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Verantwortlich glauben Christian Herrmann / Rolf Hille (Hrsg.) Ein Themenbuch zur christlichen Apologetik

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Verantwortlich glauben

Christian Herrmann / Rolf Hille (Hrsg.)

Ein Themenbuch zur christlichen Apologetik

Welche Rolle spielt die Beziehung zu Gott dafür, den Glauben verantwort-lich zu leben? Welche Herausforderungen ergeben sich aus dem Wesen und aus dem Kontext des Glaubens? Was leitet die Christen, wenn sie Re-chenschaft ablegen darüber, dass und an wen bzw. was sie glauben? Bi-blische Begründung, Vernünftigkeit, Wissenschaftlichkeit der Theologie, ihr Verhältnis zu den Naturwissenschaften und zu den nichtchristlichen Religionen sind wichtige Themen des Sammelbandes über christliche Apologetik.

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ISBN 9783957760555

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ISBN 978-3-95776-055-5

Konkreten Anwendungsbezug erhält das Buch bei Sachfragen wie Gottes-beweisen, Auferstehung Christi, ethischen Kontroversen, Wahrheit und Häresie sowie Anfechtung. Die missionarische Lebensform des Christen reicht bis zum bewussten Einsatz christlicher Kunst.

© 2016 Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-95776-055-5 VTR, Gogolstr. 33, 90475 Nürnberg, Germany http://www.vtr-online.com

Inhalt

Vorwort ............................................................................................................... 5

„Ich bin allen alles geworden!“ – Der universale Horizont der Apologetik Rolf Hille............................................................................................................. 7

Exegetische Begründung des apologetischen Auftrags Siegbert Riecker ................................................................................................ 23

Der Schriftbeweis in der apologetischen Auseinandersetzung Thomas Jeising ................................................................................................. 38

Ist Theologie eine Wissenschaft? Ralf Thomas Klein ............................................................................................ 53

Rationalität des Glaubens: Das Verhältnis von Theologie und Philosophie in apologetischer Hinsicht Harald Seubert ................................................................................................. 68

Theologie und Naturwissenschaften Lydia Jaeger ..................................................................................................... 98

Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube Reinhard Junker ............................................................................................. 118

Christentum und Religionen: Apologetik und pluralistische Religionstheologie Thomas Schirrmacher ..................................................................................... 139

Gottesbeweise Volker Kessler ................................................................................................. 189

Das Gewissen als Ort der Gottesgewissheit Edith Düsing ...................................................................................................207

Atheismus und Agnostizismus Edith Düsing ...................................................................................................220

4 Inhalt

Zeit und Ewigkeit Joachim Cochlovius ....................................................................................... 238

Die Auferstehung Jesu Christi als umkämpftes Thema Franz Graf-Stuhlhofer .................................................................................... 250

„Dass ihr für den Glauben kämpft!“ – Apologetik und Homosexualität Tobias Eißler .................................................................................................. 268

Warnen vor Irrwegen oder Selbsthinterfragen als Kirche: Die kirchliche Auseinandersetzung mit so genannten „Sekten“ Franz Graf-Stuhlhofer .................................................................................... 284

„Wie man mit Ehren fechten soll.“ – Anfechtung und Apologetik Reiner Andreas Neuschäfer............................................................................ 294

Apologetik als Mission und Mission als Apologetik Thomas Schirrmacher .................................................................................... 313

Apologetik und Evangelisation Matthias Clausen ........................................................................................... 325

Ästhetische Apologetik Christian Herrmann ....................................................................................... 337

Kardinal John Henry Newman als Apologet Johannes Schwanke ........................................................................................ 347

Autoren .......................................................................................................... 369

Personenregister ............................................................................................. 371

Exegetische Begründung des apologetischen Auftrags

Siegbert Riecker

Etymologisch leitet sich das Wort „Apologetik“ von dem griechischen Sub-stantiv apología bzw. Verb apologéomai her. Zunächst tauchen diese Begriffe in der antiken Rhetorik auf zur Bezeichnung einer Verteidigungsrede vor Ge-richt als Gegenstück zur Anklagerede, Substantiv katēgoría bzw. Verb katēgoréō. In diesem Sinne verwendet auch Plato die Begriffe in der Apologie des Sokrates, welche eine Vorbildwirkung auf frühchristliche Verteidigungs-schriften gehabt haben könnte:

„Zuerst also muß ich mich, ihr Männer von Athen, gegen die Unwahrheiten der äl-teren Beschuldigungen [katēgorēména] und gegen die älteren Ankläger [katēgórous] verteidigen [apologēsasthai], dann gegen die späteren…“1

Das genannte Gegensatzpaar findet sich auch viermal im Neuen Testament bei den Prozessen von Juden gegen Paulus.2 Darüber hinaus ist in Röm 2,15 von anklagenden und verteidigenden Gedanken die Rede. In der Septuaginta kann der Wortstamm die hebräische Wurzel rîb übersetzen, wenn es um das „strei-ten“ geht, sei es nun vor Gericht oder außerhalb (Jer 12,1; 31,6 [LXX 38,6]; vgl. Weish 6,11 [LXX 6,10], 2Makk 13,26; Jer 20,12).3

Die Bezeichnung „Apologeten“ für eine Gruppe griechischer christlicher Auto-ren des 2. Jh. n.Chr. setzte sich erst in der Neuzeit mit den Patrologen Frédéric Morel (1552-1630) und Prudent Maran (1683-1762) durch. Die Werke der

1 Plato, Apologie 18a, zitiert nach Heitsch, E. (Hrsg.), Platon. Apologie des Sokrates. Übersetzung und Kommentar, Platon Werke I/2, Göttingen 22004, S. 12. Erstbelege bereits bei Antiphon von Rhamnus, Orationes 5,8 und 6,7, später u.a. bei Thukydides, Aristoteles, Rhetorik 1,3. Leslie Willam Barnard, Apologetik I. Alte Kirche; in: TRE 3, S. 371-411, hier S. 373. 2 Apg 22,1.30; 24,10.2.8.13.19; 25,8.11; 25,16.18f. Weitere Vorkommen des Wort-stamms apolog-: Lk 12,11; 21,14; Apg 19,33; 26,1.2.24; 1Kor 9,3; 2Kor 7,11; 12,19; Phil 1,7.16; 2Tim 4,16; 1Petr 3,15. Vgl. Kellermann, U., Art. apologeomai sich vertei-digen apologia Verteidigungsrede; in: EWNT 1, Sp. 329f, vgl. das Gegensatzpaar katēgoréō und apokrínomai in Mt 27,12; Mk 15,4; vgl. Mk 11,29; 14,60f; 15,2; Lk 17,20; 23,3.9; Joh 1,21. 3 Vgl. Liedke, G., Art. rīb streiten; in: THAT 2, Sp. 771-777.

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Apologeten lassen sich als Ersatz für eine oftmals nicht zugestandene Verteidi-gungsrede angeklagter Christen verstehen.4

Woher stammt nun aber der heutige Begriff „Apologetik“? Als Väter der neu-zeitlichen Apologetik gelten auf protestantischer Seite Karl Heinrich Sack (1789-1875), auf katholischer Seite Johann Sebastian Drey (1777-1853). Sack definiert: „Die christliche Apologetik ist die theologische Disziplin von dem Grunde der christlichen Religion als einer göttlichen Thatsache“.5 Beide unter-scheiden ihre wissenschaftstheoretisch reflektierte „Apologetik“ von der be-reits vor ihnen praktizierten, schlichteren „Apologie“ des Christentums.

Für andere bezeichnet „Apologetik“ den Gesamtentwurf einer Verteidigung, während eine „Apologie“ nur „von Fall zu Fall, je in bestimmten Situationen, je bei bestimmten konkreten Angriffen“ geschieht. Eine strenge Unterscheidung zwischen „Apologetik“ als reiner Methodenlehre und „Apologie“ als Durchfüh-rung der Verteidigung lässt sich dagegen praktisch kaum durchhalten.6

In den Bibelwissenschaften schließlich unterscheidet man zwischen „Apologie“ als Literaturgattung und „Apologetik“ als Methode theologischer Argumentation. Die Gattung der „Apologie“ im Sinn einer Selbstverteidigungsrede vor Gericht – unterschieden von der Verteidigung Dritter, etwa Gottes – liegt nach Klaus Ber-ger vor bei den Verteidigungsreden des Paulus (Apg 23,1-6; 24,10-21; 25,8; 26,2-23; evtl. 22,1-21).7 Im Bereich der alttestamentlichen Forschung wird der Begriff „Polemik“ bevorzugt und in einem recht allgemeinen Sinn verwendet.

4 Fiedrowicz, M., Apologie im frühen Christentum. Die Kontroverse um den christli-chen Wahrheitsanspruch in den ersten Jahrhunderten, Paderborn 32005, S. 16-19. 5 Sack, K.H., Christliche Apologetik, Hamburg 21841 (1829), S. 1; vgl. S. 20f. Drey, S.v., Die Apologetik als wissenschaftliche Nachweisung der Göttlichkeit des Christen-thums in seiner Erscheinung. Band 1. Philosophie der Offenbarung, Mainz 1838, S. 17-19. Vgl. Kustermann, A.P., Die Apologetik Johann Sebastian Dreys. Kritische, histori-sche und systematische Untersuchung zu Forschungsgeschichte, Programmentwick-lung, Status und Gehalt, Tübingen 1988, S. 119-126. 236, Dulles, A., A history of apo-logetics, London 1971, S. 180f. 200. 6 Vgl. Beißer, F., Zur Grundlegung der Apologetik; in: Kerygma und Dogma 15 (1969), S. 210-225, hier S. 211, vgl. S. 213. Aland, K., Apologie der Apologetik. Zur Haltung und Aufgabe evangelischen Christentums in den Auseinandersetzungen der Gegenwart, Hilfe für’s Amt 15, Berlin 1948, S. 15. Adam, A., Die Aufgabe der Apologetik, Leipzig, 1931, S. 69. Zöckler, O., Geschichte der Apologie des Christentums, Gütersloh 1907, S. 4f. 7 Guerra, A.J., Romans 4 as Apologetic Theology; in: HThR 81 (1988), S. 251-270, hier S. 252f. Berger, K., Formen und Gattungen im Neuen Testament, Tübingen: 2005, S. 425-428, nennt ferner Mt 7,22(f) par; 27,24; Lk 13,26(f); Apg 4,7-12; 5,28-32.

Siegbert Riecker: Exegetische Begründung des apologetischen Auftrags 25

„Apologetik“ „Apologie“

Neuzeitliche Theologie (nach Sack und Drey)

wissenschaftstheoretisch reflektierter Ansatz

methodisch unreflektierter Ansatz

Neuzeitliche Theologie (alternatives Verständnis)

Gesamtentwurf einer Verteidigung

Behandlung von Einzel-fragen

Bibelwissenschaften Methode theologischer Argumentation

Literaturgattung

Zur Einordnung und Abgrenzung der Apologetik im Kontext der theologischen Disziplinen Sack und Drey stehen in der Tradition von Friedrich Daniel Ernst Schleierma-cher (1768-1834), welcher der Apologetik einen präzisen Platz innerhalb der theologischen Disziplinen zuweist (§32-68): Für ihn ist die Apologetik (nach außen gerichtet) neben der Polemik (nach innen gerichtet) Teil der „philoso-phischen Theologie“, welche der „historischen“ (u.a. Dogmatik) und „prakti-schen Theologie“ vorgeordnet ist.8

Die innere Logik der durch Schleiermacher gesetzten Vorordnung der Apolo-getik vor die Dogmatik ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Zum einen rela-tiviert sein Ausgangspunkt bei einer vergleichenden Religionstheorie den Ab-solutheitsanspruch des Christentums apriorisch (vgl. §33).9 Zum anderen setzt eine Apologetik die Kenntnis dessen, was verteidigt wird, voraus; als christli-che Apologetik fehlt ihr ohne Dogmatik nicht nur die Substanz, sondern auch der Auftrag und der Sinn. Von daher müsste sie „mehr eine Ausleitung aus der

8 Schleiermacher, F., Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einlei-tender Vorlesungen (1811/1830), hrsg. von D. Schmid, Berlin 2002, S. 156-160. Vgl. Birkner, H.J., Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformpro-gramm; in: ders. (Hrsg.), Schleiermacher-Studien. Schleiermacher-Archiv 16, Berlin 1996, S. 285-305; Rössler, M., Schleiermachers Programm der philosophischen Theo-logie, Berlin 1994, S. 215-220. Schleiermacher, F., Der Christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange Dargestellt. Band 1, Berlin 71960 (21830), §11-14, S. 74-105. 9 Vgl. Nowak, K., Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, S. 226. Adam, Aufgabe, 1931, S. 20.

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als eine Einleitung in die Arbeit der Dogmatik“ sein.10 Ohne die Notwendigkeit philosophischer Prolegomena, bzw. einer so verstandenen Fundamentaltheolo-gie in Abrede zu stellen, handelt es sich bei diesen keineswegs notwendiger-weise um sachlich dasselbe wie Apologetik.11 Nicht als Religionsphilosophie verstanden, sondern lediglich gespeist durch die Religionsphilosophie, kann die Apologetik ihren Ort auch hinter der Dogmatik finden.12

Theologische Einordnung und Abgrenzung schärfen die inhaltlichen Konturen der Apologetik: Als Teil christlicher Theologie beschäftigt sich Apologetik auf der Ebene der Vernunft mit dem christlichen Glauben. Während sich Polemik mit Abweichungen innerhalb der eigenen Gruppe befasst, ist Apologetik im-mer nach außen gerichtet. Während Dogmatik Probleme innerhalb der christli-chen Lehre behandelt, setzt Apologetik christliche Wahrheit in ein Verhältnis zu ihr fremden, zeitgenössischen Wahrheitsansprüchen.13

Die Apologetik in ihrem ursprünglichen, lehrhaft-verteidigendem Sinn ist ver-bunden mit einem der Praktischen Theologie zugeordneten sprachlich-kulturellen Teil. Analog zur Dogmatik ist Apologetik „als inhaltlicher Vollzug der apologia des Christentums“ zu verstehen. Analog zur Homiletik („Predigt-kunstlehre“) baut darauf eine „Methodenlehre für die Praxis der Apologie (‚Verteidigungskunstlehre‘)“ auf.14

In dieser doppelten Funktion lässt sich das Wesen von Apologetik deutlich über Schleiermacher hinausgehend als (aktive) Beseitigung von Glaubenshin-

10 Barth, K., KD I/1, S. 28 (Hervorhebungen im Original). Vgl. Adam, Aufgabe, S. 52. Barth verwirft jedoch nicht alleine die Vorordnung der Apologetik, sondern ihre Exis-tenzberechtigung überhaupt. 11 Vgl. selbst von katholischer Seite her Seckler, M., Art. Apologetik IV. Systematisch; in: LThK 1, Sp. 839-842, hier Sp. 840, obwohl dort „Apologetik“ und „Fundamen-taltheologie“ seit dem Ende des 19. Jh. überwiegend als austauschbare Bezeichnungen verwendet werden. 12 Adam, Aufgabe, S. 49. 123f. 13 Vgl. ebd., S. 121, mit Bezug auf Schlatter, A., Briefe über das christliche Dogma, BFCTh 16.3, Gütersloh 1912, S. 49. 14 Zur Unterscheidung Seckler, M., Art. Apologetik I. Begriff; in: LThK 1, Sp. 834-836, hier Sp. 836 (Hervorhebungen im Original). Vgl. Zöckler, Geschichte, 1907, S. 5f; Adam, Aufgabe, S. 91-103; Beißer, Grundlegung, S. 210; Schaeffer, F.A., Gott ist keine Illusion. Ausrichtung der historischen christlichen Botschaft an das zwanzigste Jahrhundert, Wuppertal 1991, S. 156; Hille, R., Art. Apologetik; in: ELThG 1, S. 100-102, hier S. 101. Vgl. Aland, Apologie, S. 14, kritisch zu Schleiermachers Umgang mit dem praktisch-theologischen Teil der Apologetik.

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dernissen definieren.15 Eine begriffliche Eingrenzung auf die bloße Verteidi-gung ist damit nicht vorgenommen, vielfach wird der Aspekt des Angriffs betont.16 Eine inhaltliche Eingrenzung auf den Bereich des christlichen Glau-bens ist damit ebenso nicht vorgenommen. Vielmehr ist ein „Streit um die Wahrheit des auf beiden Seiten Geglaubten“ eingeschlossen.17 Auch eine Ein-grenzung hinsichtlich der Zielgruppe ist damit nicht vorgenommen. Mag sie sich primär an Adressaten außerhalb der eigenen Gruppe richten, ist ihr „inner-christl. Stellenwert einer kognitiven Selbstvergewisserung“ nicht zu unter-schätzen.18

Einwände gegen Apologetik Die meisten Einwände gegen Apologetik verbinden sich mit einem tiefen Misstrauen gegen die darin zum Ausdruck kommende Vernunft.19

Apologetik ist nicht notwendig, denn Gott braucht nicht verteidigt zu werden. Gott kann sich selbst durchsetzen und benötigt keinen Apologeten (oder Missi-onar) als Anwalt seiner Sache. Dennoch: Dass ein Herr eine Aufgabe auch selbst erledigen kann, heißt nicht zwangsläufig, dass sein Diener davon befreit ist (vgl. Mt 25,14; Eph 2,10).

Apologetik vermischt Glaube und Denken, doch Gott fordert Glauben. Retten-der Glaube ist eine Vertrauensbeziehung zu der Person Jesus und damit etwas völlig anderes als eine Bejahung von Wahrheiten (Jak 2,19). Dennoch kann auch der Glaubende nicht vermeiden zu denken – er kann höchstens vermei-

15 Adam, Aufgabe, S. 52, in Anschluss an Robert Jelke, Adolf Schlatter, Rudolf Otto und Gerhard Hilbert. 16 Brunner, E., Dogmatik. Band I. Die christliche Lehre von Gott, Zürich 1960, S. 105. Tillich, P., Systematische Theologie. Band I, Stuttgart 31956, S. 13, vgl. Bayer, O., Theologie. HST 1, Gütersloh 1994, S. 201. Schreiner, H., Geist und Gestalt. Vom Rin-gen um eine neue Verkündigung, Schwerin 21927, zitiert in Adam, Aufgabe, S. 108. 17 Beißer, F., Der christliche Glaube. Eine Dogmatik in fünf Teilbänden. Band 1, Neu-endettelsau 2008, S. 108. 18 Usarski, F., Art. Apologetik I. Zum Begriff; in: 4RGG 1, Sp. 611; vgl. Holthaus, S., Apologetik. Eine Einführung in die Verteidigung des christlichen Glaubens, Hammer-brücke 2009, S. 29f. 19 Vgl. zu folgendem Geisler, N.L., Art. Apologetics, need for; in: Baker encyclopedia of Christian apologetics, Grand Rapids 1999, S. 37-41; ders. / Zukeran, P., The apolo-getics of Jesus. A caring approach to dealing with doubters, Grand Rapids 2009, S. 129-146; Kreeft, P. / Tacelli, R.K., Handbook of Catholic apologetics. Reasoned answers to questions of faith, San Francisco 2009, S. 23f.

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den, es auf eine verantwortliche Weise zu tun. Glaube ist wichtiger als Apolo-getik, doch Apologetik ist dennoch sehr wichtig.

Wenn sich Jesus der Zeichenforderung widersetzt, scheint er Glaube ohne Beweise zu fordern. „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20,29; vgl. Hebr 11,1). Dennoch verwehrt er ihm den Beweis nicht (Mk 2,10 par; Mt 11,4f par). Nicht die Beweise sind das Problem, sondern die Forderung nach Beweisen. Gott vollbringt keine Wunder auf Befehl, auch versorgt er ein ungläubiges Geschlecht nicht mit „Beruhigungspillen“ (Mt 12,39).20

Apologetik ist zwecklos, denn Gott kann nicht bewiesen werden. Hier stellt sich grundlegend die Frage, was mit „beweisen“ gemeint ist. In streng mathemati-schem Sinn kann die Existenz einer Sache oder Person, also auch Gottes, nicht bewiesen werden. Auch ein logischer Beweis mittels des ontologischen Argu-ments gilt nicht als allgemeingültig anerkannt. Es ist jedoch durchaus möglich, aufgrund von guten Gründen und Indizien zu einem vernünftigen Wahrschein-lichkeitsurteil über die Existenz Gottes zu gelangen.

Apologetik ist machtlos, denn die gefallene Vernunft kann Gott nicht erkennen. „Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen“ (1Kor 2,14; vgl. 1,21; Eph 2,1; Röm 8,16). Doch besteht ein Unterschied zwischen Verstehen und Gehorchen, zwischen Erkenntnis und Anerkenntnis. Paulus bezieht sich zu Beginn des 1. Korintherbriefs sehr spezifisch auf die Anerkenntnis der „Torheit“ des Kreu-zes. Zu Beginn des Römerbriefs zeigt er sich jedoch optimistisch hinsichtlich der natürlichen Erkennbarkeit eines Schöpfergottes (Röm 1,20).21 Das Wissen um die Angewiesenheit auf göttliches Eingreifen zur Überwindung menschli-cher Verblendung führt nicht in fatalistische Resignation, sondern dient gerade der Unterstützung des apologetischen Zeugnisses.

Apologetik ist nicht überzeugend, denn Menschen bekehren sich nicht durch Argumente. Im Vergleich zu Emotionen, Wünschen und Erfahrungen haben Argumente in der Tat nur einen geringen Einfluss auf menschliche Entschei-dungen. Andererseits ist das „Herz“ auf den „Kopf“ angewiesen, denn wir können nur das lieben, was wir auch kennen. Vor allem dann spielt der Kopf eine Rolle, wenn es darum geht, etwas nicht zu lieben oder jemandem nicht zu glauben. Argumente können Menschen davon abhalten, sich zu bekehren. Durch das argumentative Entkräften solcher Hinderungsgründe für den Glau- 20 Carson, D.A., Matthews, Grand Rapids 1984, S. 295. Theißen, G., Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, Gütersloh 61990 (1974), S. 291. 21 Vgl. Ramm, B.L., Ein christlicher Appell an die Vernunft, Asslar 1995, S. 65f.

Siegbert Riecker: Exegetische Begründung des apologetischen Auftrags 29

ben kann Apologetik einen wesentlichen Beitrag zur Bekehrung eines Men-schen leisten.22 Die Behauptung, dass sich Menschen durch Argumente nicht bekehren, lässt sich auch geschichtlich nicht halten. C.S. Lewis stellt für sich und andere fest:

„Fast jeder, den ich kenne, der den christlichen Glauben im Erwachsenenalter an-genommen hat, stand unter dem Einfluss von einem für ihn mindestens wahrschein-lichen Argument für den Theismus“.23

Der biblische Auftrag zur Apologetik Lässt die Bibel selbst ein deutliches apologetisches Anliegen erkennen, stellt sich die Frage, inwiefern dies auch den Glaubenden ans Herz gelegt wird. Die alttestamentliche24 Verteidigung gegen das Eindringen falscher Lehre ist nicht den geistlichen Leitern vorbehalten, sondern grundsätzlich in die Hände des Volkes gelegt (Dtn 13,2-6; 18,20-22). Ein Familienvater soll bereit sein Re-chenschaft zu geben, wenn er (von seinem Sohn) nach seinem Glauben gefragt wird (Dtn 6,20-23; vgl. Ex 12,26f; 13,14f; Jos 4,6.21-24). Der Psalmbeter ist bereit, sich vor fremden Herrschern zu Gottes Wort zu bekennen (Ps 119,42f.46). Auch im Neuen Testament25 sind grundsätzlich alle Gläubigen 22 Adam, Aufgabe, S. 52. 23 Lewis, C.S., God in the dock. Essays on theology and ethics, Grand Rapids 1970, S. 173 [Übersetzung SR]. Die deutsche Übersetzung „Gott auf der Anklagebank“, Gießen 1981, basiert auf einer gekürzten Ausgabe, welche zitierten Abschnitt nicht enthält. 24 Vgl. zu Apologetik im Alten Testament u.a. Ramm, B.L., The apologetic of the Old Testament. The basis of a biblical and Christian apologetic; in: BETS 1 (1958), S. 15-20. Flusser, D., Art. Apologetics; in: EncJud 2, Detroit 22007, S. 262-269. Chazan, R., Art. Apologetics II. Judaism; in: EBR 2, Sp. 416-426. Riecker, S., Alttestamentliche Grundlagen der Apologetik. Ein biblisch-theologischer Entwurf; in: ZKTh 138 (2016), S. 1-27. Hasel, G.F., The polemic nature of the Genesis cosmology; in: EvQ 46 (1974), S. 81-102. Gertz, J.C., Antibabylonische Polemik im priesterlichen Schöpfungsbericht?; in: ZThK 106 (2009), S. 137-155. Wolff, H.W., Das Zitat im Prophetenspruch. Eine Studie zur prophetischen Verkündigungsweise. BhEvTh 4, München 1937. Ders., Wie wird der falsche Prophet erkannt? Zu den Schwierigkeiten, die Geister zu unterschei-den; in: ders., Prophetische Alternativen, München 1982, S. 70-83. Kraus, H.J., Wahre und falsche Propheten; in: ders., Prophetie in der Krisis. Studien zu Texten aus dem Buch Jeremia, Neukirchen-Vluyn 1964, S.104-115. Graffy, A., A prophet confronts his people. AnBib 104, Rom 1984, S. 2-23. Crenshaw, J.L., Prophetic conflict. Its effect upon Israelite religion. BZAW 124, Berlin 1971, S. 23-38. 25 Vgl. zu Apologetik im Neuen Testament u.a. Wernle, P., Altchristliche Apologetik im Neuen Testament; in: ZNW 1 (1900), S. 42-65. Scott, E.F., The apologetic of the New Testament, London 1907. Heffern, A.D., Apology and polemic in the New Testament,

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angesprochen, wenngleich sich auch eine besondere Verantwortung der geistli-chen Leiter erkennen lässt.

Die Gefahr der Verführung zum Streit. Für die jungen Gemeinden des Neuen Testaments besteht die Gefahr der Verführung, gerade wenn der Gemeinde-gründer Paulus abwesend ist: „Seht zu, dass euch niemand einfange durch Philosophie und leeren Trug, gegründet auf die Lehre von Menschen…“ (Kol 2,8; vgl. V.4).26

Vor allem in seinen Pastoralbriefen empfiehlt Paulus den Christen grundsätz-lich, sich nicht in Auseinandersetzungen hineinziehen zu lassen, in denen sie keinen geistlichen Gewinn erkennen können. Bei dem Streit um Worte (lo-gomachía, 1Tim 6,5, vgl. 2Tim 2,14) geht es um „Haarspalterei“, für den Glauben bedeutungslose Fragen.27

Paulus nennt Timotheus gegenüber verschiedene Gründe gegen eine Beteili-gung an dieser Art der Argumentation: (1) Nutzlosigkeit. Die Auseinanderset-

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zung ist „zu nichts nütze“. (2) Verunsicherung. Sie hat zum Ergebnis, „die zu verwirren, die zuhören“ (2Tim 2,14). Es sind Auseinandersetzungen, die „eher Fragen aufbringen“ (1Tim 1,4), statt zu erbauen. (3) Spaltung. Sie gleicht einer Seuche, welche die Gemeinde zerstören will. Es sind die „törichten und unnüt-zen Fragen“, welche „Streit erzeugen“ (2Tim 2,23). „Neid, Hader, Lästerung, böser Argwohn, Schulgezänk“ kehren in die Gemeinde ein (1Tim 6,4f), „Zwie-tracht und Ärgernis“ (Röm 16,17). (4) Persönlicher Schaden. Es ist ungeistli-ches Geschwätz, welches „mehr und mehr zu ungöttlichem Wesen“ führt (2Tim 2,16). Es gibt Auseinandersetzungen, bei denen man nichts gewinnen kann. Es gibt Menschen, mit denen man nicht diskutieren muss.28

Zurechtweisung in Sanftmut (Apostel und Gemeindeleiter). Paulus selbst sieht sich als einen mündigen Christen, der die Auseinandersetzung mit Irrlehren nicht scheut. Er sieht seine Aufgabe in der apología und Bekräftigung des Evangeliums (Phil 1,7; vgl. 1,16), wobei er als Gefangener wohl hier im Sinne der ursprünglichen Bedeutung von apología seinen erwarteten Prozess vor Augen hat.29

Im 2. Korintherbrief umschreibt Paulus seine Aufgabe mit Hilfe von Kriegs-terminologie genauer: „Wir zerstören damit Gedanken und alles Hohe, das sich erhebt gegen die Erkenntnis Gottes, und nehmen gefangen alles Denken in den Gehorsam gegen Christus“ (2Kor 10,4b-5). Paulus reißt die logismoí „Gedan-ken, Argumente“ der Gegner nieder (vgl. V.4; Spr 21,22), welche sich wie ein Bollwerk gegen oder wie eine Mauer vor Gottes Wahrheit erheben. Das Den-ken, welches sich in sündigem Streben von Gott abwendet (vgl. Röm 1,21-23; 7,23), wird wie ein Kriegsgefangener seinem Ursprung zurückgeführt.30

Paulus ist sich bewusst, dass er dieser Aufgabe als Einzelkämpfer nicht ge-wachsen wäre und setzt in den Ortsgemeinden Leiter ein. Ein solcher „Knecht des Herrn“ soll zwar nicht streitsüchtig sein (máchomai „streiten“), jedoch jemand, der „mit Sanftmut die Widerspenstigen zurechtweist“ (2Tim 2,24f) – „nicht abwartend, ob sie zur Einsicht gelangen, sondern ihnen mit der Darbie-

28 Die Gläubigen sollen nicht auf solche Lehren achthaben (proséchō, 1Tim 1,4; Tit 1,14), sie abweisen (paraitéomai, 1Tim 4,7; 2Tim 2,23), sie meiden (ektrépomai, 1Tim 6,20; vgl. 1,6; 5,15; 2Tim 4,4; Hebr 12,13), sich fernhalten (periístēmi, 2Tim 2,16; Tit 3,9). Drastischer noch ist der Schritt, sich von Personen generell abzuwenden (ekklínō, Röm 16,17), nichts mit ihnen zu schaffen zu haben (synanamígnumi, 2Thess 3,14), sie abzuweisen (paraitéomai, Tit 3,10), nicht ins Haus zu nehmen oder zu grüßen (2Joh 10). Vgl. im moralischen Bereich 1Kor 5,11, 2Thess 3,6, 2Tim 3,5. 29 Bruce, F.F., Philippians, Carlisle 1989, S. 31.34f.44. 30 Vgl. Partin, R.P., 2 Corinthians, Waco 1986, S. 305f.

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tung der rechten Lehre entgegenkommend“.31 Ähnlich formuliert Paulus im Titusbrief die Anforderung an einen Ältesten, „zu ermahnen mit der heilsamen Lehre und zurechtzuweisen, die widersprechen“ (Tit 1,9). Mit elencheín „zu-rechtweisen, überführen“ ist hier an eine harte Zurechtweisung gedacht (vgl. 1Tim 5,20; Tit 1,13; 2,15). Die Kraft dieser Zurechtweisung ist dabei abhängig von der Verinnerlichung des Wortes der Lehre durch den Leiter (vgl. elegmós „Zurechtweisung“ in 2Tim 3,16).32 Die Ermahnung erfolgt hart und unnach-giebig in der Sache, doch sanft und freundlich im Ton. Mündige Christen haben gelernt, zu prüfen. Paulus zielt mit seinen Anweisun-gen jedoch über eine Unterscheidung zwischen passiven Laien und aktiven Leitern hinaus. Die Leiter der Gemeinden – Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer – sollen langfristig daran arbeiten, dass „die Heiligen zuge-rüstet werden zum Werk des Dienstes… damit wir nicht mehr unmündig seien und uns von jedem Wind einer Lehre bewegen und umhertreiben lassen durch trügerisches Spiel der Menschen, mit dem sie uns arglistig verführen“ (Eph 4,11.14). Ein unmündiger33 Christ bzw. eine entsprechende Gemeinde wird umhergetrieben wie ein Boot in den Wellen (vgl. Jak 1,6; Jud 12f; Hebr 13,9), verführt wie durch ein verschlagenes Würfelspiel. Eine mündige Gemeinde dagegen ist fähig, trickreiche Verführung zu durchschauen und ihrem Wellen-spiel standzuhalten: Die Vollkommenen (vgl. Eph 4,13 „vollendeten Mann“) haben „durch den Gebrauch geübte Sinne“ und können „Gutes und Böses un-terscheiden“ (Hebr 5,14).

Die Gemeinde soll keineswegs allem Glauben schenken, was ihr im Namen Gottes gelehrt wird. Den Gläubigen wird zugetraut, dass sie fähig sind, die „Geister“, Propheten, ja sogar alles zu prüfen.34

Mündige Christen wissen, ihren Glauben zu verteidigen. Dabei genügt es für den einzelnen nicht, sich auf seine persönliche Glaubensgewissheit zurückzu-

31 Brox, N., Die Pastoralbriefe. 1 Timotheus. 2 Timotheus. Titus, Regensburg 51989 (1950), S. 251, vgl. Fee, G., 1 and 2 Timothy, Titus, Carlisle 1988, S. 265. Mounce, Pastoral Epistles, S. 534f. 32 Ebd., S. 392. 33 Das Wort nēpios „Unmündiger“ ist bei Paulus im Gegensatz zu Jesus (Mt 11,25 par; 21,16) nicht positiv, sondern negativ assoziiert, vgl. 1Kor 3,1; 13,11; Gal 4,3; vgl. Hebr 5,13; paidíon in 1Kor 14,20. Vgl. Schnackenburg, R., Der Brief an die Epheser, Neu-kirchen-Vluyn 1982, S. 189f. Lincoln, A.T., Ephesians, Waco 1990, S. 257-259. Po-korný, P., Der Brief des Paulus an die Epheser, Leipzig 1992, S. 181f. 34 1Joh 4,1; 1Thess 5,21; 1Kor 12,10; Offb 2,2; vgl. Mt 7,15-20 par; Mk 13,5.22f; 2Kor 11,4.

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ziehen. Liest man Judas 22 wie üblich nach dem Codex Sinaiticus („erbarmt euch derer, die zweifeln“),35 so liefert dies eine Begründung der Apologetik in der Nächstenliebe. Karl Heim formuliert einmal pointiert: „Ja, an den Fragen dürfen wir vorbeigehen. Aber nicht an den Menschen, die an solchen Fragen zugrunde gehen.“36 Das Neue Testament kennt zwar ein taktvolles Überzeugen „ohne Worte durch den Wandel“ (bezogen auf Ehefrauen, 1Petr 3,1), doch ist das Reden vor allem dann angebracht, wenn Ungläubige darum bitten. „Überzeugen kann nur Gott selbst, weder die Gemeinde noch auch der Apostel…; aber bezeugen soll sie ihren Herrn vor allen.“37 Paulus empfiehlt in Kolosser 4 einen weisen Lebens-stil „gegenüber denen, die draußen sind“ (V.5), fügt dann aber hinzu: „dass ihr wisst, wie ihr einem jeden antworten sollt“ (V.6). Betont wird mit hení hekásto die Mühe, nicht nur eine gute Antwort auf die Frage zu finden, sondern eine passende Antwort für die Person.38 In zweierlei Hinsicht wird die Antwort näher bestimmt. (1) Sie soll en cháriti, wörtlich „in Gnade“, sein. Hier geht es wohl weder um Gottes Gnade noch um Dankbarkeit, sondern um einen liebli-chen, freundlichen, gütigen Ton, in dem selbst aggressiven Herausforderungen begegnet werden soll. (2) Sie soll „mit Salz gewürzt“ sein. Auch hier bieten sich verschiedene Interpretationsmöglichkeiten an: Reiz statt Fadheit (Würz-kraft),39 Weisheit statt Torheit, Erhaltung statt zur Verderbnis (konservierende Kraft, vgl. Eph 4,29).

Paulus ist sich in seinem Zeugnis von Gott bewusst, dass dieser eine „Tür für das Wort auftue“ (Kol 4,3; vgl. Eph 6,19; Apg 4,29). Diesen Aspekt der Ab-

35 Gegen Bauckham, R.J., Jude, 2 Peter, Waco 1983, S. 108-111, welcher die zwei-gliedrige Lesart von Papyrus 72 verteidigt. Zur Diskussion s. u.a. Vögtle, A., Der Ju-dasbrief / Der 2. Petrusbrief, Neukirchen-Vluyn 1994, S. 102-105. 36 Heim, K., Bilden ungelöste Fragen ein Hindernis für den Glauben?, Berlin 91930 (1906), S. 571, zitiert in Adam, Aufgabe, S. 71. 37 Schweizer, Kolosser, S. 174. 38 Caird, G.B., Paul’s letters from prison, Oxford 1976, S. 210, zitiert in O’Brien, Co-lossians, Philemon, S. 243. Vgl. S. 242f zu folgendem, ferner Lohse, Kolosser und Philemon, S. 238f, Schweizer, Kolosser, S. 173f mit Verweis auf Nauck, W., Salt as metaphor in instructions for discipleship; in: StTh 6 (1952), S. 165-178, Gnilka, J., Der Kolosserbrief, Freiburg 1980, S. 231, Pokorný, P., Der Brief des Paulus an die Kolos-ser, Berlin 1987, S. 158. 39 Vgl. Mt 5,13; Mk 9,49f; Lk 14,34. Zwingli, H., In Epistolam ad Colossenses annota-tiones; in: Schuler, J.M. u.a. (Hrsg.), Huldrici Zuinglii Opera, Band 6/2, Zürich 1838, S. 220-228, hier S. 227: „Gsalzne red, dapffer, wyß, krefftig, wolgeschmack, nit guck-gack, klappertäding“. Vgl. dazu Schweizer, Kolosser, S. 173, Anm. 632.

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hängigkeit von Gott bzw. seinem Geist betont Jesus im Hinblick auf die ge-richtlichen Prozesse, welche seine Jünger in der Zeit der Verfolgung zu erwar-ten haben. In dieser besonderen Notsituation des Prozesses „werden alle Jünger die prophetische Gabe haben“.40 Von daher brauchen sie sich dann nicht zu sorgen (Mt 10,19; Mk 13,11; Lk 12,11), bzw. „zu Herzen nehmen“, sich vorher vorzubereiten (promeletáo, Lk 21,14), was sie reden oder wie sie sich verteidi-gen könnten (apologéomai, Lk 12,11; 21,14; vgl. Mt 10,19; Mk 13,11; Lk 12,11). Das Wort promeletáo ist ein Fachterminus für das Üben einer Rede oder das Proben eines Tanzes.41 Dieses Einstudieren einer Apologie wird nicht notwendig sein. „Die beste Vorbereitung, sagt Jesus, besteht darin, sich nicht vorzubereiten“.42

In möglichem Anklang an diese synoptische Tradition und doch in deutlichem Unterschied dazu steht der locus classicus der Apologetik in 1Petr 3,15f:

„Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist, und das mit Sanftmut und Gottesfurcht, und habt ein gutes Gewissen…“

Die geforderte Bereitschaft zur apología setzt sich bewusst oder unbewusst von dem Bild des gerichtlichen Prozesses ab, „führt aus der Enge der Verfol-gungslogien heraus in die Weite einer universalistischen missionarischen Apo-logetik“.43 Im Unterschied zu Jesus lässt Petrus den Hinweis auf König und Statthalter weg (vgl. 2,13f) und setzt an deren Stelle „jedermann“. Auch redet er nicht von einem bestimmten Gerichtstermin, sondern von „allezeit“ (aeí).44 Die Leser des Briefs sind „wiedergeboren… zu einer lebendigen Hoffnung“ 40 Luz, U., Das Evangelium nach Matthäus. 2. Teilband. Mt 8-17, Neukirchen-Vluyn 1990, S. 111, vgl. S. 112. 41 Fitzmyer, J.A., The Gospel according to Luke (X-XXIV). Introduction, translation, and notes, New York 1985, S. 1340. Bock, D.L., Luke. Volume 2: 9:51-24:53, Grand Rapids 1996, S. 1670. 42 Bovon, F., Das Evangelium nach Lukas. 4. Teilband. Lk 19,28-24,53, Neukirchen-Vluyn 2009, S. 179. Vgl. Ex 4,12; Jer 1,9; Ps 119,41-46; Apg 6,10; Eph 6,19, dazu Davies, W.D. / Allison, D.C., The Gospel according to Saint Matthew. Volume 2. Commentary on Matthew VIII-XVIII, Edinburgh 1991, S. 185. Bruce, F.F., The Epistles to the Colossians, to Philemon and to the Ephesians, Grand Rapids 1984, S. 174f. 43 Goppelt, L., Der Erste Petrusbrief, Göttingen 1978, S. 237. 44 Michaels, J.R., 1 Peter, Waco 1988, S. 188. Vgl. Schreiner, T.R., I and II Peter, Jude, Nashville 2003, S. 174. Brox, N., Der Erste Petrusbrief, Neukirchen-Vluyn 21986 (1979), S. 159f; Kelly, J.N.D., A commentary on the Epistles of Peter and Jude, London 1977, S. 143. Jobes, K.H., 1 Peter, Grand Rapids 2009, S. 230, mit Verweis auf Achtemeier, P.J., 1 Peter. A commentary on First Peter, Minneapolis 1996, S. 234.

Siegbert Riecker: Exegetische Begründung des apologetischen Auftrags 35

(1,3; vgl. 1,21), was sie von den Nichtchristen unterscheidet und die Auseinan-dersetzung herausfordert (Eph 2,12; 1Thess 4,13). Der konkrete Inhalt der Hoffnung, welche die Leser verteidigen können sollen, lässt sich aus dem Briefkontext rekonstruieren, u.a. Tod und Auferweckung von Jesus, Gnade, Erlösung und Sündenvergebung, Wiedergeburt, Auferweckung und ewiges Leben, Gottes Macht im Alltag, veränderter Lebenswandel (1,3-25).45 Einge-bettet erscheint 1Petr 3,15b in eine Anspielung auf Jes 8,13 LXX: „Den Herrn, ihn heiligt!“, „und er sei deine Furcht!“ (vgl. 1Petr 3,15a.16a). Die Verteidigung erhält ihre Kraft durch die Ausrichtung auf Gott. Sie geschieht in [Gottes-] „Furcht“ und mit einem reinen Gewissen und vor Gott und deckt sich mit ei-nem guten Wandel in Christus (V.16; vgl. 2,12; vgl. Lk 12,4f; Apg 4,19; 5,29): „Nicht Menschen, nur Gott bzw. Christus fürchten!“46

Aufgaben zur Vertiefung 1. Mit welchen Argumenten verteidigt Jesaja 44,9-20 den wahren Gott gegen-

über Götzen? Welche rhetorischen Mittel lassen sich erkennen? Was lässt sich im Unterschied zum Neuen Testament als Schwerpunkt alttestamentli-cher Apologetik ausmachen?

2. Welche Erzählabsichten lassen sich hinter der ungewöhnlich ausführlichen Darstellung „apologetischer“ Auseinandersetzungen im Alten Testament vermuten (Ex 5-12; Ri 11,12-27; 1Sam 17,43-47; 1Kön 18,21-37; 2Kön 18-19 || Jes 36-37; Dan 1-6)? Welche Veränderung sollen sie im Herzen der gläubigen Leser bewirken?

3. Gegen welche ganz unterschiedlichen Vorwürfe aus dem Bereich des Ju-dentums muss sich die junge christliche Gemeinde verteidigen? Lesen Sie Joh 1,46; 7,52; 8,41; Mt 11,19 || Lk 7,34; Mk 3,22 par; Dtn 21,23; Mt 28,13. Entwerfen sie eine biblisch-theologische Argumentationsstrategie zur Verteidigung gegen die Vorwürfe in Lk 23,2; Apg 17,6b-7; 24,5.

4. Welche Argumente nutzt der Apostel Paulus in seiner Areopagrede (Apg 17,23-31), um seine griechischen Zuhörer mit der besonderen Offenbarung in Jesus bekannt zu machen? Welche Elemente fehlen hier und noch stärker

45 Schnabel, E.J., Urchristliche Mission, Wuppertal 2002, S. 1462f. Vgl. Brox, Erste Petrusbrief, S. 160: „Wie sie konkret aussieht, will… [der Autor] mit diesem Brief selbst vorgeführt haben“. Goppelt, Erste Petrusbrief, S. 237, dagegen begrenzt die Hoffnung auf die Zukunftserwartung. Vgl. Davids, P.H., The First Epistle of Peter. NIC, Grand Rapids 1990, S. 132: „[Faith] is post appropriate in that it looks forward to good“. 46 Goppelt, Erste Petrusbrief, S. 235.

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in der Rede in Lystra (Apg 14,15-17) gegenüber dem Inhalt einer zu erwar-tenden Missionsbotschaft? Wie lässt sich dies erklären, angesichts der Ziel-gruppe und möglicher strategischer Überlegungen?

5. Welche Antwort geben Sie auf folgenden Einwand: „Ich verteidige meinen Glauben nicht gegenüber meinen Bekannten. Das würde unsere gute Bezie-hung gefährden. Stattdessen lebe ich ihnen lieber mein Christsein ohne Worte vor. Schließlich kommt ein Christ auch ohne Apologetik in den Himmel.“

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