hinsicht aber unterscheidet sich das Christentum nicht vom Islam – denn auch hier gibt es den breiten Strom der »Wegsperrung« der Frauen neben dem, was noch in der Erklä-rung des Islamrates in Hessen heißt: »In manchen Fällen räumt der Islam speziell den Frauen besondere Rechte ein«.16 Dies heißt, es werden ihnen positiv definierte »private Räume« eröffnet.

Die Möglichkeit des Rückzuges in eine private Sphäre, in der ein Ab-stand von kollektiven Erwartungen und eine gewisse Innerlichkeit möglich war, weitgehend den üblichen gesellschaftlichen Zwängen entzogen, mag für manche islamische Frau in der Geschichte nicht so unattraktiv gewesen sein, wie es gemeinhin dargestellt wird. Im Wüstenklima, bei Sandstürmen, nicht auf die Strasse zu müssen, diese Arbeit den Männern zu überlassen, mag auch entlastend gewesen sein.

Die beschränkte Freiheit, die Angela Merici ihren Schwestern durch die religiöse Gemeinschaft geben konnte, war sicher in Relation zu den Frei-heiten, die Frauen zu dieser Zeit überhaupt haben konnten, recht groß. An-dererseits konnte sie ihnen Schutz geben durch die Gemeinschaft, sodass sie nicht Gewalt und Zwängen ausgeliefert waren.

Die Problematik liegt darin, dass solche Formen des gesellschaftlichen Miteinander-Umgehens, die zunächst menschlich sinnvoll und religiös be-gründbar sind, ideologisch missbraucht wurden und auch heute missbraucht werden können.

Dass Sich-Verhüllen, einen Teil der eigenen Person und Situation den Blicken anderer zu entziehen, ein Recht des Menschen, nicht nur der Frau-en, ist, wird nicht bestritten werden. Es kann geradezu zu den Menschen-rechten gezählt werden, dass Menschen ein Anrecht auf ihre Privatsphäre haben – und jede Religion wächst daran oder profitiert davon, wenn Men-schen mit dieser Privatsphäre umgehen können, bzw. ihre Bedeutung noch erahnen.

Es kann davon ausgegangen werden, dass die »westliche« Gesellschaft in vieler Hinsicht Privatsphären genauso zwanghaft zerstört, wie sie es reli-

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giös begründeten Gesellschaften vorwirft; dies geschieht etwa durch die fast schrankenlos gewordene Praxis von Verkaufsanrufen bei privaten Te-lefon-Adressen – um nur ein Beispiel zu nennen.

Das Kleidungsstück »Schleier« symbolisiert für das Christentum wie für den Islam Freiheit zur Individualität und zum Rückzug ins Private und mögliche Unterdrückung der gewünschten Individualität in gleicher Weise. Es kommt darauf an, wie die einzelne Frau damit umgeht – und es kommt darauf an, welchen Zwängen sie unterliegt, wenn sie damit umgeht.

Auf jeden Fall ist heute in Deutschland der Tatbestand der freiwilligen Wahl eines Schleiers als Aspekt wichtig, der durchaus auch bedenkenswer-te Signale in sich trägt; dies gilt für die verschleierte Muslimin wie für die Nonne – wenn auch gravierende Unterschiede in der sonstigen geistlichen und sozialen Stellung der Frauen im Kontext der beiden Religionen zu ver-zeichnen sind.

Darüber hinaus ist festzuhalten, dass der Schleier nicht mehr, wie zu Zeiten seines vehementen Kritikers Qasim Amin, verbunden werden kann mit Rückständigkeit oder mangelnder Bildung der Trägerin. Der Schleier ist damit ein äußerliches Symbol für eine religiöse Lebenshaltung gewor-den, das »kontextuell« reflektiert werden muss.

Es ist davon auszugehen, dass mancher Minirock unter erheblich größe-ren Zwängen und mit einem oft wesentlich geringeren Grad an Einsichten und formaler Bildung präsentiert wird als manchmal ein Schleier. Es kann auch nicht letztendlich von dem gängigen, aber nicht unbedingt intellektu-ell begründbaren gesellschaftlichen Maßstab ausgegangen werden, der ver-langt, dass eine Frau alle Einzelheiten ihres Körpers öffentlich zu präsentie-ren hat und oft bewerten lassen muss, wenn sie denn als gesellschafts-konform oder modern gelten will.

Sicher ist aber, dass dieser letzte Sachverhalt nicht mehr nur für die Frauen zutrifft. Die Vermarktung des Körpers, der optischen Wirkung als wesentlicher Form der Ich-Stärkung des westlichen Menschen gilt schon seit längerer Zeit auch für die Männer.

Religiöse Lebenshaltungen sind also in vieler Hinsicht abweichend von der durchschnittlichen gesellschaftlichen Erwartung. »Ich-Stärke« zu ent-wickeln, um in einer Umgebung, die an religiösen und weltanschaulichen Normen arm ist, einen individuellen Weg und Orientierungspunkte zum Überleben zu finden, ist eine Notwendigkeit unserer Gesellschaft.

Tradierten Werten nachzuspüren, ihre kollektive Bedeutung individuell aufzuspüren, sie zu leben und verstehen zu suchen, ist ein Ansporn, der aus

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der Beschäftigung mit einer Religion erwächst. Christentum und Islam sind im Gegenüber zu den zentralen Wertmaßstäben der säkularen Gesellschaft in der gleichen Position. Es gilt, die Verschiedenheiten der beiden Religio-nen in den Blick zu bekommen, damit dahinter auch die Gemeinsamkeiten erkannt werden können.

6.3 Westliche Musliminnen oder Musliminnen in der westlichen Gesellschaft?

Im folgenden Kapitel werden einige kontroverse Auffassungen diskutiert, die heute zur Selbsteinschätzung von MuslimInnen in ihrer Haltung gegen-über westlichen Auffassungen und Lebensformen bestehen. Zwischen Fremdheit und Ablehnung, die hier selten thematisiert wurden, und not-wendiger sachlicher Auseinandersetzung bis hin zu »glühender Bewunde-rung« des Westens existieren Varianten in Selbst- und Fremdeinschätzun-gen.

Die Darstellung der Frauen im Islam in den ersten Kapiteln dieses Buches fußte auf den Publikationen von Fatima Mernissi, die in der Dis-kussion verschieden eingeschätzt werden.

Mit ihren Publikationen ist Mernissi allerdings durchaus repräsentativ für die politische Einstellung jener WissenschaftlerInnen und PhilosophInnen aus der islamischen Welt, die in Westeuropa zur Kenntnis genommen werden.

so konstatieren Pinn/Wehner.17 Die Autorinnen setzen voraus, dass nach ihrer Meinung nur Stimmen

aus der arabischen Welt in Europa vernommen werden, die eine grundsätz-lich pro-westliche Position vertreten oder die sogar Europa oder die westli-che Welt bewundern oder sie indirekt oder direkt ihren eigenen Gesell-schaften vorziehen.

Mernissi ist bei der UNESCO Beraterin für »Frauen und Islam«. Sie sagt von sich selbst, der Ausbruch des Golfkrieges 1991 habe sie in ihrem bisherigen Glauben an die moralische Superiorität des Westens erschüttert.

Bis zu der Nacht (des Kriegsausbruchs) dachte ich, die Okzidentalen hätten wirklich eine fortgeschrittene Zivilisation geschaffen, ein überlegenes menschliches Geschöpf, bei dem edle Gefühle die niederen (wie den Spaß am Töten) ersetzt hätten.18

Pinn/Wehner unterstellen Mernissi auf diese Äußerung hin, einen nahezu blinden Glauben an den Westen gehegt zu haben, wenn er in dieser Weise

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zu enttäuschen gewesen sei. Mernissi sei auch nur peripher so sehr ent-täuscht gewesen und habe sehr schnell wieder eingeschwenkt auf die Vor-stellung, dass der Westen eine umfassende erzieherische Aufgabe habe, in-dem er wissenschaftlich, technologisch und moralisch den Ländern der »Dritten Welt« im Namen von Demokratie, Menschenrechten und Frauen-befreiung auf die Sprünge helfe. Den Intellektuellen und Wissenschaftlern aus den Ländern der »Dritten Welt« käme dabei die Funktion einer »Brü-cke« zwischen den Kulturen zu. Zu diesen WissenschaftlerInnen und Intel-lektuellen scheine sich Mernissi zu zählen.

Gilt dem Westen als Geburtsstätte von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten durchgängig Mernissis Bewunderung, ist ihre Einstellung zum Islam widersprüchlich. Einerseits betont sie ihre Verbundenheit mit der islamischen Kultur, andererseits cha-rakterisiert sie »den Islam« als zutiefst freiheits-, demokratie- und frauenfeindlich. Zweifellos hat sie mit ihren ersten Veröffentlichungen neues, interessantes Material zur Geschichte muslimischer Frauen vorgelegt sowie wertvolle Anregungen für die Ausein-andersetzungen mit »dem Islam« gegeben.19

Eines der Probleme, die die beiden Autorinnen nicht nur Mernissi vorwer-fen, ist deren Bereitschaft, die islamische Welt als »rückschrittlich«, im Mittelalter befangen darzustellen, während der Westen in sich »die Moder-ne« trägt. Bereits oben wurde auf diesen Tatbestand hingewiesen, als die Vorstellung Mernissis referiert wurde, europäische und arabische (islami-sche) Menschen lebten in »verschiedenen Zeitaltern«, wenn sie auch fak-tisch das gleiche Jahr auf dem Kalender schrieben.20

Bassam Tibi rückt ebenfalls in die kritische Sicht von Pinn/Wehner und anderen mit seiner Vorstellung von der Notwendigkeit zur Entwicklung eines »Euro-Islam«, der alle finstere Befangenheit der Religion im Mittel-alter ihrer Herkunftsgesellschaften hinter sich lassen müsse.

Die breite Debatte, die sehr viele politische Implikationen in sich trägt, soll an dieser Stelle nicht dargestellt und geführt werden, weil sie den Hori-zont der Frauen-Problematik in vieler Hinsicht überschreitet. Dennoch soll nicht unberücksichtigt bleiben, was Bassam Tibi zu bedenken gibt im Hin-blick auf die vermutete Entstehung von Enklaven islamischen religiösen Fundamentalismus in Europa, den ja auch die schleiertragenden Frauen för-dern können: »Die anstehende Fragestellung betrifft insbesondere Europa angesichts der islamischen Zuwanderung sehr direkt. Der amerikanische Islam-Experte John Kelsay spricht in diesem Zusammenhang von der Ent-stehung einer »sectarian enclave in the ... Western culture, in the West, but not of it.«21

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Die vorherigen Ausführungen zur komplizierten Identitätsfindung und praktischen Lebensführung der Frauen in der zweiten und dritten Genera-tion der Migration in Deutschland und Europa »zwischen den Kulturen« legt aus der Sicht der Autorin nahe, zunächst bei der alltäglichen Lebens-situation der beschriebenen Frauen zu verbleiben. Die Autorin möchte die Hinwendung mancher Frauen zum Schleier als möglichen Ausdruck von religiös-emanzipativen Gedanken verstehen, als Suche nach der eigenen Identität in Auseinandersetzung und positiver Adaptation ihrer Herkunfts-religion. Sie möchte die Gedanken Mernissis im Hinblick auf die Stellung der Frauen in den Anfängen der Religion in Bezug setzen zu den neuen religiösen Ausdrucksformen von islamischen Frauen in Europa, sie möchte aber dabei die möglichen Deutungen im politischen Horizont ihrer Außen-wirkung nicht außer Acht zu lassen.

Kritik an den Auffassungen Mernissis richtet sich auf das Gesellschafts-konstrukt zur Zeit der Entstehung des Islam, das sie zugrunde legt, um die damalige, rechtlich freiere Situation der Frauen zu beschreiben. Dies wird als unhistorisch und idealisierend empfunden. Eine solche Idealisierung kann – möglicherweise unbeabsichtigt – eine Signalwirkung im Sinne der oben genannten »sectarian enclave«22 nach sich ziehen.

Diese Auseinandersetzung soll nicht vertieft werden, da davon auszu-gehen ist, dass bei Mernissi und unter dem Horizont der Umstände, unter denen sie schreibt, die gesellschaftliche »Konstruktion der Anfänge« einen darstellenden Wert haben soll. Es ist davon auszugehen, dass diese »Kon-struktion der Anfänge« eher der Emanzipation der islamischen Frauen in ihren traditionellen Gesellschaften als der politischen Signalwirkung für den Islam außerhalb seiner eigenen Kultur dienen soll, und dass dieser Tat-bestand von Mernissi in Betracht gezogen wird.

Mit der Idealisierung der Anfänge sind auch die Wissenschaftlerinnen im Bereich der christlichen feministischen Theologie gelegentlich beschäf-tigt, und dennoch haben ihre Annahmen und Konstruktionen heuristischen Wert, wenn man sie ideologiekritisch liest. In diesem Sinne ist die Lektüre der Entdeckungen Fatima Mernissis auf jeden Fall aufschlussreich, zumal, wenn man bedenkt, dass jede historisch beschreibende Arbeit nicht ohne Konstruktionen und Darstellungen auskommt, die als mögliche Idealisie-rungen gewertet werden könnten.

Dennoch bleibt natürlich die Fragestellung offen, nicht nur innerhalb der Publikationen Fatima Mernissis, die aus ihrer eigenen marokkanischen Ge-sellschaft heraus schreibt, inwieweit den Muslimen und der westlichen

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Welt damit gedient ist, wenn man sie in den Inhalten ihrer Traditionen und Lebensführung eilig aneinander angleichen will? Sie ökonomisch gleichzu-stellen, ist die eine, sinnvolle Konsequenz aus den vielfältigen Heraus-forderungen durch die Migration, ihre kulturelle Identität anzuerkennen, ist die zweite logische Folge aus dem Zusammenleben innerhalb mehrerer kul-tureller Identitäten in Deutschland.

Es bleibt die Frage, ob man nicht eher von Muslimen in arabischen Gesellschaften und Christen in westlichen Gesellschaften reden solle? So bleibt die Differenz zwischen Religion und staatlicher Ordnung gewähr-leistet, die für demokratische Gesellschaften notwendig ist. Eine vorschnel-le Gleichsetzung von »Christentum« und »westlicher Gesellschaft« scheint nicht näher an das intendierte Ziel heran zu führen.

Sicherlich wurden Versuche, die islamischen Gesellschaften dem Wes-ten, damals Europa anzugleichen, schon im 19. Jahrhundert unternommen (s. meine Darstellung von Mohammed Abduh und Qasim Amin in Ägyp-ten). Damals wurde aber übersehen, dass diesem Versuch keine große Brei-tenwirkung gegönnt sein konnte – zum einen aufgrund des Bildungsstandes des überwiegenden Teiles der ägyptischen Bevölkerung – und zum anderen – das wird gerne übersehen – weil die europäische Kultur nicht neutral, sondern im Gewand der Kolonialherren ins Land gekommen war.

Insgesamt soll der Fokus auf der Fragestellung liegen, inwieweit Musli-minnen und Muslimen damit gedient sei, wenn sie sich in ihren religiösen Auffassungen der deutschen Kultur angleichen, bzw. in welcher Form da-mit ihnen und den Deutschen gedient sein könnte.

Die Fragestellung geht letztendlich dahin, über eine Koexistenz von Kulturen in Deutschland nachzudenken, die in ihrem Kern ihre eigene Sub-stanz behalten können, aber in ihrer Peripherie eine gedeihliche Koexistenz anstreben. Es ist vor allem an eine Form des Zusammenlebens zu denken, in der bereits Kinder die Achtung vor der jeweiligen anderen Kultur lernen, auch in öffentlichen Einrichtungen. Dazu gehört natürlich auch, diese Kul-tur kennen zu lernen. Wie bereits erwähnt, tragen Kindergärten, Schulen, Universitäten und andere kulturelle Einrichtungen zu dieser Begegnung bei – möglich wäre es auch, die öffentlichen Medien dazu zu bewegen. Inter-views, Darstellungen von Familienleben, Talk-Shows zu Themen islami-scher Lebensführung, islamischen Denkens sind (noch) eine Seltenheit in der deutschen Medienlandschaft. Entsprechende Sendungen könnten der Information, dem kulturellen Austausch und der Verständigung dienen. Im

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Gegenteil – es wird manchmal aber eher polemisierend und polarisierend berichtet.

Durch das prägende persönliche Lernen von klein auf könnte eine Tole-ranz für verschiedene Kulturen geschaffen werden – indem »das Fremde« nicht nur bei dem anderen gesucht und dort belassen wird, sondern als eine Kategorie des eigenen Erlebens gesehen wird. Etwas Fremdes finden wir auch bei uns selbst – und es ist eine fortdauernde Lern-Aufgabe, es zu ent-decken und zu integrieren, wo es nötig ist. Es ist ebenso sinnvoll, Fremdes zu respektieren und in seiner Eigenart zu belassen, wo das nötig ist.

Für die Koexistenz zweier Religionen ist es sicherlich hilfreich, hier sehr genau zu differenzieren. Was lässt sich miteinander integrieren und was kann und muss aus der inneren Logik heraus belassen werden, wie es in jahrhundertealter Verschiedenheit durch unterschiedliche Lebensbedin-gungen entstanden ist? Dies führt zu der Kernfrage, ob es in einem religiö-sen Sinne »westliche Muslime« geben muss oder geben kann, genauso wie sich die Frage stellt, ob es »westliche Christen« gibt und geben kann? In-wieweit entwickeln sich Religionen konform oder in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Bedingungen? Wird ein intendierter »Euro-Islam« dem »Euro-Christentum angenähert werden? Werden sie sich gegenseitig in ihrem Selbstverständnis innerhalb der säkularen Gesellschaft begegnen und helfen können? Werden sie zunehmend in Konkurrenz zu einander treten?

Prinzipiell erhebt sich hier die Frage nach dem Zusammenhang von Re-ligion und Kultur oder auch von Religion und politischen Konzeptionen – dieser Zusammenhang wird innerhalb des Islams und des Christentums facettenreich und kontrovers diskutiert.

In diesen Kontext gehört auch die Frage nach dem Selbstverständnis von Frauen in ihrer Gesellschaft und in ihrer Religion, nach der Symbolik von Kleidungsstücken, Schmuck, Mobiliar und Räumen. Diese Diskussion in Deutschland aufzugreifen und in einen Diskurs zu bringen, der für eine Begegnung dienlich ist, ist sicher immer noch eine Neuheit – soweit es um die Auseinandersetzung mit dem Islam geht.

So fordert die säkulare Gesellschaft dazu heraus, dass die Religionen ihre Spiritualität beitragen zum Gesamtkonzept des Zusammenlebens der Menschen – und es ist deutlich, dass damit in Europa und Deutschland nicht mehr nur die christlichen Kirchen alleine gemeint sein können. Eine Auseinandersetzungskultur in religiösen Fragen setzt Kenntnisse und Ein-fühlungsvermögen in die Problematik voraus; sie sind der einzige Weg, um

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starren Fronten, Ängsten und Fundamentalismus auf beiden Seiten entge-gen zu wirken.

6.3.1 Islam als Lebensform

Die »Umma«, die gesamte islamische Gemeinde, wie sie von Mohammed und seinen Nachfolgern gegründet wurde, beruht auf dem umfassenden Konzept der gesamten Gestaltung des Lebens aus den Regeln und der Spi-ritualität der Religion.

Es gibt daher im ursprünglichen Konzept keine ausgegliederten Berei-che – etwa der Politik oder der Religion – in denen eigene, etwa durch Ver-nunft oder Grundsätze der westlich verstandenen Toleranz in privaten Be-reichen geschaffene Maßstäbe gelten würden.

Dieser Anspruch auf das ganze Leben gilt zumindest für einige Formen des Islam noch heute, z.B. für den Islam, der in Saudi-Arabien praktiziert wird.

Für die in Deutschland zahlenmäßig überwiegend vertretenen Türken ist das Konzept weitgehend überholt, da für sie der Islam schon seit geraumer Zeit in den Bereich des Privatlebens gerückt ist und die Laisierung des Staates bereits in der Türkei stattgefunden hat.

Trotzdem bleibt die Anfrage, wie auf Dauer seitens einiger Muslime in den westlich geprägten Gesellschaften mit widerständigen Grundsätzen der Scharia umgegangen werden wird – und wie die Muslime sich mit den Tei-len der Scharia arrangieren können und wollen, die nicht in staatliche Ge-setze des Landes passen, in denen sie leben. Dies gilt sowohl für theologi-sche und rechtliche Interpretationen, als auch für praktische Fragen der Religionsausübung, die aus den religiösen Gesetzen resultieren.

Eine Religion, die eine umspannende Lebensform darstellt, wird unter der Voraussetzung des Lebens innerhalb eines anderen Kulturkreises zur »Privatsache« für den Feierabend-Bereich. Dies ruft Spannungen hervor und ist sicher eine der vielfältigen Ursachen für den »Fundamentalismus«, der sich mit der reduzierten Rolle des tradierten religiösen Systems und seines allumfassenden Anspruches nicht abfinden kann.

Die Frage nach dem allumfassenden theologischen Anspruch des Islam auf das Leben seiner Anhänger und seiner möglichen Praxis in einer säku-larisierten, fremden Gesellschaft wird von Adel Khoury in seinem Buch »Dürfen Muslime auf Dauer in einem nichtislamischen Land leben?« auf-

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geworfen und diskutiert. Hier soll und kann sie aufgrund der Komplexität der damit angesprochenen Themen und Fragestellungen nur angerissen werden, um sie in den Gesamthorizont der Situation von Musliminnen in Deutschland einzubeziehen.

Weiter oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass bestimmte prakti-sche Formen islamischer Lebensführung für MuslimInnen in Deutschland schwer nachvollziehbar sind, wenn sie ihre Religion in der herkömmlichen Form ausüben wollen. Dies gilt vor allem für das Einhalten der rituellen Gebetszeiten und der Feiertage und Feste; hier sind die dafür wichtigen Zeiten mit dem Lebens- und Arbeitsrhythmus in Deutschland nicht immer kompatibel.

Nachholen und Aufschieben sind eine mögliche Lösung, wenn man an der hergebrachten, formalen Verpflichtung zur Ausübung der Religion fest-halten will. Eine freiere Interpretation der Ansprüche bei Bewahrung der Grundhaltung gegenüber dem Islam stellt einen anderen möglichen Weg dar, um die Religion grundsätzlich beizubehalten.

Dieser zweite Weg wird in den verschiedensten Formen von MuslimIn-nen in Deutschland beschritten. In einem vorangegangen Abschnitt katego-risiert Klinkhammer die Lebensformen der Musliminnen. Ihre Einschätzun-gen möchte ich nun zugrunde legen und darauf aufbauen, um meine Beob-achtungen einzubringen.

Klinkhammer sprach von der »universalisierenden« Auffassung der Religion. Irgendwie ist für Menschen mit einer solchen Auffassung die Re-ligion am Horizont des eigenen Lebens präsent, für die praktische Lebens-führung mit allerlei kulturellen Mischformen hat sie aufgrund ihrer rituel-len Engführungen keine Bedeutung mehr.

Oder aber es wird »exclusivistisch« im Sinne des Aneignens bestimmter Seiten des Islam ein Teil der Praxis der Religion herausgegriffen und neu interpretiert.

6.3.1.1 Islam als neu entdeckte Lebensform

Es wird der Teil des Islam neu entdeckt und neu interpretiert, der hilft, eigene biographische Widersprüche zu überwinden oder miteinander in Beziehung zu setzen. So entsteht eine Mischform aus verschiedenen reli-giösen Vorstellungen im Islam und eigenen Interpretationen seiner jeweili-gen Rezipienten, die der Lebenspraxis und der Entwicklung einer religiö-sen Identität dienen.

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Es ist schwer, diese Formen des Islam bereits im Einzelnen zu beschrei-ben, aber auch sie ähneln in der Praxis und im Verständnis in Deutschland dem »Individualisierungsschub«, den es für die Interpretation des Christen-tums in ähnlicher Form gibt.

Ausschließliche islamische Lebensführung hat mit dem Wunsch zu tun, sich durch die Lebensform des »wahren Islam« zugleich von verfälschten Vorbildern abzugrenzen als auch der Aufnahmegesellschaft einen Spiegel der eignen Identität vorhalten zu können.

Durch die Wahrnehmung und Unterscheidung von islamischen Lebensführungskonzep-ten wie »Tradition« und »wahrer Islam« grenzen sich die beiden Frauen von der islami-schen Lebensführung ihrer Eltern ab. Zwar wird hier das gesamte Leben islamisiert, dies geschieht aber über eine kognitive Aneignung der islamischen Quellen (Koran und Sun-na) bzw. entsprechender Sekundärliteratur ... Das heißt, dass dieses Wissen, aber auch die Ausführung der Rituale gerade mit dem Ziel angeeignet werden, die eigenen Erfah-rungen auf eine islamische Lebensführung hin zu interpretieren und zu formen.23

Hier handelt es sich um eine ethische Formung des Selbst, es gibt aber auch angenommene Jenseitshorizonte, die an der Ausführung von Geboten fest-gemacht sind.

6.3.1.2 Islam als Basis-Lebensform

Eine tägliche Lebensführung nach allen möglichen pragmatischen Einsich-ten, Freizeitgestaltung nach Neigungen, gesellschaftlichen Möglichkeiten und privaten Einbindungen wird sicherlich auch für Muslime in der Zu-kunft ein möglicher Lebensstil sein, wenn sie in Deutschland leben. Aber er wird auch bei ihnen, wie bei den Christen in Deutschland, nicht immer mit dem Verlust des gesamten Religionssystems, in dem sie aufgewachsen sind, einhergehen. Die nicht rituell gebundenen Aspekte der Religion, die Sinnstiftung und Glaubensvergewisserung beinhalten, werden generell nicht so schnell aufgegeben. Religiöser Schutz, religiöse Begleitung, für die Höhepunkte des Lebens wie für schwere Lebensphasen, werden von Muslimen wie von den Christen weiterhin gewünscht sein – unabhängig von der konkreten Alltagsgestaltung, in der sie sich mit der Zeit ihrem Gast- oder Heimatland akklimatisiert haben werden.

Es ist nicht anzunehmen, dass dies heute bereits von vielen Muslimen so verstanden wird, aber die Umgebung der deutschen Gesellschaft legt nahe, dass in einem säkularen Umkehrschluss auch der Islam, der hier gelebt wird, mit der Zeit zur kulturell verfügbaren Ware werden wird. Die grund-

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sätzlich mögliche Interpretation des Islam als eine Religion des allumfas-senden Friedens mag dafür eine Grundlage bieten.

Dieser Deutungsrahmen, der der Religion ihr Recht gibt, ihr aber auch Grenzen aufzeigt und ihr auferlegt, ihre Friedens- und Demokratie-konfor-men Traditionen besonders zu fokussieren, ist in Bezug auf das Christen-tum in Deutschland und Europa weitgehend üblich geworden; nicht mehr die Religion in ihrem allumfassenden, traditionellen Anspruch bestimmt die Norm für eine kulturelle Prägung, sondern das Umfeld einer säkularen Kultur lässt auch der Religion einen Platz, um dort Akzente zu setzen. Die Religion kann Bereiche einnehmen, die die Kultur sonst schwer abdecken kann. Dies gilt für die Beschäftigung mit dem Tod, mit Normfragen, die nicht durch den vom individualistischen Denken geprägten gesellschaftli-chen Diskurs zu behandeln sind.

Hier ist nun einzusetzen mit dem, was als »universalisierendes« Ver-ständnis des Islam wahrgenommen werden kann. »Als Gründe für die Zuwendung zum Islam gelten ihnen »Wahrheitssuche« »Sinnsuche«, »Er-kenntnis von Transzendenz«, also nur extrem universalistische Motive. Die Thematisierung des Islam muss für sie die Thematisierung des Selbst vor dem Hintergrund dieser Fragen möglich machen.

Die drei Frauen verstehen sich zwar als Musliminnen, die islamische Lebensführung ist aber kaum als konkrete Umsetzung ritueller Gebote im Alltag präsent, sondern eher als ergänzende und unterstützende ethische oder spirituelle Dimension im Alltag relevant ... Der Verdienstcharakter der rituellen Pflichten geht gänzlich verloren. Glaube und spiri-tuelle Vergegenwärtigung der »Geschöpflichkeit«, eventuell auch durch die Ausübung von Ritualen, stehen im Zentrum eines »wahren« islamischen Lebens.....Als »universali-sierend« ist diese Form der Suche insofern zu bezeichnen, als die drei Frauen sich zwar als Musliminnen verstehen, aber nach einem universal religiös-ethischen und/oder spiri-tuellen Charakter des Islam suchen, der ihnen in andere (monotheistische) Religions-traditionen übersetzbar scheint ... Kontakte und Freundschaften zu Nichtmusliminnen werden gepflegt.24

6.3.2 Islam als Inszenierung von Wendepunkten?

»Passageritual« wird in der soziologischen Reflexion über die Praxis des Christentums die Ausübung einer bestimmten religiösen Handlung an den Wendepunkten des Lebens genannt. Viele ChristInnen bleiben ihrer Kirche und dem Kirchensteuersystem verbunden, weil sie sich zur Trauung, zur Taufe des Kindes oder zur Beerdigung – in vielen Fällen auch zur Konfir-mation oder ersten heiligen Kommunion eine entsprechende »Amtshand-

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lung« erwarten, einen »Passageritus«, der diesen Übergang weihevoller und ernsthafter gestaltet, der die tieferen Deutungen und Gefühle zur Spra-che bringt und gegenüber der Gesellschaft kommuniziert. Der Erweis der praktischen Nützlichkeit der Religion hängt im Christentum weitgehend an der Funktion und Ausgestaltung solcher Amtshandlungen.

In Deutschland lebende Muslime sehen diese Praxis, und sie beobach-ten, wie die Deutschen damit leben, wenn sie gelegentlich an deren Fami-lienfeiern teilnehmen. So ist es nur verständlich, dass ein ähnlicher Zug zur privaten, funktionalen Auffassung der Religion als möglicher religiöser Ritualbegleitungs- und Sinnstiftungsform auch den Muslimen einleuchtet. Damit ist der den ganzen Lebenszyklus umspannende Aspekt der Religion weitgehend in den Hintergrund gerückt, wie es im Christentum schon lange der Fall ist.

Menschen in Deutschland unterscheiden verschiedene Lebensbereiche, denen sie sich zuwenden. Einer dieser Lebensbereiche kann für manche Menschen auch ein religiöser sein kann. Diese separierten Lebensbereiche haben für die Menschen jeweils eigene, meistens unverbunden nebeneinan-der existierende Bedeutungen, die individuell zugeordnet werden.

Die Familie als ein Ort der Tradierung von Werten oder bestimmten fes-ten Zugehörigkeiten hat für die vom Christentum noch peripher geprägten Menschen in Deutschland sicher nicht mehr einen so hohen Stellenwert wie früher; sie hat ganz sicher nicht den hohen Stellenwert, den ihr die Muslime einräumen.

Auf den Aspekt des Lebens, den Religion vermitteln oder ausfüllen kann, kommen christlich geprägte Menschen zurück, wenn er »dran« ist, eben bei der Trauung oder Taufe.

Andere Aspekte der Lebensgestaltung, wie Sport, Arbeit und Kultur haben ebenfalls ihre zugewiesenen Bereiche im gesamten Lebensentwurf. Dazu gehören auch vorgegebene Zeitraster, innerhalb deren die einzelnen Tätigkeiten ausgeübt werden, innerhalb deren den einzelnen Ansprüchen Genüge getan wird.

Freundschaft, individuelles Aufeinander-Zugehen sind allerdings zuneh-mend Werte in der deutschen Gesellschaft geworden, die gegebenenfalls eine praktizierte Religion nicht ausschließen – wenn sie denn kommunika-bel, einsichtig und nützlich für das gegenseitige Verstehen ist.

Der Raum, der der Religion eingeräumt wird, ist abhängig von der Be-schaffenheit des symbolischen Systems, in dem ein Mensch lebt. Er ist auch zunehmend abhängig davon, ob ein Mensch mit der Religion, der

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Kirche, dem Islam, eine positive oder negative Erfahrung gemacht hat oder nicht.

Vielfach werden keine direkten Erfahrungen mehr mit den Kirchen ge-macht, aber durch sekundäre Vermittlung wie dem schulischen Religions-, bzw. Ethikunterricht werden Inhalte der Religion/en ansatzweise vermittelt.

Dies geschieht allerdings eher im kognitiven Bereich; durch emotionales Lernen innerhalb einer bestimmten Tradition werden religiöse Vorstellun-gen in der Regel sicherlich seltener vermittelt.

Von den verallgemeinernden Beobachtungen zum Stellenwert von Reli-gion – speziell von Islam und Christentum für Menschen innerhalb einer westlichen Gesellschaft – muss aber nun abgesehen werden und wieder de-tailliert nach dem Stellenwert von Religion im gesellschaftlichen Sub-system der Frauen gefragt werden.

Es ist evident, dass die Frauen durch ihre äußere Wirkung – mindestens für den Islam – eine Bedeutung von Religion sichtbar machen. Ob sie sie auch im Sinne der westlichen Vorstellungen von Kommunikation »kom-munizieren«, d. h. ihren Sinn und ihre Nützlichkeit erklären können, bleibt allerdings offen. Sicherlich entsteht eine Kommunikation im Sinne der Kontroverse über das »Fremde« der Erscheinung, die möglicherweise auf Dauer eine weitere inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Islam zur Fol-ge haben kann.

6.4 Der kulturelle Raum der Frauen

6.4.1 Ethnopsychoanalyse

In seinem Überblick über Geschichte, Konzepte und Anwendungen der Ethnopsychoanalyse zitiert Johannes Reichmayr25 eine Geschichte:

Als ich im Alter von acht Jahren nach Paris kam, wurde ich in eine Volksschule ge-steckt. Mit meinem germanischen Aussehen und der Unfähigkeit, mich zu verständigen, war ich als Fremder der aggressiven Verachtung und dem Spott meiner Klassenkamera-den und des alten, vom Leben bereits zertretenen Lehrers ausgesetzt. Obschon sie mich plagten, bewunderte ich die unbekümmerte Frechheit der großstädtischen Buben, die in der Lichterstadt Paris die Subkultur der »poulbots« ausmachten. Sie trugen alle ganz kurze Hosen, die typische schwarze Schulschürze und das dunkelblaue péret basque. Ich wurde in eine Dominikanerschule versetzt, wo ich mit meinen poulbots-Errungenschaf-

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ten die Bewunderung der wohlbehüteten Knaben des Pariser Mittelstandes auf mich zog und eine führende Rolle zu spielen begann. Es war die glücklichste Zeit meiner Jugend. Anpassung, Angleichung, Imitation und Identifikation hatten dazu geführt, dass ich glaubte, der zu sein, der ich bin.26

Später, als Erwachsener, nach der Emigration in die USA, erfährt der Er-zähler, dass er in dieser Gesellschaft alles erreichen kann, was er sich vor-nimmt, wenn er an seine Mitmenschen appelliert: »Look, I’m a foreigner.«

Look, I’m a foreigner« wurde zu meiner Devise in den Vereinigten Staaten ... Ich erhielt Informationen, die ich sonst nicht bekommen hätte. Im Grunde genommen war es kein Zauberwort, sondern der Ausdruck der Konfrontation mit mir selbst. Ich will nicht sein wie der andere. Ich grenze mich ab und bin ich, ein anderer als der, der ich war, als ich mich in Paris als Kind angepasst, angeglichen, identifiziert hatte, um imitierend zu dem zu werden, der sich im Gewande der anderen sicher weiß.27

Betrachtet auf die Situation von Migrantinnen der zweiten und dritten Ge-neration , vornehmlich aus der Türkei, auf die ich mich bisher bezogen habe, lässt sich aus der zitierten Geschichte fragen: Führt die Imitation der westlichen Kultur für sie dazu, dass sie irgendwann »glauben können, die zu sein, die sie sind?«, um sich im Gewande der anderen sicher zu fühlen, oder erweist es sich als angemessener, dass sie weiterhin sagen: »Look, I’m a foreigner?«

Die deutsche Gesellschaft hat ihren Anteil daran, mit welcher Frage eventuell mehr zu erreichen ist. Unterschwellig wird auf die Anpassung, Angleichung, Imitation und Identifikation gesetzt werden – sie alleine wer-den aber nicht ausreichen. Abgrenzung und »Ich-Sein« werden genauso notwendig sein, um auf Dauer zu bestehen.

Zunächst möchte ich Ergebnisse psychoanalytischer Feldforschungen bekannt machen, die in die Problematik einführen können, wie auf Dauer kulturell divergente Menschen miteinander leben können und sich in ihrer Identität begegnen können.

Paul Parin, Psychoanalytiker und Ethnologe, stellt im Rahmen seiner Untersuchungen fest, 1. dass es keine kulturunabhängige Normalität gibt 2. dass nicht nur die Erlebnisse der frühen Kindheit, sondern in hohem

Maße die Adoleszenz und gesellschaftliche Einwirkungen auf das er-wachsene Individuum das Seelenleben tiefgehend mitbestimmen

3. dass es im Psychologischen keine wissenschaftlich nachweisbaren Un-terschiede zwischen normal und anormal, gesund und krank geben kann.28

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Betrachtet man diese Feststellungen auf das oben gestellte Thema hin, die Migrantinnen als strukturell Fremde in unserer Gesellschaft auf Dauer wahrzunehmen, so heißt das: Weder die deutsche (christlich fundierte) noch die jeweilige nationale (islamisch fundierte) kulturelle Zugehörigkeit lassen sich als die Norm begreifen, in deren Gewand man sich sicher fühlen kann, wenn man hineinschlüpft. Beide kulturellen Normen und Formen müssen zugleich erhalten und modifiziert werden.

Die Erlebnisse der frühen Kindheit werden schon gemischt-kulturell sein, Schule, Berufswahl, gesellschaftliche Verhaltensmodi setzen die Frauen aus Migrantenfamilien immer neuen tief greifenden Veränderungen ihres Seelenlebens aus, vor allem, wenn die eigene familiäre Prägung an den Traditionen der eigenen Kultur orientiert ist.

Zunehmend wird aber auch von deutschen Kindern früh wahrgenommen werden, dass sie mit Menschen anderer Kulturen aufwachsen.

So spricht Parin von der »ethnopsychoanalytischen« Erweiterung der Ansätze der Psychoanalyse, um den Einzelnen in seiner jeweiligen Gesell-schaft zu sehen. Die ethnopsychoanalytische Betrachtungsweise macht aus »der Not der Verschiedenheit der Völker eine Tugend«,29 betrachtet sie, um das »Fremde im eigenen Land«30 erkennen zu können – damit kulturelle Verstehenszugänge möglich werden, die nicht nur die kulturell anderen, sondern auch die eigene Kultur mit den Augen kritischer Distanz sehen lassen.

So nimmt Parin auch andere Zugänge zur sozialen und psychischen Realität von Menschen in den Blick und folgert:

(Das gesellschaftliche Umfeld – die Verfasserin) müssen wir genauer untersuchen, als es einerseits die Psychoanalyse, andererseits Soziologie und Gesellschaftstheorie bisher getan haben. Die Psychoanalyse hat sich, entsprechend ihrer Entdeckung, wie aus-schlaggebend die emotionalen und sexuellen Erfahrungen in der Kindheit sind, bei der Erforschung des Sozialen im Wesentlichen auf die entsprechende Institution, die Fami-lie als Umwelt, beschränkt und darüber hinaus nur ganz große allgemeingültige Phäno-mene der Kultur und ihrer geschichtlichen Entwicklung mit dem Seelischen in Be-ziehung gesetzt ... Die Familientherapeuten haben den Einfluss der Familie und ihrer Ideologie durch mehrere Generationen studiert. Andere haben die Auswirkungen von Gruppenprozessen miteinbezogen.

Doch hängen diese alle soziologisch, ökonomisch und politisch gleichsam in der Luft: sie (die Verfasserin) befinden sich in einer Umwelt, die als naturgegeben und unver-änderlich angenommen wird, der man gegenübersteht als einem gemeinen Unglück, die man fürchten, akzeptieren, an die der Einzelne oder die Gruppe sich anpassen muss. Für den jeweiligen begrenzten Untersuchungszweck mag das hingehen. Die Dialektik, die sich immer und während des ganzen Lebens, ... zwischen dem Subjekt und den objekti-ven Verhältnissen abspielt, kann so nicht erfasst werden.31

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6.4.2 Der »kulturelle Raum der Frauen« als Verständigungsansatz

Das Subjekt »türkische Frau«, »Migrantin«, »deutsche Frau«, »Einheimi-sche« und seine jeweilige objektive Realität können so in Beziehung ge-setzt werden, dass im jeweils eigenen auch das Fremde mit erkennbar ist. So kann die objektive Realität der Frauen durch diese Bewusstwerdung transformiert werden – es können »kulturellen Begegnungs-Räume der Frauen beider Kulturen« entstehen. Den Begriff »kultureller Raum der Frau« entwickelte die Schweizer Ethnologin und Psychoanalytikerin Maya Nadig,

weil er dem Subjektiven, dem Privaten, dem Unsichtbaren oder Latenten Raum ver-schafft und sich dafür interessiert und weil er eine Methode zur Verfügung hat, die Zu-gang dazu ermöglicht. Frauen bewegen sich immer in Zwischenbereichen: zwischen dem öffentlichen Bereich ihrer Gesellschaft und der Familie, die dem Privaten zuge-wiesen wird, zwischen Erwerbstätigkeit und Hausarbeit, die unsichtbar ist, zwischen der herrschenden Kultur und einer den Frauen zugewiesenen und gleichzeitig von ihnen er-zeugten, die nicht benannt werden kann. Mit ihrer individuellen Lebensgeschichte sind sie ein Produkt von gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie gleichzeitig zu verändern suchen.32

Für Nadig ist ein wesentlicher Faktor des Verstehens von Frauenkulturen der Sachverhalt, dass direkt miteinander in Beziehung getreten wird. Laten-tes muss einen Raum bekommen, um zutage zu treten, Bestehendes schär-fer konturiert werden. Es muss ein Raum hergestellt werden, der Vertraut-heit ermöglicht, damit die konflikthafteren Aspekte eines Frauenlebens zum Ausdruck gebracht werden und erkannt und benannt werden können. So erst wird die Zugehörigkeit des Subjektes zu einer Kultur erfahrbar.33

Wir fragten uns, wo und wie finden Frauen – Hausfrauen, Mütter, Alleinlebende, Be-rufstätige, Alte und Junge – in unserer Gesellschaft eine positive Spiegelung ihres Frau-seins und wo erfahren sie eine Befriedigung ihrer Wünsche. Auf der sozioökomonischen Ebene stellen wir dar, wie sich die Spannung zwischen Familie und öffentlicher Kultur in den Zeit- und Arbeitsstrukturen des Alltags von Frauen niederschlagen. Auf der psy-chodynamischen Ebene stellen wir die Wünsche und Verletzungen dar, die Frauen be-wegen, sowie die Mechanismen, anhand deren sie versuchen, mit den Gegebenheiten ihrer Situation fertig zu werden.34

Nadig forschte über Frauenkultur in der Schweiz, also für sie selbst als For-scherin im Rahmen des eigenen kulturellen Settings. So entfielen hier für sie die Probleme, die aus der kulturellen Fremdheit zunächst entstehen. Umso mehr musste sie sich darüber im Klaren sein, dass auch bei dieser Feldforschung ein kultureller Abstand zwischen Forscherin und For-

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schungs»gegenstand« existiert. Sie zieht Schlüsse, die für die Begegnung von Frauen verschiedener Kulturen ebenso relevant sein können:

Die Formen von Frauenräumen sind in der Industriegesellschaft so verschiedenartig ge-staltet, wie es der allgemeinen Individualisierung entspricht, und so bieten sich vielen unterschiedlichen Bedürfnissen Befriedigungsmöglichkeiten. Man könnte sagen, dass die »Frauenkultur« gerade aus diesem fast unüberschaubaren Angebot an unterschied-lichsten Frauenräumen besteht, das die Frauen selbst erzeugt haben und tragen. Diese Frauenräume stellen in jedem Frauenleben ein zentrales Regulativ dar, das ihr hilft, mit ihrer konkreten Alltagssituation, ihrer strukturellen Entwertung, ihren Krisen und ihrem Selbstwertgefühl besser fertig zu werden. Gleichzeitig aber, und das ist sehr wichtig, wurde uns klar, dass diese vielfältigen und nuancierten Frauenräume gegenüber der weiteren öffentlichen Kultur wie durch eine unsichtbare Barriere abgeschottet sind – durch die Entwertung und Unsichtbarmachung der Arbeit und der Belange der Frau, durch ihre ideologische Abdrängung ins Private.35

6.4.3 Religiös-kultureller Raum von Frauen

In einprägsamer Weise war die Existenz von christlichen Frauen-Orden als ein religiöser und kultureller Raum für Frauen in der Geschichte des Christentums zu verstehen. Die Privatheit, ob als »Abdrängung« oder als »Rückzugsmöglichkeit« verstanden, gab den Frauen die Chance, geistige Kultur zu entwickeln.

Von einer »Unsichtbarmachung« dieser Kultur ist sicher nur beschränkt zu reden, weil in die Gesamtheit der christlichen Kultur Orte der Abge-schiedenheit hinein gehörten. Sie hatten ihre Verortung in der Religion und waren in das Ganze des Systems der Religion integriert.

Nonnen, die sich im Habit in der Öffentlichkeit zeigten, repräsentierten eine bestimmte religiöse Lebensform des Rückzuges, des gleichmäßigen Lebens, von dem andere sich allein durch den Anblick dieser Frauen in ihrer Kleidung ebenfalls ein Bild machen konnten. Es war eine »geistige Partizipation« an dieser religiösen Lebensform möglich, wenn auch man-che Ausgestaltungsformen von Ordensleben sehr exklusivistisch waren und die Frauen zwangen, alltägliche Lebensverhältnisse weitgehend zu meiden.

Religiöse und auch profane kulturelle Räume wurden den Frauen in der Geschichte des Christentums sicherlich auch deswegen zugestanden oder zugewiesen, weil eine Auffassung von der »Andersartigkeit der Frau« ge-genüber dem Mann, möglicherweise von der Schutzbedürftigkeit der Frau, vorlag.

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Diese Auffassung wurde ihrer negativen Aspekte wegen weitgehend in den Hintergrund verwiesen. Frauen haben gleiche Rechte, gleiche Pflich-ten, gleiche Positionen und damit gleiche Räume und Spielräume wie die Männer in der säkularen Gesellschaft. Dennoch bleiben offenkundige Dif-ferenzen zwischen Frauen und Männern, die heute durch keine religiöse Anschauung über Unterschiede gedeckt oder vertreten werden. Es entste-hen für die Lebensbewältigung, die auch auf spirituelle Räume, für Frauen wie für Männer, angewiesen ist, neue Fragestellungen.

6.4.4 Säkular-spiritueller Raum von Frauen

Aus der völligen Gleichberechtigung von Mann und Frau, wie sie in Deutschland praktiziert wird, erhebt sich zum einen die bereits gestellte Frage der »Vereinbarkeit von Beruf und Familie«, die als eine völlig säku-lare Frage verstanden wird, die aber viele spirituelle Implikationen in sich trägt.

Viele Frauen verzichten darauf, Kinder zu bekommen, weil die Verein-barkeit von Beruf und Familie zu schwierig erscheint, weil der Schutzraum für die Frauen, den Religionen in vergangenen Zeiten, sicherlich einseitig, bestimmt und geregelt haben, als überholt gilt. Dennoch hat sich an dieser Stelle, an der ein Schutzraum angebracht wäre, in der säkularen Gesell-schaft noch keine wirkliche, sinnvolle und tragfähige Lösung für Frauen, Männer und Kinder gefunden.

Eingebunden in das säkulare gesellschaftliche Verständnis ist ja, dass der eigentliche Wert eines Menschen in dem besteht, was er/sie individuell darstellen und vorzeigen kann. So muss Individualität, »Ich-Stärke«, »Durchsetzungsfähigkeit« ausgebildet werden, und jede Form der Ausbil-dung einer Qualifikation erfordert Konzentration, Zeit und die psychischen Kräfte dafür. Bei nicht unendlichem psychischem Haushalt eines einzelnen Menschen muss er/sie wählen, welche Eigenschaften vorrangig ausgebildet werden.

Das Ziel, in der Verantwortung für Kinder, in einer Gruppe einen Platz einzunehmen, der vielleicht nicht so deutlich in seiner individuellen Leis-tung Anerkennung findet, scheint vielen Menschen nicht besonders attrak-tiv zu sein. Eine Definition vom Wert des Menschen außerhalb der Leis-tung oder anderer vorzeigbarer Aspekte ist gesamtgesellschaftlich sicher kaum noch im Bewusstsein.

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Spirituelle Werte, die gar auf einer transzendenten Begründung fußen, sind schwer begreiflich zu machen; sie werden schnell dem Ideologiever-dacht unterzogen, denn so sind sie leichter einzuordnen und zu handhaben.

6.5 Die Suche nach dem spirituellen Raum

So beginnt hier die Suche nach der Spiritualität im säkularen Raum. Sie fängt an, indem nicht mehr nur religiösen oder im weitesten Sinne spirituel-len Vokabeln nachgegangen wird und deren mögliche oder nicht mögliche Symbolik interpretiert wird. Wenn nur diese Problematik einiger weniger sinnenfälliger Zeichen als Rest traditioneller Religionen – möglicherweise unterlegt mit neuen Deutungen – immer wieder neu beleuchtet wird, bleibt sie eine praktisch fruchtlose akademische Auseinandersetzung.

Die Suche nach der Spiritualität, nach der möglichen Echtheit des Le-bens und der menschlichen Beziehungen, beginnt etwa im oben genannten Artikel Petra Trimmels über »Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Deutschland«, wenn sie formuliert:

Und die Bedürfnisse der Kinder? Kinder brauchen: Echte Zuwendung: viel Zeit heißt nicht automatisch viel gute Zeit Das Gefühl, Verantwortung zu bekommen Vorbilder: Eltern, die finanziell nicht voneinander abhängig sind, sondern aus Wert-schätzung, Freundschaft und Liebe zusammen bleiben. Berufstätigkeit ist dann für Kin-der so selbstverständlich wie zusammen essen, in den Urlaub fahren, wie Zahnarzt-besuche und Geburtstagspartys.36

Ohne jede religiöse Vokabel wird hier von Werten wie Liebe, Geborgen-heit und menschlicher Beziehung gesprochen. Im Gewande des Alltags, der jedem/jeder vorstellbar ist, kommuniziert die Autorin ihr Bild von einem möglichen gelungenen Berufs- und Familienleben. Sie spricht damit eine Vision aus, die sicherlich viele Menschen haben. Aber angesichts der Zwänge ihrer Realität haben sie diese Perspektiven weg geschoben.

In nicht religiösen Vokabeln werden Hoffnungen, Visionen ausgespro-chen, die sicherlich Islam wie Christentum teilen werden. Denn in beiden Religionen geht es, wenn sie ernst genommen werden, um gelungenes und verantwortetes Leben von Menschen. Es geht um das Leben von Men-schen, das ihnen Räume, Frei-Räume und Zeit für ihre Seele und ihre spiri-tuellen Bedürfnisse gibt, sodass sie aus diesen Frei-Räumen heraus Verant-

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wortung übernehmen können. Es geht um eine positive Tradition und Ver-mittlung eines »guten Lebens« über die Generationen hinweg, um die Er-mutigung, Leben auch für die nächste Generation zu wollen. »Kontextuell« müssen spirituelle Werte übermittelt werden, angepasst an den Horizont derjenigen, die sich mit ihnen auseinander setzen.

Viele Fragen, viele Beispiele aus Trimmels Artikel sprechen die Wirk-lichkeit heutiger Frauen (und Männer) aus, die Familien wollen und dem Anspruch von Beruf und Selbstverwirklichung gerecht werden wollen. Normalerweise wird aber allen diesen Fragen keine religiöse Dimension beigemessen – im Gegenteil, sie werden im Gegensatz zu den traditionellen religiösen Prägungen der Menschen verhandelt.

Nach der Taufe des Kindes sind die Eltern in der Regel von der Kirche ausreichend »bedient« worden; wenn sich in der einen oder anderen Orts-gemeinde ein Krabbelkreis anschließt, so werden dort sicher eher selten Aspekte der Familien- und Lebensgestaltung in verschiedenen gesellschaft-lichen Bereichen berührt. Wer die Zeit erübrigen kann, kommt, wer arbei-ten muss, wird andere Lösungen finden müssen. Für weitere Perspektiven sieht sich die Kirche nicht verpflichtet. Sie kann es aufgrund der eigenen Beanspruchung hauptamtlicher MitarbeiterInnen auch oft nicht sein.

Wenn aber Spiritualität in der säkularen Gesellschaft wachsen kann, dann ist das sicherlich nur da möglich, wo konkrete Perspektiven eröffnet werden. Perspektiven, die einen nächsten gangbaren Schritt aufzeigen, die zeitliche und örtliche Räume auftun, in denen gelebt werden kann.

Es ist nicht der Ort für die praktischen Einzelheiten, vor allem geht die Erörterung in dieser Form zu sehr in Richtung auf die in den Kirchen ge-pflegten Diskussionen hin. Die Thematik eröffnet, zumindest im größeren Stil, noch nicht den Dialog über die herkömmlichen Lebensgewohnheiten der MuslimInnen und die Lebensformen der Frauen in der säkularisierten deutschen Gesellschaft.

Aber es wäre ein guter Ansatz, bei den religions-übergreifenden Bedürf-nissen der Menschen in Deutschland zu beginnen, um die gemeinsame Su-che nach spiritueller Ausprägung des Lebens zu starten. In den Moschee-vereinen existieren Frauengruppen, gibt es Arbeit mit Kindern, die an den Bedürfnissen der Kinder in ihren Familien orientiert ist. In den Erhebungen von Klinkhammer war verschiedentlich zu lesen, dass die muslimischen Frauen sich noch immer aufgrund ihres traditionellen, auch religiös zuge-schriebenen Rollenbildes, den Kindern und deren Erziehung verpflichtet fühlen. Das setzt sich auch in der Berufswahl als Kindergärtnerin oder Leh-

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rerin in der Regel fort. Ähnliche Zuschreibungen existieren immer noch in der Tradition des Christentums, manchmal werden sie auch von den Frauen aufgrund ihrer natürlichen Neigung getroffen – und so wäre ein Ansatz zur interkulturellen Begegnung aus Neigung und gemeinsamen Interessen ge-funden, wenn Frauen beider Religionen aufeinander zu gingen. In der Ver-gangenheit war die Beteiligung an der Hausaufgabenhilfe für Kinder aus MigrantInnen-Familien eine soziale Aufgabe, der sich manche Kirchen-gemeinden stellten. Zumindest stellten sie dafür Räume zur Verfügung. Auf der Ebene solcher Aktivitäten ist eine Verständigung und ein spirituel-les Aufeinander-Zugehen sicherlich möglich – und es wird zu vertieftem Verstehen durch die Begegnungen führen.

Dazu kann ein univalisierendes Religionsverständnis sicher hilfreich sein, für ChrstInnen wie für MuslimInnen. Verantwortung für und Lebens-freude mit Kindern in Familien stellen einen religions-übergreifenden, spirituellen Wert dar.

6.5.1 Christlich-muslimische Erziehung?

Unter dem Titel »Wir schneiden uns unsere Religion nicht dort ab, wo es den anderen vielleicht jucken könnte«: Christlich-muslimische Erziehung 2004 wird in »Wege zum Menschen«37 ein Sonderfall der christlich-musli-mischen Begegnung beschrieben. Es handelt sich hier nicht um die ordent-liche Trennung der beiden Religionen, deren Angehörige über die Mauer der sozialen, lokalen und kulturellen Unterscheidung gelegentlich hinüber sehen, um etwas Neues zu entdecken.

Es wird die Situation in einer religionsverschiedenen Ehe geschildert, in der Kinder aufwachsen. Diese Situation ist in Deutschland sicher nicht sel-ten, wird aber selten öffentlich diskutiert – meistens allerdings auch mit den üblichen Schablonen versehen.

Hierbei besteht noch der Sonderfall, dass Eltern ihren Kindern Grund-züge und -werte ihrer beiden Herkunftsreligionen vermitteln wollen, damit diese einen Eindruck bekommen und sich selbst entscheiden können, wie sie mit dem doppelten Erbe umgehen wollen.

Spätestens nach dem 11. September 2001, in der Fassungslosigkeit über grenzenlose Gewalt erfuhr das Ansehen des Islam als eine der großen Weltreligionen einen bis heute nicht reparablen Schaden: Islam und Terrorismus werden häufig in einem Atemzug ge-nannt. Zudem warnte jüngst Papst Johannes Paul II in seinem Dokument »Erga migran-tes caritas Christi« vor den »bitteren Erfahrungen« christlicher bzw. katholischer Frauen

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mit muslimischen Ehepartnern. Als besonders religiös-kulturell motivierter Problem-kreis gilt in diesem päpstlichen Schreiben die Kindererziehung in christlich-muslimi-schen Familien.

Daher stellt sich mir die Frage: Kann eine religiöse Erziehung der Kinder unter diesen Vorzeichen überhaupt noch gelingen?

Bis zum heutigen Tag vernachlässigen die wissenschaftlichen Disziplinen eine Ausein-andersetzung mit den Kindern aus christlich-muslimischen Familien, die neben den soziologischen und psychologischen Fragestellungen besonders für die Frage nach dem Dialog zwischen den Religionen fruchtbar werden könnte. Da also empirische Unter-suchungsergebnisse weitgehend nur durch meine eigene Arbeit vorliegen, werde ich an dieser Stelle meine eigenen Überlegungen am Beispiel meines Gesprächspartners Mi-chael Blume – bekennender Christ, verheiratet mit einer Muslima türkischer Herkunft, Vater einer kleinen Tochter und christlicher Vorsitzender der Christlich-Muslimischen Gesellschaft CIG e.V. Stuttgart – fortsetzen und zeigen, wie die herausfordernde Reli-gionsverschiedenheit in der Familie Perspektiven entwickeln kann.38

Anhand von Zitaten des oben genannten Gesprächspartners erhellt Froese bestimmte Räume, in denen sich die gemischt-religiöse Ehe begeben hat. In vielen Fällen von gemischt-religiösen Ehen wird der engere Tatbestand verschiedener Glaubenstraditionen nie thematisiert, oder er wird erst dann zur Fragestellung erhoben, wenn Kinder auf die Welt kommen.

Hier war es für die Verfasserin insofern anders, als ihr Gesprächspartner angab:

Wir haben viel über diese Themen gesprochen, da waren wir noch verlobt, also vor vie-len Jahren, und haben die quasi auch festgeklopft, im Laufe unseres Zusammenlebens, im Lauf unserer Ehe, und so halten wir es auch heute.

In vielen Fällen bietet es sich für die Mütter und Väter an, ihre persönliche Spiritualität und religiöse Praxis auf ein Minimum zu reduzieren oder zu ignorieren. Auf diese Weise lässt sich zwar eine Konfliktvermeidung erzie-len, doch es besteht die Gefahr, dass dem Gespräch zwischen den Eltern eine Tiefendimension fehlt.39 Letzteres stellt die Meinung der Verfasserin dar, zu der sich ergänzen lässt, das die besagte Tiefendimension sicher auch in sehr vielen »rein« christlichen oder »rein« islamischen Ehen fehlen wird.

Zunächst wurde im hier genannten Fall für das Ehepaar ein eigener ge-mischt-religiöser Zugang zu ihren Religionen eröffnet, indem sie sich ge-genseitig über den Sinn der Feste in beiden Religionen, und vor allem über die begleitenden Bräuche, austauschten. Beide Feste zu begehen, brachte ihnen ein gemeinsames Fundament ein, um daran zu arbeiten.

Für Kinder heißt das in der Folge, dass sie über beide Religionen etwas in der Nachahmung, also emotional – und nicht nur kognitiv in der Schule – lernen können.

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Froese äußert sich kritisch zu den Grenzen des informativen Unter-richtes über Religionen in der Schule, da dem kognitiven Horizont in der Regel das mit-vollziehende Verstehen folgen müsse. Dieses aber werde den Schülern nicht in ausreichendem Masse geboten.

Leider ist es auch in Bezug auf das Christentum für die meisten Schüler, die den Religionsunterricht besuchen, so, dass sie informativ und kognitiv eine (mögliche) Existenzweise und Lebensform vorgestellt bekommen, die sie nicht unbedingt aus eigener, praktischer Anschauung im persönlichen Umfeld kennen (die Verfasserin).

Im Hinblick auf die religiöse Sprachfähigkeit stellt sich eine große Auf-gabe des gemeinsamen Lernens in der Familie und in religiösen Gemein-schaften. In der nicht ausgeprägten religiösen Sprachfähigkeit liegt bis heute eine der Wurzeln der Tatsache, dass Amtshandlungen wie Trauun-gen, Taufen, Beerdigungen auch von Kirchenfernen weiterhin erbeten wer-den. Hier füllen die »Amtschristen« die Funktion der Versprachlichung und des Öffentlich-Machens der Religion aus, die individuell nicht geleistet werden kann.

Da Kinder durch das Vorleben der Erwachsenen lernen und durch die zahlreichen all-täglichen Rituale, stellt sowohl die Gemeinschaft um Kirchturm und Minarett als auch die professionelle Seelsorge eine wertvolle Unterstützung des religiösen Familienklimas dar. Eine gemeinsame Suche – von christlicher wie auch muslimischer Seite – nach eigener Identität wie auch des Dialogs sollte also von SeelsorgerInnen mit einer speziel-len Qualifikation für eine solche sensible Aufgabe begleitet werden. Auf diese Weise wird der interreligiöse, interpersonale wie auch intergenerative Prozess innerhalb der Familie nicht nur erträglicher, sondern auch ein potenzieller Gewinn für die hermeneuti-schen Kompetenzen von Eltern und Kindern.40

Stärkung von Identität und Dialog ist eines der wichtigsten Ziele sowohl für die Partner in den gemischt-religiösen Ehen als auch für Kinder, die sich in einem sensiblen Bereich doppeltem emotionalem Lernen und früher Reflexion darüber aussetzen müssen. Dies ist nicht nur ein Ziel für diese betreffende Familie, sondern sicher auch für deren gesamtes soziales Um-feld inklusive der entsprechenden christlichen und islamischen religiösen Institutionen.

Grenzen findet diese Erziehungsform (des emotionalen Lernens beider Religionen – die Verfasserin) nicht nur in der theologischen Diffusion beider Religionen, sondern auch in Entscheidungssituationen, die eine doppelte religiöse Erziehung nicht ermöglichen – Taufe oder Beschneidung. Vielfach wird hier, wie auch von manchen christlich gepräg-ten Eltern, die Taufe auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.

Für die Eltern gilt nach Froese:

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Glaubenspraxis in der eigenen Religion und der Gaststatus in der Religion des Anderen prägen also den religiösen Alltag der Eltern, der so zum Erziehungsmodus der Kinder wird. Kinder werden dadurch motiviert, selbst als Christen oder Muslime zu leben und zu glauben oder aber sich einfach zu Gebeten, Feiern und Riten des christlichen oder des muslimischen Elternteils einladen zu lassen.41

So betrügt ein multireligiöses Erziehungsmodell die Kinder nicht um Gott, weicht nicht ernsthaften Fragen aus, gesteht dem Kind sein Recht auf Reli-gion zu.

So gehört aber zu diesem Modell ein Experimentieren mit neuen Ritua-len und Passageriten, da herkömmliche Rituale, weil sie an eine Religion gebunden sind, manchmal einen Machtkampf zwischen den Eltern um die Vormachtstellung beinhalten können.

Wir haben quasi eine Feier entworfen, in der wir Elemente der christlichen Segnung und der muslimischen Mevlut, auch eine Art Segnung, zusammengeführt haben. Wir haben unsere beiden Familien eingeladen, wir haben die einzelnen Elemente nicht vermischt. Das heißt, es gab zum Beispiel ein christliches Gebet und eine christliche kurze Predigt und eine muslimische Koranlesung und eine muslimische Predigt. Aber das waren je-weils getrennte Teile, so dass jeder beim anderen quasi miterleben konnte, aber so, dass auch keiner gezwungen war, bei anderen teilzunehmen oder an einer Mischform der Re-ligionen teilzunehmen. Es bestand aus 4-5 Teilen, jeweils aus den religiösen Traditio-nen, und am Ende stand ein Kind, für das in beiden Religionen gebetet worden ist und das in beiden Religionen gesegnet worden ist.42

Mit dieser Selbstdarstellung, die der christliche Vater von der Familienfeier gibt, die in den Räumen einer evangelischen Kirchengemeinde für seine ge-mischt-religiösen Familie stattfand, ist sensibel deutlich gemacht, wie an-spruchsvoll eine angemessene Begegnung der beiden Religionen im Raum von interreligiöser Lebensbegleitung und Sinndeutung sein kann. Es gehö-ren sowohl Dialog und Verständigungsbereitschaft, als auch angemessene Distanz zu der Begegnung der beiden Religionen, gerade wenn sie auf so engem und privatem Raum auf einander treffen.

Zu berücksichtigen ist nicht nur die zukunftsweisende Wirkung solcher Handlungen für die jeweiligen betroffenen Kinder, sondern auch die Pro-blematik, inwieweit solche »religions-vermischenden« Handlungen als seelsorgerliche Hilfestellungen für die Generation der Eltern und Großeltern gelten können. Hier ist sicherlich eine Begleitung im Gespräch im Sinne der oben geforderten »sensiblen« Seelsorge sinnvoll.

Abschließend steht noch folgende Aussage des gemischt-religiösen Paa-res im Raum, die ich zur Reflexion des vorherigen Segnungsvorhabens für das gemeinsame Kind wiedergeben möchte:

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Wir, Z. und ich, haben den 11. September 2001 natürlich erlebt als einen Einbruch, in der Form, dass uns Menschen teilweise noch aggressiver als vorher entgegengetreten sind und gesagt haben: »Was ihr lebt, das geht gar nicht. Religionen können nicht in Frieden miteinander leben. Andererseits war aber auch eine größere Faszination da, dass Leute doch auch nach Alternativen gesucht haben: Schaut mal, da geht es doch. Es hat ein Zusammenrücken stattgefunden zwischen christlich-islamischen Ehen, die sich ge-genseitig auch kennen gelernt haben, teilweise vernetzt haben, weil viele in der Art auch angesprochen wurden. Also eine besondere Aggressivität und auch eine besondere Hoffnung. Auch ein Glaube kann, in radikaler Form, ins Negative gewendet werden, und deswegen ist es wichtig, dem Kind Werte mit auf den Weg zu geben und einen Glauben, der eben immer noch offen bleibt zum Dazulernen.43

Der Weg der Verständigung zwischen Christen und Muslimen muss ver-stärkt begangen werden, wie auch Fereshta Ludin als Konsequenz aus ihrem jahrelangen Kampf um das Tragen des Kopftuches im öffentlichen Raum feststellt. Es kann nicht möglich sein, aus dem Gefühl kultureller oder intellektuell-säkularistischer Überlegenheit heraus die Wegsperrung islamischer Frauen zu beklagen, dieselben Frauen aber andererseits daran zu hindern, den öffentlichen Raum von Beruf und Emanzipation – so wie westliche Menschen ihn verstehen – zu betreten.

In der gemeinsamen Bewältigung von gemischt-religiöser Erziehung von Kindern ist ein kultureller Raum betreten, der in allen Kulturen tenden-ziell Frauen vorbehalten bleibt. Er weitet sich zusehends aus auf einen Raum für Männer – und in diesem beiderseitigen Neuland sind möglicher-weise große Spielräume enthalten, wie das oben genannte Beispiel der ge-mischt-religiösen Familie zeigt.

Solche spirituellen Räume brauchen aber Schutz und Pflege – wozu be-sonders auch ein weitläufiger Horizont an zeitlichen Zugeständnissen ge-hört. Vielleicht werden dann wenigstens einzelne, die in und mit beiden Religionen »gesegnet« sind – in der dritten oder vierten Generation aus dem hoffentlich gepflegten Erbe der Begegnung und Verständigung etwas Neues machen können.

6.5.2 Seelsorgerliche Begegnung in der kulturellen Differenz

Mehrfach ist angeklungen, dass gerade in persönlichen Beziehungen eine besondere Sensibilität gefordert ist, um multikulturelle und multireligiöse Begegnung gelingen zu lassen. Im vorausgehenden Kapitel wird von Froe-se darauf hingewiesen, dass die interkulturelle und interreligiöse Begeg-nung in einem sensiblen Raum geschieht, in dem auch Vermittlung und Be-

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gleitung eine Rolle spielen, damit sich die in diesem Raum agierenden Menschen orientieren und selbst identifizieren können.

Helmut Weiß reflektiert aus einer eigenen, umfangreichen Praxis mit interkultureller Seelsorge die wichtigsten Voraussetzungen und Implikatio-nen einer solchen Seelsorge.44

Wie interkulturelle Wahrnehmung in Lerngruppen eingeübt werden kann, soll nun im Folgenden dargestellt werden. Vor allem sind dabei Einstellungen einzuüben, die zu interkultureller Wahrnehmung führen. Natürlich kann es auch hilfreich sein, etwas über die jeweilige Kultur des Menschen, mit dem man in Gespräch ist, zu wissen. Aber in der Regel haben wir nur Klischees in den Köpfen oder sehr oberflächliche Kenntnisse. Deshalb ist nicht das Wissen der Hauptpunkt, sondern das sich einlassen auf Menschen in ihrer Prägung.

Aus den Einstellungen sollen dann hilfreiche Interventionen im Gruppengeschehen wer-den, die wiederum für die aktuelle Seelsorge- und Beratungspraxis angewandt werden können.

Die sozio-kulturelle Analyse vollzieht sich in drei Bewegungen: Anerkennung der Differenz Erforschung der Differenz Beziehungsgestaltung in der Differenz

Diese Bewegungen sind nicht voneinander zu trennen, sondern sind aufeinander bezo-gen und durchdringen und überlagern sich. Dennoch ist es gut, sie in der Reflexion von seelsorglichen und beraterischen Begegnungen getrennt zu behandeln, um dadurch ihre Bedeutung zu erfahren ...

Wie oft gehen wir in Begegnungen hinein, als wüssten wir bereits, was sich da abspielt. Damit aber übergehen wir die vorhandenen Unterschiede. Wir begeben uns in Begeg-nungen mit bestimmten Vorstellungen auch von dem Menschen, der vor uns ist, und sind damit nicht mehr frei für Anderes. So wird der Andere zu einem Teil von einem selbst, in gewisser Weise zum Objekt.

Julian Müller, Professor für Praktische Theologie aus Pretoria in Südafrika, der sich intensiv mit interkultureller Seelsorge beschäftigt hat, schlägt in einem Aufsatz45 ein »narratives Modell des interkulturellen Verstehens und der interkulturellen Kommunikation« vor. Er schreibt: »Das narrative Ver-ständnis impliziert, dass der Therapeut oder die Therapeutin sich selbst in eine Position des Nichtwissens begibt.«46 Die Idee, dass jemand in der La-ge sei, sich in einer Begegnung zu einem Menschen der anderen Kultur hinüber zu bewegen, sei anmaßend und wissend. »Sie offenbart eine Vor-stellung von asymmetrischer Kommunikation und von einer messianischen Rolle anstelle einer partnerschaftlichen. Sie beschreibt eine Bewegung, die ›von hier nach dort‹ initiiert wird, während der narrative Zugang die Erfah-rung und das Gefühl ermöglichen will, in die Welt des anderen gezogen zu

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werden, über die Schwelle einer kulturellen Verschiedenheit hinübergezo-gen zu werden.«47

Zunächst aber ist es wichtig, die kulturelle Differenz wahrzunehmen, sie anzuerkennen und zu würdigen. Wir brauchen uns selbst und den eigenen Vorstellungen und Möglichkeiten gegenüber immer eine Portion Skepsis, wenn wir eine Begegnung mit einem Anderen eingehen.

Einübung in kultureller Wahrnehmung beginnt also mit dem Hinweis auf die Differenz. Leiterinnen und Leiter von Gruppen sagen also immer wieder: »Das kannst du nicht wissen, wenn dir der Betroffene das nicht selbst gesagt hat«. Sie raten immer wieder, Annahmen, Meinungen und Fantasien zu überprüfen, weil es anders sein kann, als gedacht wurde. Sie empfehlen, mit Identifikationen sehr vorsichtig zu sein, da sie Verstehen vorgeben. Sie sagen, dass Verstehen eventuell am Ende eines gemeinsamen Weges ist und nicht Voraussetzung für eine Begegnung. Die Interventionen sollen Menschen davor verteidigen, dass man sie sich »aneignet«. Sie sol-len dazu verhelfen, die Spannung der Differenz zu ertragen. Erst Differenz schafft Bedeutung, und erst Differenz macht Austausch und Integration möglich.

Gerade die Einstellung, nicht zu wissen (kulturelle Naivität), fördert eine respektvolle und würdigende Neugier.

In interkulturellen Begegnungen ist es immer wichtig, wer welche Rolle einnimmt. Denn damit ist die Frage nach der Autorität der beteiligten Per-sonen und nach Macht verbunden.

Was bedeute ich in dieser Situation für den Anderen aus seinen kulturel-len Erfahrungen? Welche Autorität habe ich für ihn? Ist die Rollenvertei-lung symmetrisch oder asymmetrisch für ihn? Welche Bilder hat er für diese Konstellation? Übe ich Macht über ihn aus? Wie? Etwa dadurch, dass ich meine Sicht für die einzig mögliche oder für die richtige halte? Solche Fragen gehören an den Anfang einer Erforschung der Differenz auf Seiten von Seelsorgerin und Seelsorger. Denn die Differenz bezieht sich ja auch auf die Stellung, nicht nur auf die Inhalte kultureller Unterschiede.

Ich möchte noch einmal Julian Müller zitieren: Das helfende Gespräch – gerade auch mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen – kann beschrie-ben werden als

die sich langsam entfaltende, konkrete, detaillierte und persönliche Lebensgeschichte, angeregt durch die nicht wissende Haltung des Therapeuten und seine Neugierde, etwas zu erfahren. Von diesem Standpunkt aus erscheint interkulturelle Therapie nicht länger als eine komplexe und eigentlich unmögliche Aufgabe, solange der Therapeut ehrlich willens ist, vom Menschen aus der anderen Kultur zu lernen ... Die zu diesem Therapeu-

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tischen Ansatz gehörenden »Werkzeuge« sind: einfühlend-aktives Zuhören, eine nicht wissende Position, Gesprächsfragen.48

Das Ergebnis, auf Geschichten zu hören und auf sie einzugehen, wird sein, dass sie sich für neue Bedeutung öffnet.

Narrative Therapie kann beschrieben werden als ein Neu- oder Umschreiben von Ge-schichte und eigener Biographie. Dieses Neuschreiben geschieht während des gemeinsa-men Gesprächs, indem neue Geschichten miteinander geschaffen werden.49

Meine Erfahrung zeigt, dass sich interkulturelle Wahrnehmung in Kursen und Gruppen durchaus lernen lässt. Dieses Lernen ist eine praktische und eine geistliche Übung.

Eine praktische: Sozio-kulturelle Analyse ist Arbeit in Schritten, so dass die beteiligten Personen in ihren Eigenheiten und Unterschieden immer deutlicher sichtbar werden. Es ist Arbeit an den kollektiven und individuellen Geschichten der Menschen und zwar unter Beachtung vielfältiger Aspekte. Es ist methodische Arbeit, nämlich die äußeren Bedingungen einer Person ins Blickfeld zu bringen. Es geht um eine Wahrnehmung von »Person und Umwelt« und darum wie sich beide zueinander verhalten.

Eine geistliche: Diese Analyse öffnet weite Horizonte. Das Individuum wird in Trans-zendenz gesehen, Umwelt gestaltet sich in konkreten Menschen. Interkulturelle Seel-sorge löst Engführungen auf, fördert nicht Setzungen oder »Sätze«, sondern ermutigt zum Erzählen, zu Bewegung und dazu, Energie strömen zu lassen. Interkulturelle Seel-sorge beschäftigt sich mit den Mächten, die um die Menschen und in den Menschen re-gieren und sie gefangen nehmen wollen, und sucht nach Befreiung. Interkulturelle Seel-sorge bekämpft den Wahn, als habe eine Kultur oder hätten bestimmte Kulturen An-spruch auf letzte Gültigkeit, und so sorgt sie dafür, Gott die Ehre zu geben. Und doch entdeckt sie, in Kulturen und Menschen eine Würde, die unantastbar ist und doch so häufig getreten wird.

In Beziehung zu diesen Überlegungen über »narrative Seelsorge« kann das bereits vorgestellte Konzept Nadigs vom »kulturellen Raum der Frau« ge-sehen werden. Dieser Raum zeichnet sich besonders dadurch aus, dass er dem Privaten, dem Subjektiven, dem Unsichtbaren und Latenten Raum ver-schafft – und weil er eine Methode hat, die dazu einen Zugang eröffnet. Narrative Seelsorge gehört sicherlich auch zu den Methoden, die einen sub-jektiven und privaten Raum schaffen können.

In jedem Falle ist die hörende und wahrnehmende, Geschichte und Ge-schichten aufnehmende Haltung gefragt – eine Haltung, in der eigene Vor-gaben beiseite gelassen werden können und in der voraussetzunglose, offe-ne Begegnungen stattfinden können.

Eva Butt widmet sich in ihrer Tätigkeit als Beraterin besonders den bi-kulturellen Ehen aus dem christlich-islamischen Kulturkreis.50 Wie bereits von Froese bemerkt, stellt sich die Problematik der Herkunft aus verschie-denen Religionen in der Regel in den Ehen erst, wenn Kinder geboren

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werden. Es geht dann um die Frage nach der Taufe und nach der Beschnei-dung. Vor allem wird es vielen Ehepaaren erst dann deutlich, dass ihre je-weiligen Familien aufgrund ihrer eigenen religiösen Tradition mit der kul-turellen Divergenz noch nicht so gut umgehen können.

Das Kind nicht beschneiden zu lassen, würde für den islamischen Mann in seinem Land eine Unmöglichkeit bedeuten. Vor allem hätte er jede An-erkennung als Vater innerhalb seiner Herkunftsfamilie verloren, wenn er sich in dieser Frage nicht gegen seine Frau durchsetzen könnte.

So wird manchmal die Religion in der Ehe ein latenter Machtfaktor. Dies alles erkennbar zu machen, damit umgehen zu können, Religion nicht als »Ersatz« für andere, nicht gelöste Beziehungskonflikte zu nehmen, ist das Ziel der bireligiösen Beratung.

Der Beratungsanlass in unserem Fall sind religiöse Fragen, die die Kinder betreffen. Zu-nächst unterstütze ich das Paar darin, eine Basis gemeinsamer Wert- und Zielvorstellun-gen auf der Elternebene zu erarbeiten. So legen z. B. bei unserem Paar beide Eltern Wert auf religiöse Erziehung ... Ich unterstütze das Paar, beide Standpunkte anzuschau-en, ohne zu werten, um dann darauf aufbauend Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten ...

Ich erkläre, dass es natürlich kein Patentrezept und nicht nur einen Lösungsweg gibt, sondern dass es so viele verschiedene Lösungsmöglichkeiten gibt für Familien und Paare. Wir überlegen dann gemeinsam, was für die beiden und die ganze Familie am praktikabelsten erscheint, womit alle am besten leben können ...

Wir sollten nicht aus den Augen verlieren, dass eine bikulturelle/bireligiöse Beziehung eine große Bereicherung sein kann, dass man lernt, gemeinsam über den Tellerrand zu schauen, dass man die Möglichkeit hat, gemeinsam zu wachsen und zu lernen, und dass man das Augenmerk wirklich auf die gemeinsamen Werte richtet. und eher den Kern der Religionen, also das, was beiden wichtig ist, herausstellt ...

Täglich sehen wir uns mit neuen Meldungen über gewaltsame Übergriffe gegenüber ethnischen, religiösen und anderen Minderheiten konfrontiert ... Deswegen ist es wich-tig, das Verbindende zwischen den Religionen herauszuarbeiten und den Kindern zu zeigen, dass das Ganze auf den gleichen Wurzeln basiert …

Ich sehe hier eine konkrete Möglichkeit zur Friedenserziehung und somit letztlich einen Beitrag zum Weltfrieden, den wir uns alle – unabhängig von Herkunft, Religion, Alter und Geschlecht – so sehnlichst wünschen und der im Herzen aller Religionen enthalten ist.51

Eva Butt ist selbst mit einem Moslem verheiratet und bemüht sich, ihrer eigenen Tochter die Gemeinsamkeiten der beiden Religionen nahe zu brin-gen. Dies soll nicht nur über Informationen, sondern auch durch konkrete religiöse Praxis geschehen– indem sie bei Gebeten die jeweiligen »Identi-fikationen« in der Anrede weglässt (Jesus Christus, Maria, Allah). Stattdes-sen spricht sie von Gott, den beide Religionen kennen.

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7 Abschließende Begegnung und abschließende Bemerkungen

Es wurde in den bisherigen Ausführungen ein Ansatz gemacht, für Frauen aus Christentum und Islam eine Begegnung aus den historischen Quellen ihrer Religionen und aus den gegenwärtigen geistigen Strömungen ihrer Gesellschaften zu ermöglichen. Dies kann, wenn der Impuls angenommen wird, einen Dialog eröffnen, der nicht nur die aktuelle Situation, sondern auch die Perspektiven des zukünftigen Zusammenlebens berücksichtigt.

Im vorhergehenden Kapitel und verschiedentlich wurde darauf Bezug genommen, welcher mögliche Vergleichspunkt am einfachsten zu finden ist: das äußere Erscheinungsbild.

Am äußeren Erscheinungsbild werden leider eher vermehrt Wertungen und Vermutungen festgemacht, die dem Dialog und dem gegenseitigen Verstehen entgegenstehen. Und über das Sichtbare hinaus findet leider nur selten ein breitenwirksamer Dialog statt.

Engagement in der Kirche heißt für viele Frauen in ihrem Selbstver-ständnis: In erster Linie wollen sie sich pragmatisch für die Situation ihrer Ortsgemeinde, für soziale Zwecke, für den überschaubaren Rahmen örtli-cher Kultur einsetzen. Interreligiöse Dialog-Gedanken werden als »fremd« erlebt, als »zu fordernd«, sie stören die Ruhe und hinterfragen zu deutlich die gesuchte Einbindung in bekannte Traditionen – und so gefährden und stören sie damit im Verständnis vieler Frauen den Frieden in den Gemein-den.

Frauen in den Kirchengemeinden sind von ihrem Selbstverständnis her oft an anderen Themen orientiert als speziell an der theoretischen Reflexion ihrer eigenen Situation. Sie engagieren sich für Kinder, Umwelt und Sozia-les, oft auch in der Verwaltung und Leitung von Gemeinden oder Deka-naten.

Im weitesten Sinne ist sicher die Praxis der Kirchengemeinden durch einen »kulturellen Raum der Frauen« gekennzeichnet, in dem Privates, manchmal Unsichtbares, einen Raum finden kann. Dieser Raum wird meist nicht näher definiert in den Inhalten, die er umschließt. Es genügt den Frau-

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en, dass er da ist und sich zum Aufhalten anbietet. Wobei zu beobachten ist, dass auch Männer in Gemeinden diesen kulturellen Raum suchen, der durch, psychologisch gesehen, »weibliche« Werte gekennzeichnet ist.

Lokale Gemeinden der evangelischen wie der katholischen Kirche bieten sicherlich immer noch eine Umgebung und einen Raum für das tra-ditionelle Selbstverständnis von Frauen als Hausfrauen.

Berufstätige Frauen, wenn sie zusätzlich noch Familien haben, finden oft nur schwer Zugang zum Angebot der Kirchengemeinden, obwohl sie gelegentlich spirituelle Lebensformen vermissen. Es wird versucht, gerade diesen Frauen und ihren Lebenssituationen entgegen zu kommen, ihre ge-änderten Lebensbedingungen in das Selbstverständnis dieser Frauen einzu-beziehen. Aber diese Versuche werden leider oft nicht wahrgenommen, zum einen, weil Informationen fehlen, zum anderen, weil die Angebote in der dargebotenen Form nicht interessieren. Andere Fragen des »Über-lebens« in der meist knappen Zeit scheinen wichtiger und sinnvoller.

Der Versuch, eine Brücke zu schlagen zwischen dem Selbstverständnis von Frauen in den Kirchengemeinden – meist ehrenamtlich Tätigen und Hausfrauen -und sich vorwiegend durch ihre Berufstätigkeit definierenden Frauen, fällt vor Ort in der Regel schwer. Spezielle kirchliche Einrichtun-gen, Zentren für Frauenarbeit und Frauen-Begegnung, leisten hier für Inter-essierte einen Transfer.

Die bisherigen Beobachtungen und Einschätzungen gehören alle in den Kontext des Lebens in der evangelischen Kirche oder in katholischen Kir-chengemeinden. Ordensgemeinschaften tragen noch einmal eine andere Lebensform und theologische Tradition in das Gesamtbild hinein.

Es ist ein Anliegen der Verfasserin, diesem Bild von Frauen, das die Orden in die christliche Tradition brachten, ihren jeweiligen historischen Ursprüngen und ihrer reichen spirituellen Traditionen ein besonderes Augenmerk zu widmen. Die Vergegenwärtigung des geschichtlichen und auch des zeitgenössischen Ordenslebens trägt zu einer wichtigen Vertie-fung der Sicht von Kirchen in der Gesellschaft bei.

Es wurde allerdings bisher nicht nur die Situation der Frauen in den Kir-chen betrachtet, sondern ein Nebeneinander-Sehen und -Denken der Situa-tion sehr unterschiedlicher Frauen aus zwei Religionen herzustellen ver-sucht – in schwierigen, tastenden und vorläufigen Zugängen, Bewertungen und divergenten Situationen. Der existente »kulturelle Raum der Frauen« wurde auf einen größtmöglichen Horizont hin erweitert; wenn die Begeg-

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nung gelänge, würde hier ein wesentlicher Spielraum und Freiraum ermög-licht.

So bleibt die weiter oben angeschnittene Frage offen, ob es einen ver-größerten Rahmen für die Begegnung von Frauen geben kann, in dem auch kulturelle und religiöse Divergenzen in einem breiteren gesellschaftlichen Umfeld zur Sprache kommen können.

Frauen, die sich auf eine solche spirituellen Suche begeben, finden sich nicht nur im Christentum: Der Islam bietet, wie bereits weiter oben darge-stellt, manchen Frauen ein ähnliches Spektrum, wie es im Christentum ent-standen ist, um Identifikation oder Distanzierung von seinen traditionellen Inhalten zu suchen, um ihn neu und erweitert zu verstehen.

Er bietet Frauen derzeit neue Räume des Selbstverständnisses, in dem sie sich definieren können und wollen – in Abgrenzung gegenüber der »aufnehmenden« Gesellschaft, die doch in vielen Bereichen längst zur »Heimat-Gesellschaft« geworden ist.

Er gibt islamischen Frauen den Hintergrund, sich religiös und kulturell zu verwurzeln und doch auch offen zu sein für neue Entwicklungen.

7.1 Eine Begegnung

Ihre religiöse Erziehung sei »basic« gewesen, die meisten Suren des Ko-rans, die sie heute noch auswendig zitieren könne, habe sie als Kind bei Besuchen in der Türkei gelernt. Die nächste Moschee in Deutschland sei doch einige Kilometer weit weg gewesen; man sei gelegentlich einmal mit dem Auto dorthin gefahren, am häufigsten während der größeren religiösen Feste, z.B. im Ramadan. Ihre Familie war die einzige türkische Familie im kleinen Ort, in dem sie aufgewachsen ist; dennoch habe sie sich dort wohl gefühlt, habe Grundschule, integrierte Gesamtschule und Gymnasium be-sucht. In Schulzeit und Studium engagierte sie sich für die christlich–musli-mische Gesellschaft. Nach dem Abitur folgten das Jura-Studium und die ReferendarInnen-Ausbildung-und sehr bald folgte dann auch ihre berufli-che Tätigkeit im Bereich des interkulturellen und interreligiösen Dialogs.

Ihre Mutter spricht bis heute nicht sehr gut Deutsch und orientiert sich in vielen Dingen in Deutschland über ihre Kinder, die ihr helfen. Dies sei sicher eine Rest-Problematik aus der Zeit der »ersten Generation«, die eigentlich nur auf Zeit nach Deutschland gekommen sei und zunächst zu-

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rückkehren wollte. Die Rückkehr verschob sich aber, und die Generation der Kinder etablierte sich derzeit in ihrer eigentlichen »Heimat«. So sei es noch immer Tradition in der Familie, dass Behördengänge, Arztbesuche der Mutter zusammen mit den Kindern unternommen würden, die ihr dann im Verstehen helfen können. In der Türkei, wo sie jedes Jahr zu Besuch ist, lebt sie in dieser Hinsicht selbstverständlicher. Dennoch hat sie den größten Teil ihres Lebens in Deutschland verbracht und möchte dort, allein wegen der Nähe zu ihrer großen Familie, bleiben. Die Kinder, inzwischen fast alle verheiratet und mit eigenen Kindern, sprechen Türkisch, bei den Enkeln ist das schon deutlich reduziert.

Wenn also die Enkel die Moschee besuchen, so werden sie auf Dauer dort eine deutsche Predigt hören müssen, wenn sie noch etwas verstehen sollen und der Islam für sie weiter Bedeutung haben soll. Darauf sollten sich die Muslime in Deutschland einstellen.

Meine Gesprächspartnerin sagt: »In Deutschland wird man sich darauf einrichten müssen, dass der Islam auf Dauer als eine Minderheiten-Reli-gion existieren wird.« Sie begrüßt die beginnende Ausbildung von Studen-ten in Islam-Wissenschaften, sodass diese zukünftigen Lehrer den Islam angemessener unterrichten können. Dies gilt für christliche Lehrer genauso wie für die Ausbildung islamischer Lehrer – die natürlich dann umgekehrt auch Kenntnisse in der christlichen Theologie erwerben müssen.

Als Rechtsanwältin sieht sie keine Probleme in der Auslegung von Rechtsfragen, die eventuell aus religiösem islamischem Recht resultieren. Es gibt nach ihrer Auffassung in allen Dingen verhandelbare und begründ-bare Lösungen.

Als sie 1998 Rechtsreferendarin war, konnte sie noch an allen Veran-staltungen der Justiz teilnehmen, neben den Richtern sitzen – mit Kopftuch. Nach der langen Verhandlung des »Falles Ludin« wurde vieles einge-schränkt, weil es von diesem Zeitpunkt an rechtliche Definitionen dafür gab. Sie sieht nicht unbedingt einen Vorteil in der gesetzlich festgelegten Regelung und hätte die Freiheit zur individuellen Ausgestaltung ihrer reli-giösen Praxis – auch in Bezug auf das Kopftuch – vorgezogen. Sie ist aber generell bereit, sich mit der gegenwärtigen Situation zu arrangieren.

Das Kopftuch ist nicht ihr zentrales Anliegen in der Religion, eher liegt dies im Einhalten der Gebetszeiten – dies fällt ihr als »Langschläferin« nicht immer so leicht; immerhin kann es durchaus schon um 5 Uhr mor-gens beginnen. Die fünf Gebetszeiten variieren nach Jahreszeit und Hellig-keit, aber dennoch bedeuten sie eine deutliche Strukturierung des Tages.

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Sie bedeuten eine lebendige und praktische Integration der Religion in ihren Alltag. Die Feste und manche andere Riten kann sie nicht immer ein-halten, weil berufliche Verpflichtungen dagegen stehen – aber sie legt Wert auf die inhaltliche Lebensform im Islam, die vor dem religiösen Ritual steht.

Nicht alle Frauen in ihrer Familie tragen ein Kopftuch – es ist freige-stellt und nicht das Wichtigste. Überhaupt wird in ihrer Familie von den Mitgliedern Religion nur dann gelebt, wenn sie inhaltlich einen Bezug dazu spüren. Sonst verträgt und versteht man sich in gegenseitiger Toleranz.

Ihre Freunde bilden einen gemischten Kreis aus vielen Nationen, und es sind vor allem viele Deutsche darunter. Sie ist eine offene Gesprächs-partnerin und hat viele Hobbys, für die man eigentlich nicht unbedingt Tiefsinn oder eine weltanschauliche Bindung braucht: Ins Kino gehen, ins Schwimmbad gehen, Joggen – eigentlich eben eine ganz normale Lebens-führung, wie man sie in Deutschland, in der Türkei und in vielen Ländern der Welt unter Menschen ihres Alters findet.

Meine Gesprächspartnerin ist nicht verheiratet; dennoch führen wir eine lange Phase der Unterhaltung über die Perspektiven, die auch für junge muslimische Ehepaare entstehen, wenn beide in ihren Berufen arbeiten wollen und wenn sie gleichzeitig Kinder haben wollen. Die Religion steht dem in ihren prinzipiellen Aussagen genauso wenig entgegen wie das Christentum.

Für mein Gegenüber bedeutet es eine Fehl-Interpretation des Islam, wenn sich heute noch Frauen darauf ausruhen wollen, dass »im Islam die Frau nicht zu arbeiten braucht«. So einfach seien an dieser Stelle histori-sche Auslegungen nicht zu benutzen, auch wenn in manchen Traditionen das Erbrecht noch mit der früheren Festlegung der Frauen auf Haus und Kinder in Verbindung stünde. Es gäbe Frauen, die nach dem vermeintlich islamischen Grundsatz lebten und dächten: »Was mir gehört, gehört sowie-so mir (aufgrund des Schutzes des Besitzes der Frau-Morgengabe) – und was meinem Mann gehört, steht nach religiösem Recht mir auch noch zu.« Dies hält meine Gesprächspartnerin unter heutigen gesellschaftlichen Be-dingungen für eine Fehl-Interpretation. Gleiche Rechte bedeuteten dann eben in Sachen finanzieller Lebensgestaltung die ethische Verpflichtung, in gleicher Weise füreinander und für die Familie aufzukommen.

Eine traditionelle Religionsauslegung zuungunsten eines Partners – in dieser Hinsicht des Mannes, der unter allen Bedingungen, auch wenn die Frau arbeiten könnte, zahlen müsse, sei »unislamisch«.

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(An diesem Punkt stehen sich die Religionen und ihre zugehörigen Ge-sellschaften in ihrer Auslegungsgeschichte, möglicher Miss-Interpretation und Erneuerungsbedürftigkeit nahe – im Christentum kennt man ebenfalls noch verschiedenste Auffassungen über finanzielle Gestaltungen einer Ehe, die oft zu Ungunsten des Mannes ausgelegt werden – die Verfasserin).

Unsere »Begegnung in Differenz« – in erkennbarer Unterschiedlichkeit der religiösen Tradition und Praxis – verlief im Hinblick auf die aktuelle Situation in einem guten Verständigungsmodus. Wir konnten Stereotypen ablegen, Informationen geben und bekommen. Aber es war klar von uns angesprochen worden, dass in Deutschland viele Facetten des gesellschaft-lichen Bewusstseins nebeneinander existieren – unter den Deutschen und unter den Türken und den Muslimen aus anderen Nationen und Tradi-tionen.

Es war vor allem unser Wunsch, diesen vielen Facetten eine Ausrich-tung auf Verständigungsbereitschaft und Aufeinander-Zugehen zu geben.

Es ist auch selbstverständlich, anzunehmen dass in der geschilderten Be-gegnung bestimmte, offene Auffassungen des Islam vertreten werden, dass die Bereitschaft zum Dialog von denjenigen Frauen betrieben wird, die sich der Begegnung mit einer anderen Kultur stellen wollen und können.

Ebenso selbstverständlich ist, davon auszugehen, dass innerhalb der christlichen Kirchen die Offenheit für den interreligiösen Dialog, vor allem unter den Frauen, sehr verschieden sein wird. Es geht nicht um das Herstel-len von Idealbildern und auch nicht darum, im Sinne einer ideologischen Vorgabe etwas einrichten zu wollen, das sich als trügerisch oder zumindest als ambivalent erweist. Es geht um den wachsenden Dialog im Interesse des gegenseitigen Verstehens und der toleranten Koexistenz mindestens zweier Religionen innerhalb einer Gesellschaft.

7.2 Schlussbemerkungen

Im Rückblick auf die bisherigen Ausführungen soll noch einmal auf die Schwierigkeiten hingewiesen werden, die sich ergeben haben:

Es wurde westliche feministische Theologie im Überblick vorgestellt und damit wurden Denkweisen und Perspektiven in den Dialog der beiden Religionen eingebracht, die vielen deutschen christlichen Frauen fremd sind, den Musliminnen in der Regel aber gänzlich unvertraut sein werden.

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Dies trägt möglicherweise den Charakter eines utopischen, weltfremden, theoretischen Spieles – es kann aber auch als eine Anregung zum Bedenken anderer Wege verstanden werden.

Die Verfasserin kann sich naturgemäß dem Teilthema »Geschichte und Spiritualität islamischer Frauen« hauptsächlich aufgrund von literarischen Vorgaben nähern oder sich Eindrücke im Gespräch verschaffen. Eine inne-re Einfühlung, wie sie ihr für die Spiritualität der Frauen im Christentum möglich ist, beansprucht sie nicht in gleicher Weise für die dargestellten Quellen aus dem Islam. Ebenso bietet diese Studie nicht immer den letzten Stand der Reflexion über die Situation von Frauen in jedem islamischen Land – besonders gilt das für diejenigen Länder wie etwa die Türkei, in de-nen über eine eigene entwickelte gesellschaftliche Theorie und Praxis für Frauen verfügt wird und in denen eine größere Zahl von akademisch gebil-deten Frauen lebt und arbeitet.

In dieser Studie werden punktuelle und begrenzte Blicke auf die Ge-schichte und Situation von Frauen aus beiden Religionen und deren ver-schiedenen kulturellen Zusammenhängen geworfen.

Es ist schwierig, im einzelnen Verknüpfungen herzustellen in weitläufi-gen, wenig abgegrenzten Bereichen wie »Frauen im Christentum und Is-lam«. Deshalb wurde oftmals nur dargestellt und auf einen tiefer gehenden Austausch und das In-Beziehung-Setzen der Ansätze christlicher Theologie und spiritueller christlicher Lebensgestaltung mit der Theologie und dem spirituellen Selbstverständnis islamischer Frauen verzichtet.

Es ist zu wünschen, dass alleine durch das Nebeneinander- und Mitein-anderlesen verschiedener Traditionen und spiritueller Zugänge eine ge-dankliche Bereicherung eintreten kann. Es ist auch zu wünschen, dass die Engführung der politischen Debatte um das Kopftuch aufgebrochen werden kann.

Die Rolle der Kirchen in europäischen Gesellschaften kann sehr ver-schieden sein. Ebenso verschieden ist die Stellung des Islam in der Türkei, in Afghanistan, Pakistan, den arabischen Ländern oder dem Maghreb; alle Pauschalisierungen gestalten sich als schwierig und sind vorläufig. Den-noch scheinen sie gelegentlich nicht vermeidbar.

Dies alles beweist, dass das bearbeitete Thema sehr viele Facetten hat. Der Tatbestand, dass gerade von den Frauen und ihrer veränderten Ent-deckung des Islam sowohl in einigen islamischen Ländern wie auch unter den Frauen in Europa eine Bewegung ausgeht, die hoffentlich dem Dialog und dem besseren zukünftigen Verstehen dient, ist nicht zu übersehen.

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Dies in Ansätzen darzustellen, auch mit der Kritik an den dargebotenen Konzepten, bedeutet sicher, einen erweiterten Blick auf die Debatte über den Islam in Deutschland zu richten. Allzu leicht reduziert sich das öffent-liche Interesse, das durch viele Medien repräsentiert wird, auf das, was als »der politische Islam« bekannt geworden ist. Darüber hinaus gibt es aber immer noch auf beiden Seiten wenige Informationen über einander.

Die Verfasserin wurde während ihrer Tätigkeit als christliche Seelsorge-rin in einem deutschen Krankenhaus von einem islamischen Patienten be-fragt, ob sie zufällig ein gutes deutsches Buch über den Islam kenne, das zum Studium empfohlen werden könne. Der Gesprächspartner wollte wis-sen, wie seine Religion in Deutschland gesehen werde; so könne er verste-hen, warum ihm »Fundamentalismus« vorgeworfen würde. Es besteht si-cherlich noch ein Bedarf an sachlicher Auseinandersetzung und Klärung von Vorstellungen – auf vielen Seiten.

Es ist nicht der Gegenstand dieser Studie, aber es wäre interessant, zu betrachten, inwieweit die weit verbreiteten Vorwürfe an den Islam wegen des Fundamentalismus auch für Strömungen im Christentum angebracht wären. Auch hier lassen sich Implikationen von Intoleranz und Gewalt-bereitschaft finden– und sei es nur im Hinblick auf psychische Gewalt-anwendung.

Religiöse Überzeugung, speziell, wenn sie aufgrund von Verunsiche-rung suchend geworden ist, gehört zu einem sehr sensiblen Lebensbereich, in dem die meisten Menschen leicht zu treffen, zu verletzen und zu manipulieren sind. Die Möglichkeit, in Sprache zu bringen, was im Bereich des religiösen Erlebens in ihnen vorgeht und sich gegebenenfalls gegen Unterstellungen und Missbrauch zu wehren, ist vielen Menschen nicht ge-geben – und dies ist nicht unbedingt eine Problematik von Ausbildung oder intellektueller Qualifikation.

Oft existiert gerade bei einseitigen und festgelegten theologischen Vor-stellungen ein nicht geringer Stolz darauf, in der geistigen Entwicklung über den Zustand religiös fundamentalistischen Denkens und Erlebens hin-aus gewachsen zu sein. Es wird aber übersehen, dass sich auf dem Wege der immer wiederkehrenden Ambivalenz bei dem Träger der Überzeugung emotionale und geistige Engführungen wieder einstellen können. Zumin-dest wirkt das schnell so, und hier muss wohl letztlich mit sehr viel tieferen Einsichten an die Veränderung von Seelenstrukturen herangegangen wer-den, wenn man am Aspekt der »doktrinären« und »fundamentalistischen« Erscheinung der Religion wirklich etwas verändern will.

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Wo immer weltanschauliche Festlegungen stattfinden, besonders reli-giös gebundene, gehen sie einher mit einer besonderen Intensität von Ge-fühlen. Dies gilt für jede Ideologie und Religion, und das »westliche« Christentum ist davon nicht ausgenommen. Und wo Gefühle intensiv gelebt oder im Inneren intensiv empfunden werden – und wo leider oft die Gelegenheit zur angemessenen Kommunikation von Überzeugungen fehlt – da entsteht nicht nur großzügige Gelassenheit, Toleranz und Liebe, die je-den gelten lässt; dass es so sei, ist die Forderung und das Ziel von Religio-nen – und es ist zu wünschen, dass die Menschen durch Beschäftigung mit Religionen immer friedlicher, immer freundlicher, immer toleranter wür-den.

Die Realität ist aber, dass in diesem Bereich sensibler Gefühle auch Ver-letzungen, Unterdrückung, Hass und Zwanghaftigkeit wachsen. Das gilt für jede Religionsausübung und für jede Form der umgebenden Gesellschaften.

Deshalb schon auf die Beschäftigung mit Religionen und auf deren Aus-übung zu verzichten und stattdessen eine unspezifische Toleranz zu em-pfehlen, ist sicher eine zu einfache Lösung. Es ist nicht zu übersehen, dass dies das Dilemma nicht lösen würde, das Paul Parin benannt hat: »Die Dia-lektik, die sich immer und während des ganzen Lebens ... zwischen dem Subjekt und den objektiven Verhältnissen abspielt, kann so nicht erfasst werden.«1

Das Dilemma liegt in der Ambivalenz, die sich immer wieder Bahnen bricht, wie auch immer Religionen oder politische Ideologien dazu einen Zugang bieten.

Deshalb ist es schwer, eine Ausprägung der Religion, sei es die des Is-lam oder die des Christentums, einer bestimmten politischen Gesellschafts-form direkt zuzuordnen, wie etwa »das westliche Christentum« oder »den orientalischen Islam«.

Christliche Theologen haben es sich in der Vergangenheit manchmal einfach damit gemacht, die politische Utopie des Sozialismus mit der Lehre Jesu gleich zu setzen. Dies ersparte die eigene Auseinandersetzung mit der Abhängigkeit von einseitigem Denken – und es wurde zeitweilig trotzdem als gesellschaftlich fortschrittlich angesehen.

So ist dieser »hermeneutische Ansatz des Verdachts« in politischer Hin-sicht in den Kirchen sicher seiner Faszination beraubt worden, weil er nicht zur schnellen Lösung von Problemen geführt hat. Und mit dieser Entwick-lung ist manchmal die Erkenntnis gewachsen, dass mehr benötigt wird als

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der Umtausch der Ideologie, wenn die tiefe spirituelle Kraft hinter einer Religion bewahrt werden soll.

Die Verschränkung von Mentalitäten, von ökonomischen Umständen und gesellschaftspolitischer Entwicklung ist unendlich differenziert, selbst wenn man sie nur für ein Land oder eine Region der Welt betrachten will. Genauso kompliziert kann die Verschränkung von religiösen Einstellungen, von Erfahrungen mit Religion und religiösen Gefühlen, von ökonomischer und aktueller psychischer Situation bei einem einzelnen Menschen sein.

Fundamentalismus, politische Theologie, religiös fundierte Rollenvor-stellungen von Frauen, ob sie nun innerhalb des Christentums auftreten oder innerhalb des Islam: Wenn sie auf eine Person hin angewandt werden, um diese in ein Deutungsschema zu pressen – dann können sie zerstöre-risch wirken.

Es gehört viel Sensibilität dazu, die Bedingungen zu sehen, die ein Indi-viduum mitbringt, um Denksysteme oder emotionale Muster zu rezipieren und angemessen zu verarbeiten. Und es muss immer die Freiheit für jede/n einzelne/n bleiben, um Zuschreibungen, manchmal Zumutungen, gegebe-nenfalls mit Widerstand zu begegnen.

Dies gilt sinngemäß auch für unsere deutschen, oft als emanzipiert, libe-ral oder christlich-konservativ verstandenen Zuschreibungen und Zumutun-gen an die islamischen Frauen in Bezug auf ihre Kleidung.

Ein ernstzunehmender Liberalismus, eine überzeugte Form konservati-ven Denkens, schließlich auch die durchdachte feministische Grundhaltung – sie alle müssten tolerant genug sein, um auf diese Auseinandersetzungen zu verzichten.

Christliche Frauen, die von ihrem Alter her heute an der Grenze ihres Berufslebens stehen, erinnern sich noch an die Zuschreibungen der Kolle-gen oder Chefs: »Lassen Sie mal, das können Sie nicht, dazu braucht man Intellekt, das ist Männerarbeit!«2

Christliche Töchter kennen die oft schwere Auseinandersetzung mit ihren Müttern um Selbstwert, Status und Rolle als Hausfrau oder berufs-tätige Frau, an der manchmal auch in Deutschland Vertrauen und Liebe, vor allem religiöse Verständnisse zwischen den Generationen der Frauen zerbrochen sind.3

Dies geschah in den beiden Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Frauen nach »Wegsperrung ins Private« durch die Ideologie des Na-tionalsozialismus und anschließendem »Wieder-Hervorholen« als Arbeite-rinnen in der Rüstungsindustrie, als Ersatz der Männer auch in anspruchs-

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vollen Berufen (s. erste Pfarrerinnen) emanzipatorischen Wechselbädern unterworfen waren.

Nach Kriegsende wurden sie wieder ins Private »weggesperrt«, damit die Arbeitsplätze für die Männer reichten, um dann im Wirtschaftswunder wieder eine Chance zur beruflichen Entwicklung zu bekommen. Christliche Frauen haben sich in allen diesen »Wechselbädern« orientiert und behaup-tet, und sie haben sich schrittweise Rechte und Freiheiten erkämpft, die in manchen Kirchen noch sehr diffus anerkannt und ausgelegt werden.

Einen möglichen Zusammenhang zwischen der dargestellten Geschichte der christlichen Frauen in Deutschland zur heutigen Situation muslimischer Frauen mögen die Musliminnen letztendlich selbst anstellen – er soll nicht übergestülpt werden. Es besteht ebenso nicht die Absicht, das »Private« im Lebensraum der Frauen als schlichtweg emanzipationsfeindlich zu brand-marken – der Begriff »Wegsperrung« wurde seitens der Verfasserin oft in Anführungszeichen gesetzt.

Geistige, emotionale Rückzugsmöglichkeiten, um sich zu erholen von Stress und Anspannung oder auch, um Neues in sich wachsen zu lassen – gegenwärtig werden sie wieder als religiöses Potential entdeckt; dies mag das Ergebnis wirtschaftlicher Stagnation sein, sodass »pilgern«, »Aufent-halt im Kloster« eine gute Alternative zur bereits bekannten Jet-Urlaubs-reise werden. Christa Mulack hat auf die krankmachende Härte einer »dominanten« Gesellschaft schon in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts hingewiesen und für eine »Verlangsamung« und für mehr »Schwäche« gegenüber imponierend dargestellter Stärke plädiert. In diesen Gedanken liegt auch heute noch ihr weiterführenden Ansatz, wenn er auch aufgrund mancher Idealisierung der Anfänge (die allumfassende Herrschaft der Göt-tin) und aufgrund falscher oder vorschneller Zuschreibungen an »Männer-herrschaft und jüdische Traditionen« kritisiert wurde.

Vielleicht liegt in der veränderten ökonomischen Situation unserer Ge-sellschaft die Chance verborgen, eine spirituell qualifizierte Spielform der »Schwäche« zu entdecken, eine »Verlangsamung« vorzunehmen und das »Fremde« im eigenen Umfeld zu suchen?

Die Begegnung am türkischen Strand hilft vielleicht, um auch hier türki-sche, arabische Bräuche und Lebensgewohnheiten zu entdecken – und viel-leicht sogar, um die friedlichen unter den ambivalenten religiösen Haltun-gen der Menschen erst wahrzunehmen, dann zu studieren und zu prakti-zieren?

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Vielleicht hilft die Begegnung mit der andersartig ausgeprägten religiö-sen Bindung des Fremden, angstfreier auch auf die eigene, im Rahmen des Christentums und von politischem »Fundamentalismus« gezeichnete deut-sche Geschichte zu sehen? Das Schlusswort hat eine katholische Christin mit einigen sehr persönli-chen Bemerkungen, die das gewandelte Verständnis der Frauen verschiede-ner Generationen zur Religion und religiösen Praxis des christlichen Glau-bens in Deutschland betreffen:

Wenn ich über die Glaubensgeschichte meines Lebens nachdenke, scheint mir: Wir, meine Geschwister und ich, hatten es damals leichter als Ihr heute. Unser Leben war ge-prägt vom Glauben der Familie und der Gemeinde und fest gefügt in religiösen Sym-bolen und Traditionen ... Von Kind an kannten wir die Lieder mit sämtlichen Strophen auswendig ...

Wenn die Bomben fielen, wurden die Stimmen der Betenden laut und eindringlich, beim Abflug der Flugzeuge wurde das Beten leise und ging schließlich ins Murmeln und Erzählen über, bis ein neuer Alarm alle wieder in Schrecken versetzte und sich das trau-rige Schauspiel von neuem wiederholte. Diese starke Hoffnung auf einen Gott, der hel-fen kann, hat mich wohl für immer geprägt.

Es gab aber auch andere, nicht so gute Seiten des Glaubens, und einigen meiner Ge-schwister haben sie ordentlich zugesetzt.

Da war zum Beispiel die Angst vor einer schweren Sünde und der Beichte; der »Polizis-ten-Gott«, der alles sieht und dem keiner entkommt, und die Angst vor der Hölle mit ihrem ewigen Feuer. Glücklicherweise wurde ich von diesen vielen Skrupeln fast ver-schont. Ich habe mich wohl immer mehr, unbewusst richtig, auf den gütigen und barm-herzigen Gott verlassen.

Negativ ist mir das Nüchternheitsgebot in Erinnerung. Tag für Tag gingen wir morgens ohne Essen und Trinken zur Kirche, nachher wurde auf dem Weg von der Kirche bis zur Schule, oft mit eiskalten Händen, das Butterbrot gegessen und dann an der Schulpumpe Wasser getrunken, wenn sie denn nicht zugefroren war. Es gab auch unverständliche Dinge für mich, so wie meine Mutter zum Beispiel nach der Geburt eines Kindes ausge-segnet werden musste und auf meine Frage nicht wusste, wo sie denn unrein geworden war. Sie hatte uns doch erzählt, wie heilig und wunderbar es sei, wenn ein neues Men-schenkind geboren werde.

Einer meiner islamischen Freunde sagte in seinem gebrochenen Deutsch: »Religion muss gut sein den Menschen. Wenn unterdrückt, dann ablegen.« Da hat er wohl sehr Recht ...«4