themen der zeit tabu und die opfer des tätervolks

1
Samstag/Sonntag, 2./3. März 2002 THEMEN DER ZEIT TIROLER TAGESZEITUNG Nr. 52 15 Konflikt um die Benes-Dekrete, Grass „im Krebsgang" und die große Flucht im Hauptabendprogramm - die andere Vergangenheit Tabu und die Opfer des Tätervolks Die verdrängte Tragödie. 15 Millionen Menschen auf der Flucht. Warum wird dieses Thema erst jetzt behandelt? Von MICHAEL SPRENGER G ibt es eine neue Poli- tisierung der Vergan- genheit? Vieles deu- tet daraufhin. Vor allem, wenn man sich die jüngs- ten österreichischen Debat- ten über die Benes-Dekrete vor Augen führt. Auch die Novelle „Im Krebsgang" von Günther Grass oder die TV- Dokumentation „Die große Flucht" von Guido Knopp liefern dafür Belege. Nach der Holocaust-Aufarbeitung jetzt die Vertreibung? Aber warum erst jetzt? Wurde das Schicksal der Vertriebe- nen bewusst totgeschwiegen oder kann man erst jetzt darüber reden? Fallen der Geschichte Auch weil die Anlassfälle Benes, Grass oder Knopp mit der Vertreibung eine ge- meinsame Klammer haben, lauern die Fallen der Ge- schichtsschreibung überall. Die Benes-Dekrete, die nach dem Ende des Zwei- ten Weltkrieges die recht- lichen Grundlagen für die Enteignung und die Ver- treibung der Sudetendeut- schen bildeten, waren in der Innenpolitik bis vor zwei Jahren kein nennenswertes Thema. „Erst mit dem Ein- tritt der FPÖ in die Bundes- regierung", so belegt es der Innsbrucker Zeitgeschicht- ler Michael Gehler, „wurden die Benes-Dekrete Teil der Tagespolitik." Und es war doch so, dass dieses Thema bislang in erster Linie ein deutsches war. Von der Ver- treibung der Altösterreicher war immer nur am Rande die Rede. Politisch ange- kommen sind die Sudeten- deutschen in der CSU. Von 1945 bis 1950 wur- den knapp drei Millionen Sudetendeutsche aus der Tschechoslowakei vertrie- ben. Dorf um Dorf wurde gesäubert. Heute, 55 Jahre nach der Vertreibung, zeigt sich am Verlauf der öffentlichen Dis- kussion, dass es nicht nur um die Aufarbeitung der Ge- schichte geht. Mit der De- batte einher beginnt auch das Wachrufen von Ressen- timents. Die Benes-Debatte steht, ausgenommen frühe- rer Wortmeldungen des ehe- maligen ÖVP-Außenminis- ters Alois Mock, in einem unmittelbaren Zusammen- hang mit dem bevorstehen- den Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union. Mit der Osterweiterung kam es zum Griff in die historische Kiste. Und verfestigt damit das vorherrschende Bild: Die Vertriebenen gehören den Rechten. In der Tat wirkte es so, dass die breite Geschichts- schreibung für die Flucht und für die Vertreibung nur wenig Platz übrig hatte. Wer in der Vergangenheit „vom Leid des deutschen Volkes" sprach, rückte in die Nähe jener, die Schuld aufrech- nen wollen. „Wer darüber sprach, kam gleich unter Re- 15 Millionen Menschen der deutschsprachigen Bevölkerung musste nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Flucht antreten. Dieses Kapitel wird jetzt einer breiten Diskussion unterzogen. Fotos: Keystone <2) und ausdem Buch .Die große RUCM- von Guido Knopp, Econ. lativierungsverdacht", sagte Rolf Steininger, Vorstand der Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck. Und zudem hielt sich lange das Vorurteil: Jeder Sudeten- deutsche ist ein Nazi. Die dunklen Flecken Zurück blieben dunkle Flecken der < Geschichts- schreibung. Denn das 20. Jahrhundert war nicht nur ein Jahrhundert der Ver- nichtung und der Kriege, es war auch die Epoche der Flucht und der Vertreibung. Knapp 50 Millionen Men- schen haben in Europa ihre Heimat verloren. 15 Milli- onen Deutsche wurden als Folge des ZweitenWeltkrie- ges vertrieben. 12 Millionen Menschen kamen an ihrem Fluchtpunkt an. Der Rest wurde eingetragen im Buch der namenlosen Schicksale. Mitunter braucht es die- sen Abstand von 55 Jahren. Die unbeschreiblichen Er- eignisse während der Nazi- zeit, Auschwitz, die syste- matische Judenvernichtung, beherrschten das Gewissen. Deutschland, nicht Öster- reich, denn unser Land übte sich so gerne in der Opfer- rolle, lebte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Kollektivschuld. „Man verarbeitete die Vergangen- heit, indem man sägte: Die Vertreibung war der Preis für unsere Verbrechen. Aber man verschwieg, dass eini- ge mehr tragen mussten als andere - stellvertretend für alle Deutschen", sagte Bun- destagsvizepräsidentin Ant- je Vollmer in einem Inter- view mit der Süddeutschen Zeitung zur Vertriebenen- Frage. Sie war es, die 1995 als erste Grüne ein Treffen der Sudetendeutschen be- suchte. Vollmer wurde aus- gebuht, sie durfte nicht spre- chen. Die Vertriebenen ge- hören zu den Rechten. Der Hort der Rechten Für Gehler ist di« For- schung am Holocaust und die Erforschung des Unvor- stellbaren eine wichtig' Vor- leistung für die jetzig: De- batte: „Erst jetzt könne i wir sagen, dass der Holoca st in ,der Öffentlichkeit pi isent ist wie nie zuvor. Die war notwendig, um sich jetzt anderen Themen der Zeit unbefangener zu widr en." Brauchte es also so lanjs die Ausklammerung des ,eids von Millionen? Vollm r or- tet zumindest in den spä- ten 50-er Jahren hier eine beginnende Trennung der Beschäftigung mit der Ge- schichte. „Die Zeit der spä- ten fünfziger und frühen sechziger Jahre sind durch eine ahistorische, in der Ge- genwart lebenden Genera- tion geprägt. Die 68-er ha- ben sich vor allem mit den Tätern auseinander gesetzt, an den Opfern gab es im- mer zu wenig Interessen." Guido Knopp behauptet, seine (jetzt im ORF laufen- de) TV-Dokumentation hät- te mitunter vor zehn Jahren noch zu heftigen Diskussi- onen geführt. Eine Ansicht, der Rolf Steininger durchaus etwas abgewinnen kann. Im zeithistorischen Kontext or- tet er die Wiedervereini- gung Deutschlands und das Ende des Kalten Krieges als Zäsur für die Beschäftigung mit diesem Kapitel der Zeit- geschichte. Zugleich wider- spricht Steininger aber der These, die Aufarbeitung der Vertreibungen beginne erst jetzt. Jedoch fand dieses Thema früher nicht den breiten publizistischen An- klang. Die Einschätzung Steinin- gers deckt sich auch mit der laufenden Grass-Debat- te. Mit seiner Novelle „Im Krebsgang" hat der Nobel- preisträger eine Diskussion über Opfer und Täter ausge- löst. Das heißt nicht, dass er es war, der ein litera- risches Schweigegebot ge- brochen hat, welches über die Vertriebenen verhängt worden ist. Daran haben zu- vor Walter Kempowski, aber auch Siegfried Lenz, W.G. Sebald oder Alexander Klu- ge und andere gearbeitet. Aber unbestritten ist, dass es eben Grass war, der mit seinem Buch über den Un- tergang der „Wilhelm Gust- loff" eine breite Diskussion über die Verdrängung aus- löste. Der von drei Torpedos versenkte Nazi-Dampfer markierte die bislang größ- tes Schiffskatastrophe. Voll- gepfercht mit 10.000 Men- schen, großteils Flüchtlin- gen aus dem Osten, verließ die „Gustloff" Pommern. Nur knapp 1200 Menschen überlebten das Unglück am 30. Januar 1945. 9000 Men- schen, zumeist Frauen und Kinder, starben in der Ost- see. Sechsmal so viele Men- schen wie beim Untergang der „Titanic". Und wer kannte wirklich die Ge- schichte der „Gustloff", be- vor sie wieder aus der Ver- senkung geholt wurde? Dilemma der Linken Als Arbeitgeber des Ich- Erzählers Paul taucht Gün- ther Grass als der „Alte" in der Novelle auf. Selbstkri- tisch ging er mit der Kalt- herzigkeit der Linken ins Gericht und benannte dabei sein eigenes Dilemma: „Nie- mals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich ge- wesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen". Die Aufarbeitung der Fol- gen des Zweiten Weltkrie- ges ist also hoch an der Zeit. „Zynisch könnte man sa- gen", so bemerkte es Stei- ninger, „Hitler bleibt eben weiter im Gespräch: Dieser Mensch hat eine lange Karri- ere". Steininger hofft jedoch zweierlei. „Erstens, dass es sich hier nicht um einen bloßen Zeitgeist handelt, zweitens nicht um Voyeu- rismus und die Lust an den vielen Toten." ^Denn die Vertreibung be- ginnt nicht erst 1945. Wer also heute über die Benes- Dekrete spricht, soll das * Münchner Abkommen mit- denken, das Nazi-Protekto- rat, die Behandlung der Tschechen, muss die Rolle wichtiger Vertreter der Su- dentendeutschen während der Nazi-Zeit im Auge be- halten. Wer über die Ver- * tieibung aus den Gebieten jenseits von Oder und Nei- * ße spricht, der darf die schlimmsten Verbrechen, * von Deutschen verübt, nicht ausklammern. „Der Miss- brauch von Geschichte be- steht immer", weiß Gehler. Und er warnt zur Vorsicht, wenn sich „Politiker der Ge- schichte annehmen". Alte Geister Die Vergangenheit - wie die Arbeit an ihr - ist viel- schichtig. Die Vergangen- heit bestimmt die Zukunft, die Geschichte die Politik. Hier und anderswo. Wie die Schweiz von ihrem Verhal- ten während des Zweiten Weltkrieges eingeholt wur- de, Österreich mit der Wald- heim-Affäre den Schleier der Verdrängung verlor. Das ge- genwärtige Drama hat oft tiefliegende Wurzeln - wenn sie gebraucht werden. In Nordirland etwa, wo Ge- walt auf der Straße immer noch mit einer Schlacht des Oranier-Ordens begründet wird: Dass diese Schlacht Jahrhunderte zurückliegt, ist den Akteuren sehr egal. Ge- spenster zeichnen sich da- durch aus, dass sie heute noch umher geistern. Die Tragödie am Balkan, die Schlacht am Amselfeld. Für die Arbeit an der Geschichte braucht es für einen souveränen Umgang die Offenheit. Sonst gilt, was Paul „Im Krebsgang" sagt. „Die Geschichte, genauer, die von uns angerührte Ge- schichte ist ein verstopftes Klo. Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt den- noch hoch."

Upload: others

Post on 17-Oct-2021

1 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: THEMEN DER ZEIT Tabu und die Opfer des Tätervolks

Samstag/Sonntag, 2./3. März 2002 THEMEN DER ZEIT TIROLER TAGESZEITUNG Nr. 52 15

Konflikt um die Benes-Dekrete, Grass „im Krebsgang" und die große Flucht im Hauptabendprogramm - die andere Vergangenheit

Tabu und die Opfer des TätervolksDie verdrängte Tragödie.15 Millionen Menschenauf der Flucht. Warumwird dieses Thema erstjetzt behandelt?

Von MICHAELSPRENGER

Gibt es eine neue Poli-tisierung der Vergan-genheit? Vieles deu-

tet daraufhin. Vor allem,wenn man sich die jüngs-ten österreichischen Debat-ten über die Benes-Dekretevor Augen führt. Auch dieNovelle „Im Krebsgang" vonGünther Grass oder die TV-Dokumentation „Die großeFlucht" von Guido Knoppliefern dafür Belege. Nachder Holocaust-Aufarbeitungjetzt die Vertreibung? Aberwarum erst jetzt? Wurdedas Schicksal der Vertriebe-nen bewusst totgeschwiegenoder kann man erst jetztdarüber reden?

Fallen der GeschichteAuch weil die Anlassfälle

Benes, Grass oder Knoppmit der Vertreibung eine ge-meinsame Klammer haben,lauern die Fallen der Ge-schichtsschreibung überall.

Die Benes-Dekrete, dienach dem Ende des Zwei-ten Weltkrieges die recht-lichen Grundlagen für dieEnteignung und die Ver-treibung der Sudetendeut-schen bildeten, waren in derInnenpolitik bis vor zweiJahren kein nennenswertesThema. „Erst mit dem Ein-tritt der FPÖ in die Bundes-regierung", so belegt es derInnsbrucker Zeitgeschicht-ler Michael Gehler, „wurdendie Benes-Dekrete Teil derTagespolitik." Und es wardoch so, dass dieses Themabislang in erster Linie eindeutsches war. Von der Ver-treibung der Altösterreicherwar immer nur am Randedie Rede. Politisch ange-kommen sind die Sudeten-deutschen in der CSU.

Von 1945 bis 1950 wur-den knapp drei MillionenSudetendeutsche aus derTschechoslowakei vertrie-ben. Dorf um Dorf wurdegesäubert.

Heute, 55 Jahre nach derVertreibung, zeigt sich amVerlauf der öffentlichen Dis-kussion, dass es nicht nurum die Aufarbeitung der Ge-schichte geht. Mit der De-batte einher beginnt auchdas Wachrufen von Ressen-timents. Die Benes-Debattesteht, ausgenommen frühe-rer Wortmeldungen des ehe-maligen ÖVP-Außenminis-ters Alois Mock, in einemunmittelbaren Zusammen-hang mit dem bevorstehen-den Beitritt Tschechiens zurEuropäischen Union. Mitder Osterweiterung kam eszum Griff in die historischeKiste. Und verfestigt damitdas vorherrschende Bild: DieVertriebenen gehören denRechten.

In der Tat wirkte es so,dass die breite Geschichts-schreibung für die Fluchtund für die Vertreibung nurwenig Platz übrig hatte. Werin der Vergangenheit „vomLeid des deutschen Volkes"sprach, rückte in die Nähejener, die Schuld aufrech-nen wollen. „Wer darübersprach, kam gleich unter Re-

15 Millionen Menschen der deutschsprachigen Bevölkerung musste nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Fluchtantreten. Dieses Kapitel wird jetzt einer breiten Diskussion unterzogen. Fotos: Keystone <2) und aus dem Buch .Die große RUCM- von Guido Knopp, Econ.

lativierungsverdacht", sagteRolf Steininger, Vorstandder Zeitgeschichte an derUniversität Innsbruck. Undzudem hielt sich lange dasVorurteil: Jeder Sudeten-deutsche ist ein Nazi.

Die dunklen FleckenZurück blieben dunkle

Flecken der < Geschichts-schreibung. Denn das 20.Jahrhundert war nicht nurein Jahrhundert der Ver-nichtung und der Kriege, eswar auch die Epoche derFlucht und der Vertreibung.Knapp 50 Millionen Men-schen haben in Europa ihreHeimat verloren. 15 Milli-onen Deutsche wurden alsFolge des ZweitenWeltkrie-ges vertrieben. 12 MillionenMenschen kamen an ihremFluchtpunkt an. Der Restwurde eingetragen im Buchder namenlosen Schicksale.

Mitunter braucht es die-sen Abstand von 55 Jahren.Die unbeschreiblichen Er-eignisse während der Nazi-zeit, Auschwitz, die syste-matische Judenvernichtung,beherrschten das Gewissen.Deutschland, nicht Öster-reich, denn unser Land übtesich so gerne in der Opfer-rolle, lebte unmittelbar nach

dem Zweiten Weltkrieg mitder Kollektivschuld. „Manverarbeitete die Vergangen-heit, indem man sägte: DieVertreibung war der Preisfür unsere Verbrechen. Aberman verschwieg, dass eini-ge mehr tragen mussten alsandere - stellvertretend füralle Deutschen", sagte Bun-destagsvizepräsidentin Ant-je Vollmer in einem Inter-view mit der SüddeutschenZeitung zur Vertriebenen-Frage. Sie war es, die 1995als erste Grüne ein Treffender Sudetendeutschen be-suchte. Vollmer wurde aus-gebuht, sie durfte nicht spre-chen. Die Vertriebenen ge-hören zu den Rechten.

Der Hort der RechtenFür Gehler ist di« For-

schung am Holocaust unddie Erforschung des Unvor-stellbaren eine wichtig' Vor-leistung für die jetzig: De-batte: „Erst jetzt könne i wirsagen, dass der Holoca st in

,der Öffentlichkeit pi isentist wie nie zuvor. Die warnotwendig, um sich jetztanderen Themen der Zeitunbefangener zu widr en."Brauchte es also so lanjs dieAusklammerung des ,eidsvon Millionen? Vollm r or-

tet zumindest in den spä-ten 50-er Jahren hier einebeginnende Trennung derBeschäftigung mit der Ge-schichte. „Die Zeit der spä-ten fünfziger und frühensechziger Jahre sind durcheine ahistorische, in der Ge-genwart lebenden Genera-tion geprägt. Die 68-er ha-ben sich vor allem mit denTätern auseinander gesetzt,an den Opfern gab es im-mer zu wenig Interessen."

Guido Knopp behauptet,seine (jetzt im ORF laufen-de) TV-Dokumentation hät-te mitunter vor zehn Jahrennoch zu heftigen Diskussi-onen geführt. Eine Ansicht,der Rolf Steininger durchausetwas abgewinnen kann. Imzeithistorischen Kontext or-tet er die Wiedervereini-gung Deutschlands und dasEnde des Kalten Krieges alsZäsur für die Beschäftigungmit diesem Kapitel der Zeit-geschichte. Zugleich wider-spricht Steininger aber derThese, die Aufarbeitung derVertreibungen beginne erstjetzt. Jedoch fand diesesThema früher nicht denbreiten publizistischen An-klang.

Die Einschätzung Steinin-gers deckt sich auch mit

der laufenden Grass-Debat-te. Mit seiner Novelle „ImKrebsgang" hat der Nobel-preisträger eine Diskussionüber Opfer und Täter ausge-löst. Das heißt nicht, dasser es war, der ein litera-risches Schweigegebot ge-brochen hat, welches überdie Vertriebenen verhängtworden ist. Daran haben zu-vor Walter Kempowski, aberauch Siegfried Lenz, W.G.Sebald oder Alexander Klu-ge und andere gearbeitet.Aber unbestritten ist, dasses eben Grass war, der mitseinem Buch über den Un-tergang der „Wilhelm Gust-loff" eine breite Diskussionüber die Verdrängung aus-löste.

Der von drei Torpedosversenkte Nazi-Dampfermarkierte die bislang größ-tes Schiffskatastrophe. Voll-gepfercht mit 10.000 Men-schen, großteils Flüchtlin-gen aus dem Osten, verließdie „Gustloff" Pommern.Nur knapp 1200 Menschenüberlebten das Unglück am30. Januar 1945. 9000 Men-schen, zumeist Frauen undKinder, starben in der Ost-see. Sechsmal so viele Men-schen wie beim Untergangder „Titanic". Und wer

kannte wirklich die Ge-schichte der „Gustloff", be-vor sie wieder aus der Ver-senkung geholt wurde?

Dilemma der LinkenAls Arbeitgeber des Ich-

Erzählers Paul taucht Gün-ther Grass als der „Alte" inder Novelle auf. Selbstkri-tisch ging er mit der Kalt-herzigkeit der Linken insGericht und benannte dabeisein eigenes Dilemma: „Nie-mals, sagt er, hätte man überso viel Leid, nur weil dieeigene Schuld übermächtigund bekennende Reue in allden Jahren vordringlich ge-wesen sei, schweigen, dasgemiedene Thema denRechtsgestrickten überlassendürfen".

Die Aufarbeitung der Fol-gen des Zweiten Weltkrie-ges ist also hoch an der Zeit.„Zynisch könnte man sa-gen", so bemerkte es Stei-ninger, „Hitler bleibt ebenweiter im Gespräch: DieserMensch hat eine lange Karri-ere". Steininger hofft jedochzweierlei. „Erstens, dass essich hier nicht um einenbloßen Zeitgeist handelt,zweitens nicht um Voyeu-rismus und die Lust an denvielen Toten."

^Denn die Vertreibung be-ginnt nicht erst 1945. Weralso heute über die Benes-Dekrete spricht, soll das *Münchner Abkommen mit-denken, das Nazi-Protekto-rat, die Behandlung derTschechen, muss die Rollewichtiger Vertreter der Su-dentendeutschen währendder Nazi-Zeit im Auge be-halten. Wer über die Ver- *tieibung aus den Gebietenjenseits von Oder und Nei- *ße spricht, der darf dieschlimmsten Verbrechen, *von Deutschen verübt, nichtausklammern. „Der Miss-brauch von Geschichte be-steht immer", weiß Gehler.Und er warnt zur Vorsicht,wenn sich „Politiker der Ge-schichte annehmen".

Alte GeisterDie Vergangenheit - wie

die Arbeit an ihr - ist viel-schichtig. Die Vergangen-heit bestimmt die Zukunft,die Geschichte die Politik.Hier und anderswo. Wie dieSchweiz von ihrem Verhal-ten während des ZweitenWeltkrieges eingeholt wur-de, Österreich mit der Wald-heim-Affäre den Schleier derVerdrängung verlor. Das ge-genwärtige Drama hat ofttiefliegende Wurzeln - wennsie gebraucht werden. InNordirland etwa, wo Ge-walt auf der Straße immernoch mit einer Schlacht desOranier-Ordens begründetwird: Dass diese SchlachtJahrhunderte zurückliegt, istden Akteuren sehr egal. Ge-spenster zeichnen sich da-durch aus, dass sie heutenoch umher geistern. DieTragödie am Balkan, dieSchlacht am Amselfeld.

Für die Arbeit an derGeschichte braucht es füreinen souveränen Umgangdie Offenheit. Sonst gilt, wasPaul „Im Krebsgang" sagt.„Die Geschichte, genauer,die von uns angerührte Ge-schichte ist ein verstopftesKlo. Wir spülen und spülen,die Scheiße kommt den-noch hoch."