brain study (2001-2004)

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! Die Hirnvorgänge, aufdenen unsere Wahrnehmung beruht, schei-nen völlig verschieden zu sein von derStruktur unseres subjektiven Erlebens – siesind mit unserem Selbstbild eigentümlichunvereinbar. Die Rhythmen und Spektren,in denen unser Gehirn pulsiert, sind unsnormalerweise unzugänglich. Was geschieht,wenn die Gehirnaktivität selbst zum Inhaltder mit ihr verbundenen Wahrnehmungwird? Kurz: Wie klingt ein Gehirn?

Diese musikalisch motivierte Frage be-gründete eine Reihe von Experimentender interdisziplinären Künstlergruppe «arose is», die auf einer Sonifikation von Elek-troenzephalogramm-Messungen beruhten.In Zusammenarbeit mit dem Neurowis-senschaftler Marc Bangert untersuchte siedie Rhythmen und Spektren der elektri-schen Aktivität des Gehirns auf ihre klang-lichen Qualitäten, um dieVorgänge im Kopfsinnlich erfahrbar zu machen. Zu diesenExperimenten zählt Brain Study, eine Instal-lation für vernetzte «Gehirn-Spieler». Dieelektrische Gehirnaktivität eines Ensem-bles von Musikern wird gemessen und livein Klang und Lichtprojektionen transfor-miert. Die biologischen Rhythmen bleibenjeweils unverändert; sie bilden die musika-lische Struktur der Installation.

Mit Hilfe der akustischen Wiedergabe(einem «Neurofeedback») haben die Mit-glieder des Gehirn-Ensembles trainiert, ihreelektrischen Gehirnwellen bewusst zu be-einflussen und somit ihre Gehirnklänge in-tentional zu produzieren, also wie ein In-strument zu spielen. Zusätzlich sind dieGehirn-Spieler untereinander vernetzt undbilden zusammen ein stark vereinfachtesModell eines menschlichen Gehirns. DieGehirne der Spieler repräsentieren in die-sem Netz funktionale Teile eines Gehirns,die an der akustischen Wahrnehmungsver-arbeitung beteiligt sind. Als System kanndieses Netz Klänge wahrnehmen, verarbei-ten und erinnern.

KONTROLLIERTE ALPHA-WELLEN

Die Struktur und Arbeitsweise des Gehirnskann heute mit unterschiedlichen

von Julian Klein

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! THEMA

DAS GEHIRN HÖRENDIE INSTALLATION «BRAIN STUDY» MACHT DIE VORGÄNGE IM KOPF

ÄSTHETISCH ERFAHRBAR

den gemessen und dargestellt werden, diesich in ihrer räumlichen und zeitlichen Auf-lösung stark unterscheiden. Das in BrainStudy verwendete Elektroenzephalogramm(EEG) misst mit Hilfe von Elektroden daselektrische Feld an der Oberfläche desKopfes, das aus der elektrochemischen Ak-tivität der Nervenzellen im Inneren desGehirns resultiert. Seine räumliche Auflö-sung erreicht zwar nicht die von technischaufwändigen Methoden wie der Compu-tertomografie, dafür lassen sich im EEG dieSpektren und Rhythmen der Aktivität zu-sammenhängender Areale millisekunden-genau ablesen.

Die wesentlichen Schwingungen desGehirns sind sehr tief, einige auch außer-halb des hörbaren Bereichs. In Klang trans-formiert, erscheinen derart tiefe Frequen-zen als schnellere und langsamere Pulse.Eine Live-Elektronik analysiert die EEG-Spektren der Gehirn-Spieler und markiertzusätzlich die momentane Zentralfrequenz:So sind die aktuellen Aktivitätszustände derGehirne akustisch besser zu unterscheiden.

Das Spektrum der gemessenen Frequen-zen reicht von unter 1 bis circa 60 Hertzund wird in Bänder eingeteilt, von denendie meisten bereits bestimmten Aktivitätenim Gehirn zugeordnet werden konnten. Soentstehen beispielsweise die Gamma-Wel-len (ca. 35 bis 45 Hertz) vor allem infolgevon Aktivität in der Großhirnrinde, wennsich Ensembles von Hirnzellen während desAblaufs höherer Gehirnfunktionen syn-chronisieren – Beispiele sind bewussteWahrnehmung oder Denkvorgänge wieetwa Rechnen. Die Alpha-Wellen hinge-gen entstehen in tieferen Hirnregionen undsind im Spektrum ständig vorhanden, tre-ten aber besonders hervor, wenn die Groß-hirnrinde «in Ruhe» ist, also während einermentalen Entspannung. Diese Alpha-Wel-len sind eigentlich ein Alpha-Ton bzw. einAlpha-Tempo: Im Alpha-Band zwischen 8und 12 Hertz besitzt jeder Mensch einebestimmte Alpha-Frequenz, die individuellverschieden ist. Die Alpha-Frequenzen derGehirnspieler von Brain Study bilden zu-sammengesetzt einen – wenn auch unter-halb der Hörgrenze liegenden – cis-Moll-Akkord mit Sekunde. Alpha-Wellen setzensich im entspannten Wachzustand immerwieder kurz gegen die dominierendenGamma-Wellen durch und tauchen imEEG gleichsam wabernd und dümpelnd ander Hirnoberfläche auf, was in der klang-lichen Übersetzung als an- und abschwel-lendes Pulsieren zu hören ist. Über diese2

akustische Rückkopplung haben die Ge-hirnspieler der Brain Study trainiert, auchihre Alpha-Wellen absichtlich und soweitwie möglich kontrolliert erzeugen zu kön-nen.

SONIFIKATION UND VERNETZUNG

In der technischen Umsetzung der Sonifi-kation bemühten wir uns, ganz in der Tra-dition von Alvin Luciers Music for Solo Per-former von 1965, die elektrischen EEG-Wellen möglichst direkt in akustischeSchallwellen zu übersetzen. Dazu werdendie Messdaten in Echtzeit ausgelesen, alsAudio-Daten interpretiert und mit einemmehrfachen Oversampling und einer Am-plitudenmodulation ihrer eigenen Trans-positionen in die Oktave und Doppelok-tave versehen, wodurch die Grundschwin-gungen im Material zusätzliche Obertöneerhalten. Durch diese Form der Verstär-kung werden die tieffrequenten Anteilezwischen 20 und 60 Hertz im EEG-Klanghörbar.

Eine spektrale Analyse liefert die aktu-elle Energieverteilung im EEG-Spektrumund markiert die vorherrschenden Fre-quenzen zusätzlich mit einem bandweiseeingefärbten Klicken auf den jeweiligenSchwingungsphasen. Auf diese Weise er-klingen die Anteile unterhalb der Hör-grenze von 16 Hertz als rhythmische Pulse.So werden neben den Theta- und Delta-Wellen auch die an- und abschwellendenAlpha-Spindeln in den individuellenAlpha-Tempi der Spieler hörbar.

Die Gehirn-Spieler sind in einer drittenEbene auch untereinander verbunden. Siekönnen über ihre Hirnzustände und ihreAugenstellungen die akustischenWahrneh-mungen der anderen Spieler beeinflussen.Diese vernetzte Kommunikation ist nachden Reizverarbeitungen im Gehirn model-liert: Jedes Spieler-Gehirn spielt die Rolleeines bestimmten funktionellen Hirnteils.Es entsteht ein neuronales Netz aus Gehir-nen, das sich selbst wie ein einfaches Ge-hirn verhält. Es kannWahrnehmungen ver-arbeiten, Erinnerungen aus seinem Ge-dächtnis abrufen und besitzt emotionaleZustände. Das Verhalten des Systems folgtkeiner festgelegten Partitur oder Drama-turgie, sondern wird allein durch dieFunktionsweise seiner Teile bestimmt.AlleProzesse sind nur durch Verhaltensregelnund Spielaufgaben bestimmt und werdenunverändert wiedergegeben, beeinflusst nurvon der Anwesenheit des Publikums. Das3

System kann Klänge und Geräusche wahr-nehmen, die im Eingangsbereich der In-stallation und an einem Klangpult erzeugtwerden. So können die Besucher demModell-Gehirn akustische Reize anbietenund deren Verarbeitung verfolgen.

WAHRNEHMUNG ALS SCHAUSPIEL

Zu Beginn, nach der Eröffnung der Instal-lation, lernt das System die verschiedenenKlänge kennen und stellt Zusammenhängezwischen ihnen her. Sein Gedächtnis be-ginnt sich mit Erinnerungen zu füllen. Sichwiederholende Klänge oder solche mithoher emotionaler Bewertung werden vomSystem jeweils besser erinnert. Über län-gere Zeit nicht erinnerte Wahrnehmungenverblassen mit der Zeit und verschwindenschließlich ganz aus dem Gedächtnis. DieErinnerungen an Angst und Freude könnensich auch ansammeln und aufschaukeln.Die jeweilige Bewertung nach angeneh-men oder unangenehmen Konnotationenverändert auch die Erinnerung an das Er-lebnis selbst.

Brain Study modelliert ein System aus einigen ausgewählten Regionen des Ge-hirns, die an der akustischen Wahrneh-mung und dem akustischen Gedächtnisbeteiligt sind: Gehör, Colliculus inferior,Lobus temporalis (Schläfenlappen), Hippo-campus, Nucleus accumbens und Amyg-dala. In unserem Modell stellt sich das Zu-sammenspiel dieser Regionen so dar: Denersten Filter der akustischenWahrnehmungbilden bereits die Sinneszellen im Ohr.Physiologische und genetische Dispositio-nen sowie die temporäre physische Habi-tuation bedingen unterschiedliche Sensi-bilitäten der Haarzellen im Innenohr undder Qualität der Übermittlung der akusti-schen Reize über den Hörnerv ins Gehirn.Die Klangreize aus dem Gehörsinn «ver-teilt» dann der untere Teil der Vierhügel-platte im Mittelhirn, Colliculus inferior,entsprechend ihres Anteils von Klangfarbeund Zeitstruktur auf die beiden Schläfen-lappen der Großhirnrinde. Alle diese Funk-tionen finden sich im Modell auf der Po-sition der «Rezeption» wieder.

In den Schläfenlappen werden die Klang-farbe und die Zeitstruktur der Klangreizeanschließend getrennt voneinander verar-beitet. Der rechte Schläfenlappen analysiertvorwiegend die Farbe des Klangs; im Fallvon Sprache hauptsächlich die Vokale. Derlinke erkennt im Wesentlichen die rhyth-mische Struktur, bei Sprache vor allem die4

Abfolge der Konsonanten. Beide Schläfen-lappen assoziieren die Hörwahrnehmun-gen mit bereits bekannten: der rechte eherintegrierend, der linke analysierend. Derrechte Schläfenlappen erkennt z. B. Stimmenund den nichtverbalen Anteil von Sprache(etwa die Stimmung des Sprechenden) undassoziiert eher allgemein; der linke erkenntden semantischen Inhalt von Sprache undassoziiert eher zu Details, Aspekten undstrukturellen Teilen.

Diese Funktion wird im Modell von denbeiden Spielern der «Assoziation» übernom-men. Anhand eines Elektro-Okulogrammswerden zusätzlich deren Augenbewegun-gen als codierte Klänge synthetisiert undwiedergegeben. Stimmen bei ihrem akti-vem Gamma-Zustand die Augenstellungenwechselseitig überein, so wird dem «Ge-dächtnis»-Spieler ein Informations-Signaleingespielt, das ihm über einen Code mit-teilt, welche Assoziation zu dem soebenverarbeiteten Klangreiz entstanden ist.

Das Spielverhalten des Gedächtnis-Spie-lers ist angelehnt an die Funktionsweise desHippocampus, der wichtige Funktionendes Gedächtnisses steuert.Aus den von denAssoziations-Spielern hergestellten Analy-sen ruft er die entsprechenden Erinnerun-gen aus dem Gedächtnis auf, die wiederumneue Analysen der Assoziations-Spielerhervorrufen. Auf diese Weise entstehen imModell Assoziationsketten, die sich zu zu-sammenhängenden komplexen Erinnerun-gen gruppieren können.

Die letzte Stufe der Wahrnehmungsver-arbeitung des Modells ist die emotionaleBewertung: Im wirklichen Gehirn sind Lustund Furcht, Triebe und Abscheu, die Be-dürfnisse nach «Immer wieder!» und «Niewieder!» in getrennten Netzwerken arbeits-teilig realisiert. Die Amygdala (der Mandel-kern) ist dabei vor allem für die Erzeugungvon Angstsignalen zuständig, während diewinzige Zellansammlung des Nucleus ac-cumbens ein zentraler Generator für Lust-,Befriedigungs- und Belohnungssignale ist.Im Modell der Brain Study sind diese Kom-ponenten zu einer Funktion bzw. Rolle imZentrum des Raums zusammengefasst.

Die jeweilige emotionale Bewertungbeeinflusst den Klang der Erinnerungenund den Zeitraum, in dem sie immer wei-ter fragmentiert werden – analog dem Pro-zess desVergessens. Über längere Zeit nichterinnerte Wahrnehmungen verblassen all-mählich und verschwinden schließlich ganzaus dem Gedächtnis. Erinnerungen mitstarken positiven oder negativen Emotio-5

nen können sich aber auch ansammelnund gegenseitig verstärken.

Viele Verarbeitungsprozesse benötigen imGehirn etwa 30 Millisekunden. Im Modellder Brain Study ist dieser Grundtakt auf dieGrößenordnung eines Herzschlags verlang-samt. Der Takt derVerarbeitung im Gehirn-Modell wird vom aktuellen Herzschlag derSpielerin der Emotion bestimmt. Der Herz-schlag wird sowohl mikrofoniert und wie-dergegeben als auch per Elektrokardio-gramm (EKG) gemessen und von demNetz-Algorithmus als Taktung interpretiert.Alle Gehirn-Spieler haben je einen Puls-schlag Zeit, ihre jeweilige Funktion auszu-führen. In «emotionalisierten» Zuständendes Systems wie Angst oder Euphorie be-schleunigt die Spielerin ihren Herzschlag,worauf alle Prozesse schneller ablaufen.

AKUSTISCHES HOLOGRAMM

Im Ausgang der Installation befindet sichein Hörplatz, an dem dieVorgänge des Sys -tems als virtuell dreidimensionales Modellauf Kopfhörern zu hören sind – wie eineArt akustisches Hologramm, das neben demüblichen Links-rechts-Stereobild auch eineVorne-hinten- und eine Oben-unten-Di-mension besitzt.

Die Funktionen und Aktivitäten derGehirn-Darsteller sind analog zu ihrenRollen in die dreidimensional wirkendeKopfhörer-Mischung eingebettet, die sichan der Anatomie des Gehirns orientiert:Sie sind jeweils etwa dort zu hören, wo siesich auch im Gehirn des Hörers befinden,das Modell wird akustisch in den Kopf desHörers hineinprojiziert. Die Aktivitäten undInformationsverarbeitungen des Gehirn-Netzes sind für den Hörer jeweils dort zuhören, wo sie gleichzeitig und gleichartigauch in seinem eigenen Gehirn stattfinden.

In diesem Kopfhörer-Modell werdendie Assoziations-Spieler verglichen mit denSchläfenlappen seitenverkehrt dargestellt,da die Hörnerven des Hörers sich über-kreuzen: So werden ihre Modellklänge vomHörer jeweils vorwiegend mit derjenigenHirnhälfte wahrgenommen, für die sie ste-hen. Bei seitenverkehrt aufgesetztem Kopf-hörer ergibt sich daher ein weniger stim-miges Klangbild, in dem Sprache an denseitlichen Orten auch schlechter zu verste-hen ist.

SCHLAF

In einer Nachtvorstellung schlafen die Ge-6

hirn-Spieler ein. Während sie schlafen,hören sie die Hirnklänge ihres Schlafs. Inden Tiefschlafphasen der Spieler sind auchdie besonders langsamen Delta-Wellen zuhören. Sie pulsieren nur rund ein Mal proSekunde.

Der reale Schlaf der Spieler bildet denSchlaf des vernetzten Systems. In denTraumphasen der Spieler sind ihre schnel-len Augenbewegungen als rhythmisch sehraktive Assoziationsklänge zu hören. DieErinnerungen und Assoziationen der bis-her erlebten Wahrnehmungen finden sichim Schlaf als Träume des Systems wieder.

«Obgleich für das Modell der BrainStudy der aktuelle wissenschaftliche Kennt-nisstand über die beteiligten Strukturenteilweise massiv vereinfacht ist (z. B. was dieRechts-links-Aufgabenteilung der Schlä-fenlappen angeht) oder andernorts groß-zügig und spekulativ erweitert wurde (dietieferen, älteren Kerne verfügen zum Teilüber die höchste Nervenzelldichte des Ge-hirns, ohne dass ihre genaue Funktion bis-her auch nur ansatzweise verstanden ist)und schließlich an wieder anderer Stelleauch bühnenästhetische Kriterien berück-sichtigt worden sind (der Wahrnehmungs-pfad im Modellgehirn ist eine Art Kom-promiss aus Sehbahn und Hörbahn imwirklichen Gehirn), so ist doch ein wesent-licher, ein faszinierender Aspekt des Ansat-zes gelungen: der Nachweis, dass ein derartsimples Modellgehirn, das nurmehr ausden Kernen für ! Aufnahme von Reizen aus der Außen-welt (Wahrnehmung),! Einordnung und Speicherung (Ver-ständnis und Erinnerung),! emotionale Bewertung (Lust, Schmerz)! und deren Abruf in neuen Situationen(Triebe)zusammengesetzt ist, dass dieses Gebildeein ‹Eigenleben› entwickelt, das über dieSumme der Beiträge der Darsteller hinaus-geht. Auch wenn nur in vorsichtigen An-führungszeichen: ein Gebilde, das assozi-iert, das eine Biografie durchläuft, das einenCharakter und Wünsche entwickelt, daskreativ und verspielt ist, das sogar träumt.»(Marc Bangert) !

Dieser Text beruht auf den Begleit- und Programmhefttextenzur Uraufführung der Radiofassung des Hessischen Rund-funks 2001 und der performativen Installation im Rahmender Berliner Festspiele | MaerzMusik 2004 von Julian Klein,Manfred H. Wenninger, Stefanie Wördemann und MarcBangert.

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