Über die beziehungen zwischen erziehungslehre und psychologie

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Über die Beziehungen zwischen Erziehungslehre und Psychologie Author(s): Sinai Ucko Source: International Review of Education / Internationale Zeitschrift für Erziehungswissenschaft / Revue Internationale de l'Education, Vol. 3, No. 3 (1957), pp. 298-307 Published by: Springer Stable URL: http://www.jstor.org/stable/3441427 . Accessed: 11/06/2014 01:58 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Springer is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to International Review of Education / Internationale Zeitschrift für Erziehungswissenschaft / Revue Internationale de l'Education. http://www.jstor.org This content downloaded from 188.72.127.95 on Wed, 11 Jun 2014 01:58:01 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

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Page 1: Über die Beziehungen zwischen Erziehungslehre und Psychologie

Über die Beziehungen zwischen Erziehungslehre und PsychologieAuthor(s): Sinai UckoSource: International Review of Education / Internationale Zeitschrift fürErziehungswissenschaft / Revue Internationale de l'Education, Vol. 3, No. 3 (1957), pp. 298-307Published by: SpringerStable URL: http://www.jstor.org/stable/3441427 .

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Page 2: Über die Beziehungen zwischen Erziehungslehre und Psychologie

tBER DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN ERZIEHUNGSLEHRE UND PSYCHOLOGIE

von SINAI UCKO, Herzlia (Israel)

Die Stellung der Psychologie im Rahmen der Padagogik war bis vor nicht langer Zeit klar umschrieben, ihr logischer Ort deutlich bestimmt: Sie gait als ihre Hilfswissenschaft. Die Padagogik hatte sich an die Psycho- logie als eine beratende Instanz zu wenden, und diese hatte fiber das ,,Objekt" der Erziehung Auskunft zu geben. Sie lehrte fiber die Vorgange im Seelenleben des Z6glings, sie war die ,,Lehre vom M6glichen", indem sie feststellte, was vom Z6gling in den verschiedenen Altersstufen verlangt werden konne und erfiillte so eine regulative Aufgabe gegeniiber den Zielen; sie stellte aber auch - nach Erforschung gewisser GesetzmaBig- keiten - fest, wie die Werte zu iibermitteln seien und ward so engste Nachbarin der Methodik.

In den letzten Jahrzehnten wurden die Psychologen nicht miide zu betonen, daB ihre Wissenschaft sich schon langst von den Fesseln der Philosophie befreit habe und zu einer selbstandigen Erfahrungswissen- schaft geworden sei, die mit ihr eigenen Methoden arbeite. So konnte es auch nicht ausbleiben, daB die Psychologie der Erziehung sich immer weiter und weiter von der Philosophie der Erziehung abtrennte.

Aber eine so einfache Bestimmung des Ortes der Psychologie, wie wir sie soeben gaben, laBt sich heute nicht mehr durchfiihren, weil sich in denselben Jahrzehnten das Arbeitsgebiet der Psychologie veranderte und gerade nach seiner Verselbstandigung iiberaus erweiterte. Man kann ohne allzugroBe Schwierigkeiten aufweisen, daB die Psychologie es ist, die von ihrem Gegenstande her und durch Besinnung auf ihn, also aus Motiven, die dem Objekt der Wissenschaft immanent sind, nun wieder in immer groBere Nahe zur Philosophie und bis in sie hinein getrieben wird. Unter diesem Gesichtspunkte kann haufig eine klare Trennungslinie zwischen Philosophie und Psychologie nicht mehr gezogen werden. Besinnung auf diesen Sachverhalt hat auch fiir den Erziehungswissenschaftler einen besonderen Wert.

Unsere Behauptung mag wunderehmen, wenn man bedenkt, wie un- philosophisch die Psychologie auf weiten Gebieten - namentlich in den angelsachsischen Lander - vorgeht. Auch im Bereich der Erziehungs- psychologie haben sich Zweige gebildet, denen philosophische Besinnung nicht nur ferliegt, sonder auch zuwider ist. Wir denken alle an die Testtheorien verschiedenster Art und ihre Praxis. In ihrem Bestreben nach Exaktheit haben sie eine radikale tberfiihrung ihres Gegenstandes von der Frage nach dem ,,Wesen" eines Vorganges zur Frage nach dem

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,,Wie" und ,,Wieviel" vorgenommen. Ihr Streben nach exakter MeBarbeit hat ja den klarsten Ausdruck in dem bekannten Worte gefunden: ,,Intelligenz ist, was die Teste testen".

Es ist keineswegs hier unsere Aufgabe, iiber Recht und Geltung der- jenigen Erziehungspsychologie zu sprechen, deren zentrale Aufgabe die Messung der Fahigkeiten ist. In der padagogischen Strategie (Sonder- klassen etc.) hat sie uns aus der Subjektivitit gerettet, in der pidagogi- schen Taktik, in der Durchleuchtung des Erziehungs-Geschehens, wo es mehr auf Einfiihlung als auf Feststellung des Faktums der Fahigkeit ankommt, hat sie uns oft ratios gelassen. Wie dem auch sei, die Psycholo- gie als Testwissenschaft ist heute nur noch durch Spezialisierung zu beherrschen. Als solche erfiillt sie freilich die alte Forderung, der Er- ziehung als Hilfestellung fiir die Methodik des Unterrichts und der Fiih- rung zu dienen. Jedoch sind Anzeichen vorhanden, daB auch diese MeBtheorie, gerade wenn sie sich in die erkenntnistheoretische Frage ihrer Geltung vertiefen sollte, nicht in ihrem eigenen Bereich bleiben konnte. So laBt sich z.B. die Frage der Intelligenz nicht mehr von der Frage der Pers6nlichkeit trennen, und dort, wo die Psychologie an diese Frage riihrt, muB sie sich schicksalsmiaBig erweitern.

Dort, wo die Psychologie ,,Lehre von der Personlichkeit" wird, greift sie in wohldefiniertem Sinne in den Bereich der Philosophie iiber. Es ist bezeichnend fiir die heutige Situation psychologischer Forschung, daB sie sich mehr und mehr zur Personlichkeitslehre umstellt. Anstelle einer ,,allgemeinen Psychologie" tritt die Pers6nlichkeitslehre als Charakterolo- gie; eine allgemeine Psychologie bleibt disjecta membra ohne den beherr- schenden Gesichtspunkt der Person. Betrachten wir den Vorgang dieser Umgruppierung, so halten wir auch schon den Leitfaden in der Hand, der uns hinweist, wie eine solche Psychologie von innen heraus zur Philosophie getrieben wird. Wir erinnern uns wohl, wie vor Jahrzehnten der Persona- lismus William Sters nur von engeren Kreisen der Psychologen freund- lich aufgenommen wurde und wie die Charakterkunde iiberhaupt auBer- halb des strengen Bereiches der wissenschaftlichen Psychologie blieb. William Stern eroberte die Erziehungspsychologie durch die Lehren seiner differentiellen Psychologie; sein Personalismus gait als zu philoso- phisch oder gar metaphysisch fundiert, und man kann heute nur schwer iibersehen, wie weit trotzdem sein EinfluB auf diejenigen Theorien reichte, die anstelle einer allgemeinen Psychologie getreten sind. M6ge es interessant sein, nach Einfliissen und Prioritat zu fragen, noch interessan- ter ist es zu sehen, wie auch der Philosophie abgeneigte Psychologen, wenn sie vor der Frage der Person stehen, alsbald auch vor den Toren der Philosophie stehen.

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Gardner Murphy hat die Kategorien hervorgehoben, unter denen eine allgemeine Psychologie sich zur Pers6nlichkeitsforschung wandelt 1: Wenn wir unser Augenmerk, statt auf Vorgange allein, auf die wechsel- seitigen Beziehungen und auf das kontinuierliche Bewu/Stsein des Selbst richten, auf die Ganzheit des vor uns stehenden Individuums, und wenn diese Ganzheit in ihrem Gefiihle der Verantwortung(!) der Welt gegeniiber gesehen wird, sind wir als Psychologen Wissenschaftler der Person. Kaum braucht gesagt zu werden, daB solche Gesichtspunkte es sind, die in der realen padagogischen Situation fur das Verstehen des Zoglings ausschlag- gebend sind. Hier stehen wir dem Zogling als einem Verantwortlichen gegeniiber, jedenfalls immer als einem Menschen, der auf seine Verant- wortlichkeit gepriift oder zu ihr gebracht werden soll. Also schon als Psychologen sind wir Padagogen, und nur als Pidagogen konnen wir Psychologen sein.

Mit den in der Personlichkeitslehre konstitutiven Kategorien ist zugleich der Einbruch von Wertkategorien in die Psychologie wenn nicht vollzogen, so doch begonnen. Jener Psychologismus, der einstmals anstelle der Philosophie kommen wollte, hatte daran gedacht, daB Psychologie auch Werte diktieren k6nnte. Nunmehr liegt ein anderer Sachverhalt vor: die Psychologie sieht, daB gerade, wenn sie ihre eigene Aufgabe sinnvoll vollziehen will, sie dies nicht mehr tun kann, ohne daB sie das Gesprach fiber die Werte, in denen der Mensch sich befindet und zu denen er sich verhalt, in ihren Bezirk mit einbezieht. Der Mensch ist nur verstandlich und erforschbar, wenn er in seiner ihm eigentimlichen Frage- und Antwortstellung auf Werte und Lebenssinn gesehen wird.

Vor etwa 30 Jahren konnte die Psychologie sich als eine Wissenschaft von den Tatsachen im Gegensatz zu einer Philosophie des Sein-Sollenden bestimmen. Die Erziehungsphilosophie als eine Philosophie des Sollens kat'exochen wandte sich an die Psychologie als Lehre vom Seienden, die fiber das padagogisch M6gliche zu berichten hatte. Heute muB die Psychologie auf die Wertlehre zuriickgreifen, um iiberhaupt auch nur in ihrem Bereiche etwas fiber ihr Objekt aussagen zu k6nnen, denn ihr Objekt ist eben die auf die Welt, d.h. auf Werte bezogene Person.

Wenn dem so ist, andert sich auch die Stellung der Psychologie im Rahmen des padagogischen Wissens: sie ist fiber die Aufgabe der Hilfe- stellung hinausgehoben worden, gibt sie doch selbst schon Werte, also Ziele an. Wir werden allerdings noch sehen, wo die Grenzen der Wertlehre liegen, die der Psychologe dem Erzieher darreichen kann.

Vorerst sei jedoch auf eine Entwicklung hingewiesen, die vielleicht mehr

1 Gardner Murphy, Personality, A Biosocial Approach to Origins and Structure. New York and London 1947, pp. 2-3.

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als nur historische Bedeutung hat. Im ersten Viertel unseres Jahrhunderts entspann sich in den deutschsprachigen Lander die bekannte Diskussion zwischen verstehender und erklirender Psychologie. Wir wissen auch, daB der in der Linie Dilthey, Jaspers und Spranger initiierte Begriff der verstehenden Psychologie auBerhalb der deutschsprechenden Lander fast ohne Anklang blieb. Eine junge, ihrer naturwissenschaftlichen Methode frohe psychologische Wissenschaft konnte es nicht ertragen, in die Geisteswissenschaften und beinahe auch in die Philosophie zuriickge- drangt zu werden. Vielleicht ware es auch anders gekommen, wenn die verstehenden Psychologen statt von den historisch so belasteten Geistes- wissenschaften von Gesellschaftswissenschaft im weitesten Sinne ge- sprochen hatten. Der Begriff eines ,,objektiven Geistes" erregte wegen seines m6glicherweise metaphysischen Ballastes Schrecken. Dabei war der Begriff des ,,Verstehens" dieser Schule ein wohl definierter; auch diese Psychologen wollten keine mystische Einfiihlung und waren fern von solcher Romantik in der Psychologie. Der Gegenstand der Psychologie blieb auch in ihren Augen Objekt, in das man nicht ,,eindringen" konnte. Verstehen bedeutete, die ,,Sinnbander" zu sehen, mit denen das psycho- logische Objekt an die Welt gebunden ist. Es ist wissenschaftlich erfaBbar, wenn es in seinen Beziehungen zu den Werten gesehen wird, zu denen es sich verhalt. Die Diskussion des Unterschieds zwischen erklarender und verstehender Psychologie hat heute an Aktualitat verloren. Und zwar nicht, weil die Argumentation der verstehenden Psychologie wertlos wiirde, sondern weil die modere Psychologie diesen Begriff, gleichsam stillschweigend, mitiibemommen hat. Die methodologischen Forderungen der Personlichkeitslehre bergen in sich, in anderer Terminologie, die methodologischen Forderungen der Dilthey-Spranger-Schule. Eine Person ist aus ihren Wertbeziehungen zu erklaren, also zu verstehen. Der Begriff der Person hat eine finale Struktur, nicht nur als psychophysischer Organismus, sonder auch als ein in eine Ganzheit von Werten einbezoge- ner Gegenstand.

Zu den bisher gesehenen Sachverhalten kommt jedoch noch ein anderer Faktor hinzu, der aus der gesellschaftlichen Lage des Menschen unserer Zeit zu verstehen ist: Wir meinen die imponierende Stellung, die die klinische Psychologie in der Situation des moderen Menschen einnimmt. Sie ist weit fiber alle Krankenbehandlung hinausgewachsen und erfiillt beratende Funktion fur den Menschen unserer Zeit iiberhaupt. Sie tut dies als individuelle Beraterin, wobei sie gleichsam anstelle des Priesters getreten ist, und sie tut es in der Gestalt der Psychohygiene und als Beraterin des Heilpadagogen. In der Heilpadagogik besteht naturgemaB die groBte und intimste Annaherung von Padagogik und psychologischer

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Wissenschaft. Auch der klinische Psychologe, wie sehr er auch ganz zum Praktischen gewendet ist, darf niemals auf Theorie verzichten. Jedoch, wie auch immer seine Theorie gestaltet sei, er sieht sich immer einem konkreten Menschen gegeniiber. Er sieht den Menschen immer als Person im Sinne der oben zitierten Kategorien. Ja noch mehr, der Psychothera- peut - und im Rahmen unserer Betrachtung der Heilpadagoge - setzt immer schon die Ganzheit der Person voraus. Gerade wenn er es mit desintegrierten Personen zu tun hat, steht als Leitidee, durchaus im kantischen Sinne, der Begriff der ganzen Person vor ihm. Der praktische Psychologe, und das ist natiirlich auch der Erziehungspsychologe, muB in den jeweiligen Akten seiner Tatigkeit immer nach einem Normbegriff des Menschen fragen.

Der Begriff der ,,seelischen Gesundheit" selbst stellt ihn vor mehr als psychologische Fragen. v.Weitzsacker sieht die Gesundheit in der Fahigkeit, ,,die naturgeborene M6glichkeit der menschlichen Bestimmung zu erfiillen", und Jaspers bemerkt: ,,Ja, wenn man wiiBte, was das sei"1. Jedes Wort einer solchen Definition schreit nach philosophischer Klarung. Auch wenn der Gesundheits- und Normbegriff viel konkreter gefaBt wird, verlangt er von sich philosophische Besinnung. Wir erinner uns an die Antwort, die Freud gegeben hat, um den gesunden Menschen zu be- zeichnen, der seine menschliche Bestimmung zu erfiillen versucht. Er spricht von dem Menschen, der lieben und arbeiten kann. Andere haben dasselbe anders ausgedriickt, etwa so: der gesunde Mensch sei derjenige, der Bindungen der Intimitit und Bindungen gemeinsamen Wirkens eingehen kann.

Begriffe wie Arbeit und Liebe, Wirken und Bindung sind Wertbegriffe, und ohne ihre Einbeziehung kann eine helfende und heilende Psychologie weder schaffen noch ihre Theorie fundieren. Natiirlich kann man diese Begriffe verschieden interpretieren. Aber in unserem Zusammenhange ist gerade diese Moglichkeit verschiedener Interpretation das Wesentliche: sie zeigt uns, daB der Psychologe, auch wenn er eben ,,nur" Psychologe sein will, die Aufgabe der Interpretation auf sich nehmen muB, so wahr er eben ein denkender Psychologe sein will. Die Interpretation der ge- nannten Begriffe ist ein ausgesprochen philosophischer Akt, ein Akt philosophischer Hermeneutik. Die Kenntnis moderner psychologischer Literatur belehrt uns auch, wie leer so haufig gebrauchte Worte bleiben, wenn sie der philosophischen Fundierung ermangeln. Der so haufige Begriff des ,,adjustment" in der amerikanischen Psychologie zum Beispiel hat einen wohl zu verstehenden Sinn nur, wenn ihm - ausgesprochen oder

1 K. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie. Sechste, unveranderte Auflage. Springer Verlag, Berlin 1953, p. 658.

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unausgesprochen - eine Philosophie zu Grunde liegt. Er konnte in der amerikanischen Psychologie der Erziehung fruchtbar sein, weil die Philosophie der Demokratie - haufig in einer viel zu unproblematischen Fassung - ihn mit Sinn erfiillte. Wo auch immer wir ihn anwenden wollen, involviert er die Frage quid juris. Kann ich denn ,,Anpassung" als ein Zeichen seelischer Gesundheit und Normalitat verlangen, wenn ich nichts iiber das Recht und den Wert dessen, der sich anpassen soil, und desjeni- gen, dem man sich anpassen soil, auszusagen habe? Vielleicht lohnt es sich doch, daB jemand leidvoll unangepaBt, in geradezu neurotischer Spannung verbleibt, um sich nicht einer objektiv wertgeminderten Gruppe anzugliedern.

Wir konnten bisher darauf hinweisen, wie sowohl die Wendung zur ,,Person" als auch die zum Praktischen zugleich auch eine Wendung zum Philosophischen mit sich bringen muBte. In dem Augenblick, in dem die psychologische Fragestellung sich mit einem ,,Du sollst" verband - und sie tut das immer im psycho-hygienischen Bereich -, implizierte sie eine philosophische Frage. Die Trennungslinie zwischen dem Philosophen der Erziehung und dem Psychologen der Erziehung wird zwar nicht aufge- hoben; sie verliert aber ihre scharfe Geradlinigkeit und erhalt oft die Gestalt einer Kurve. Haufig muB der Erziehungspsychologe eine Personal- union mit dem Philosophen der Erziehung eingehen. Wer etwa, wie der Schreiber dieser Zeilen, heute Vorlesungen iiber Erziehungspsychologie zu halten hat und diese Vorlesungen durch Gesprache iiber den Gegenstand mit seinen Schiilern erweitert, kann dariiber Zeugnis ablegen.

All dies wird noch deutlicher, wenn wir bedenken, wie sich zur Zeit Psychologie zur Anthropologie erweitert. Die Psychologie kann sich heute nicht mehr damit begniigen, etwas iiber Vorgange des Seelenlebens und GesetzmaBigkeiten des menschlichen Verhaltens festzustellen. Je mehr sie sich in sich selbst vertieft, fiihlt sie sich gedrangt, etwas iiber ,,den Menschen" zu berichten.

Schon eine Lehre wie die Psychoanalyse sagt etwas iiber das Sein des Menschen aus. Alles, was Freud und seine ihm getreuen und ungetreuen Schiiler iiber die Beziehung der Schicht des BewuBten zur Schicht des UnbewuBten erklart, ist Wesensbeschreibung des Menschen. Die Psycho- analyse ist eine anthropologische Schichtentheorie. (Manchmal ist es nur schwer zu verstehen, wie wenig sich die modemen Schichtentheorien auf die Anregungen beziehen, die sie von daher empfingen.)

Wenn z.B. im Menschen die vitale Schicht, ihr Umfang und ihre Kraft aufgezeigt wird, so wird damit auch die Stellung des Menschen in der Natur bestimmt. Wie die Schichten voneinander abgehoben werden und wie ihr Ringen miteinander erklart wird, das ist immer schon eine Aussage

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fiber Mensch und Kosmos. So war es auch, als Plato und Aristoteles lehrten und von einer vegetativen, animalischen und geistigen Seele im Menschen sprachen, und ihre Theorie sich mit Ontologie und Ethik ver- band. So ist es auch kein Zufall, daB heutzutage, etwa bei Nicolai Hart- mann, die Schichtenlehre der Seele sich zu einer kosmischen Seinslehre erweitert oder die Schichten der Seele ein mikrokosmisches Abbild des Seins sind. ,,.... die hoheren Gebilde, aus denen die Welt besteht, Pflanze, Tier, Mensch und Volk sind selber geschichtet; die Schichten, aus denen sich die Welt aufbaut, sind auch in ihnen aufzuweisen. So ist der Mensch materielles, organisches und seelisches und geistiges Wesen, besteht aus vier Schichten .... Die h6heren Tiere und das vorgeschicht- liche geistlose BewuBtsein des Menschen haben drei Schichten, das niedere Tier und die Pflanzen zwei ...." 1.

Es wird an Plato und Aristoteles angekniipft. So durften wir unsere Ansicht fiber die Beziehungen von Psychologie und Philosophie heute auch so formulieren: Wenn die Philosophie der alten Meister uns psycholo- gische Einsichten gab, so sind die Psychologen von heute, da sie fiber die Seinsschichten der Seele etwas aussagen, auch wieder schon Philosophen.

Auch eine Psychologie der Erziehung, die mehr sein will als Apparatur des Messens, und die in Kontakt mit umfassenderen Einsichten bleibt, kann sich nicht mehr ganz von den ontologischen Aussagen fernhalten. Auch sie sagt etwas fiber die Stellung der Schichten und ihr Kraftespiel in der Person, somit etwas fiber das Wesen des Menschen aus. Sie spricht fiber Grenzen und Moglichkeiten des Geistes und dringt damit in Bereiche ein, die noch vor kurzer Zeit der Erziehungsphilosophie, jedenfalls aber nicht der Psychologie der Erziehung, iiberlassen waren. So wie wir ein Eindringen der Philosophie in den Bezirk der Psychologie sahen, so kon- nen wir auch von einem Eindringen der Psychologie in den philosophischen Bereich sprechen.

Jedoch sind die Bezirke nicht kongruent und werden es wohl auch nie werden. Psychologie als Anthropologie sagt fiber den Bereich, die Kraft und auch die Schwiche der obersten Schicht, des Geistes aus. Niemals aber kann sie sagen, in welcher Richtung der Geist zu schreiten habe, mit welchen endgiiltigen Werten er sich zu erfiillen habe. Da zeichnet sich die Grenzlinie zwischen Philosophie und Erziehungspsychologie doch wieder, wenn auch in anderer Lage, deutlicher ab: Wir sahen, wie Wertdenken in der Psychologie sich verwurzelt; wir miissen aber auch einsehen, daB all die Wertkategorien, die die Personlichkeitsforschung und die psychologi- sche Anthropologie in sich aufzunehmen veranlaBt sind, einen festum-

1 Nicolai Hartmann, Einfuhrung in die Philosophie. 3. Aufl. Luise Hanckel Verlag, Osnabriick. pp. 121/f.

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schriebenen und begrenzten Bezirk haben. Allerdings umfassen sie den Menschen sowohl in seinem vitalen als auch geistigen Sein, aber sie dienen alle einem Ziele, sie dienen der Sicherheit der Person in ihrem Lebenskampf mit den Kraften des Bios und den Kraften der Gesellschaft. Sie wollen bestimmen, wie der Mensch als Person bestehen bleiben kann. Sie sprechen von Leben, Gesundheit, von der M6glichkeit einer Beziehung zum Neben- menschen und zur Gemeinschaft, von den Grundlagen des K6nnens und der Liebe, von der Harmonie mit sich selbst und den Vorbedingungen des Schopfertums.

Der Pidagoge in seiner konkreten Situation aber kann sich niemals von weiteren Fragen befreien. Wenn sein Z6gling arbeiten kann, so fragt der Padagoge weiterhin: Arbeit wofiir? Wenn der Zogling lieben kann, so fragt der Erzieher: wen sollen wir lieben? Wenn der Schiiler in der Gemeinschaft stehen kann, ja Gemeinschaft schaffen kann, so fragt der Padagoge zugleich: was soil diese Gemeinschaft letztlich bedeuten? Was ist der Sinn und Inhalt unseres Gemeinschaftsstrebens? Er stellt diese Fragen immer und implizite im Akte der Erziehung selbst, auch wenn er ihnen nicht immer Ausdruck gibt; im Stillen ist er immer mit dem Sinne der Person und der Gemeinschaft beschaftigt. So ist er immer nicht nur Psychologe sondern ..... Philosoph.

Psychologie in der Erweiterung, die wir schilderten, gibt allerdings Ziele an und hat eine Wertlehre in sich aufgenommen. Aber es bleibt fraglich, ob sie auch schon imstande ist, eine Skala der Werte aufzustellen. Fraglich bleibt es, ob sie uns sagen kann, wann wir die von ihr aufgestell- ten ,,Sicherheitswerte" um anderer Werte willen opfern sollten. Und das ist doch wohl dem Menschen wesentlich, daB er Situationen kennt, in denen die obengenannten Werte nur noch Mittel bleiben und im Opfer eingesetzt werden konnen. MuB nicht manchmal Gesundheit fur etwas anderes aufs Spiel gesetzt werden? MuB nicht manchmal auf Gemein- schaft um der Einsamkeit willen verzichtet werden? Opfern kann uns Psychologie allein nicht lehren.

Hier muB eine umfassende Erziehungslehre doch wieder von anderen Quellen gespeist werden. Vom Begriff der Wahl her und vom Begriff des Opferns her empfingt in der Padagogik die Philosophie ihre Aufgabe. Dies freilich ist eine schwere Priifung der Philosophie, so wahr sie erziehe- rische Philosophie sein soil. Sie wird am Scheidewege zu entscheiden haben. Sie wird den Mut des Heroischen oder Religi6sen haben miissen, wenn sie angesichts dieser Aufgabe bestehen will.

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RELATIONS ENTRE LA PiDAGOGIE ET LA PSYCHOLOGIE

par SINAI UCKO, Jerusalem

I1 y a quelques ann6es, la psychologie occupait, dans le domaine des sciences pedagogiques, une place stable et bien d6finie. Elle apportait son conseil a l'6duca- teur, lui indiquant ce qu'il 6tait possible d'exiger aux diff6rentes p6riodes du d6ve- loppement et l'eclairant sur la capacit6 d'assimilation des 6elves a l'egard des valeurs qui leur sont enseign6es. C'est l1 le r61e que remplit aujourd'hui la psycho- m6trie.

De nombreux d6veloppements sont cependant intervenus r6cemment en psycho- logie g6n6rale dans l'6tude de la personnalite (anthropologie psychologique, psycho- logie clinique, hygiene mentale). Les categories utilis6es dans l'6tude de la personna- lite ont une port6e 6thique. Contrairement au psychologue du passe qui pr6tendait les 6carter, le psychologue modere reconnait que ses recherches embrassent les problemes de valeur. Pour lui, la personne humaine ne peut etre comprise qu'en situation par rapport aux valeurs et a leur signification.

Aussi est-il devenu plus difficile de tracer clairement la frontiere entre la psycho- logie de l'6ducation qui est autre chose que la simple psychom6trie ou une strat6gie pedagogique, et l'6tude des valeurs et des fins. La limite entre ces deux domaines ne dessine plus une ligne droite mais plut6t une courbe irreguliere.

Nous commen9ons a vrai dire a comprendre que les diverses categories de valeurs que la psychologie a int6gr6es sont toutes domin6es par une finalit6 commune: la s6curit6 et l'int6gration de la personnalit6 (vie, sant6 mentale, socialisation active, capacit6 de travail et d'amour). Le concept d'adaptation est actuellement a l'6tude; l'on est davantage conscient de ses limites.

D'un autre c6t6, nous sommes conduits a reexaminer le lien qui s'6tablit entre la psychologie et la philosophie de l'6ducation. I1 n'appartient pas aux psychologues de nous apprendre quand et sous quelles conditions nous pouvons etre appeles a sacrifier une valeur ou une autre. La psychologie n'est pas en soi habilit6e a elaborer une "th6orie du sacrifice".

Face a une situation concrete, le pedagogue ne peut 6chapper a des questions d'une grande port6e. Si sa fonction est de faire travailler, il doit se demander: "travailler I pour quoi ?" Si sa fonction est de pr6parer a vivre en soci6te, ou meme de susciter une societ6 de sa fa9on, il lui faut se demander: "quel type de societ6 est souhaitable et quelle est sa signification dernire ?" L'action pedagogique implique toujours ces questions meme si elles ne sont pas pos6es de maniere explicite. L'6duca- teur ne peut, a vrai dire, y r6pondre sans etre lui-meme philosophe.

La psychologie moderne s'est terriblement 6tendue, non sans prendre une allure davantage "philosophique". Elle est encore en peine d'une philosophie de l'6duca- tion qui soit capable de la prolonger.

INTERRELATION OF PEDAGOGY AND PSYCHOLOGY

by SINAI UCKO, Jerusalem

For many years the place of psychology in the realm of the pedagogical sciences was stable and well-defined. Psychology was the counsellor of the pedagogue,

306 SINAI UCKO

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advising him what it was possible to demand of his charges at every period of life, and guiding him in the transmission of values, regard being paid to the psychological receptivity of the student. This is the role of test psychology to this day.

Many developments, however, have taken place in recent times in general psy- chology in the direction of the study of personality (psychological anthropology, clinical psychology, and psycho-hygiene). The categories employed in the study of personality are value categories. In contrast to the psychologist of the past, who pretended to prescribe values, the psychologist of today recognizes that his researches involve the problem of values. To the modern psychologist man is understandable only in a problem situation vis-a-vis values and their meanings.

Thus it has become more difficult to draw a clear line between educational

psychology, which is more than testology and pedagogic strategy, and the study of values and ends. The borderline between those two fields of study is no more a

straight line; it is an irregular curve. But we are beginning to realize that the value categories which psychology has

been integrating are all values directed to one goal: security and the integration of the personality (life, mental health, productive relations with fellow men, the capacity to work and love). The concept of adjustment is now being scrutinized; there is a growing awareness of its limitations.

On the other hand, we are led to re-examine the boundary line between psychology and the philosophy of education. The psychologist cannot teach us when and under what conditions we are to be called to sacrifice one value for another. In itself psychology is not equipped to provide us with a "theory of sacrifices".

Faced with a concrete situation, the pedagogue cannot evade far-reaching questions. Even if his charge is endowed with the ability to work, he must ask, "Work! What for?" If his charge is endowed with the ability to live in society or even to create a society of his own, the pedagogue must then ask, "Which society is desirable, and what is its ultimate meaning?" The pedagogue is always asking these questions implicitly, even if he does not utter them explicitly. Indeed he cannot help but be a philosopher always.

Modern psychology has expanded tremendously and has become more "philo- sophical" in the process. Yet it is in need of an educational philosophy which goes beyond its frontiers.

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