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Warum es um Verwirklichungschancen gehen soll : Amartya Sen’s Capability-Ansatz als normative Ethik des Wirtschaftens Fabian Scholtes Dieser Artikel stellt zentrale Aspekte des Sen’schen Capability-Ansatzes (CA) so dar, dass die in dem Ansatz enthaltenen normativen Positionen sichtbar werden. Es wird insbesondere untersucht, warum und in wel- cher Weise die Analyse, Bewertung und Verbesserung gesellschaftli- cher Situationen nach Ansicht der Vertreter des CA mit Blick auf indi- viduelle capabilities, also ‚Verwirklichungschancen’ der Gesellschafts- mitglieder, erfolgen soll . Der Artikel versteht sich als möglicher Zugang zur ausführlicheren Auseinandersetzung mit dem normativen Gehalt des CA. In der nöti- gen Breite können einzelne Punkte nicht vertieft werden; auch kann das Verhältnis des CA zu anderen politik- und wirtschaftsethischen Theorien nur stellenweise beleuchtet werden. Außerdem betrachtet dieser Artikel den CA in seinen allgemeinen Aussagen, ohne den ‚entwicklungspolitischen’ Hintergrund des CA zu vertiefen, der ohne- hin auf den deutschen Kontext – wo rechtstaatliche Institutionen etab- liert sind und Armut in anderen Größenordnungen existiert als etwa südlich der Sahara – nur bedingt übertragbar ist. Der Artikel ist durch vier zentrale Aspekte des CA strukturiert, die zunächst (1-4) einzeln dargestellt und anschließend (5) dahingehend reflektiert werden, was aus ihnen mit Blick auf die – für diesen Sam- melband relevante – Frage nach sozialer Gerechtigkeit folgt. Es handelt sich bei diesen Aspekten um (1) den normativen Zielbegriff Freiheit und (2) den spezifischen normativen Individualismus, die in die Kon- zeption der Verwirklichungschancen eingehen, sowie um (3) das spezi- fische liberale Politik- und Gesellschaftsverständnis und (4) das Verhält- nis zu kultureller Vielfalt. Der Ausblick (6) enthält weiterführende Fra- gen, die der CA im deutschen Kontext aufwirft.

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Warum es um Verwirklichungschancen gehen soll: Amartya Sen’s Capability-Ansatz als normative Ethik des Wirtschaftens Fabian Scholtes Dieser Artikel stellt zentrale Aspekte des Sen’schen Capability-Ansatzes (CA) so dar, dass die in dem Ansatz enthaltenen normativen Positionen sichtbar werden. Es wird insbesondere untersucht, warum und in wel-cher Weise die Analyse, Bewertung und Verbesserung gesellschaftli-cher Situationen nach Ansicht der Vertreter des CA mit Blick auf indi-viduelle capabilities, also ‚Verwirklichungschancen’ der Gesellschafts-mitglieder, erfolgen soll.

Der Artikel versteht sich als möglicher Zugang zur ausführlicheren Auseinandersetzung mit dem normativen Gehalt des CA. In der nöti-gen Breite können einzelne Punkte nicht vertieft werden; auch kann das Verhältnis des CA zu anderen politik- und wirtschaftsethischen Theorien nur stellenweise beleuchtet werden. Außerdem betrachtet dieser Artikel den CA in seinen allgemeinen Aussagen, ohne den ‚entwicklungspolitischen’ Hintergrund des CA zu vertiefen, der ohne-hin auf den deutschen Kontext – wo rechtstaatliche Institutionen etab-liert sind und Armut in anderen Größenordnungen existiert als etwa südlich der Sahara – nur bedingt übertragbar ist.

Der Artikel ist durch vier zentrale Aspekte des CA strukturiert, die zunächst (1-4) einzeln dargestellt und anschließend (5) dahingehend reflektiert werden, was aus ihnen mit Blick auf die – für diesen Sam-melband relevante – Frage nach sozialer Gerechtigkeit folgt. Es handelt sich bei diesen Aspekten um (1) den normativen Zielbegriff Freiheit und (2) den spezifischen normativen Individualismus, die in die Kon-zeption der Verwirklichungschancen eingehen, sowie um (3) das spezi-fische liberale Politik- und Gesellschaftsverständnis und (4) das Verhält-nis zu kultureller Vielfalt. Der Ausblick (6) enthält weiterführende Fra-gen, die der CA im deutschen Kontext aufwirft.

1 Entwicklung als Freiheit: liberale Grundhaltung des CA Bezeichnend für die normative Perspektive des CA ist der Titel von Sen (1999), development as freedom: Freiheit ist zentrales Ziel und Bewer-tungskriterium für Politik, die Entwicklung bzw. allgemein eine Ver-besserung der Gesellschaft verfolgt. Demnach liegt Entwicklung dann vor, wenn Menschen mit Blick auf die Freiheit, ihre Lebenspläne zu verfolgen, besser gestellt werden. Der CA vertritt dieses Werturteil aus verschiedenen Gründen: Der CA geht davon aus, dass Menschen die Möglichkeit, selbstbe-stimmt zu leben, als solche wertschätzen. Das unterscheidet den CA von anderen Konzeptionen, die Freiheit als gesellschaftliches Ordnungskri-terium oder politisches Ziel damit begründen, dass diese ein geeignetes Mittel für einen anderen Zweck sei – etwa für materielle Wohlfahrt. Vielmehr unterstellt der CA Freiheit einen intrinsischen Wert (Sen 2000: 50ff.), wegen dem Entwicklung Freiheit hervorbringen sollte, und weswegen Politik also auf Freiheit auszurichten ist.

Freiheit kann demnach nicht auf eine mögliche (Wohlfahrts- o.ä.) Dienlichkeit als Mittel reduziert werden. Ein instrumenteller Wert der Freiheit wird jedoch auch gesehen (ebd.), und zwar sowohl darin, dass Freiheit Menschen erst ermöglicht, bestimmte Dinge zu tun, als auch darin, dass die Freiheit eines Menschen in einer Hinsicht auch seine Freiheit in einer anderen Hinsicht begünstigen kann. Beispielsweise ist ein freier Tausch wertvoll und soll ermöglicht werden, weil er (a) eine freie (und schon daher wegen ihres intrinsischen Werts geschätzte) Handlung darstellt; weil er (b) für den Zugriff auf das ertauschte, ge-schätzte Objekt instrumentell dienlich ist; und weil (c) die Tauschfreiheit etwa die (ihrerseits intrinsisch und instrumentell wertvolle) soziale Freiheit fördert, Güter mit der beruflich selbst gewählten Herstellung eines anderen Guts erlangen zu können. Konkret wäre ein Bäcker unter Bedingungen der Tauschfreiheit frei, (a) zu tauschen; dabei (b) Wurst zu ertauschen und außerdem (c) dabei doch Bäcker zu bleiben.

Die Freiheit, etwas (maximal) in einem bestimmten Ausmaße tun zu können, schließt auch das jeweilige Ausmaß ein, in dem man es tat-sächlich tut: Wenn jemand sich faktisch in einem bestimmten Maße ernährt, muss er mindestens in diesem Maß frei sein, sich zu ernähren. Der instrumentelle Wert seiner Freiheit entspricht dann dem Wert des

Handlungsergebnisses, also hinsichtlich des Beispiels Ernährung einer bestimmten Sättigung, denn diese wurde durch Freiheit instrumentell ermöglich. Der intrinsische Wert der Freiheit kann insofern als zusätzli-cher Wert erachtet werden: als Wert der Möglichkeit, zwischen dem faktisch gewählten bzw. erreichten Maße (in dem Freiheit instrumentell wirksam und daher wertvoll wird) und einem anderen, etwa höheren Maße wählen zu können. Der CA erweitert also den Wert der faktischen Handlungsergebnisse um den Eigenwert der Freiheit, denn er will berücksichtigen, dass Menschen, die zu etwas frei sind, auch die Frei-heit selbst – jenseits ihrer instrumentellen Verwendung – schätzen. Damit umfasst der CA eine breitere Wertbasis als Ansätze, die diesen Eigenwert von Freiheit vernachlässigen. Der CA bezieht hieraus den Anspruch, die Situiertheit1 von Menschen adäquater abzubilden und somit Politik eine adäquatere Referenz zu bieten.

Freiheit wird dabei als Ziel und Mittel zugleich verstanden (Sen 2000: 50), wobei der Zielaspekt entscheidend bleibt: Zwar ist die Schaf-fung von Freiheiten wie der Tauschfreiheit (am Markt) zunächst wün-schenswertes Mittel zur Erreichung von mehr individueller Freiheit (beim Menschen), und somit Ziel konkreter Politik. Sie ist aber nur insofern wünschenswert, als sie insgesamt der Freiheit der Menschen, also dem Ziel gesellschaftlicher Gestaltung, tatsächlich förderlich ist. Hier kommt nun zum Tragen, dass der CA neben seiner Auffassung von Freiheit als wertvoll auch eine bestimmte Freiheitskonzeption hat: Der CA versteht – wiederum breiter als andere Ansätze – Freiheit als eine, die neben der Abwesenheit von Hindernissen auch die Anwesen-heit von realen Möglichkeiten benötigt. Die Freiheit von Zwang muss konsequenterweise durch eine Freiheit bzw. Möglichkeit zur tatsächli-chen Erreichung von Zielen begleitet sein, sonst stellt sie für Menschen keine reale Freiheit dar: Wer zwar nicht daran gehindert wird, zu es-sen, jedoch nichts zu essen hat, der ist nicht real frei. Freiheit hat zwar bereits vor ihrer instrumentellen Verwendung einen Eigenwert, jedoch nur für Menschen. Freiheit ist also nicht unabhängig von Menschen, die sie real haben und wertschätzen können, wertvoll. Freiheit in einer Weise zu befürworten, welche die Menschen (um die es am Ende geht)

1 Der auch im Weiteren verwendete Begriff der „Situiertheit“ (conditio) unterstreicht, im Gegensatz zur stärker temporären „Situation“, die Längerfristigkeit sowie den Bedingungscharakter (Situiert-heit) dessen, wie Menschen in einer Gesellschaft (sozioökonomisch) gestellt sind.

nicht real frei macht, so dass sie die Freiheit weder nutzen noch wert-schätzen können, greift in dieser Perspektive daher zu kurz.

Diesen zwei Seiten von Freiheit entspricht in etwa die Terminolo-gie von ‚negativer’ Freiheit (welche die Freiheit von Zwang meint) und ‚positiver’ Freiheit (welche – darüber hinaus – die Freiheit zu etwas meint). Bei Sen findet sich erstere als „Verfahrensfreiheit“ (vgl. Sen 2000: 28) und betrifft die Freiheit in Entscheidungen und Handlungen, ist also prozedural konnotiert. Letztere ist im Sinne von ‚Chance’ konse-quentialistisch konnotiert, stellt also auf real mögliche Folgen bzw. Erfol-ge des freien Entscheidens und Handelns ab und hat vor allem die hier-für notwendigen materiellen Ausstattungen im Auge.2

Für die politisch-praktische Gestaltung von Gesellschaft bedeutet dieses Freiheitsverständnis, dass Institutionen – auch die freiheitlich gedachten, etwa Märkte – dahingehend zu prüfen sind, ob sie tatsäch-lich in diesem Verständnis reale, also nicht nur ‚negative’ Freiheit schaf-fen. Sen hat darauf verwiesen, dass freie Märkte die Freiheit von Men-schen beschränken können – etwa wenn Hungerkatastrophen daraus resultieren, dass die Lebensmittel zu den Zahlungsfähigen statt zu den Hungrigen wandern. (Sen 2000: Kap. 7) In diesen Fällen führt eine for-male Verfahrensfreiheit bei den Verkäufern, nämlich dem Meistbieten-den verkaufen zu können (also die negative Freiheit von dem Zwang, dem Hungrigen für einen geringeren Preis zu verkaufen), zu der mate-riellen Unfreiheit der Verbraucher, nicht essen zu können (also zur fehlenden positiven Freiheit zur tatsächlichen Ernährung). Der CA erachtet Freiheit also in ihrer sowohl intrinsischen als auch in-strumentellen Wertigkeit, sowie in ihrer nicht nur negativen, sondern auch positiven Seite bzw. sowohl in ihrem Verfahrens- als auch in ihrem Chancenaspekt. Hiermit beanspruchen seine Vertreter für den Ansatz eine Vollständigkeit, die anderen Ansätzen fehlt, und die Freiheit nicht zuletzt in ihrer eigentlichen Sinnhaftigkeit zu erfassen vermag: Freiheit, die Menschen nicht real frei macht, fehlt Plausibilität, da es in Ethik und Politik am Ende um Menschen geht.

2 Diese Unterscheidung (vgl. Carter 2003) ist u.a. insofern nicht trennscharf, als nicht nur materielle Ausstattungen (zumeist unter ‚positive Freiheit’ gefasst), sondern auch Verfah-ren und Institutionen (zumeist unter ‚negative Freiheit’ gefasst) Freiheiten zu etwas er-möglichen: Für politische Partizipation ist nicht nur Freiheit von der Unterdrückung der eigenen Stimme, sondern auch Freiheit zur Teilhabe an Diskussionen, etwa in institutionali-sierten Foren, notwendig.

Somit ermöglicht Freiheit im Sinne des CA ein vollständigeres und daher anzustrebendes Verständnis von gesellschaftlichen Zuständen. Neben dieser Vollständigkeit gilt als weiterer Grund dafür, dass so ver-standene Freiheit als Ziel und Bewertungsgrundlage von Politik gelten soll, die individuelle Differenziertheit des Ansatzes. Diese erzeugt der CA durch die Konzipierung von Freiheit mit Hilfe von capabilities, wie im Folgenden gezeigt wird.

2 Verwirklichungschancen als normativer Individualismus Der CA konzipiert die so verstandene Freiheit in dem normativen An-spruch, dem Einzelnen in seiner zufälligen Eingebundenheit in eine bestimmte Umwelt sowie in seinen zufälligen Ausstattungen und Qua-litäten individuell differenziert gerecht zu werden. Während der Begriff der Freiheit allgemein unterstreicht, dass es dem CA darauf ankommt, was Menschen tun können, unterstreicht der Begriff der Verwirkli-chungschancen als konzeptioneller Ausdruck dieser Freiheit zusätzlich, was konkrete Menschen (in ihrer komplexen Individualität) tun können.

Die Verwirklichungschancen (capabilities) werden auf einzelne As-pekte menschlichen Lebens bezogen: auf so genannte „doings and beings“ (Sen 1992: 39), die Menschen begründet wertschätzen können (Sen 2000: 29/94ff.). Diese werden als functionings bezeichnet und kön-nen als einzelne Dimensionen der gesamten Freiheit einer Person ver-standen werden, hinsichtlich derer die Person jeweils mehr oder weni-ger frei ist. Das individuelle Ausmaß etwa, in dem eine Person frei ist, sich zu ernähren, stellt ihre individuell große Chance – ihre Freiheit im ‚positiven’ bzw. realen Sinne – dar, mit Blick auf die Dimension Ernäh-rung ihre Ziele zu verwirklichen.

Eine Verwirklichungschance drückt somit das Ausmaß einer functi-oning-spezifischen realen Freiheit aus. Dieses Ausmaß wird als das Er-gebnis einer komplexen Transformationskette gedacht (vgl. Robeyns 2005: 98), in der individuell resultiert, was eine Person mit dem, was sie (als Mittel) zur Verfügung hat, am Ende (mit Blick auf ihre Ziele hin-sichtlich dieses functioning) tatsächlich tun kann. In dieser Kette werden verschiedene conversion factors wirksam, welche die Umwandlung von Gütern in Verwirklichungschancen beeinflussen. Dazu gehören solche, die der Person selbst anhaften, aber eben auch solche, die von der um-gebenden Umwelt und der Gesellschaft stammen (Sen 2000: 89 ff./136).

Dass Menschen als Individuen in sozialen Kontexten leben und nicht ohne diese Sozialität zu denken sind, wird also nicht – wie dem CA bisweilen kritisch vorgehalten wird (z.B. Stewart 2004) – ignoriert oder unterschätzt. Positiv, etwa in der Analyse einer sozialen Situation, werden die Einflüsse von Gruppen und der Gesellschaft vielmehr ex-plizit berücksichtigt: Soziale Normen betreffen als conversion factors die individuelle Freiheit (etwa indem sie bestimmte Handlungen untersa-gen, oder auch diese erst ermöglichen); kulturelle Bedeutungsmuster prägen die Präferenzen der Personen, mit denen diese der Freiheit Sinn und Wert beimessen und sie in konkreten Wahlhandlungen nutzen; etc. Normativ aber weist der CA die Sichtweise zurück, dass Gruppen selbst Freiheiten haben oder (gar über das Individuum hinweg) bean-spruchen könnten. Der CA ist normativ streng individualistisch: Die Bewertung einer Situation wird stets auf den Einzelnen bezogen, und das Ziel von Politik besteht in dem Wohl jedes Einzelnen. Mit Blick auf dieses Wohl geht es dem CA als liberalem Ansatz dabei vorrangig um individuelle Selbstbestimmung, nicht etwa (wie es in gängiger ökono-mischer Theorie dominiert) um individuellen Nutzen.

Die möglichst vollständige Berücksichtung der Umstände und Fak-toren, unter denen einem Menschen aus dem, was er hat, reale Freihei-ten erwachsen, kann in dieser liberalen Grundhaltung als konsequenter normativer Individualismus verstanden werden: Der Einzelne soll sich nicht nur real (also notwendige Chancen überhaupt einschließend) selbst bestimmen können, sondern er soll dazu auch unter Berücksich-tigung seiner Individualität in der Lage sein (also Chancen gemäß sei-ner individuellen Bedürfnisse bzw. Umwandlungskapazitäten haben). Es gehört zur Entstehungsgeschichte des CA, dass er sich von solchen ausstattungsbasierten Ansätzen distanziert, die den Einzelnen als Ein-zelnen, aber nicht konsequent in seiner Individualität berücksichtigen. Hierfür steht stellvertretend die Debatte zwischen Sen und John Rawls (vgl. Rawls 1998: 276ff.), in der Sen Rawls’ Fokus auf die Ausstattung mit Grundgütern kritisiert (Sen 1992: 26f.): Aus dem, was Menschen in gleichem Umfang an Gütern zur Verfügung haben, resultiert aufgrund der individuellen komplexen Transformationsketten noch keine Gleich-heit mit Blick darauf, was ihnen daraus als Chance erwächst – und auf diese komme es schließlich an. Die gleiche Ausstattung mit Lebensmit-teln bietet einer schwangeren Frau wesentlich weniger Freiheit, satt zu

werden, als einem Kind. Indem die capability-Perspektive diesem Un-terschied Rechnung trägt, versucht sie, dem Einzelnen konsequent(er) gerecht zu werden.

Diese Kritik an Rawls ist eine an der gleichen Ausstattung unglei-cher Personen, so dass die resultierende reale Handlungsfreiheit der Personen ungleich ist. Der CA versteht seine Orientierung an Verwirk-lichungschancen auch in anderen Hinsichten als differenzierter bezüg-lich der Individualität von Menschen als andere Ansätze:

Betrachtet man mit Blick auf die objektive Situiertheit einer Person anstelle der verfügbaren Ausstattungen und der damit verbundenen Verwirklichungschancen nur die tatsächlichen Verwirklichungen – ohne zu beachten, wie frei die Person ist – so stellen sich die Situation einer unfreiwillig hungernden und die einer freiwillig fastenden Person gleich dar (Sen 2000: 95). Dass jedoch die hungernde Person trotz glei-chen Ernährungsstands intuitiv schlechter da steht, und dass überdies die fastende Person auch die Freiheit der Wahl zwischen Hunger und Sättigung genießt, wird in der capability-Perspektive deutlich.

Neben diesem Aspekt der objektiven Situiertheit von Personen hat Sen unterstrichen, dass die Bewertung einer Gesellschaft auf Basis der subjektiven Situiertheit von Personen in dieser Gesellschaft unzulänglich sein kann (2000: 80f.): Weil Menschen insbesondere in Armutskontexten zumeist geringe Aussichten auf eine grundlegende Verbesserung ihrer Lage – also auf größere Möglichkeiten – hätten, würden sie ihre Wün-sche ihrer Lage anpassen und bereits aus geringen Mitteln subjektiv Befriedigung oder Zufriedenheit ziehen. Dadurch würden sie jedoch ihre objektiv schlechte Lage unterschätzen, denn die Nichterfülltheit ihrer Wünsche wird nur ausgeblendet. Ihre subjektive Situiertheit wird somit verzerrt. Von dieser Verzerrung wäre die capability-Perspektive insofern nicht betroffen, als sie auf die – objektiv geringen – Verwirkli-chungschancen abstellt und daher in den Blick bekommt, dass die Men-schen hinsichtlich besagter Wünsche objektiv unfrei und somit arm sind. Der CA stellt auf diese objektive (‚gegenständliche’) reale Hand-lungsfähigkeit der Menschen ab, um dadurch die objektive (‚von sub-jektiver Betrachtung/Bewertung gelöste’) Situiertheit des Einzelnen identifizieren zu können, die weder durch die erwähnte Selbstbeschei-dung eines Armen noch durch die übersättigte Frustration eines an Ausstattungen Reichen verzerrt wird.

Neben der komplexen Individualität von Menschen versucht der CA, auch der komplexen Diversität menschlichen Wünschens und Handelns gerecht zu werden. Dabei verfolgt er ein doppeltes Anliegen: Einerseits (a) könnten Menschen Ziele haben, die nicht auf ihr eigenes Wohlbe-finden abstellen, sondern anders geartete Motive haben. Hiermit wen-det sich der CA gegen rein egozentrierte Konzeptionen menschlichen Handelns, wie sie in gängiger Wirtschaftstheorie üblich sind. Diese würden derartigen Motiven – Mitleid, Großzügigkeit, sozialem Enga-gement – nicht gerecht, wenn sie beispielsweise von außen besehen altruistische Handlungen als strategisch motiviert, mit sozialem Prestige belohnt o.ä. verstehen und damit letztlich wieder als egozentriert deu-ten, so dass ihr als altruistisch bezeichneter Charakter verloren geht.

Hierzu hat Sen die Kategorien von well-being und agency gegen-übergestellt (vgl. Sen 1985), wobei ersteres – wenn auch in einem brei-teren Verständnis als nur materiellem Wohlstand – das Wohlsein des Menschen selbst meint. Agency hingegen meint „what a person can do in line with his or her conception of the good. The ability to do more good need not be to the person’s advantage.“ (S. 206, Herv. F.S.) Agency-Ziele erwachsen also aus dem, was eine Person für gut oder richtig hält. Eine Erreichung solcher agency-Ziele kann zwar auch zum well-being einer Person selbst beitragen. Jedoch haben diese Ziele ihre eigene, von einem etwaigen well-being-Effekt unabhängige Bedeutung. Normativ ist mit der Differenzierung verbunden, dass Menschen andere Ziele als den persönlichen Vorteil nicht nur (möglicherweise) tatsächlich verfol-gen, sondern diese auch verfolgen können sollen. Daher soll der Raum für derartige Ziele auch in der Konzeption von Verhalten erhalten blei-ben. Dies hat zwei Facetten: Erstens wäre es in Augen des CA ohnehin falsch, solche Ziele in ihrem Charakter konzeptionell bereits auszu-klammern – etwa indem Handeln stets als eigennützig interpretiert wird. Zweitens ist es auch für das Funktionieren einer Gesellschaft, ihre Entwicklung etc. notwendig, dass soziale Werte, wie sie diesen Zielen zugrunde liegen, kultiviert und erneuert werden (vgl. 3).

Andererseits (b) verfolgt der CA dabei auch das Anliegen, die ein-zelnen Ziele der Menschen als solche – unabhängig davon, ob sie der Kategorie agency oder der Kategorie well-being zugehörig scheinen – nicht vorab zu beschränken. Diese Haltung wird deutlich darin, dass insbesondere Sens Version des CA (vgl. Sen 1993: 46ff.) offen lässt, hin-sichtlich welcher konkreten functionings die Menschen einer Gesell-

schaft durch Sozialpolitik o.ä. befähigt werden sollen. Indem Sen dies einer partizipativen sozialen Entscheidung überantwortet, wird nicht vorab eingeschränkt, welche Freiheiten wertvoll sind. Allerdings gilt, dass es sich um Freiheiten handeln muss, die Menschen zu schätzen Gründe haben – so dass „evil or harmful functionings“ (Alkire 2005: 121) ausgeschlossen sind und ‚mehr’ Wahlmöglichkeiten nicht automa-tisch eine (wertvoll) größere Gesamtfreiheit der Person darstellen. Abschließend ist ein weiterer normativer Aspekt des Konzepts der Verwirklichungschancen zu erwähnen, der jedoch nicht unmittelbar dem Anspruch dient, Menschen in ihrer Individualität und Vielfalt ge-recht zu werden: Vertreter des CA betonen die Notwendigkeit, Mittel und Ziele von (sozialer) Politik – beispielsweise „Commodities & Capa-bilities“ (Sen 1985) – klar zu unterscheiden. Güter sind in dieser Per-spektive kein Selbstzweck, sondern Mittel für Verwirklichungschancen. Damit will der CA nicht nur mit Blick auf effektive Politik erreichen, dass diese – im Bewusstsein der Ziele – berücksichtigt, welche Mittel diesen Zielen tatsächlich, und in welcher günstigen Interdependenz, dienen. Sondern es soll auch sichergestellt werden, dass die aus norma-tiver Sicht ‚richtigen’ Ziele nicht dadurch verfehlt werden, dass sich Mittel – wie etwa ein erhöhter Güterkonsum – in den Vordergrund schieben. Verwirklichungschancen, die im CA als politische Zielgröße die allgemein-ethische Zielgröße Freiheit repräsentieren, erleichtern dieses Zielbewusstsein (vgl. Alkire 2005: 117), da sie ausdrücklich die (individuelle) Umwandlung von Mitteln in Freiheit beschreiben: Wenn eine Ausstattung mit Mitteln sofort mit der Frage konfrontiert ist, wel-che individuellen Verwirklichungschancen daraus resultieren, rücken – konzeptionell bedingt – die eigentlichen Ziele in den Vordergrund.

3 Republikanisch-liberales Gesellschaftsverständnis im CA Bisher galt die Betrachtung dem Freiheitsverständnis des CA und des-sen konzeptioneller Repräsentation durch capabilities, worin ein be-stimmter liberaler normativer Individualismus deutlich wurde. Jedoch trägt der CA nicht nur dem Einzelnen – in seiner Individualität und Vielfalt – normativ Rechnung, sondern hat auch ein normatives Gesell-schafts- und Politikverständnis, das zwar letztlich dem Einzelnen zugu-te kommen soll, von diesem als Bürger jedoch auch etwas fordert.

Eine zentrale Rolle im CA spielt politische Partizipation, die bereits als instrumentell notwendig erwähnt wurde, um – in Sens Version des CA – in konkreten Kontexten u.a. die ‚richtige’ Entwicklung bzw. die dafür nötige Politik zu bestimmen. Partizipation gilt auch als intrinsisch wert-voll, da Menschen die Freiheit zur Teilhabe wertschätzen. Letztere An-nahme ist Teil eines anspruchsvollen Menschenbilds. Dieses erachtet Personen nicht nur als durch ihre Umgebung beeinflusst und geprägt, sondern auch als dieser Umgebung gegenüber aktiv – wenn sie dazu real frei sind. Neben der Annahme eines Partizipationswillens (Drèze/Sen 1995: 106) gehört hierzu auch, dass die bereits erwähnten sozialen Motivationen bzw. Wertvorstellungen – Mitleid, soziales Enga-gement – nicht mehr nur möglich sein sollen, sondern dass sie auch den Menschen tatsächlich zu eigen vermutet werden. (Sen 2000: Kap. 11) Sozial sind diese Motivationen bzw. Wertvorstellungen dabei sowohl in dem Sinn, den Sen mit dem Konzept von agency-Zielen abzubilden versucht (nämlich dass sie über das eigene well-being hinausgehen) als auch in dem Sinn, dass sie mit einer starken gesellschaftlichen Öffent-lichkeit verbunden sind, in der sie zum Tragen kommen und aktuali-siert werden können. Zentrales Moment dieser Öffentlichkeit ist die explizite Auseinandersetzung über Werte, über deren Priorisierung in der Politik etc.: Demokratie soll auch in public discussions, und nicht allein durch public voting realisiert werden.

Angenommener Partizipationswillen und (agency-) Sozialität der Menschen münden so in ein republikanisch-liberales normatives Politik-verständnis (vgl. hierzu Ulrich 2001: 296): Menschen sollen nicht ein-fach durch ordnungspolitische Institutionen in ihrem Handeln so gere-gelt werden, dass dieses mit der gleichen Freiheit anderer vereinbar bleibt, sondern sie sollen ihre Lebenswelt als ein res publica, ein öffentli-ches Gemeinwesen, auf Basis engagierter Argumentationen gestalten. Dem CA geht es dabei neben dem intrinsischen Wert der Partizipation auch um die instrumentelle Funktion aktiver Öffentlichkeit. Diese er-mögliche zum einen, dass sich (soziale, aber auch individuelle, vgl. Sen 2000: 84, 188) Werte u.a. in Diskussionen bilden, erneuern und verän-dern; Partizipation ermögliche zum anderen auch einen expliziteren und dadurch effektiveren Zugriff auf die Politik. (a.a.O., 187)

Dass Menschen in öffentlichen Diskussionen aktiv und argumentativ Politik mitgestalten, stößt in Massengesellschaften sicher auf Umset-zungsprobleme. Auch mögen Politikverdrossenheit und ein dominie-rendes ‚citizen-as-consumer’-Verhalten skeptisch stimmen hinsichtlich der Frage, ob eine solche (moralisch) engagierte Gesellschaft realisier-bar ist. Es lässt sich fragen, ob der Ansatz Menschen nicht überfordert. Jedoch ändern diese praktischen Einwände nichts an dem normativen Grundanspruch, der zumindest als regulative Idee in Politik eingehen sollte. Darüber hinaus impliziert der Ansatz auch den Anspruch an gesellschaftlichen Institutionen, jene Ressourcen, Freiräume etc. den Menschen – als reale Verwirklichungschancen – verfügbar zu machen, die notwendig sind, damit Menschen diesen gesellschaftlichen Ver-pflichtungen entsprechen können.

Somit sind Menschen, so sie denn als (hierzu) real frei anzusehen sind, grundsätzlich mit einer Verpflichtung als Bürger konfrontiert. Sen fasst dies auch über die Reziprozität von Freiheit und Verantwortung: „Wo man (...) die Freiheit (...) besitzt, etwas Bestimmtes zu tun, hat man auch die Pflicht, sich zu überlegen, ob man es tun soll oder nicht, und das impliziert persönliche Verantwortung.“ (Sen 2000: 337) Diese Verantwortung beschränkt sich nicht darauf, dass Menschen für die ihnen spezifisch zurechenbaren Handlungen und/oder deren Konse-quenzen einstehen sollen. Vielmehr führt Sen darüber hinaus ein Ver-ständnis von einer allgemeinen, nicht durch konkrete Forderungen begründeten Verpflichtung der Menschen als Bürger ein: Geht es etwa um die Gewährleistung solcher Ansprüche, wie sie aus Menschenrech-ten abgeleitet werden können, so könnten diese vielleicht nicht bei jemandem spezifisch eingefordert werden, doch könnten sie allgemein an all jene adressiert werden, die in der Lage sind, ihnen zu entspre-chen. (Sen 2000: 276)

Menschen sind sich demnach jenseits rechtlich geregelter Verpflich-tungen grundsätzlich wechselseitig verpflichtet. Sen präzisiert diese Sicht später (2004: 338) dahingehend, dass Menschen nicht direkt zu einer Handlung verpflichtet sind, wohl aber dazu, „to give reasonable consideration to undertaking such action“ – die Handlung also ernsthaft und vernünftig zu erwägen. Damit bereitet der CA, indem er ihre Er-wägung einfordert, beispielsweise einer Solidarität aus moralischer Pflicht statt aus karitativer Barmherzigkeit immerhin den Weg: Eine Gewährleistung sozialer Sicherung über rechtliche Ansprüche hinaus

wäre keine optionale Wohltätigkeit, die man sich bei guter Konjunktur leistet, sondern durch die Gesellschaft als grundsätzliche Verpflichtung im Rahmen eines Gemeinwesens zu erwägen. In diesem Zusammenhang ist die grundlegende Position des CA zum Verhältnis von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verpflich-tung zu unterstreichen: Die Freiheit der Einzelnen hat Vorrang vor kol-lektiver Normativität, etwa vor einer kollektiven Idee dessen, was ein gutes Leben ist, oder eben (vgl. den vorigen Absatz) wozu sich Men-schen gegenseitig verpflichtet sind. Zwar kann individuelle Selbstbe-stimmung dem CA zufolge nicht ohne materielle Ausstattungen, nicht ohne die soziale Einbettung des Einzelnen, nicht ohne gegenseitige Unterstützung, kritische Auseinandersetzungen etc. gedacht werden. Auch kann eine liberale Gesellschaft kaum dauerhaft existieren, wenn ihr der Unterbau aus sozialem Zusammenhalt, geteilten Werten, Moral etc. fehlt. Doch stehen all diese – in ‚härteren’ liberalen Konzepten bis-weilen vernachlässigten – Aspekte des Gemeinschaftlichen im Dienste der individuellen Selbstbestimmung.

Dass zur Gewährleistung realer Freiheit, etwa durch Sozialpolitik, das Recht auf Eigentum durch die Besteuerung verletzt wird, mit der die Sozialpolitik finanziert wird, stellt ein (anerkanntes!) Problem mit Blick auf dieses Recht, nicht jedoch in gleicher Weise mit Blick auf reale Freiheit dar. Denn diese Rechte sind nur ein Teil dessen, was reale Freiheit ermöglicht – materielle Ausstattungen sind ebenfalls notwen-dig. Ohnehin wird Freiheit nur möglich durch ihre eigene Einschrän-kung: Nur indem die Freiheit der bewaffneten Auseinandersetzung in einer Gesellschaft eingeschränkt wird, ist die Freiheit des Zusammen-lebens gewährleistet. („Dialektik der Freiheit“, vgl. Murswiek 1988) Analog ist reale Freiheit nur möglich, indem die Freiheit, alles Eigen-tum zu behalten, teilweise und dabei begründet eingeschränkt wird und die allgemeine Schaffung von Chancen ermöglicht wird. Dieser Punkt ist ein zentraler Aspekt des CA: Sozialpolitik wird nicht einfach nur als Beschränkung, sondern zuallererst als eigentliche Ermöglichung von Freiheit gedacht – auch wenn Sozialpolitik konsequenterweise nicht solche Ausmaße annehmen darf, dass sie nicht mehr als Freiheitser-möglichung zu rechtfertigen ist.

4 Universaler Freiheitsgrundsatz vs. Pluralität von Normensystemen Die vorherige Frage betraf das Verhältnis von individueller Freiheit, wie der CA sie normativ vorsieht, zur gesellschaftlichen Verpflichtet-heit, wie sie für individuelle Selbstbestimmung notwendig scheint – beispielsweise in Form allgemeiner Solidarität zwischen Bürgern jen-seits spezifischer rechtstaatlicher Regelungen. Solche überindividuellen Komponenten sind mit dem CA vereinbar, solange sie dem Einzelnen in seiner individuellen Selbstbestimmung dienen. Darin erweist sich der CA als ein der Sozialität der Menschen bewusster, jedoch nichtsdestotrotz liberaler und normativ-individualistischer Ansatz.

In der Realität findet sich jedoch eine Vielfalt partikularer Moralsys-teme, deren überindividuelle Normen teilweise, statt individueller Selbstbestimmung dienlich zu sein, mit dieser im Konflikt stehen – etwa in kollektivistischen oder diskriminierenden Kontexten, in denen Menschen bestimmte individuelle Rechte verwehrt werden. Der CA könnte nun einerseits seine normativen Forderungen nach individuel-ler Selbstbestimmung auch dort stellen bzw. vertreten, wo eine andere Moral bereits etabliert ist, die diese Selbstbestimmung nicht ermöglicht. Indem er so universalen Geltungsanspruch artikulierte, würde er jedoch diese andere Moral offenbar ähnlich dominieren, wie diese ihre Mit-glieder in deren individueller Selbstbestimmung dominiert. Anderer-seits könnte der CA die etablierte Moral, in der Menschen Freiheiten vorenthalten werden, akzeptieren – mit dem Argument, für die dorti-gen Menschen (also relativ) sei diese durchaus ‚richtig’. Damit würde er jedoch seinen Geltungsanspruch auf bereits liberale Gesellschaften ein-schränken, sich also selbst als ‚nur dort gültig’ relativieren.

In dieser Frage erweist sich der CA als ‚vorsichtiger’, jedoch nichts-destotrotz konsequent universalistischer Ansatz (vgl. Scholtes 2005): Freiheit sei ein universal, also kulturunabhängig wertvolles Ziel. Sen hat viel-fach die Forderung zurückgewiesen, etablierte Wertvorstellungen einer Gesellschaft, die im Konflikt mit allgemeinen Freiheitsrechten stehen, hinzunehmen oder als Argument gegen die Geltung fundamentaler Freiheitsrechte zu akzeptieren (z.B. Sen 2000; Kap. 10; Sen 2004): Zum einen fänden sich die Wurzeln dieser Freiheitsrechte, etwa der allge-meinen Menschenrechte, keineswegs nur in der europäischen Aufklä-rung, sondern ebenso in nicht-westlichen Traditionen, auch wenn deren heutige gesellschaftliche Ausprägungen diese nicht überall zur Geltung

kommen lassen. Zum anderen könnten ‚Kulturen’ nicht als statische, homogene Gebilde erachtet werden, in denen alle Zugehörigen die etablierten Normen gleichermaßen für richtig erachteten. Dass Dissi-denten gegen ‚ihre Kultur’ und für ihre Selbstbestimmung rebellieren, zeige, dass ihnen ihre Freiheit wichtig ist (vgl. Sen 2000: 295).

Sen und Martha C. Nussbaum (1989) verweisen in diesem Zusam-menhang darauf, dass Menschen sowohl eigene „rationale“ und „analy-tische“ (S. 301) Perspektiven besitzen als auch in deren Verwendung ihre eigene Kultur von innen heraus kritisch hinterfragen und bewer-ten. Damit werde nicht die grundlegende Verschiedenheit von Kultu-ren sowie deren Bedeutung für die Werte der zugehörigen Menschen hinfällig (vgl. S. 300). Jedoch könne und solle rationale Kritik der eige-nen Werte und Tradition von innen kommen (308). In diesem Sinne, nämlich dass von innen heraus Kritik beständig möglich sein soll, kann der allgemeine Geltungsanspruch des Vorrangs individueller Selbstbe-stimmung vor der jeweils eigenen Kultur im Falle des CA als konse-quenter, aber auch vorsichtiger Universalismus angesehen werden.

Dass der CA seine „universalistischen Grundannahmen“ (Sen 2000: 294) für vertretbar hält, ist auch in folgender Perspektive zu sehen: Es wird kein Idealbild der ‚freien Gesellschaft’ gezeichnet, sondern für Gesellschaften plädiert, in denen Menschen zwar im Sinne des CA frei sind – die aber in ihrer konkreten Gestalt, in die ihre Mitglieder sie formen können und sollen, keineswegs den westlichen Gesellschaften gleichen müssen. Auch sind die grundlegenden Annahmen des CA – dass Menschen eigene Ziele haben und dass sie es schätzen, diese frei wählen, verfolgen und auch zu erreichen zu können – sehr allgemein und scheinen insofern kontextunabhängig zustimmungsfähig. Während sich bisher Verbindungen zum deutschen Kontext intuitiv ergeben – etwa dass ‚liberal’ nicht mit sozialpolitischem Minimalismus einhergehen muss; dass Chancengleichheit nicht ‚gleiche Ausstattungen für alle’, sondern ‚Ausstattungen, so dass allen gleiche Chancen er-wachsen’ heißen kann; etc. – so fällt dies im 4. Abschnitt schwerer: Die Demokratie ist etabliert, Freiheit und kultureller Pluralismus scheinen nicht weiter begründet werden zu müssen. Doch sind auch ‚moderne’, liberale Gesellschaften in sich mit dem Problem der Vereinbarkeit von allgemeiner individueller Freiheit und partikularer Moral konfrontiert: Die Position des CA ist unmittelbar relevant für Fragen wie die nach

dem richtigen Umgang mit partikularen Gruppen innerhalb liberaler Gesellschaften – seien sie über einen Glauben, eine bestimmte Berufs-sparte o.ä. definiert – wenn diese hinsichtlich der Freiheit Einzelner repressiv wirksam sind.

Außerdem bestehen auch in modern-liberalen Gesellschaften nor-mative Regelkomplexe, die stärker auf Individuen wirken, als dass sie nur deren formale Freiheitsrechte sichern würden: Umverteilungssys-teme wie der Sozialstaat etwa beziehen sich auf partikulare Gerechtig-keitsvorstellungen, die wiederum eine bestimmte, historische – also keineswegs zeitlos gültige – Kultur im Hintergrund haben. Hier stellt sich daher die Frage, wie der CA zu sozialer Gerechtigkeit steht: Be-fürwortet der Ansatz ein universales, zeitlos gültiges Konzept, oder ist Gerechtigkeit Teil des jeweiligen historisch-partikularen Werte- und Moralsystems, das von seinen Mitgliedern beständig von innen heraus hinterfragt würde?

5 Soziale Gerechtigkeit und der CA Die Frage, welches Konzept sozialer Gerechtigkeit mit dem CA ver-bunden ist, bietet die Möglichkeit, bisherige allgemeine Aussagen in ihrer Bedeutung für einen konkreteren Bereich zu reflektieren. Für den vorliegenden Band ist dies wichtig, weil eine Verwendung des CA als normative Orientierung für (Sozial-) Politik auch konkretere Implikatio-nen – hier: hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit – beachten sollte. Der CA stellt nur eine von mindestens drei Komponenten einer voll-ständigen Gerechtigkeitskonzeption explizit bereit. Diese Komponenten lassen sich vereinfachend am Beispiel des Utilitarismus’ verdeutlichen: Dieser bezieht sich (a) auf einen Vorteilsbegriff, nämlich Nutzen. Der Vorteil einer Person in einer bestimmten Situation wird also in ihrem jeweiligen Nutzen gesehen. Auf diesen Parameter soll sich dann die Gestaltung der Gesellschaft beziehen, und zwar in Orientierung an der größtmöglichen Nutzensumme: (b) Die Aggregation der individuellen Vorteile folgt also dem Prinzip der gesellschaftsweiten Summierung aller individuellen, gleichgewichteten Nutzen. Dabei trifft der Utilita-rismus keine Aussage darüber, wie diese Individuen relativ zueinander gestellt sein sollen. D.h., er legt kein (c) Distributionsprinzip zugrunde.

Während der CA zwar mit den Verwirklichungschancen einen Vor-teilsbegriff (a) formuliert, liefert er jedoch keine Aussage darüber, wie die verschiedenen Chancen der Einzelnen (b) zu aggregieren sind (Ro-beyns 2005: 96). Mit Blick auf (c) Verteilung ist eine verbreitete Wahr-nehmung des CA als egalitaristische Gerechtigkeitstheorie zu korrigie-ren: Zwar ist der CA entstanden, als er egalitaristischen Theorien in der so genannten ‚Equality of What?’-Debatte mit den capabilities einen Vor-teilsbegriff bot, welcher anderen Vorteilsbegriffen überlegen sei, wenn es um die (egalitaristische) Gleichstellung der Menschen mit Blick auf diesen Vorteilsbegriff gehe. Dies heißt jedoch nicht, dass der CA allge-mein für eine Gleichheit der Verwirklichungschancen eintreten würde – auch wenn Sen zugesteht, dass Gleichheit in irgendeiner Form in den meisten politischen Positionen zur Frage der gerechten Verteilung eine Rolle spielt bzw. gespielt hat. (vgl. Sen 1996)

Der CA liefert also nur den Begriff davon, was richtigerweise zu aggre-gieren und in seiner Verteilung zu bewerten ist – nicht aber, in welcher ‚richtigen’ Aggregation und im Vergleich mit welcher ‚richtigen’ Ver-teilung. Was kann der CA darüber hinaus zu Gerechtigkeit sagen?

Der CA sieht die Konkretisierung und Priorisierung jener functio-nings, die in einer Gesellschaft (sozial-) politisch zu fördern sind, in Form einer partizipativen gesellschaftlichen Entscheidung vor (vgl. Teil 2). Dies ist als Teil der Gestaltungsaufgabe zu verstehen, die Menschen als freie und gegenseitig verpflichtete Bürger haben (vgl. Teil 3). Diese Gestaltung, die stets durch die mögliche und erforderliche „interne Kritik“ (Nussbaum/Sen 1989, vgl. Teil 4) u.a. in öffentlichen Diskussio-nen (vgl. Teil 3) aktualisiert wird, steht dabei zwischen tatsächlicher Gel-tung für die jeweilige Gesellschaft, etwa in Form von (verteilungspoliti-schen) Gesetzen und Institutionen, und ständiger Vorläufigkeit und Er-neuerung. Diese vorläufige und doch jeweils geltende Konkretisierung bezieht sich auch darauf, wie diese functionings bzw. die zugehörigen capabilities gerechterweise aggregiert und umverteilt werden sollen (vgl. Sen 2000: 97ff.). Es würde nicht dem offenen, gestaltungsfähigen (und -bedürftigen) Charakter des CA entsprechen, wenn er eine be-stimmte Verteilungsvorschrift als universal gültig erklären würde und damit übergehen würde, dass auch Verteilungsnormen partikularen und historischen Wertvorstellungen entspringen und nicht ohne weite-res mit anderen Wertvorstellungen vereinbar sind.

Eine Einschränkung kann jedoch vorgenommen werden: So sehr die Frage einer sozial gerechten Verteilung nur im Kontext zu entschei-den sein mag, handelt es sich jedoch stets um Menschen, die als solche bestimmte fundamentale Bedürfnisse haben. Wenn diese Bedürfnisse nicht für alle Menschen gleichermaßen in der Weise erfüllt sind, dass sie dazu in der Lage sind, ein überhaupt menschenwürdiges Leben zu führen, stellt sich diese ungleiche Situation unabhängig vom (kulturel-len) Kontext auch aus Sicht des CA als ungerecht dar. Insofern impliziert der Ansatz zumindest eine Sockelgleichheit in dem Sinne, dass allen Menschen die Bedingungen gewährleistet sein sollen, bestimmte fun-damentale Dinge tun zu können. Dies führt nicht zu einer ‚sozialen Gleichmacherei`, da Menschen hierdurch nicht ‚gleicher’ gemacht wer-den, als sie es ohnehin schon sind: nämlich, als Menschen, gleich in der Abhängigkeit von fundamentalen Bedingungen, ein menschenwürdi-ges Leben zu führen. Auch folgt daraus konsequenter Weise, dass alle Menschen nicht gleiche Ressourcen erhalten, sondern nur jeweils so viele Ressourcen etc., wie für sie individuell (vgl. Teil 2) notwendig ist. Eine solche Gleichheit mit Blick auf unerlässliche ‚basic capabilities’ ist jedoch weniger als ‚soziale (Verteilungs-) Gerechtigkeit’, sondern eher als ‚humane (Fundamental-) Gerechtigkeit’ zu diskutieren.

Indem der CA ‚soziale Gerechtigkeit’ somit als politisch-partizipativ zu bestimmen erachtet, seinerseits also die Konkretisierung offen lässt, kann er vielen sozialen Kontexten gerecht werden: Er ist in seiner Gel-tungsfähigkeit nicht auf Gesellschaften beschränkt, die einer bestimm-ten Verteilungsregel zustimmen würden. Jedoch macht diese Offenheit des Ansatzes die Gestaltung der Gesellschaft durch Bürger und Politik zu einer ungleich komplexeren Aufgabe, als dies bei einfachen, klaren Verteilungsvorgaben der Fall wäre – was allerdings angesichts des sei-nerseits komplexen Anliegens, nämlich Gerechtigkeit den spezifischen Auffassungen der jeweils betroffenen Menschen gemäß zu gestalten, nicht als Nachteil zu sehen ist.

Der CA vermeidet darüber hinaus auch jene Vereinfachung, die darin bestünde, dass für alle möglichen Bereiche eine immer gleiche Verteilungsregel zum Tragen käme. In Teil 2 wurde als ein Grund für die capabilities als Vorteilsbegriff aufgezeigt, dass der CA Menschen in ihrer individuellen Komplexität gerecht werden will. Diese Komplexität beinhaltet, dass das Leben von Menschen in vielen verschiedenen Di-mensionen besteht und stattfindet, die der CA auch als solche – als func-

tionings – getrennt beachten will. Sen (2002) verweist im Zusammen-hang mit Fragen internationaler Gerechtigkeit darauf, dass die Vieldi-mensionalität des Lebens auch darin besteht, dass Personen eine Viel-zahl von identitätstiftenden Zugehörigkeiten in verschiedenen Lebens-bereichen besitzen, mit denen ihrerseits verschiedene Vorstellungen, Forderungen und Verpflichtungen bezüglich Gerechtigkeit verbunden sind. Erkennt man diese ebenfalls als solche und getrennt an, so ist die Frage nach ‚richtigen’ Aggregationen und Verteilungen nicht zugehö-rigkeits- bzw. bereichsunabhängig zu beantworten.

Aussagen über soziale Verteilungsgerechtigkeit werden durch den CA – selbst wenn sie sich allgemein auf den Vorteilsbegriff der Ver-wirklichungschancen beziehen – also nicht mit allgemeinen Aggregati-ons- und Verteilungsprinzipien verbunden: Eine Gesellschaft, die ge-mäß dem vorherigen Absatz über ihre konkrete Gerechtigkeitspolitik Vereinbarungen trifft, soll dies für die einzelnen Dimensionen und Lebensbereiche differenziert und diesen jeweils entsprechend tun. Die Entscheidungen über gerechte Verteilungen im Bereich Bildung und im Bereich Gesundheit müssen also keineswegs den stets gleichen Prinzi-pien gehorchen, sondern sind vor allem von der Gesellschaft gemäß (jeweils) guten Gründen für den jeweiligen Bereich zu treffen. 6 Ausblick: Fragen, die der CA im deutschen Kontext aufwirft Ein Rückblick auf zentrale normative Aspekte des CA ist bereits im vorherigen Abschnitt erfolgt. Dieser letzte Abschnitt versucht dagegen, mit einigen abschließenden Fragen den CA im deutschen Kontext zu reflektieren. Zum einen lädt dies zur Diskussion ein, und zwar sowohl über die hiesige Politiklandschaft als auch über den CA selbst. Zum anderen soll unterstrichen werden, dass der CA als normative Gesell-schaftsethik ein kritisches Potential hat, welches sich an die gesellschaft-liche Organisation und Gestaltung des Wirtschaftens insgesamt richtet – nicht nur an die Gestaltung der Entwicklungs- bzw. Sozialpolitik, nicht nur des Verhältnisses von Arm und Reich:

(vgl. Teil 1) Der CA bewertet als normative Gesellschaftsethik sozi-ale Situationen – konsequenterweise einschließlich der Leistungen und Ergebnisse einer Ökonomie – anhand der darin jeweils realisierten ca-pabilities, welche die reale Freiheit der Menschen repräsentieren. Ein-

kommen stellt ein Mittel zum Zweck, nämlich dieser Freiheit, dar. BSP, Volkseinkommen, Renditen etc. wären dann zwar noch sinnvolle Rep-räsentationen dessen, was produziert und verdient wurde, welche Ren-tabilität Kapital vorfinden würde etc. Wie aber wäre die ‚eigentliche Güte’ der Gesellschaft, der Politik einer Regierung etc. – nicht gegen-über Investoren, sondern gegenüber Wählern bzw. Bürgern – ange-messen darzustellen? Was genau sagen pralle Einkaufstüten auf Wer-beplakaten einer Regierung, was sagen Wachstumsraten darüber aus, wie ‚gut’ die Ökonomie einer liberalen Gesellschaft ist, in der es am Ende um die Freiheit der Menschen gehen soll? Wenn die Wohlfahrt einer Gesellschaft nicht als Nutzen, sondern als Freiheit verstanden wird – wie sollte die Gesellschaft dann ihre Ökonomie organisieren?

(vgl. Teil 2) Capabilities sollen auch deshalb über die Situiertheit von Menschen informieren, weil sie dies ‚objektiv’ tun. Wenn ein Ar-mer sich mit seiner Situation zufrieden gibt, mag er im Extremfall ge-nauso glücklich sein wie ein Reicher, der aus seinem Reichtum kein Glück entwickelt. Mit der auch in Deutschland bekannter werdenden Glücksforschung könnte hingegen über Befragungen eine Art Bruttoso-zialglück ermittelt werden – wie es z.B. derzeit in Bhutan versucht wird. Stellt erfragtes, also subjektives Glück eine adäquatere Größe für die Bewertung einer Gesellschaft dar, weil sie erfasst, wie es den Men-schen tatsächlich geht? Oder stellt der CA einen adäquateren Ansatz dar, gerade weil er nur erfassen will, was sie objektiv tun oder sein können, und nicht, wie es den Menschen subjektiv ‚dabei geht’?

(vgl. Teil 3) Sozialpolitik stellt im CA zuallererst eine Ermögli-chung, nicht nur eine Einschränkung von Freiheit dar. Die Ermögli-chung lässt dabei offen, ob und wie die Leute sie nutzen. Im Gegensatz zu Konzepten eines Sozialstaats, der in erster Linie zu Produktivität aktivieren soll, wird der Wert der Sozialpolitik nicht in ihrem Beitrag zum nutzenbasierten Wohlfahrtswachstum gesehen. Ist der CA daher normativ attraktiv, weil er Menschen als solche, ungeachtet ihrer Um-setzung bzw. Nutzung von capabilities, befähigen und in die Gesell-schaft integrieren will – sie also nicht nur ‚produktivistisch’ in die Öko-nomie hinein mobilisieren will? Oder geht, wie auch in Deutschland diskutiert, die staatliche Befähigung eines Menschen für den Arbeits-markt, also seine Ausstattung mit Verwirklichungschancen, mit der Pflicht einher, sie zugunsten allgemeiner Wohlfahrt zu nutzen und produktiv zu werden?

(vgl. Teil 4) Menschen sollen laut dem CA dazu in der Lage sein, gegenüber ihren eigenen Gruppen, insbesondere wenn diese gegen-über individueller Selbstbestimmung repressiv wirken, „interne Kritik“ zu üben. Ist es damit Aufgabe des Gemeinwesens, nicht nur durch Re-geln des Zusammenlebens die kulturellen Differenzen koexistieren zu lassen, sondern die Menschen auch zu dieser Kritik aktiv zu befähigen? Sollte also die Gesellschaft tatsächlich in solche Gruppen – Glaubens-gemeinschaften, große Organisationen etc. – gegebenenfalls eingreifen und eine Kultur der beständigen internen Kritik etablieren? Beispiels-weise durch staatlich institutionalisiertes ‚whistle-blowing’ (Verpetzen) in Unternehmen, durch obligatorische ‚Mitgliederplebiszite’ in religiö-sen Gemeinschaften etc.? So dass Transparenz garantiert ist (Sen 2000: 54) und Menschen sowohl in als auch außerhalb dieser Gruppen das für eine Gesellschaft nötige Vertrauen in die Gruppen haben können?

(vgl. Teil 5) Der CA eröffnet eine Perspektive auf soziale Gerech-tigkeit, die Verteilungsfragen in ihrer Komplexität gerecht werden will. Derzeit hört man jedoch in Deutschland oft den Ruf nach Vereinfachung aus Gerechtigkeitsgründen. Unnötige bürokratische Komplikationen, deren Abschaffung wenig fragwürdig scheint, einmal dahingestellt: Wird in diesem populären Ruf vernachlässigt, dass Gerechtigkeit Men-schen gerecht werden will, und dass menschliche Konstellationen und Verteilungsfragen nun einmal komplex sind? Kommt andererseits eine ‚Hyperdifferenzierung’ der Sozialpolitik den jeweils Bedürftigen gerade nicht zugute, weil diese in der Artikulation und Geltendmachung ihrer Ansprüche an einer überkomplexen Bürokratie scheitern?

Auch zieht der CA, indem er eine ‚ein für alle Mal gültige’ Gerech-tigkeitskonzeption ablehnt, die (parlamentarische etc.) Rede von ‚der’ sozialen Gerechtigkeit in Zweifel: Muss, bevor man sich sinnvoll dar-über streiten kann, welche Politik sozial gerecht wirkt, die verwendete Referenz nicht nur expliziter auf den Tisch gelegt werden, sondern darin auch beständig explizit wieder begründet werden – auch wenn Entscheidungen dadurch langsamer werden? Literatur Alkire, Sabina (2005): Why the Capability Approach. Journal of Human

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