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Maxim und Galina Schostakowitsch

Unser Vater DSch

aufgezeichnet und mit Ergänzungen herausgegeben vonErzpriester Michail Ardow

Moskau, Verlag Sacharow, 2003Übersetzung aus dem Russischen von

Wolfgang Fulda 2013

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Kriegsjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Arbeit und kleine Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Iwanowo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Winter in Iwanowo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Erste Wohnung in Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Gymnastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Orchesterproben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Verkehrserziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Deutsche Kriegsgefangene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2210 Komarowo nach dem Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2311 Kinderstreiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2412 Umstände des Komponierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2513 Komponierende Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2614 Stücke für Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2715 Zwei Flügel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2816 Fuÿball . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2917 Michail Soschtschenko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3118 Alltagsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3619 ZK-Beschluss zu Muradeli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3820 Schwierige Nachbarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4121 USA-Reise 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4222 Ein türkischer Augenarzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4523 Iwan Sollertinski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4624 Haustiere 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4825 Haustiere 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5026 Studien in Ideologie 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5127 Studien in Ideologie 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5328 Der Tod Stalins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5429 Schwänzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5630 Geburtstage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5731 Kinobesuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5932 Kindergeburtstage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6133 Michailowskoje . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6234 Nina Wassiljewnas Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6335 Erziehungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6536 �Lady Macbeth aus dem Mzensker Bezirk� . . . . . . . . . . . . . . . . . 6637 Autofahren, Autorenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7038 Auslandsreisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7339 Briefe, Propaganda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7540 Wodka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7941 Uhren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

42 Filmmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8143 Rauchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8244 Drohende Provinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8345 Datschas, Valuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8446 Nachwuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8547 Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8648 Hilfe für andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8749 Einsatz für Kollegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8850 Leben in Schukowka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9151 Verhältnis zu anderen Komponisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9252 Achtes Streichquartett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9453 Krankenhaus in Kurgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9954 Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Vorwort

Ein gesittetes Frühstück im Hause Dmitri Dmitriewitsch Schostakowitschs. Am Tischder Hausherr, sein Sohn Maxim, zwei gemeinsame Freunde von mir und Maxim sowiemein Bruder Boris und ich. Alle schweigen, aber die Stille ist doch ziemlich unangenehm.Maxim wendet sich an mich : �Mischka, erzähl uns einen Witz, du weiÿt doch soviele ! . . . �Die Antwort bleibt in der Luft hängen. Das Schweigen wird noch peinlicher.

Die Sache war so. Maxim machte eine Junggesellen-Fete, die sich bis weit nach Mit-ternacht hinzog, und wir blieben bei ihm übernacht. Am frühen Morgen aber kam uner-wartet Dmitri Dmitriewitsch plötzlich von der Datscha, und wir wurden, gelinde gesagt,verschlafen an die Tafel gesetzt. Damals war ich, was man �die Seele der Gemeinschaft�nennen könnte. Ich wusste eine Menge Witze und lustige Begebenheiten, die ich gröÿ-tenteils von meinem Vater, dem Schriftsteller Viktor Ardow1, gehört hatte, oder vonLeuten, die in unser Haus in der Ordynka gekommen waren. Bei diesem Frühstück imHause Schostakowitsch aber hatte es mir die Sprache verschlagen. Aus zwei Gründen.Zum ersten saÿ ich neben einer weltberühmten Persönlichkeit am Tisch, zum zweitenaber geriet Dmitri Dmitriewitsch in Gegenwart Unbekannter in äuÿerste Anspannung,und das konnte man unmöglich nicht spüren . . .

So um das Jahr vierundfünfzig oder fünfundfünfzig tauchte bei meinem jüngerenBruder und mir ein neuer Freund auf. Er war fein, elegant und sehr hübsch, und dasalles in Verbindung mit Humor, Frohsinn und einer erstaunlichen künstlerischen Be-gabung. Bis heute bin ich der Überzeugung, dass Maxim, hätte er sich nicht mit derMusik beschäftigt, ein ganz wunderbarer Schauspieler geworden wäre. Er war � undist es noch � weniger Erzähler, als vielmehr ein �Vorführer� komischer Geschichten.Unmöglich lässt sich das zu Papier bringen, womit Maxim uns damals ergötzte und er-freute. Zum Beispiel erinnere ich mich daran, wie er einen dicken bulgarischen Polizistendarstellte, der sich den Schnürsenkel zubindet : das eine Bein stellte er auf einen Stuhl,beugte sich aber zu dem anderen hinunter das auf dem Boden stand. Oder folgendetragikomische Studie. Maxim spielte einen Menschen, der auf die Straÿe hinaus gingund einen kleinen Kindersarg unter dem Arm trug. Ihm entgegen schiebt eine jungeFrau ein Kinderwägelchen mit einem Säugling. Kompetent schaut er im Vorbeigehenin den Kinderwagen und fragt die Mutter munter : �Was haben Sie denn da ? EinenJungen ? Ein Mädchen ? �

Wir waren damals alle sehr jung und sehr lustig. Zu unserem Kreis gehörten nebenBoris, Maxim und mir der künftige Schriftsteller Andrei Kutschajew2, Alexander Nilin3,Sohn eines berühmten Prosaisten, und Jewgeni Tschukowski, später Kameramann fürFilm und Fernsehen, ein Enkel Kornei Iwanowitschs4. Eine Art �goldene Jugend�.

1 Viktor Je�mowitsch Ardow (1900 - 1976), sowjetischer Satiriker, Dramaturg und Karikaturist2 Andrei Leonidowitsch Kutschajew (1939 - 2009), russischer Schriftsteller und Dramaturg3 Alexander Pawlowitsch Nilin (* 1940), russischer Schriftsteller und Sportjournalist4 Kornei Iwanowitsch Tschukowski (1882 - 1969), sowjetrussischer Dichter und Publizist

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Mit dem Tschukowski-Groÿvater hing bei uns übrigens folgende Geschichte zusam-men. Boris und Maxim fuhren einmal zu Genia1 nach Peredelkino2. Die Gäste bekamenHunger, man gab ihnen Käsebrötchen. Die jungen Leute standen neben dem Haus undaÿen mit Appetit. In diesem Augenblick ö�nete sich das Tor, und auf das Datschengrund-stück fuhr ein langgestrecktes schwarzes Auto, aus dem Kornei Iwanowitsch ausstieg. Ersah die Gäste und sagte : �Guten Tag, Maxim und Boris ! Esst ihr da meine ? �

Das denkwürdigste Ereignis in der Mitte der fünfziger Jahre war für mich sicher dieReise auf die Krim mit dem Auto. Der Wagen gehörte Dmitri Dmitriewitsch, der keineBedenken hatte, ihn Maxim und seinem künftigen Schwiegersohn Jewgeni Tschukow-ski anzuvertrauen. Wir fuhren zu fünft : vorne Genia und seine Braut Galia, auf demRücksitz Maxim, Andrei und ich.

Unser Aufenthalt auf der Krim begann mit folgendem Abenteuer. In Simferopolkamen wir spät abends an. Im Stadtzentrum fanden wir das beste Restaurant undgingen dorthin zum Abendessen. Man setzte uns an einen Tisch, der Kellner kam. Ersah recht verstimmt aus. Beim Aufnehmen unserer Bestellung teilte er uns mit, dassihm einige Minuten zuvor ein Besucher, ohne einen einzigen Rubel bezahlt zu haben,davongelaufen sei, nachdem er für eine beträchtliche Summe gegessen und getrunkenhabe. Wir fühlten mit dem Armen ein wenig mit und versanken dann in Erwartung derbestellten Speisen und Getränke. Zehn Minuten vergingen, zwanzig, dreiÿig, vierzig . . .es dauerte unwahrscheinlich lang. Endlich ging einer von uns zu einem anderen Kellnerund fragte : �Wo ist denn der hinverschwunden, der unsere Bestellung aufgenommenhat ? � Als Antwort kam : �Er ist raus, um den Gast zu suchen, der nicht bezahlt hat . . . �

Unsere Reise gelang auf ganzer Linie. Wir waren in Mischor3, dann in Koktebel4,wir lagen in der Sonne, badeten. Das Zusammensein war sehr innig. Galia und beson-ders der gesprächige Maxim erzählten immerzu von ihrem Vater. Was ich von ihnenhörte, passte nicht so ganz zu meinen persönlichen Eindrücken. Uns gegenüber, denFreunden seines Sohnes und seiner Tochter, p�egte Dmitri Dmitriewitsch eine makelloseHö�ichkeit, dabei ging von ihm aber, wie ich schon anmerkte, immer irgendeine angst-ein�öÿende Anspannung aus. Seine Kinder dagegen sprachen von auÿergewöhnlichemSinn für Humor, von Herzlichkeit, von Einfühlungsvermögen . . . Nun und da wecktedann diese lange zurückliegende Reise in mir ein lebhaftes Interesse an SchostakowitschsPersönlichkeit. In meinem jugendlichen Alter betrachtete ich Dmitri Dmitriewitsch sogarals eine Art Wunder.

Im Laufe der Jahre, ja sogar Jahrzehnte, verschwand mein Interesse an Schostako-witsch nicht, wie auch der Eindruck nicht verschwand, dass Maxim und Galia überDmitri Dmitriewitsch etwas wüssten, was niemand sonst über ihn wusste. Schlieÿlichsetzte ich mir ein Ziel : all das aufzuschreiben, was meine Freunde über ihren Vatererzählen wollten.1 Kurzform für Jewgeni2 Peredelkino, Datschensiedlung ca. 20 km südwestlich des Zentrums von Moskau3 Kurort an der Krim-Südküste, nahe Jalta4 Kurort an der Krim-Südküste, nahe Feodossija

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So entstand dieses Buch. Die Monologe des Sohnes und der Tochter des Komponistenhabe ich ich mit Auszügen aus seinen Briefen an den Freund Isaak Glikman1 ergänzt,sowie mit Fragmenten aus ihn betre�enden Memoiren und mit Zitaten aus der grund-legenden Arbeit So�a Chentowas2.

Während der Arbeit an diesem Buch las ich ein Menge Material, das mehr oderweniger in Verbindung mit der Person des groÿen Komponisten stand, und dachte vielüber ihn und sein Schicksal nach. Wenn man mich nun fragte, ob ich irgendwann einemschlechthin genialen Menschen begegnet sei, würde ich antworten : ja, ich war bekanntmit Dmitri Dmitriewitsch Schostakowitsch, einem wahren russischen Intellektuellen.

Michail Ardow, 2003

1 Isaak Davidowitsch Glikman (1911 - 2003), russischer Literatur- und Theaterkritiker, Librettist,Professor am St. Petersburger Konservatorium, enger Freund Dmitri Schostakowitschs. Dessengesammelte Briefe an Glikman als �Story of a friendship� bei Cornell University Press, 2001

2 So�a M.Chentowa (* 1922), russische Musikwissenschaftlerin und Pianistin.¾Øîñòàêîâè÷. Æèçíü è òâîð÷åñòâî¿, 2 Bände, Leningrad 1986 (nur russisch)

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1 � Kriegsjahre

Galina � An der Einfahrt unserer Datscha steht ein kleines rotes Auto. Vater undMutter laden Ko�er ein, mein Bruder Maxim und ich schauen zu. Im Arm halte ich eineriesige Puppe � kurz zuvor bekam ich sie geschenkt und ich habe schreckliche Angst,dass die Eltern sie auf der Datscha zurücklassen würden . . .

Das ist eine meiner frühesten bewussten Erinnerungen. Der Sommer 1941, geradehat der Krieg begonnen, und wir fahren aus Komarowo1 (damals hatte der kleine Ortden �nnischen Namen Kellomäki) in die Stadt, in unsere Leningrader Wohnung.

Die nächste Erinnerung bezieht sich auf den Herbst desselben Jahres : der Flugplatz inLeningrad, während der deutschen Belagerung. Diesmal steigen wir mit unseren Sachenin ein Flugzeug ein. Es war ganz klein : auÿer den Eltern, meinem Bruder und mir be-fanden sich nur noch drei oder vier Piloten an Bord. Im Inneren gibt es keine Sitze, nureinen Bretterboden und Holzkisten. Sie sagten uns, dass man sich darauf nicht setzendürfe, und so lieÿen wir uns auf unseren Ko�ern nieder. Auf dem Dach des Flugzeugsgab es eine durchsichtige Kuppel, darunter stand einer von den Piloten, der Schütze, erschaute sich dauernd um. Er warnte uns : �Wenn ich mit der Hand winke, legt ihr euchalle auf den Boden ! �

Maxim � Auf den Flugplatz fuhren wir in einem schwarzen �Emka�2, Vaters eige-nem Auto. Er erinnerte sich, dass ich in der Nähe unseres Leningrader Hauses, in derGroÿen Puschkarskaja Straÿe, als wir uns im Auto zurechtsetzten, zum ersten Mal deut-lich den Buchstaben �r� aussprach; bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich ihn noch nichtherausbringen können. Ich wandte mich da an die Eltern mit der Frage : �Aber wird unsder Deutsche nicht auf einmal zerkrrrachen ?! � Während des Fluges schaute ich aus demFenster und sah unten Blitze. Ich fragte Mutter und Vater : �Was ist das dort ? � Undsie erklärten mir, dass da die Deutschen auf unser Flugzeug schössen.

Galina � Wir landeten bei irgendeinem Wald in der Umgebung von Moskau, einekleine Hütte stand dort. Unsere Piloten �ngen an Bäume zu fällen, und deckten ihrFlugzeug mit Zweigen zu. In der Hütte neben dem Wald übernachteten wir. Dann wohn-ten wir im Hotel �Moskwa�. Daran erinnere ich mich kaum. Dafür aber an eine Fahrtin ein Geschäft; dort kauften uns die Eltern neues Spielzeug, als Ersatz für das, was inLeningrad geblieben war.

Boris Chaikin 3 � 1941 im Oktober. Ich wohne im Hotel �Moskwa� . . . Häu-�ge Luftangri�e zwingen dazu, in den Keller unter dem für diese Zeiten riesigen Hotelzu gehen. Dort tre�en wir � Schostakowitsch mit Nina Wassiljewna und zwei kleinenKindern. Es ist feucht. Kalt. Wie lange ein Angri� dauert, ist völlig unklar. Schostako-witsch geht mit unruhigen Schritten im Keller auf und ab und wiederholt dauernd, ohne

1 Komarowo, kleiner Ort am �nnischen Meerbusen, ca. 45 km nordwestlich von Sankt Petersburg2 sowjetisches Automodell der 30er- und 40er Jahre3 Boris Emmanuilowitsch Chaikin (1904 - 1978), sowjetischer Dirigent

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sich dabei an jemanden zu wenden : �Brüder Wright, Brüder Wright, was habt ihr daangerichtet, was habt ihr da angerichtet ! �

Michail Ardow � Die Luftangri�e auf Moskau sind meine früheste bewusste Erin-nerung. Soeben war der Krieg ausgebrochen und man brachte mich von der Datscha nachMoskau, in die Ordynka. Ich weiÿ nicht mehr genau, wer mich hin brachte. Wahrschein-lich war es Mutter und noch jemand. Dafür aber erinnere ich mich ganz deutlich an dieMenschenmenge auf dem Jaroslawler Bahnhof, an die Panik, an das Heulen der Sirene.Alle drängen, alle hetzen zur Metro, in den Untergrund. Und dann � eine groÿe Mengevon Menschen, sie füllen den ganzen Bahnsteig, die Brüstungen und Treppen. Ich er-innere mich an die angespannte Stille, das unnatürliche Schweigen, von dem alle wiegefesselt sind, alle halten die Köpfe gesenkt, warten auf etwas, lauschen . . .

Galina � Aus Moskau führte der Weg unserer Familie nach Kuibyschew 1. Wir fuhrenmit dem Zug, und unterwegs gingen uns zwei Ko�er verloren.

Maxim � Mit uns zusammen wurde Aram Chatschaturjan 2 evakuiert. Viele Jahrespäter erzählte er G.M. Schneerson 3, dass in einem Waggon für 42 Personen über 100zusammengedrängt wurden und dass sie lange irgendeinen Kerl, der sich auf einem Drit-tel der Bank breitgemacht hatte, überzeugen mussten, Nina Wassiljewna Schostako-witsch und den Kindern Platz zu lassen. B. E.Chaikin erinnerte sich, dass Dmitri Dmitrie-witsch niedergeschlagen aussah. O�enbar befand sich in einem der Ko�er, die beim Um-steigen verloren gegangen waren, das Manuskript zur siebten Symphonie. Glücklicher-weise wurden die Ko�er wieder gefunden : im Durcheinander hatte man sie versehentlichin den Nachbarwaggon geladen.

Galina � Zuerst lieÿen wir uns im Schulhaus nieder, zusammen mit der Familie desKünstlers Pjotr Williams 4, aber bald gab man uns ein eigenes Zimmer.

Nikolai Sokolow 5 � Aufzeichnung eines Monologs D. Schostakowitschs :�Wissen Sie, Nikolai Alexandrowitsch, als wir in Moskau mit den Kindern in den war-men Waggon hineingeklettert waren, fühlte ich mich wie im Paradies ! Aber nach siebenTagen Fahrt fühlte ich mich bereits wie in der Hölle. Als man mich in einem Klassen-zimmer unterbrachte, noch dazu auf einem Teppich, und die Ko�er ringsherum aufstellte,fühlte ich mich erneut wie im Paradies, aber schon nach drei Tagen begann diese Umge-bung mich zu strapazieren : man konnte sich nicht ausziehen, überall war eine Masseunbekannter Menschen . . . Wieder empfand ich das wie die Hölle. Aber als man mir ein

1 1935 - 1990 Name der Industriestadt Samara an der Wolga, wichtiger Evakuierungsort im ZweitenWeltkrieg

2 Aram Iljitsch Chatschaturjan (1903�1978), sowjetisch-armenischer Komponist3 Grigori Michailowitsch Schneerson (1901 - 1982), sowjetischer Musikwissenschaftler4 Pjotr Wladimirowitsch Williams (1902 - 1947), sowjetischer Maler, Gra�ker und Theaterkünstler5 Mitglied der Künstler-Gruppe Kukryniksy : Nikolai A. Sokolow (1903 - 2000),Michail W. Kuprijanow (1903 - 1991) und Por�ri N.Krylow (1902 - 1990)

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eigenes Zimmer gab . . . ja, was war das ? Nach einiger Zeit spürte ich, dass ich jetztunbedingt einen Flügel bräuchte. Man gewährte mir einen Flügel. Alles gut wie es seinsollte, und wieder dachte ich : �Nun, das ist das Paradies ! � Aber ich bemerke allmäh-lich, dass es trotz allem unangenehm ist, in ein und demselben Zimmer zu arbeiten : dieKinder sind im Weg, machen Lärm . . . �

Galina � In Kuibyschew tauchte bei uns der zerzauste Hund Ryschik auf. Ich fandihn mit Maxim am Treppenaufgang, und � oh Freude ! � die Eltern erlaubten, dass erbei uns blieb. Er war aufgeweckt und anspruchslos � ein richtiger Hofhund.

Und noch eine wichtige Erinnerung an das Leben in Kuibyschew : der Bruder und ichwurden zum ersten Mal mit in ein Konzert genommen, das war die Premiere der siebtenSymphonie unseres Vaters. Bis dahin waren wir bei den Proben dabei, und unsere Mut-ter wusste noch, wie Maxim die Spiel�äche erklommen und zu dirigieren angefangenhatte, so dass man ihn gewaltsam hatte hinter die Bühne ziehen müssen.

Ilja Slonim 1 � Im Januar des Jahres 1942 begann das Orchester mit den Probenzur siebten Symphonie. Schostakowitsch nahm mich zu einigen Proben mit. Er selbstlieÿ keine einzige aus. Er saÿ gewöhnlich ruhig in irgendeinem dunklen Winkel undäuÿerte seine Meinung nur, nachdem das Orchester zu spielen aufgehört hatte. Auf demHeimweg lobte er das Orchester immerzu. Während der ganzen Zeit, in der die Probenliefen, schien er in gehobener Stimmung zu sein . . .

Im Konzert fühlte er sich unglücklich. Das Publikum nötigte ihn, zu Beginn desKonzerts auf die Bühne zu gehen, und er, nachdem man ihn herausgezogen hatte, ver-beugte sich ohne ein Lächeln vor der erbarmungslosen Menge der Anhänger. Und nachdem Konzert, als alle wahnsinnig waren vor Begeisterung, ging der groÿe und strengejunge Mann wieder auf die Bühne, wie auf's Schafott.

Maxim � An die Proben erinnere ich mich aus irgendeinem Grund nicht. Aber dasKonzert hat sich mir eingeprägt, die Musik der siebten Symphonie ist mir in die Seelegedrungen. Das Invasions-Thema aus dem ersten Satz, das Näherkommen von etwasUnheimlichem, Unausweichlichem . . . Für Galia und mich gab es damals eine frommeNjanja, sie hieÿ Pascha. Und ich hörte diese Musik im Traum. Von weit weg ertöntdie Trommel, wird immer lauter und lauter. Vor Schrecken wachte ich auf aus diesemAlptraum und lief zu Pascha, sie bekreuzigte mich und las ein Gebet.

Und auch an den Geschmack der Pralinen erinnere ich mich noch, mit denen Galiaund ich bei dieser Premiere bewirtet wurden. Es gab da eine Schokoladenglasur; solchePralinen sind mir seither nie mehr untergekommen.

Galina � In den katastrophalen Kriegsjahren reichten die Lebensmittel nicht, unddas ist natürlich auch der Grund, warum der Geschmack dieser Glasur sich Maxim soeingeprägt hat. Klar, wir hungerten nicht, aber für Vater war es nicht einfach, die ganzezahlreiche Verwandtschaft zu ernähren, die zu uns nach Kuibyschew angefahren kam.

1 Ilja Lwowitsch Slonim (1906 - 1973), sowjetischer Bildhauer

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Aus einem Brief D. Sch.'s an I.D.Glikman�1.März 1943 � . . . Alle Mitglieder meiner Familie sind gesund und sprechen die ganzeZeit laut über Lebensmittel. Ich �ng an, von ihren Gesprächen viele Worte zu vergessen,aber gut erinnere ich mich an folgende : Brot, Butter, ein halbes Kilo, Wodka, zweihun-dert Gramm, Ausweiskarte, Konditorwaren und viele andere . . . �

Maxim � Und noch eine Geschichte im Zusammenhang mit der Stadt Kuibyschew.Zu Sowjetzeiten gab es für privilegierte Personen sogenannte �geschlossene� Geschäfteund Kantinen. Lebensmittel und Waren hatten dort eine bessere Qualität und warenbilliger. So erzählte Vater uns da, dass er an irgendeiner Tür in diesen Tagen folgendebedeutungsvolle Bekanntmachung entdeckt habe : �Die hiesige geö�nete Kantine wirdab dem 1. Februar geschlossen. Hier wird eine geschlossene Kantine erö�net.�

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2 � Arbeit und kleine Kinder

Galina � In der Zimmertür erscheint der Bildhauer Ilja Lwowitsch Slonim. Mitstrenger Stimme sagt er : �Kinder, gebt mein Plastilin her ! � Maxim und ich werdenverlegen, schnell sammeln wir die Stückchen ein und geben sie dem Besitzer zurück.

Das war in den Tagen, als Slonim an einem Portrait von Vater arbeitete. Bevor er nacheiner o�ziellen Sitzung wegging, verstaute er seine Arbeit in einem Karton unter demväterlichen Flügel. Ein spezielles Kinderplastilin gab es damals noch nicht, da krochenMaxim und ich heimlich zu Slonims Karton und entwendeten daraus eine gewisse MengePlastilin. Wir gingen natürlich davon aus, dass der Bildhauer den Handel nicht merkte,aber wir hatten uns verrechnet. Die Sache endete zu unserer Schmach mit einer ziemlichstrengen Rüge von unseren Eltern.

Maxim � Ich erinnere mich gut daran, was wir mit diesem Plastilin anstellten. Wirnahmen vom väterlichen Tisch Bleistifte und modellierten am Ende von jedem so einePlastilinbeule, so ähnlich wie ein Würstchen oder, genauer, wie ein Hähnchenschenkel.Wir nannten das auch so : �Hähnchenschenkel�. Und dann warfen wir sie an die Wand,damit sie dort kleben blieben.

Ilja Slonim � Schostakowitsch lud mich in sein Studio ein. Die Einrichtung bestandaus seinem Flügel, einem Tisch mit Tintenfass und einem Stuhl. Er arbeitete, als ich kam.Ich �ng an mich zu entschuldigen. �Sie stören mich überhaupt nicht, keiner kann michstören, wenn ich arbeite�, sagte Schostakowitsch. Ich dachte damals, er hätte das einfachaus Hö�ichkeit gesagt, aber dann �el mir ein, wie ich Zeuge folgender Szene gewordenwar : Schostakowitsch arbeitet am Tisch, und seine Kinder (vier und sechs Jahre alt)schlagen Purzelbäume durchs ganze Zimmer (um ihnen gerecht zu werden : das warenKinder, die man nicht nur sah, sondern auch hörte). Dann folgt dieser Dialog : �Papa,Papa ! � �Na, was ? � �Papa, was machst du, Papa ? � � Ich schreibe.� Dreiÿig SekundenSchweigen. �Papa ! Und was schreibst du, Papa ? � �Musik.� Während der ganzen Zeit, inder wir uns unterhielten, saÿ er keine Sekunde ruhig, pausenlos ging er aus dem Zimmerhinaus und kam wieder zurück . . .

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3 � Iwanowo

Galina � Aus dem Fenster lehnt sich ein wütender Mensch und schreit uns Kinderan : � Ich reiÿ' euch jetzt die Ohren ab ! Ich beschwere mich bei euren Eltern ! Dass icheuch hier nicht mehr sehe ! � Das ist Sergei Sergejewitsch Prokofjew. Wir spielten häu�gunter dem Fenster seines Zimmers, machten Lärm und störten ihn beim Komponieren.

Das war im Jahr dreiundvierzig, in Iwanowo1, genauer, im �Haus des Scha�ens undder Erholung für Komponisten�, nicht weit entfernt von dieser Stadt. Es gab da das DorfGorino und dort die �Ge�ügelsowchose Nr. 69�. Darin war ebendieses �Haus des Schaf-fens� eingerichtet worden, damit angesehene Musiker keine Not zu leiden bräuchten.

Irgendwann hatte es in Gorino einen Gutshof gegeben � ein herrschaftliches Haus,einen Park, Pferde- und Viehställe. Aber in den Zeiten, von denen ich erzähle, gabes dort, auÿer Komponisten, Musikern und Musikwissenschaftlern, nur Pferde, Kühe,Schweine und eine riesige Menge von Hühnern. Auÿenherum Wald, Wiesen, Felder, dasFlüsschen Charinka.

Ab 1943 lebte unsere Familie ein ganze Zeit lang an diesem wunderschönen Ort. Beimir gibt es noch ein Album mit Fotogra�en, die meine Mutter gemacht hat : Vater undich auf einem Heuhaufen; Vater mit einem kleinen Ferkel auf den Armen; Maxim undich auf einer Blumenwiese.

Maxim � Ich weiÿ noch sehr gut, wie wir Prokofjew ärgerten. Er wohnte im stei-nernen Haupthaus, und sein Zimmerfenster war meistens sperrangelweit aufgerissen. Wirschlichen uns leise an und begannen dann zu schreien : �Sergei, Sergejitsch, tra-ta-ta !Sergei, Sergejitsch, tra-ta-ta ! � Da kamen gleich Briefbeschwerer und noch irgendwelcheanderen Sachen auf uns ge�ogen. �Die Ohren reiÿ' ich euch ab ! � � diesen Schrei Prokof-jews höre ich bis heute.

Grigori Schneerson � Für Schostakowitsch wurde der winzige Raum eines ehe-maligen Hühnerstalls hergerichtet. Man stellte ein Klavier hinein und an eine von denWänden nagelte man ein Art Tischchen. Dort wurde die achte Symphonie geschrieben.

Aram Chatschaturjan � Ich weiÿ noch, dass er an diesem Werk in einer ganzkleinen Scheune arbeitete, in die man ein Klavier hineingequetscht hatte. Aufschluss-reich ist, dass niemand vor Fertigstellung der Partitur aus seinem �Zimmer� auch nurden geringsten Laut hörte. Er schrieb sie an einem kleinen Tischchen, das an der Wandangenagelt war und fast an das Instrument anstieÿ.

Maxim � Ich habe Vater vor mir, wie er auf einem hohen Schiedsrichterstuhl sitzt.Das ist auf einem Volleyballplatz, die Bewohner des �Hauses des Scha�ens� schlagenauf einen Ball und Schostakowitsch pfeift.

1 russische Stadt, ca. 250 km nordöstlich von Moskau

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Nikolai Peiko1 � Wir junge Komponisten lebten im groÿen Haus im einzigenGemeinschaftszimmer, das von der Kantine mit Bettlaken abgetrennt war. Punkt fünf,keine Minute später, wurden die Laken auseinandergezogen, im Spalt erschien DmitriDmitriewitschs Kopf, und auf englisch sagte er : � It is time to play volleyball�. Demhinzu fügte er die Lieblingsphrase eines Sportreporters dieser Jahre, Wadim Sinjawski 2 :�Das Spiel �ndet bei jedem Wetter statt ! �

Maxim � Die in Gorino lebenden Komponisten waren in drei Kategorien eingeteilt,je nach ihrer Begabung und Stellung innerhalb der sowjetischen Musikerhierarchie. Esgab folgende Ordnung : für jeden, der vom �Haus des Scha�ens� wegfuhr, wurden Hüh-nereier ausgegeben � 50, 40 oder 30 Stück. Das hing aber eben von der Kategorie ab,die dem jeweiligen Individuum zuerkannt war. Schostakowitsch, der natürlich zur erstenRangstufe gehörte, geriet im Verwirrung, wenn zugleich mit ihm irgendein drittrangigerKollege seine Ration erhielt.

Noch so ein Detail. Um ins Dorf Gorino zu gelangen, musste man aus dem Zug aneiner Station mit Namen �Iwanowo-Rangierbahnhof� aussteigen. Na, und da machtedoch S. S. Prokofjew auf allen Briefen, die er von dort abschickte, � ich weiÿ es � dieNotiz �Iwanowo-Klo�3.

1 Nikolai Iwanowitsch Peiko (1916 - 1995), russischer Komponist, Dirigent und Pädagoge2 Wadim S. Sinjawski (1906 - 1972), sowjetischer Journalist, Gründer einer Sportjournalistenschule3 im Russischen Wortspiel mit �sortirowotschnaja� (Rangierbahnhof) und �sortir� (Klo, Toilette)

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4 � Winter in Iwanowo

Galina � Wir, einige Mädchen, treten in die Mitte des Zimmers und sprechengleichzeitig : �E ! . . . � Als Scharade-Spieler 1 sollen wir den Namen �Erasmus von Rot-terdam� darstellen. Der erste Teil ist klar : wir sprechen �E� für Erasmus aus. Aberbeim zweiten Teil : jemand sagt �Rot tjor dam�2. Dieser jemand war der junge MstislawRostropowitsch, und die Dame, deren Mund er abwischte, war ich . . .

Das ereignete sich in den Schulferien im Winter in eben dieser �Ge�ügelsowchoseNr. 69�, also in diesem �Haus des Scha�ens und der Erholung für Komponisten�. Dortmachte unsere Familie auch mit der künftigen Berühmtheit Bekanntschaft. Rostropo-witsch sollte uns ein überaus nahestehender Mensch werden, und dann auch unser Nach-bar in der Datscha in Schukowka.

In diesem Winter fuhren meiner Erinnerung nach Maxim und ich Ski auf einemkleinen Hügel, und das ging unter Rostropowitschs Aufsicht vor sich : den Auftrag dazuhatte er von unseren Eltern.

1 Scharade : Silbenrätsel mit pantomimischer Darstellung2 im Russischen Wortspiel mit �rot-tjor-damski� (etwa : wischte der Dame den Mund ab)

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5 � Erste Wohnung in Moskau

Galina � Maxim und ich stehen im Zimmer bei Vater und er sagt : �Kirow-Straÿe,Haus 21, Wohnung 48. Telefon K-5-98-72. Habt ihr verstanden ? Wiederhole ! Und duauch, wiederhole ! �

Man brachte uns gerade in die Wohnung, die Vater in Moskau bekommen hatte. Under verlangte, dass wir die neue Adresse und Telefonnummer aus dem E�e� beherrschten.Wir könnten uns plötzlich verlieren, und dann würden wir ohne das nicht auskommen.

An unsere erste Moskauer Wohnung erinnere ich mich gut � das Haus war alt, mithohen Zimmerdecken, es stand auf einem Hof, direkt gegenüber vom Hauptpostamt.

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6 � Gymnastik

Maxim � Aus dem Radioapparat dringt eine muntere Stimme : �Aufrecht stehen, dieFüÿe in Schulterbreite ! Erste Übung . . . � Früher Morgen, vor den Fenstern winterlicheDunkelheit, aber wir � Papa, Galia und ich � machen Beugungen und schwingen dieArme unter der Begleitung eines unsichtbaren Flügels.

Da Vater um unsere Gesundheit überaus besorgt war, trieb er uns in alle Frühe ausdem Bett und hielt uns zum Gymnastik Machen an. Daran erinnere ich mich sehr gut.Nicht einmal den Namen des Menschen, der im Radio die Sendung mit der Morgengym-nastik moderierte, habe ich vergessen : �Durch die Übungsstunde führte HochschullehrerGordejew.�

Galina � Noch bis zum Krieg behandelte uns in Leningrad der bekannte KinderarztAlexander Fjodorowitsch Tur 1. Und wenn er nach Moskau fuhr, kam er immer gleich beiuns zu Hause vorbei und untersuchte sowohl mich als auch Maxim auf's aufmerksamste.Unsere Eltern bemühten sich, alle Empfehlungen, die der Arzt gab, strikt zu befolgen.Auf Alexander Fjodorowitschs Rat hin wurden für uns Fahrräder gekauft.

Boris Chaikin � Einmal erzählte Dmitri Dmitriewitsch : �Wissen Sie, L. T.Atow-mjan 2 hat mir eine sehr nützliche Morgengymnastik empfohlen : eine Schachtel Streich-hölzer ausschütten, und dann sich nach jedem einzelnen Streichholz zu bücken, bis allewieder aufgesammelt sind. Probieren Sie's, es ist sehr schwierig, mir ist es nicht gelun-gen.� �Warum nicht ? � �Verstehen Sie, am ersten Tag hab ich alles so gemacht, wieAtowmjan mir gesagt hatte. Am zweiten Tag stellte sich heraus, dass mir sehr wenigZeit blieb, und ich mich hinhocken musste, um alle Streichhölzer gleichzeitig aufzusam-meln. Aber am dritten Tag gelang es mir lediglich, die Streichhölzer auszuschütten, alsman mir schon am Telefon mitteilte, dass ich in einer dringenden Angelegenheit weg-fahren müsse. Ich zog mich schnell an und sagte im Hinausgehen zur Njanja : �Ich habeda Streichhölzer ausgeschüttet, bitte, heben Sie sie auf�.�

1 Alexander Fjodorowitsch Tur (1894 - 1974), sowjetischer Kinderarzt, Mitglied der Akademie derWissenschaften der UdSSR

2 Lewon Tadewosowitsch Atowmjan (1901 - 1973), sowjetischer Komponist

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7 � Orchesterproben

Maxim � Das Orchester hörte auf zu spielen, und der Dirigent wandte sich zu unsum. �Sehr schön, sehr schön�, sagt Vater in seiner gewohnten Schnellspreche. Und dieProbe der achten Symphonie wird fortgesetzt.

Das ereignet sich in Leningrad im Frühling des Jahres 1946. Ich war noch klein, aberVater nahm mich zu einer von den Proben mit, und daran erinnerte ich mich mein ganzesLeben lang. Am Pult steht Jewgeni Alexandrowitsch Mrawinski 1, und ich betrachteteihn voller Begeisterung dafür, wie er mit dem Orchester probte. Und da nun, genau da,traf ich die klare Entscheidung : wenn ich groÿ bin, werde ich Dirigent !

Ich war häu�g bei Proben dabei, zu denen man meinen Vater einlud. Er machtesehr wenige Anmerkungen. Normalerweise waren das nur vier Worte : �lauter�, �leiser�,�langsamer�, �schneller� . . . Manchmal konnte er auch etwas mehr sagen, aber dann nurzu den Musikern, denen er vertraute, an deren Können und Begabung er keinen Zweifelhegte. Wenn ein Ausführender ihm nicht so lag, wurde er ihn mit den Worten los : �Gehnwir weiter, gehn wir weiter . . . �

Alexander Gauk 2 � Bei den Proben saÿ Dmitri Dmitriewitsch immer ruhig imSaal (natürlich war das nur eine äuÿerliche Ruhe). Er gestattete sich keinerlei Ausrufeoder Aufgeregtheiten, da er nur zu gut verstand, dass Proben dem Einstudieren einesneuen Werkes dienten und in keinem Fall eine Vorführung waren. All seine Anmerkun-gen machte er immer in einer Pause und in höchst rücksichtsvollem Tonfall. Nur wenner einen Schreibfehler in den Noten entdeckte, erlaubte er sich, ans Pult heranzutreten,und wies dann, nachdem er geduldig die nächste Unterbrechung abgewartet hatte, ganzleise auf den Fehler hin. Immer war er höchst unaufdringlich. Viel könnten von dieserseiner Haltung andere Komponisten lernen, die die Forderung erheben, Orchester undDirigent hätten gleich sofort in der ersten Probe das Werk konzertreif auszuführen.

Klawdi Ptiza 3 � In Erinnerung bleibt, wie begeistert Alexander WassiljewitschGauk von Schostakowitschs erstaunlichem musikalischen Gehör erzählte. Bei der Probezu einer von Schostakowitschs Symphonien im groÿen Saal des Konservatoriums, alsgerade das erste Allegro gespielt wurde, blickte sich Alexander Wassiljewitsch, der amPult stand, um und sah, dass der Komponist, schmerzlich das Gesicht verziehend, zuihm eilte : �Alexander Wassiljewitsch�, sagte Dmitri Dmitriewitsch, �der zweite Geigeram dritten Pult der ersten Violinen hat �s statt f gespielt.� So war es dann auch.

Maxim � Im September des Jahres 1962 waren wir mit Vater in Edinburgh aufeinem Festival. An eine von den Proben erinnere ich mich : ein polnisches Orchester

1 Jewgeni Alexandrowitsch Mrawinski (1903 - 1988), russischer Dirigent, setzte sich in besonderemMaÿ für das Werk Schostakowitschs ein

2 Alexander Wassiljewitsch Gauk (auch Gauck � 1893 - 1963), ukrainischer Dirigent und Komponist,viele Urau�ührungen von Werken Schostakowitschs, Prokofjews, Chatschaturjans u. a.

3 Klawdi Borisowitsch Ptiza (1911 - 1983), sowjet-russischer Chorleiter und Pädagoge

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spielte die achte Symphonie. Dort gibt es ein Trompetensolo, ein ziemlich langes. DerMusiker spielte das überaus frivol, ganz und gar nicht in dem Charakter, den der Autorsich gewünscht hätte. Schostakowitsch saÿ in der ersten Reihe und verzog das Gesicht.Dem Dirigenten dagegen ge�el das sehr, er wendete sich zu meinem Vater um und fragteselbstgefällig : �Gut, nicht ? � Da rief ihm Schostakowitsch zur Antwort zu, auch aufpolnisch : �Keine Spur von gut ! �

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8 � Verkehrserziehung

Galina � Im Komarowo der Nachkriegszeit, das heiÿt, damals noch in Kellomäki,gab es breite, schnurgerade Straÿen, die die Finnen gebaut hatten, aber auÿerdem nocheine groÿe Menge ganz enger Pfade, die sich unter den Bäumen dahinschlängelten. AufFahrradaus�ügen impfte uns Vater Verkehrskultur ein. Zum Beispiel lehrte er uns, beijeder Biegung mit der Hand in die Richtung zu zeigen, in die man abbiegen wollte,auch wenn uns das auf den menschenleeren, gewundenen kleinen Waldwegen als eineübertriebene Vorsichtsmaÿnahme erschien.

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9 � Deutsche Kriegsgefangene

Maxim � Neben unserer Datscha sitzt auf einer Bank ein Mensch in einer abge-tragenen, ausgewaschenen Kriegsuniform. Er sieht bedauernswert aus, blickt sich umund beiÿt gierig in eine Scheibe Brot, die er mit beiden Händen hält. Ich schaue ihnan mit Neugier und heimlicher Furcht, immerhin ist er ein Faschist, ein Deutscher, eingefangener Soldat der deutschen Armee.

Das ist eine meiner ersten Erinnerungen an Komarowo, das übrigens damals, imJahr 1946, noch den �nnischen Namen Kellomäki trug. Die Küstenstraÿe war gerade imBau und für diese Arbeiten setzte man gefangene Deutsche ein. Einer von ihnen kammanchmal zu unserer Datscha und bat schrecklich schüchtern um Almosen.

Und da trat einmal, als ich ihn wieder anschaute, wie er auf unserer Bank saÿ, Vaterzu mir heran. Er sah mir auf den Kopf und begann mit leiser Stimme zu reden : �KeineAngst, du brauchst vor ihm keine Angst zu haben . . . Er ist ein Opfer des Krieges. DerKrieg macht Millionen von Menschen unglücklich. Er kann ja doch nichts dafür, dassman ihn in die Armee gesteckt und dazu gezwungen hat, an der russischen Front zukämpfen, im Gemetzel. Er hat noch Glück gehabt, er ist am Leben geblieben. Dort inDeutschland wartet seine Frau. Und wahrscheinlich haben sie Kinder, solche wie du undGalia . . . �

Unser Vater hasste jede Art von Gewalt, um so mehr den Krieg. In meinem Bei-sein erzählte er einige Male einen alten, vorrevolutionären Witz. Ein Jude aus einemStädtchen wurde in die Armee gesteckt und an die Front geschickt. Sobald nun die ers-ten Schüsse des Gegners krachten, sprang dieser Mensch aus dem Schützengraben undschrie zur Seite der schieÿenden Deutschen hin : �Was macht ihr da ? Hier sind dochlebendige Menschen ! �

Schostakowitsch erzählte diesen Witz ohne Lächeln oder gar Lachen, vielmehr miteinem tragischen Gesichtsausdruck.

Michail Ardow � Ich verstehe Maxim sehr gut. Hier eine von meinen klarsten Erin-nerungen im Zusammenhang mit der Zeit des Kriegsendes. Mein kleiner Bruder Borisund ich stehen vor einem hohen dreigeschossigen Haus mit Portikus und Säulen. Aberdas Gebäude ist nicht verputzt, überall wird gebaut. Das ist die Siedlung Bakowka 1, inder Nähe von Moskau, hier wird eine Villa für die Sängerin Lidia Ruslanowa 2 und ihrenMann, General W.W.Krjukow 3, errichtet.

Borja und ich schauen auf zwei Arbeiter, die Paletten mit Ziegeln tragen. Sie sehenfriedlich und unterwür�g aus, ihre Kleidung ist schäbig . . . Aber wir schauen sie mitSchrecken an : immerhin sind das Deutsche, Faschisten !

1 westlicher Vorort Moskaus, ca. 20 km vom Zentrum entfernt2 Lidia Andrejewna Ruslanowa (1900 - 1973), populäre Sängerin von Volksliedern in der UdSSR3 Wladimir Wiktorowitsch Krjukow (1897 - 1959), sowjetischer Feldherr

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10 � Komarowo nach dem Krieg

Galina � Im Jahr 1946 wurde der Mietvertrag für die Datscha in Komarowo erneuert,und seit dieser Zeit wohnten wir jeden Sommer an der karelischen Landenge. Es wardasselbe geräumige Haus am Groÿen Prospekt, das unsere Familie noch vor dem Krieggenutzt hatte. Es steht auch heute noch. In diesen Jahren war die Siedlung allerdingsbei weitem gemütlicher als jetzt.

Aus einem Brief D. Sch.'s an L.Arnstam 1

�Ich lebe wunderbar. Ich genieÿe die Natur. Es ist gut hier, auch wenn es regnet. Ziem-lich oft bin ich in der Stadt. Mir stellt sich das Problem, wie ich leicht zu einem Verdienstkommen kann, weil meine Mittel für den Lebensunterhalt versiegt sind. Daran gewöhnt,auf groÿem Fuÿ zu leben, erfahre ich die unleugbare Unbequemlichkeit, auf kleinen Fuÿüberwechseln zu müssen. Es drückt im Schritt, wie die Nadelarbeiter sagen . . . �

Boris Chaikin � Das Jahr 1946. Wir trafen uns auf der Datscha, an der Kareli-schen Landenge. Am Abend sollte ich die Gäste nach Hause fahren. Auf der KarelischenLandenge waren die Straÿen noch nicht wieder in Stand gesetzt worden. Steil abfal-lende Passagen wechselten sich mit ebenso steil aufsteigenden ab. Mein Auto war alt,ein Vorkriegsmodell, wenig wendig. Neben mir saÿ Galina Sergejewna Ulanowa2, hintenD.D. Schostakowitsch und A.B.Marienhof 3. Bei einer besonders steil abfallenden Bo-denwelle beugte sich Marienhof zu mir vor und �üsterte : �Spüren Sie eigentlich, wen Sieda fahren ? Verstehen Sie, dass Sie jetzt zwei Biogra�en beenden können ? � (Wir warenzu viert. Und Marienhof sprach nur von zwei Biogra�en ! Das bedeutete, meine und seinehatte er völlig zu Recht ausgeklammert.)

1 Leo Oskarowitsch Arnstam (1905 - 1979), sowjetischer Filmregisseur und Autor2 Galina Sergejewna Ulanowa (1909 - 1998), Ballerina, wichtige Volkskünstlerin der UdSSR3 Anatoli Borissowitsch Marienhof (1897 - 1962), russischer Schriftsteller kurländischer Abstammung

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11 � Kinderstreiche

Galina � Ich habe mich im Gebüsch versteckt, aber Maxim liegt auf der Straÿe,neben seinem auf die Erde geschleuderten Fahrrad . . . Bis heute ist mir das peinlich,obwohl seit damals mehr als fünfzig Jahre vergangen sind.

Passiert ist das in Komarowo, in der Nähe unserer Datscha. Die Eltern besuchtenirgendjemanden, und mein Bruder und ich waren uns selbst überlassen. Wir waren nochklein und dumm, und da kam es Maxim plötzlich in den Sinn, Mama und Papa einenStreich zu spielen. Er wollte so tun, als sei er beim Fahrradfahren von einem Autoangefahren worden. Als wir von ferne die Eltern zurückkommen sahen, legte sich derBruder auf die Straÿe und nahm eine höchst unnatürliche Haltung ein.

Die Reaktion von Vater und Mutter kann man sich leicht vorstellen. Sie lachten ganzund gar nicht über unseren Witz, beide wurden wir streng gemaÿregelt.

Sonst erinnere ich mich an keinerlei besondere Strafen. Wenn mein Bruder und ichuns etwas hatten zu Schulden kommen lassen, schaute Mama uns vorwurfsvoll an, Vateraber wurde nervös und rauchte. In gewissem Sinn wirkte das stärker als Geschrei undMoralpredigten.

Maxim � Wenn ich irgendetwas ausgefressen hatte, geriet Vater schrecklich in Ver-wirrung. Wenn sich aber etwas derartiges wiederholt hatte, benutzte er eine Wendung,die mir sehr Angst machte : �Komm bitte zu mir ins Zimmer, ich muss ein ernstes Wortmit dir reden.� Ich ging hin. Er sagte mir dann : �Du hast mir einige Male versprochen,so etwas nicht zu tun, aber jetzt doch wieder . . . � An dem Punkt holte er ein sauberesBlatt Papier her und sagte : �Schreib auf : ich werde nie mehr das und das tun . . . so . . .jetzt unterschreibe . . . setze das heutige Datum dazu.�

Daraufhin wurde dieses Blatt in den Schreibtisch gepackt. Sollte ich nun dieses Verge-hen ein weiteres Mal begangen haben, so rief er mich wieder in sein Zimmer, holte meinenSchein her und sagte : �Hier ist deine Unterschrift, du hast wieder dein Versprechen ge-brochen . . . � Das allerdings war dann eine unbeschreibliche Schande . . .

Vater konnte meine schulischen und häuslichen Angewohnheiten nicht ertragen. MeineFreunde und ich tauschten damals untereinander dauernd irgendetwas � Taschenmesser,Schleudern und derartiges mehr. Und ich erinnere mich, die folgende schriftliche Er-klärung abgegeben zu haben : �Keine Sachen mit nach Hause zu bringen, die anderenPersonen gehören.�

Noch sowas. Ich suche zu Hause Unterstützung : �Papa, für nur 30 Rubel gibt's einLuftgewehr zu kaufen ! � Er sagt : �Aber ich brauche nicht einmal für zwei Kopeken eins ! �Er stellte sich realistisch vor, was bei uns zu Hause los sein würde, wenn ich an�nge, miteinem Luftgewehr herumzuschieÿen.

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12 � Umstände des Komponierens

Galina � Vater taucht in der Tür auf : �Wer hat meinen roten Bleistift genommen ? �Oder : �Wo ist mein Lineal ? � Maxim und ich schauen uns betro�en um, und beginnendas Verlorene zu suchen.

Ähnliche Szenen wiederholten sich sowohl in Moskau wie auf der Datscha.Bekanntlich schrieb Schostakowitsch seine Musik nicht am Flügel � er saÿ zum Noten-

schreiben am Tisch. Dabei musste es nicht einmal besonderes still sein : der Hund konntebellen, oder ein Auto vorbeifahren. Das einzige, was ihn aufbrachte, war eine Unter-brechung der Ordnung. Auf seinem Schreibtisch lagen Bleistifte, Füllfederhalter, einLineal. Aber Maxim und ich schleppten ihm ab und zu diese Sachen weg.

Maxim � Schostakowitsch komponierte nicht im eigentlichen Wortsinn seine Musik.Vielmehr hörte er sie mit einer Art innerem Ohr und hielt sie auf dem Papier fest.

Herbert Rappoport 1 � Am Abend ging ich zu ihm ins �Europäische� Hotel.Gäste waren da. Schostakowitsch schrieb irgendetwas am Tisch, nahm an den Witzeleienteil. Alle waren froh, ich aber traurig, weil mir die Ho�nung, Musik für den Film zubekommen, dahinschwand. Schostakowitsch schrieb immer weiter und unterhielt sichdabei. Ich stand auf, um wieder zu gehen. �Wo wollen Sie denn hin ? � fragte Schostako-witsch und reichte mir die eben geschriebenen Notenblätter � neue Teile für �Tschere-muschki�. So wurde ich Zeuge, wie ein Genie Musik auf wundersame Weise zur Weltbrachte. Das waren die besten Teile.

1 Herbert Rappoport (1908 - 1938), österreichisch-sowjetischer Regisseur, u. a. Film-Operette�Moskau-Tscheremuschki� (1963) mit Musik von Schostakowitsch

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13 � Komponierende Kinder

Maxim � Als ich klein war, beobachtete ich oft, wie Vater komponierte. Er sitzt undschreibt. Ich nahm mir Notenpapier von ihm und begann, ihn nachahmend, Punkte mitFähnchen zu malen. Dann ging ich zu Vater hin und sagte : �Und jetzt spiel das, wasich geschrieben habe.� Widerspruchslos setzte Vater sich an den Flügel und versuchtedas Abrakadabra zu realisieren, das meiner Kinderfeder entsprungen war. Mir ge�eldiese Musik nicht, denn er spielte genau eben das, was da stand. Da erklärte mir Vater :�Um richtige, gute Musik zu komponieren, muss man lang und zäh studieren.� Auf meineFrage : �Und wie studieren ? � sagte er in unverändertem Tonfall : �Für den Anfang kannstdu Variationen schreiben.�

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14 � Stücke für Kinder

Galina � Ein heller Frühlingstag. In Vaters Zimmer ist das Klappfenster geö�net,und ich höre die Stimmen der Kinder, die auf dem Hof herumtollen. Ich aber sitze amFlügel, spiele eine ausgelassene Polka, und über mein Gesicht laufen bittere Tränen.

In diesem Augenblick kam Vater ins Zimmer. Meine Tränen in Verbindung mit dersorglosen Melodie machten Eindruck auf ihn, und seit eben diesem Tag hörten meinequalvollen Musikstunden auf. Nur den Bruder Maxim traf dieses Los.

Zweifel an meiner Eignung für eine musikalische Karriere kamen Vater schon etwasfrüher. Gleich als wir den ersten Klavierunterricht bekamen, �ng er mit dem Kom-ponieren von Stücken für Kinder an.

Das erste war einfach, das zweite etwas schwerer. Vater wollte sie herausgeben, dazuaber musste das Opus von einer speziellen Kommission innerhalb des Komponistenver-bandes angenommen werden. Da beschloss er, dass ich sie dort spielen sollte.

Das erste Stück spielte ich ohne Noten, beim zweiten aber kam ich raus. Ich �ngnochmal an und kam wieder raus.

Hier hielt Vater es nicht mehr aus und erklärte : �Sie hat alles vergessen . . . ich werdees selber zu Ende spielen.� Und er nahm meinen Platz am Flügel ein. Bis heute kannich diese Blamage nicht vergessen.

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14 � Zwei Flügel

Maxim � Im breiten Treppenhaus schwingt ein riesiger Konzert�ügel hin und her.Es sieht so aus, als würde er gleich herabstürzen und gegen die Brüstung geschlagenwerden. Schostakowitsch schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und verlässt denHauseingang, geht auf die Straÿe hinaus.

So gestaltete sich unser Umzug von der Kirowstraÿe in die Moschaiskoje-Chaussee.Im Jahr 1947 erlieÿ die Regierung eine Anordnung, auf Grund derer man Schostako-witsch eine Wohnung im neuen Haus an der Moschaiskoje-Chaussee und eine Datscha imnahe Moskau gelegenen Bolschewo zur Verfügung stellte. Es handelte sich gar nicht umeine Einzelwohnung, sondern eigentlich um zwei, aus denen man durch Einreiÿen einerWand eine gemacht hatte. Nun, und da wurden dann schlieÿlich die Möbel nach Moskaugescha�t, die in der Leningrader Wohnung gestanden hatten, darunter ein Konzert- undein Kammermusik�ügel. Sie in den dritten Stock zu schleppen, kostete groÿe Mühe, unddie Arbeiter mussten Seile und Winden zu Hilfe nehmen . . .

Bei der Gelegenheit ist zu erwähnen, dass Vaters Konzert�ügel ans Newa-Ufer zurück-gekehrt ist. Auf meine Bitte hin wurde er restauriert und steht jetzt in meiner Peters-burger Wohnung.

Michail Ardow � Im Zusammenhang mit den beiden Flügeln Schostakowitschshabe ich auch eine tragikomische Geschichte. Diesen Morgen werde ich nie vergessen.

Ich schlug die Augen auf und sah vor mir zwei schwarze Flügel. Besonders der Um-stand, dass es zwei waren, versetzte mich in beunruhigendes Erstaunen. Die Sache er-klärte sich aber ganz einfach. Wie es gelegentlich vorkam, war ich bei Maxim über Nachtgeblieben, und hatte mich auf's Sofa im Zimmer des Vaters gelegt. Dmitri Dmitriewitschwar auf der Datscha. Beim Aufwachen erinnerte ich mich nicht sofort wieder an dieGeschehnisse des vorausgegangenen Abends, und schaute lange auf diese zwei Flügel imBemühen, zu verstehen, ob sie Traum oder Wirklichkeit seien.

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16 � Fuÿball

Galina � Ich sitze neben Vater auf einer Bank und langweile mich entsetzlich, imKopf habe ich nur einen Gedanken : �Wann hört das endlich auf ? � Aber mein Erzeugerist aufgeregt, hingerissen, leidenschaftlich . . .

Diese Erinnerung bezieht sich auf den weit zurückliegenden Tag, an dem Vater michzu einem Fuÿballspiel mitnahm. Für mich war das dort vollkommen uninteressant, ichverstand nichts von diesem Spiel, ja, und ich wollte auch gar nichts davon verstehen.

Aber plötzlich ereignete sich auf dem Spielfeld etwas, was mich amüsierte und zumLachen brachte � infolge eines ziemlich starken Schusses ging der Torbalken kaputt.Auf dem Spielfeld herrschte Verwirrung, auf den Tribünen unglaubliche Aufregung undSchreie. Das ist der Grund, warum ich mich noch immer an meinen einzigen Besuch ineinem Stadion erinnere.

Vater war sein ganzes Leben lang ein glühender Fuÿballfan. Nicht nur wusste er ausmehreren Generationen die Namen von Spielern, sondern er führte auch irgendwelcheAufzeichnungen, stellte einen Statistik von Spielen zusammen. Und ich bin mir sicher,wenn er noch lebte, würde es ihm keine besondere Mühe bereiten, die Frage zu beant-worten : in welchem Jahr, an welchem Tag und natürlich in welchem Stadion hat dasSpiel stattgefunden, an das ich mich erinnere.

Sofia Chentowa � Als Fuÿballbegeisterter träumte Schostakowitsch davon, eineHymne für diese Sportart zu schreiben, aber als der �Fuÿballmarsch� von Blanter 1

herauskam, erklärte er stolz : �Hier haben wir das, was unser Motja komponiert hat ! �Wegen des Fuÿballs kam es manchmal zu lustigen Sachen.

Der Fuÿball brachte ihn mit Konstantin Jessenin2 zusammen, einem Stiefsohn Meyer-holds 3, der sich an Schostakowitsch seit der Zeit erinnert, als der Komponist die Musikzum Schauspiel �Klop�4 schrieb.

Aufmerksam geworden auf einen aktuellen Artikel Konstantin Jessenins, der dieFuÿballstatistik in poetische Höhen trieb, setzte Schostakowitsch ihm in einem Briefseine faktischen Verbesserungsvorschläge auseinander. Die Handschrift war wie gewöhn-lich wenig leserlich, die Unterschrift unklar, und Jessenin rief ärgerlich die im Briefangegebene Telefonnummer an : �Gibt's bei euch einen Alten, der sich für Fuÿball in-teressiert ? � �Gibt es�, antwortete eine Frauenstimme. � Ich werde ihn gleich herrufen.�Jessenin begann eine hitzige Kontroverse mit dem pedantischen Alten. Am Ende desGesprächs fragte er : �Und wie ist Ihr Name ? � Als er dann ein schüchternes �Schostako-witsch� hörte, erstarrte er.

1 Matwei Isaakowitsch Blanter (1903 - 1990), sowjetischer Komponist, bekannt u. a. für das Lied�Katjuscha�, der �Fuÿballmarsch� erschien 1938

2 Konstantin Sergejewitsch Jessenin (1920 - 1986), sowjetischer Sportjournalist3 Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold (1874 - 1940), russischer Regisseur und Schauspieler, giltaufgrund der Entwicklung einer radikal neuen Bühnenkunst als einer der bedeutendstenTheaterregisseure des 20. Jahrhunderts

4 deutsch �die Wanze�, satirische Komödie von Wladimir Majakowski zur �NEP� (�NeueÖkonomische Politik� Lenins und Trotzkis) aus den Jahren 1928/29

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Michail Ardow � Matwei Isaakowitsch (Motja) Blanter war ein enger Freundmeines Vaters, und mir sind die Umstände bekannt, unter denen sein berühmter �Fuÿball-marsch�, der Schostakowitsch so begeisterte, das Licht der Welt erblickte.

Blanter dachte sich die Melodie aus, spielte sie, hatte aber keine Lust mehr, sieaufzuschreiben � das verschob er auf den nächsten Tag. Anderntags setzte er sich an denFlügel, konnte sich aber auf keine Weise an das erinnern, was er tags zuvor komponierthatte. Da beschloss er, sich hilfesuchend an seinen Sohn zu wenden, der zu Hause gewesenwar, als die Melodie erklang.

�Wolodja�, sagte Blanter zu ihm, �du erinnerst dich, ich habe gestern einen neuenMarsch gespielt . . . � � Ich erinnere mich�, gab der Sohn zurück. �Kannst du mir dieMelodie nicht wieder ins Gedächtnis zurückrufen ? � �Kann ich�, sagte der, �Gib mirhundert Rubel.� �Ja, schämst du dich nicht ?! �, empörte sich sein Erzeuger. �Was hastdu, kannst du nicht uneigennützig deinem leiblichen Vater helfen ? � �Gib mir hundertRubel und ich helfe dir . . . �

Blanter zuckte mit den Schultern und wollte sich selber an seine Komposition er-innern. Aber so sehr er sich auch plagte, die ver�uchte Melodie �el ihm nicht mehr ein.Da spuckte er aus, holte einen Hunderter und ging wieder ins Zimmer seines Sohnes. Dernahm den Schein und sang den Marsch vor, den dann alle Fuÿballfans so gut kannten . . .

Aber auch das konnte mein Vater bezeugen : erklang diese Musik, so freute dasBlanter selbst ganz und gar nicht. Einem damaligen Gesetz zufolge gab es nämlich fürWerke, die im Radio gesendet wurden, keine Autorenhonorare. Und das ärgerte Blanter� da hört man den Marsch fast jeden Tag, aber Gewinn bringt er keinen.

Maxim � Vater war nicht nur ein groÿer Fuÿballexperte, er war auch diplomierterSchiedsrichter für Fuÿball. Dieser Titel war ihm schon vor dem Krieg in Leningrad ver-liehen worden. Er wusste die Regeln der verschiedensten Spiele auswendig und liebte es,Wettkämpfe zu pfeifen. Ich erwähnte bereits, dass in Iwanowo � im �Haus des Scha�ens�� natürlich er der ständige Schiedsrichter bei den Volleyballwettkämpfen war.

Galina � In den fünfziger Jahren erholte sich Vater in einem regierungseigenenSanatorium auf der Krim, und dort hatte er das Schiedsrichteramt bei Tenniswett-kämpfen zu übernehmen. Zu denen, die täglich auf dem Platz auftraten, gehörte auch derArmeegeneral Iwan Alexandrowitsch Serow 1, der damals das Amt des Vorsitzenden desKGB innehatte. So, und da, wenn der Obertschekist irgendeinen Fehler gemacht hatte,dann aber reklamierte, zügelte Schostakowitsch ihn unabänderlich mit dem Satz : �Mitdem Schiedsrichter streitet man nicht ! � Vater räumte ein, es habe ihm wahre Wonnebereitet, diesen Satz dem KGB-Vorsitzenden ins Gesicht zu sagen.

1 Iwan Alexandrowitsch Serow, (1905 - 1990), General des KGB, Gefolgsmann Chruschtschows,beteiligt an der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes 1956

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17 � Michail Soschtschenko

Maxim � Mit einem weiÿen Tuch und groÿer Eleganz ist der Tisch gedeckt. Bei Groÿ-mutter � Vaters Mutter So�a Wassiljewna � gibt es ein Gala-Essen. Zu den Geladenengehören unsere Eltern, die Schwester und ich, und der Hauptgast � Michail Michailo-witsch Soschtschenko.1

In Erinnerung geblieben ist mir, dass ich während dieses Essens mit besonderer Neu-gierde auf ihn schaute. Vater hatte oft über ihn gesprochen, seine Erzählungen zitiert.Dabei �el mir ein, dass Soschtschenko so lustig schrieb, selbst aber nie lachte.

Michail Michailowitsch war mit der Groÿmutter So�aWassiljewna befreundet, schätz-te Schostakowitsch hoch und verehrte ihn. Unser Vater erwiderte ihm seine Liebe, einebesondere Seelenverwandtschaft allerdings stellte sich zwischen ihnen nicht ein, dafürwaren ihre Charaktere zu verschieden.

Noch ein Gedanke dazu. Soschtschenko stand der Welt der Musik ziemlich fern, undaus dem Grund konnte er das kompositorische Talent Schostakowitschs nicht in vollemMaÿe würdigen. Im Gegensatz dazu kannte unser Vater die russische Literatur ausge-zeichnet, er liebte Gogol, Dostojewski, Leskow, Saltykow-Schtschedrin, Tschechow, undnatürlich verstand er die ganze Gröÿe Soschtschenkos.

Michail Soschtschenko in einem Brief an Marietta Schaginjan 2 vom4. August 1941 � �D.Dm. habe ich sehr gern. Er hat Ihnen ganz richtig gesagt, meineBeziehungen zu ihm sind gut. Ich kenne ihn seit langem, wahrscheinlich 15 oder 16Jahre. Wobei ich diese Freundschaft nicht suchte, da ich ihre Unmöglichkeit erkannthatte. Jedes Mal, wenn wir zu zweit waren, hatten wir es ziemlich schwer miteinander.Unsere Ströme vereinten sich nicht. Sie strebten auseinander. Beide wurden wir äuÿerstnervös (im Inneren natürlich). Und trotz häu�ger Begegnungen gelang uns nie ein wirk-lich herzliches Gespräch.�

Michail Ardow � Die gegenseitige Sympathie und Wertschätzung, die Schostako-witsch und Soschtschenko füreinander empfanden, ist bezeichnend : im Schicksal diesergenialisch begabten Menschen gab es viel Gemeinsames. Jeder von beiden war der Ersteauf seinem Gebiet � Dmitri Dmitriewitsch zweifelsohne der beste unter seinen kom-ponierenden Zeitgenossen, und Michail Michailowitsch der talentierteste Schriftsteller.Beide hatten sich groÿen und weitreichenden Ruhm zu Lebzeiten erworben. Beide warensie am Rand des Untergangs gestanden, jeder hatte zweimal Entehrung erlitten durchein gnadenloses Regime : Schostakowitsch 1936 und 1948, Soschtschenko 1946 und 1954.

Aber auch einen gewaltigen Unterschied gab es zwischen ihnen. Schostakowitschdurchschaute die verbrecherische bolschewistische Macht und schätzte sie realistisch ein,wohingegen Soschtschenko, wie viele Intellektuelle seiner Generation, an eine blutrote

1 Michail Michailowitsch Soschtschenko (1894 - 1958), Schriftsteller, anerkannter Klassiker derrussischen Literatur

2 Marietta Sergejewna Schaginjan (1888 - 1982), Schriftstellerin armenischer Abstammung,Textilweberin, Dozentin für Ästhetik

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kommunistische Utopie glaubte, oder besser, sich zum Glauben an eine solche zwang.Mit gutem Grund lässt sich behaupten, dass gerade dieser Glaube ihn letzten Endes inden zu frühen und qualvollen Tod getrieben hat.

Im Jahr 1936, als der Skandal um die Au�ührung seiner Oper �Lady Macbeth ausdem Mzensker Bezirk� ausbrach, gab Dmitri Dmitriewitsch der Einschüchterung unddem Druck durch die Behörden nicht nach, er erniedrigte sich nicht bis zur ö�ent-lichen Selbstbeschuldigung. Im Jahr 1948, als der ZK-Beschluss �Über die Oper `diegroÿe Freundschaft' von Muradeli1� herauskam, gelang es ihm nicht, dem zu entrinnen,aber, nochmal, Schostakowitsch war sich über das Wesen des verbrecherischen Systemsdurch und durch im Klaren und gab sich keinerlei Illusionen hin. Zwei Jahre davorwar Soschtschenko in genau dieselbe Situation geraten � er wurde zur Zielscheibe einesvernichtenden �Beschlusses des ZK�, aber er verhielt sich äuÿerst naiv. Michail Michailo-witsch beschloss, dem absoluten Oberhenker zu schreiben � Stalin, � und diesen Briefkann man nur mit Bitterkeit und Scham lesen :

�Lieber Josef Wissarionowitsch !Ich war nie ein antisowjetischer Mensch. 1918 trat ich als Freiwilliger in die Rote

Armee ein und war ein halbes Jahr an der Front, wo ich gegen die Truppen der Weiÿ-gardisten kämpfte.

Ich stamme aus einer adligen Familie, aber nie gab es einen Zweifel, zu wem ichhalten müsse � zum Volk oder zu den Grundbesitzern. Ich hielt immer zum Volk. Unddas nimmt mir keiner weg . . .

Doch meine Position als Satiriker in der Literatur hat mich selbst nie befriedigt. Undich habe mich immer um die Darstellung der positiven Seiten des Lebens bemüht. Aberdas war nicht so einfach zu bewerkstelligen � so wie es einem Komiker schwerfällt, eineheroische Rolle zu spielen. Man kann an Gogol denken, der sich zu bejahenden Formenauch nicht durchringen konnte . . .

Ich bitte darum, mir zu glauben � ich suche nichts und bitte um keine Verbesserungenin meinem Schicksal. Aber wenn ich Ihnen schreibe, dann mit dem einzigen Ziel, ein wenigmeinen Schmerz zu lindern. Ich war nie ein literarischer Lump oder ein gemeiner Mensch,oder ein Mensch, der seine Arbeit zum Wohle von Grundbesitzern oder Bankiers getanhat. Das ist falsch. Ich versichere es Ihnen.

Mich. Soschtschenko�

Im Jahr 1954 entlud sich über dem Haupt des armen Michail Michailowitsch einweiteres Gewitter. Er hatte sich erlaubt, ö�entlich, in Gegenwart von Ausländern, ander Rechtmäÿigkeit dieses nach wie vor entehrenden �Beschlusses des ZK� des Jahressechsundvierzig zu zweifeln. Und dafür bekam er noch eine ö�entliche Abreibung. EineVersammlung der Leningrader Schriftstellerorganisation fand statt, zu der, dem gröÿeren

1 Wano Iljitsch Muradeli (1908 - 1970), sowjetischer Komponist und Dirigent mitgeorgisch-armenischen Wurzeln, sah sich durch diesen ZK-Beschluss ebenso wie Prokofjew,Schostakowitsch u. a. dem Vorwurf des �Formalismus� ausgesetzt

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Gewicht wegen, die Vorsitzenden aus Moskau anreisten � K. Simonow 1 und A.Per-wenzew.2 Soschtschenko trat dort mit einer überraschenden Rede auf. Sie war sozusagensein letztes Wort. Und zwar nicht nur in seiner Situation als Angeklagter, sondern über-haupt � sein allerletztes, nach dem er sich, so scheint es, nie mehr in der Ö�entlichkeitzeigte. Aber � o weh � sogar diese seine verzweifelte Abschiedsrede beginnt der armeTeufel damit, seine Zugehörigkeit zur korrupten sowjetischen Literatur zu bekunden,zum widerwärtigen Klan der Sowjetschriftsteller.

�In meinem Antrag mit der Bitte um Aufnahme in den Schriftstellerverband schriebich, dass ich mich in vielem geirrt und Fehler gemacht hätte, dass ich aber der Be-hauptung nicht zustimmen könne, kein sowjetischer Schriftsteller zu sein und auch nieeiner gewesen wäre. Das war der Hauptvorwurf in dem Bericht � damit, dass ich keinsowjetischer Schriftsteller sein soll � damit kann ich mich nicht ab�nden !�

Das Ende seiner Rede wühlt einem die Seele auf. Es ist eines der tragischsten Doku-mente der ganzen russischen Literaturgeschichte.

�Ich war meinem Land gegenüber niemals unpatriotisch. Damit kann ich mich nichtab�nden. Ich kann es nicht ! Hier nun, meine Genossen, in euren Augen ist mein Schrift-stellerleben vorbei. Ihr alle kennt mich doch, kennt mich seit vielen Jahren, wisst, wieich lebte, wie ich arbeitete, was wollt ihr von mir ? Dass ich zugebe, ein Feigling zu sein ?Verlangt ihr das ? Soll ich mich euretwegen als Spieÿer und als Schwein bekennen, alsgemeines Seelchen ? Als gewissenloser Randalierer ? Verlangt ihr das ? Ihr ! . . . Ich kannsagen � mein literarisches Leben und Schicksal ist unter diesen Umständen beendet. Esgibt für mich keinen Ausweg. Ein Satiriker muss moralisch integer sein, ich aber wurdegedemütigt wie der letzte Hundesohn . . . Ich dachte, dass das vergessen würde. Es wurdenicht vergessen. Und seit einigen Jahren konfrontiert man mich damit. Nicht nur meineFeinde. Auch die Leser. Das heiÿt, und so wird es auch sein, es wurde nicht vergessen.Für mich gibt es keine Zukunft. Nichts. Ich werde um nichts bitten. Ich brauche nichteure Nachsicht, eure Schmähungen und euer Geschrei. Ich habe es mehr als satt. Ichwerde irgendein ganz anderes Los auf mich nehmen, als das, das ich habe.�

In einer Tagebuchnotiz vom Sommer 1958 hielt ich über Soschtschenko fest : �Zumzweitem Mal in meinem Leben sah ich Michail Michailowitsch vier Monate vor seinemTod. Ich wusste, dass er in die Ordynka kommen würde, und wartete auf ihn. Schonfrüher hatte ich Vater gebeten, mir eins von den Soschtschenko-Büchern zu geben, damitdieser es mir persönlich signieren könne. Es machte mich damals betro�en, wie schlechtMichail Michailowitschs Sprechen geworden war. Seine Worte kamen mühevoll, wie wennes ihm Schmerz verursachte, sie aus sich herauszustossen. Ein allgemeines Gespräch wardeswegen sehr schwierig. Als das Abendessen begann, ging ich, nachdem ich bis dahin ineiner Zimmerecke gesessen hatte, zum Tisch hin und setzte mich neben Soschtschenko.Meine Mutter sagte zu ihm, ich gehöre zu seinen groÿen Anhängern und sei, wie sie sichausdrückte, ein Kenner. Zum erstenmal schaute er mich mit Interesse an und meinte,wenn er das gewusst hätte, wäre sein Eintrag für mein Exemplar wärmer ausgefallen.�

1 Konstantin Michailowitsch Simonow (1915 - 1979), sowjetischer Schriftsteller, Lyriker undKriegsberichterstatter, Opfer des �Tauwetters�

2 Arkadi Alexejewitsch Perwenzew (1905 - 1981), sowjetischer Schriftsteller, Dramaturg und Publizist

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Hier unterbreche ich meine alte Notiz für eine bestimmte Ergänzung. Mutter erin-nerte sich später, dass sich zwischen ihr und Soschtschenko folgender kurzer Dialogentsponnen habe : �Mischa, warum essen Sie nichts ? � �Schaun Sie, Ninotschka, was istdas für eine merkwürdige Geschichte : immerzu scheint mir, ich würde vergiftet.�

Ich kehre zu meiner Notiz zurück : �Als Michail Michailowitsch sich verabschiedete,erbot ich mich, ihn bis zur Metro zu begleiten. Er lehnte zuerst ab, als Mutter aber dieBitte unterstützte, stimmte er zu. Wir traten in eine feuchte und kalte Frühlingsnachthinaus. Er fragte mich, ob es wahr sei, dass ich mich so für ihn interessiere. Ich antwortete,er sei mein Lieblingsschriftsteller, und wenn es die Zeit erlaubte, würde ich über seinWerk schreiben. Er fragte mich, ob ich seine Erzählungen kenne, worauf ich antwortete,dass ich sie kenne und liebe. Beim Abschied versprach er, mir das Buch zu signieren, dasjeden Augenblick erscheinen müsse, und sagte, wenn ich es nicht besorgen könne, würdeer es mir selber schicken. Und jetzt, einige Tage später, als ich dieses Buch bekam, ister gestorben . . . �

Auch an diese Szene erinnere ich mich noch, es war im Jahr 1959. Mein Vater sitztin seinem Sessel in unserem Esszimmer in der Ordynka und schaut die Zeitung durch,während er Tee in kleinen Schlucken trinkt. �Hör mal�, sage ich zu ihm, �heute ist derzweiundzwanzigste Juli, genau ein Jahr nach Soschtschenkos Tod. In einem anständi-gen Land hätte bereits die Herausgabe seiner gesammelten Werke begonnen.� � In einemanständigen Land�, erwiderte Vater, �wäre er noch am Leben.�

Maxim � Isaak Davidowitsch Glikman bezeugt, dass er am zehnten Todestag Sosch-tschenkos gemeinsam mit Schostakowitsch zu seinem Grab nach Sestrorezk1 gefahrensei. Glikman erinnerte sich an diese Worte unseres Vaters : �Er ist zu früh gestorben,aber wie gut, dass er seine Henker überlebt hat � Stalin und Schdanow.2 � Ich weiÿ aberauch noch, wie Vater von Zeit zu Zeit den Satz äuÿerte : �Alles geb ich her für die sechs-bändige Soschtschenko-Ausgabe.�

Galina � Unsere Groÿmutter Sofja Wassiljewna war ein sehr genauer Mensch. ImJahr 1946 nahm sie Hilfe für Soschtschenko auf sich, sie sammelte Geld für ihn � hatteman doch vollständig damit aufgehört, ihn zu publizieren, und ihn so jeglicher Mittel zumLebensunterhalt beraubt. Groÿmutter war kontaktfreudig, fröhlich, war oft in Konzerten,und nicht nur, wenn Schostakowitsch gespielt wurde. Ausgezeichnet bewandert war sie inder Literatur, hatte sehr vielfältige Interessen. Bei ihr zu Hause waren viele Menschen,ein ständiges Kommen und Gehen. Immer übernachtete irgendjemand. Sie war eineMenschensammlerin. In dieser Hinsicht war sie das genaue Gegenteil ihres Sohnes.

Schostakowitsch war von Natur aus weder kontaktfreudig noch redselig. Fremde,soweit sie im Haus zugegen waren, verursachten ihm ein gewisses Ungemach. Von Kindauf lehrte er uns Regeln für den Umgang mit Freunden und Bekannten : �Niemand darfnach zehn Uhr abends oder vor zehn Uhr morgens anrufen. Ohne vorherigen Anruf

1 Stadt am Finnischen Meerbusen, ca. 35 Kilometer nordwestlich von Sankt Petersburg.2 Andrei Alexandrowitsch Schdanow (1896 - 1948), sowjetischer Politiker, enger Mitarbeiter Stalins,verantwortlich für die repressive Kulturpolitik, unter der Achmatowa, Pasternak, Soschtschenko,Eisenstein, Prokofjew, Schostakowitsch u. a. zu leiden hatten (�Speichellecker des Westens�)

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oder Einladung darf man niemanden besuchen. Wenn man euch sagt : �Kommt einfachvorbei�, heiÿt das noch lange nicht, dass man euch eingeladen hat. Eingeladen wird manzu einem bestimmten Datum und zu einer bestimmten Uhrzeit.�

Nun, er selbst lädt alle mölgichen Freunde zum Mittagessen ein. Zum Beispiel Cha-tschaturjan mit Gattin. Am Tisch ist die Atmosphäre höchst ungezwungen, es gibtWitze, Gelächter. Aber eine Tafelrunde darf sich nicht endlos hinziehen � wenn dasMittagessen, angenommen, um 15.00 Uhr beginnt, dann hat es um 17.00 Uhr zu en-den. Und das wussten alle Freunde sehr gut. Für diejenigen, die sich auÿerhalb jedenMaÿes niederlieÿen, gab es in unserer Familie einen Spezialbegri� : �Steinerner Gast�.Manchmal sagte Vater auch noch : �Fürchte den Gast nicht, wenn er sitzt, sondern wenner hinausgeht ! � Er mochte es überhaupt nicht, wenn irgendjemand schon im Vorraumstand und immer noch weiterredete.

Dabei war unsere Mutter ein geselliger Mensch. Die Datscha in Komarowo fällt mirda ein. Im Erdgeschoss sitzt Mama mit Gästen, Vater komponiert oben. Nun kommt erherunter, setzt sich an den Tisch, hört dem Gespräch zu . . . und nach drei Minuten gehter wieder zu sich nach oben in den ersten Stock.

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18 � Alltagsorganisation

Maxim � In früheren Jahren existierte in Komarowo eine sogenannte �Abteilung fürKindergesundheit�. Da hatte ich nun einmal Zahnweh, Vater nahm mich an der Handund führte mich in eben diese Abteilung. Dort gab es einen Zahnarzt, man platziertemich in einem Sessel, Vater setzte sich im Zimmer dieses Arztes neben die Tür.

Es war ein heiÿer Tag, erinnere ich mich, und das Fenster stand o�en. Das Bohren anmeinem Zahn ging los, ich spürte einen ungeheuren Schmerz. Es war nicht auszuhalten,ich wand mich aus dem Sessel heraus, stürzte zum Fenster, sprang nach drauÿen undraste heim. Vater aber, vom Vorgefallenen überaus entmutigt, kam wenig später zurück.

Er gestand dann ein, dass ihm, als er schon erwachsen war, genau dasselbe wider-fahren sei. Auch ihm hatte ein gewisser Zahnarzt starken Schmerz zugefügt, woraufhiner diesen mit den Füssen weggestoÿen habe und aus der Klinik weggelaufen sei, so ähn-lich wie ich. Das war aber ein vollkommen untypischer Vorfall. Da er von Natur ausein äuÿerst genauer Mensch war, ging unser Vater � ob es nun nötig war oder nicht �alle zwei Monate zum Zahnarzt. Mit der gleichen Regelmäÿigkeit besuchte er auch denFriseursalon. Auf seinem Schreibtisch gab es einen Umlegekalender mit schon voraus-markierten Tagen, an denen der Zustand der Zähne zu überprüfen war oder die Haaregeschnitten werden mussten.

Michail Ardow � Maxims Worte erinnerten mich an folgende Geschichte : dieganze Familie Schostakowitsch nahm lange Jahre hindurch die Dienste einer privatenZahnärztin in Anspruch, einer Dame mit irgendeinem bizarren Doppelnamen. Sie prak-tizierte in ihrer winzigen Wohnung, wo der Vorraum auch Wartezimmer für die Patien-ten war und das einzige Zimmer sowohl zum Wohnen wie zur Behandlung diente. Mitder Zahnärztin zusammen lebte dort eine alte Dienerin, die Krankenp�ege-Tätigkeitenwahrnahm.

Einmal wachte Maxim am Morgen mit heftigem Zahnweh auf. Er beschloss, allesaufzuschieben, setzte sich ins Auto und fuhr zu der Ärztin. Beim Betreten des Vorzim-mers traf er auf das übliche Bild. Auf dem Sofa saÿen zwei ältere Frauen und unterhieltensich leise. O�enbar warteten sie, bis sie an der Reihe waren. Maxim setzte sich ebenfallsauf einen Stuhl. Nach einiger Zeit kam die Dienerin aus dem Zimmer und wandte sichdirekt an ihn : �Na, was sitzen Sie denn da ?! Kommen Sie, bitte . . . � Maxim folgte ihr,auf der Schwelle aber erstarrte er. Inmitten des Zimmers sah er einen Tisch, und daraufeinen Sarg, in dem die alte Zahnärztin lag. Nachdem er einige Minuten so gestandenhatte, wandte mein Freund sich ab und fuhr mit seinem Zahnschmerz heim . . .

Galina � In Schostakowitschs Schreibtischkalender waren Geburtstage von Ver-wandten eingetragen, von Freunden und Kollegen, und Vater vergaÿ nie, ihnen Glück-wunsch-Telegramme und -Karten zu schicken. Aufmerksam überwachte er die Genauig-keit der Postzustellung. Als die Datscha in der Umgebung Moskaus aktuell wurde, schi-ckte er eine Postkarte dorthin an die eigene Adresse, um zu überprüfen, ob sie auchankam, und wie schnell.

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Maxim � Schostakowitsch inszenierte nicht, wie man sagt, �die eigene Genialität�,das war ihm zuwider. Weder seine eigenen, noch fremde Briefe bewahrte er auf, um somehr warf er auch die abgerissenen Blätter seines Kalenders in den Papierkorb. Daskann man aus heutiger Sicht nur bedauern. Waren dort doch nicht nur Geburtstage vonFreunden und Routineangelegenheiten verzeichnet, sondern auch das, was sich auf seinScha�en bezog. Zum Beispiel in dem und dem Stück die und die Stelle zu verbessern,die Viola-Partie durchzusehen und so weiter und so fort.

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19 � ZK-Beschluss zu Muradeli

Galina � Vater geht in der Wohnung von Zimmer zu Zimmer und raucht dabeiunaufhörlich. Mutter und er sprechen kaum miteinander. Maxim und ich sind auch ganzstill, in solchen Momenten ist es nicht angemessen, Fragen zu stellen . . .

Das ist der Winter des Jahres achtundvierzig. Ich bin fast zwölf, Maxim zehn. Wirkonnten lesen und wussten, dass man in allen Zeitungen den �historischen Beschluss desZentralkomitees der Partei `Über die Oper `die groÿe Freundschaft' von W.Muradeli'�gepriesen, und damit die Musik Schostakowitschs und anderer �Formalisten� auf jededenkbare Art beschimpft hatte.

Maxim ging in eine Musikschule, wo der �historische Beschluss� durchgearbeitetwurde. Als sie davon erfuhren, entschieden die Eltern, dass es für ihn besser wäre, eineZeit lang nicht in die Klasse zu gehen. Dafür beneidete ich ihn. Ich nämlich war in einerganz gewöhnlichen Sowjetschule, und im Unterricht unserer sechsten Klasse wurde der�Beschluss des ZK� nicht einmal erwähnt.

Die Folgen dieses �historischen Dokuments� lieÿen nicht lange auf sich warten : dieSymphonieorchester hörten auf, Schostakowitschs Werke aufzuführen, und um die Fami-lie zu ernähren war Vater gezwungen, Musik für Kino�lme zu schreiben � das aber,muss man sagen, machte er nicht gern. Auÿerdem vertrieb man ihn aus dem Dozenten-Gremium des Konservatoriums, und damit verlor unsere Familie die Möglichkeit, dieregierungseigene Polyklinik in Anspruch nehmen zu können. Die Atmosphäre in diesenTagen war sehr beunruhigend . . .

Michail Ardow � Viele Male habe ich die folgende Geschichte gehört. In diesenTagen, als besagter �ZK-Beschluss� herauskam, zitierte der Stalin'sche Hauptaufseherfür Literatur und Kunst, Schdanow, alle führenden sowjetischen Komponisten zu sich(darunter auch Schostakowitsch und Prokofjew). Und dann setzte sich dieser Partei-funktionär selbst an den Flügel und demonstrierte ihnen, was man unter formalistischerMusik zu verstehen habe, und was unter realistischer.

Es gab damals sogar solche Lakaien, die sie sich bei dieser Szene nicht nur nichtempörten, sondern darüber sogar in Begeisterung gerieten : �Stellt euch vor�, sagten sie,� er ist Mitglied des ZK-Politbüros � und kann auf dem Flügel spielen ! �

Mein Vater, als er das hörte, entrüstete sich : � Idioten, wofür begeistern sie sich ?!Was soll das Herumgeklimpere auf einem Klavier . . . Ich könnte verstehen, dass jemandsagt : �Unser Hausmeister kann auf einem Flügel spielen !� Na ja, das wäre erstaunlich.Aber hier � als Politbüromitglied ist er zu Kultiviertheit verp�ichtet. Und was für eineUnverschämtheit � Schdanow schämte sich nicht, vor Schostakowitsch und Prokofjew zuspielen ! �

Am 19.April 1948 wurde die erste Allunions-Sitzung sowjetischer Komponisten erö�-net. Mit einem Vortrag zum Thema �30 Jahre sowjetische Musik und die Aufgabensowjetischer Komponisten� trat Tichon Chrennikow1 auf. Hier einige Auszüge :

1 Tichon Nikolajewitsch Chrennikow (1913 - 2007), sowjetischer Komponist, agitierte alsGeneralsekretär des Komponistenverbandes seit 1948 gegen fortschrittliche Tendenzen in der Musik

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�Auf das Auskosten des Banalen, Flachen, Nichtigen verwendete der junge Schostako-witsch, dem Beispiel westlicher `Meister' der Groteske folgend, viele Kräfte, insbesonderein seinen Balletten über sowjetische Themen . . .

Gröbster physiologischer Naturalismus und expressionistisch-krankhafte Übertrei-bung verbunden mit einer besonderen Grellheit traten in den beiden Opern Schosta-kowitschs `Die Nase' und `Lady Macbeth' hervor . . .

Schostakowitschs siebte Symphonie zeigte, dass sein musikalisches Denken aktiverauf den Ausdruck der verhängnisvollen Erscheinungen des Faschismus und der Weltder subjektiven Re�exion gerichtet war, als auf die Verwirklichung der positiven For-men unserer Gegenwart. Die intonatorische Abstraktheit, der Kosmopolitismus seinermusikalischen Sprache, als er sich während des Krieges nicht der Aufgabe stellte, einernational-musikalische Diktion näher zu kommen, wurden zum Hindernis für die dauer-hafte Popularität der siebten Symphonie im sowjetischen Volk . . . �

Maxim � Als wir klein waren, wandten wir uns manchmal mit der Frage an Vater,wohin der oder jener von unseren Bekannten verschwunden sei. Er hatte eine sehr kurzeAntwort für uns : �Er wollte den Kapitalismus in Russland einführen.� Aber bald, etwasälter geworden, lernten wir die Lage kennen. Verhaftet wurde der Mann von Vatersälterer Schwester, Wsewolod Fredericks 1, und starb an den Folgen; seine Gattin, MariaDmitriewna wurde aus Leningrad verbannt. Auch unsere Groÿmutter mütterlicherseits,So�a Michailowna Warsar, kam damals ins Gefängnis.

Seit Beginn der dreiÿiger Jahre bis zum Tod Stalins lebte Vater mit der ständigenBedrohung durch Gefängnis und Tod. Weder Regimetreue noch genialische Begabungkonnte davor bewahren � die Schicksale des Dichters Osip Mandelstam oder des Regis-seurs Wsewolod Meyerhold geben dafür anschauliche Beispiele.

Wie man weiÿ, gehörte zu Schostakowitschs Anhängern der auf Stalins Befehl er-schossene Marschall Michail Tuchatschewski 2, er tauschte sich manchmal mit Vateraus. Der Komponist Wenjamin Basner 3 erzählte mir, Vaters Worte wiedergebend, fol-gende Geschichte. Schostakowitsch wurde einmal nach einem Besuch bei Tuchatschew-ski ins �groÿe Haus� gerufen, d. h. in die Leningrader NKWD-Zentrale4. Beim Verhörfragte ihn der Untersuchungsrichter : �Sie waren bei Tuchatschewski. Sie haben gehört,wie Tuchatschewski mit seinen Gästen einen Plan zur Ermordung des Genossen Stalinerörterte ? � Vater begann mit einer Verneinung. �Aber Sie werden nachdenken, Sie wer-den sich erinnern�, sagte der Untersuchungsrichter. �Einige von denen, die mit Ihnenbei Tuchatschewski zu Besuch waren, haben uns bereits Angaben gemacht.� Vater ver-sicherte weiter, dass es nichts derartiges gegeben habe, dass er sich an nichts erin-nere. � Ich würde Ihnen aber dringend raten, sich an dieses Gespräch zu erinnern�,sagte der Untersuchungsrichter drohend. � Ich gebe Ihnen eine Frist bis morgen früh

1 Wsewolod Konstantinowitsch Fredericks (1885 - 1944), russischer Physiker, arbeitete auf dem Gebietder Flüssigkristalle

2 Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski (1893 - 1937), Marschall der Roten Armee, �der roteNapoleon�, eines der ersten Opfer Stalins aus den Reihen der Militärs

3 Wenjamin Je�mowitsch Basner (1925 - 1996), sowjetischer Komponist4 �Volkskommissariat für innere Angelegenheiten� 1934 - 1946

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um elf Uhr. Morgen werden Sie nochmals zu mir kommen, und wir setzen das Gesprächfort . . . � Vater kam nach Hause, nicht lebend und nicht tot. Er beschloss, nicht gegenTuchatschewski auszusagen und bereitete sich auf seine Verhaftung vor. Am nächstenMorgen erschien er wieder im �groÿen Haus�, bekam einen Passierschein und setzte sichneben dem Arbeitszimmer desselben Untersuchungsrichters hin. Eine Stunde vergeht,eine weitere, aber man ruft ihn nicht auf. Schlieÿlich wendet sich irgendein Tschekist,der durch den Korridor geht, an ihn : �Was sitzen Sie da ? Ich sehe, Sie sind schonsehr lang hier.� � Ich warte�, antwortete Vater. �Mich müsste der UntersuchungsrichterN. aufrufen.� �N. ? � fragte der Tschekist zurück. �Na, auf den brauchen Sie nicht zuwarten. Der wurde gestern Nacht verhaftet. Gehen Sie mal heim.�

So kann man ohne Übertreibung behaupten : Schostakowitsch entkam damals durchein Wunder der Verhaftung.

Rodion Schtschedrin 1 � Schostakowitsch lebte in einem Staat, der durchtränktwar von Angst. Seine Angehörigen saÿen irgendwie alle ein. Er war mit Tuchatschewskibefreundet, und der schrieb Stalin einen Brief zur Verteidigung nach dem Artikel �Chaosstatt Musik�2. Schon allein das hätte genügt, um Dmitri Dmitriewitsch einzusperren.Auch fuhr Schostakowitsch nach Moskau und hielt sich bei Meyerhold auf, in derselbenWohnung, wo dann Sinaida Reich3 erschossen wurde. Und das hätte genügt, ihn nichtnur einzusperren, sondern umzubringen . . .

1 Rodion Konstantinowitsch Schtschedrin (* 1932), russischer Komponist und Pianist2 berüchtigter �Prawda�-Artikel von 1936, infolgedessen weitere Au�ührungen von SchostakowitschsOper �Lady Macbeth� unterblieben

3 Sinaida Nikolajewna Reich (1894 - 1939), russische Schauspielerin, in zweiter Ehe verheiratet mitWsewolod Meyerhold, nach dessen Verhaftung in seiner Wohnung erschossen

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20 � Schwierige Nachbarn

Galina � Ein Schild �Erholungsheim für Gericht und Staatsanwaltschaft� zierte dasalte �nnische Haus, das an unsere Datscha in Komarowo grenzte. Später wurde dieseEinrichtung umbenannt in �Erholungsheim für staatliche Anstalten�. Aber diese Verän-derung beein�usste in keiner Weise das intellektuelle und moralische Niveau derer, diesich dort aufhielten � kleine Bedienstete der sogenannten Straforgane. D. h. die Nach-barschaft bestand nicht aus Freunden, und das zeigte sich besonders im Jahr 1948, alsSchostakowitsch in allen Zeitungen verleumdet und als �Formalist�, ja fast als Volksfeindbeschimpft wurde.

Die Arbeiter der �staatlichen Anstalten� zeigten keinerlei Scheu, ihre wahrhaft staats-tragenden Gefühle zum Ausdruck zu bringen : vom Zaun her wurden Beleidigungen ge-schrien und jede Art von Müll landete auf unserem Grundstück. Hier muss man Maximgerecht werden � er setzte sich für die väterliche Ehre ein.

Maxim � In diesen Jahren war die Erinnerung an den �nnischen Krieg noch frisch,der genau an den Orten stattgefunden hatte, wo sich unsere Datscha befand � an derKarelischen Landenge. Wir wussten, dass die gröÿte Gefahr für die sowjetischen Soldatenwährend des damaligen Krieges von den �nnischen Heckenschützen ausging. Man nanntesie �Kuckucke�, weil sie sich in den Baumkronen versteckten und auÿerordentlich schwerzu entdecken waren. Auf unserem Grundstück in Komarowo stand eine hohe Kiefer,deren Stamm sich am Wipfel teilte. Genau dort hatte ich ein kleines Brett zum Sitzenangebracht und mir eine Schleuder gebaut, mit der ich Steine auf unsere Beleidigerschoss.

Aber die boshaften Nachbarn setzten Schostakowitsch nicht nur mit geschrienenBeschimpfungen zu. Auf ihrem Grundstück hatten sie einen Lautsprecher, der die Umge-bung von sechs Uhr morgens bis zwölf Uhr nachts beschallte, von dort erklangen dieprahlerisch-pompösen sowjetischen Radioprogramme. Das störte meinen Vater beimKomponieren, mir aber ge�el es, mit der Schleuder nicht nur auf die Nachbarn zuschieÿen, sondern auch auf den Lautsprecher. Manchmal gelang es mir, ihn auÿer Kraftzu setzen, und irgendwann war er dann ganz still.

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21 � USA-Reise 1949

Galina � Im Flüsterton spreche ich die Namen der Buchstaben aus : �Scha . . . Be . . .Em . . . En . . . Ka . . . � Vater drückt mir einen Finger auf die Lippen und sagt leise :�Still ! � Wir be�nden uns im Halbdunkel eines ärztlichen Behandlungszimmers. VatersSehkraft wird geprüft mit Hilfe von speziellen Tabellen, ich aber stehe ihm nach schuli-scher Gewohnheit bei und sage ihm die Buchstaben ein.

Diese lustige kleine Szene ereignete sich im Jahr 1949 in der sogenannten �Kremljow-ka�, der staatlichen Polyklinik. Unserem dortigen Erscheinen ging eine ganze Geschichtevoraus.

Im März dieses Jahres sollte eine groÿe Gruppe von Persönlichkeiten der sowjetischenWissenschaft und Kunst in die USA reisen, und man entschied, Schostakowitsch in dieseDelegation mit aufzunehmen. Er liebte solche Reisen überhaupt nicht, und wollte demauch noch mit der Begründung ausweichen, ein weiteres Mal geächtet worden zu sein :ein ganzes Jahr lang hatte man ihn in der Presse und in allen o�ziellen Versammlungenheftig beschimpft (im Februar 1948 kam der ZK-Beschluss heraus, in dem die �Forma-listen� verurteilt wurden, zu denen man auch Schostakowitsch rechnete).

Und da geschah etwas Beispielloses. Am 16.März rief Stalin persönlich Vater amTelefon an. Schostakowitsch wolle auf die Reise verzichten : angeblich sei es ihm unan-genehm zu fahren, weil für seine Musik ein Au�ührungsverbot bestünde. Das Verbothob Stalin kurzerhand auf. Aber das Gespräch war damit noch nicht beendet. Immernoch versuchte Vater, der Reise nach Amerika zu entkommen und sagte : � Ich fühle michnicht wohl . . . ich bin krank . . . � Stalin fragte daraufhin : �Wo werden Sie behandelt ? �Die Antwort war : � In der Bezirks-Polyklinik . . . �

Das Gespräch ging noch weiter, aber dieser kurze Dialog blieb nicht folgenlos. Ichhabe schon darauf hingewiesen : eine der Wirkungen des ZK-Beschlusses des Jahres 48bestand darin, dass man unserer Familie die Berechtigung zur Inanspruchnahme der�Kremljowka� entzog, der Polyklinik für die Regierung. So, und da, an diesem selbenTag, als Schostakowitsch sich mit Stalin unterhalten hatte, �ngen die Telefonanrufe vondort an : wir wurden aufgefordert, Fragebögen auszufüllen, Fotos von uns einzureichen,und vor allem unverzüglich mit der ganzen Familie bei ihnen zu erscheinen, damit einevollständige Untersuchung vorgenommen werden könne. Und unser Besuch beim Augen-arzt, während dem ich Vater mit Einsagen zu helfen versuchte, fand statt anlässlichunserer Rückkehr in die Reihen der �Kremljowka�-Patienten.

Inzwischen ist mir klar, unsere Ausweisung aus der staatlichen Polyklinik erfolgteauf Initiative übereifriger kleiner Beamter, die eilige Wiederaufnahme jedoch auf direkteAnweisung des �groÿen Führers�.

Maxim � Als Stalin Vater anrief, waren zu Hause Papa, Mama und ich. Vater sprachin seinem Arbeitszimmer, Mama aber hörte das Gespräch am anderen Apparat mit, derin der Diele stand. Und ich �ehte sie an, mir den Hörer zu geben, ganz unbedingt wollteich die Stimme des lebendigen Stalin hören. Meine Bitten konnten sie erweichen, esgelang mir, einige Phrasen aus dessen Gespräch mit Vater mitzuhören.

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Wie man weiÿ, fand die Reise Schostakowitschs nach Amerika im Jahr 1949 statt.O�ziell war er Mitglied der sowjetischen Delegation, die beim Allamerikanischen Kon-gress von Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kunst zur Bewahrung des Friedenszugegen war. Neben unserem Vater hielten sich Schriftsteller, Filmregisseure, Gelehrtein den Vereinigten Staaten auf. Aufgrund seiner Schüchternheit und Diskretion sprachSchostakowitsch nie über gewisse Einzelheiten seiner Reise über den Ozean. Aber derSchriftsteller Alexander Alexandrowitsch Fadejew 1, der der Delegation ebenfalls ange-hörte, erzählte Freunden zu gegebener Zeit davon, wie man den berühmten Komponistenin Amerika aufgenommen hatte.

Es ging schon damit los, dass einige tausend Musiker Schostakowitsch am New YorkerFlughafen begrüÿten. Die ganze Gruppe von Persönlichkeiten, die aus der Sowjetunionangekommen waren, bezeichnete die Presse als �Schostakowitsch und Begleitpersonen�.Amerikanern fällt das Aussprechen unseres Familiennamens ziemlich schwer, und soübertrugen sie ihn auf ihre Art und nannten Vater �Schosti�.

Von Zeit zu Zeit rief ihm jemand zu : �Schosti, spring, wie die Kasjankina ! � Nichtlange bevor unser Vater in die Staaten fuhr, war dort ein Skandal losgebrochen. Einerussische Lehrerin mit Namen Kasjankina, die in einer Schule bei der sowjetischen Vertre-tung arbeitete, bat um politisches Asyl. Die Diplomaten versuchten, sie daran zu hindern,sie schlossen diese Frau in einem der Botschaftszimmer ein. Aber Kasjankina gelang es,ein Fenster zu ö�nen und auf die Straÿe hinauszuspringen, wo eine Menge von Amerika-nern sie erwartete.

O weh, für Schostakowitsch war nicht einmal im Traum daran zu denken, dem Beispielder Kasjankina zu folgen. Er rechnete sich genau aus, welches Schicksal uns erwartenwürde � seine Frau und Kinder, ja auch unsere ganze übrige zahlreiche Verwandtschaft�, wenn er im Westen bliebe. Diesen Schritt konnte ich im Jahr 1981 tun. Aber meineUmstände waren andere � meine erste Frau hatte eine andere Familie, und ich hattedamals erst einen Sohn. Ja, und was die Blutrünstigkeit angeht, war das Breschnew-Regime mit dem Stalin'schen nicht zu vergleichen. Aber nicht um mich geht es hier . . .

Einem seiner Freunde erzählte Fadejew auch noch diese Episode. Schostakowitschkam an irgendeiner New Yorker Apotheke vorbei und kaufte Aspirin. Keinesfalls längerals zehn Minuten hatte er sich in dem kleinen Laden aufgehalten, als er beim Hinaus-gehen auf die Straÿe folgendes Bild erblickte : einer der Verkäufer hatte eine Reklametafelin die Vitrine gestellt mit der Aufschrift �Bei uns kauft Schostakowitsch�.

Michail Ardow � Es ist März, das Jahr 1982. An jenem Morgen ging ich in einzweistöckiges steinernes Gebäude, in dem sich das Kriegskommissariat befand. Das warin der Stadt Danilow, nicht weit von Jaroslawl. Ich war soeben von der hiesigen Kircheweg in eine andere Gemeinde versetzt worden und musste mich beim Militärregisterabmelden. Ich betrat das entsprechende Zimmer, es war das Arbeitszimmer eines Majorsmit Namen Guck, wie mir jetzt einfällt. Der Hausherr war aber nicht da, daher begannich durch den Korridor zu gehen und mir die sogenannte �Bildagitation� anzuschauen.

1 Alexander Alexandrowitsch Fadejew (1901 - 1956), sowjetischer Schriftsteller und Publizist, heftigattackiert während des �Tauwetters�

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Einer der Ständer war dem Aufblühen der sowjetischen Kultur und Kunst gewidmet.Und da gab es an der sichtbarsten Stelle das Foto eines Dirigenten, im Frack und miterhobenem Taktstock.

Beim Betrachten dieses Fotos hörte ich Schritte im Korridor � der O�zier kam,den ich brauchte. �Genosse Major�, wandte ich mich an ihn, �Gestatten Sie mir, Ihneneinen Rat zu geben.� �Ja, bitte.� Guck war kein typischer O�zier, er war hö�ich undzuvorkommend. �Sehen Sie diesen Dirigenten auf dem Foto ? � �Ja�, gab er zur Antwort.�Nun, hier ist mein alter Freund Maxim Schostakowitsch abgebildet. Er ist nicht mehrbei uns, er hat in Amerika um politisches Asyl gebeten. Zwar glaube ich nicht, dassirgendjemand auÿer mir ihn auf diesem Foto erkennt. Aber wenn es doch geschehensollte, könnten Sie Schwierigkeiten bekommen . . . � � Ich habe alles verstanden�, erwiderteder Major. Innerhalb von zehn Minuten waren wir gute Freunde geworden.

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22 � Ein türkischer Augenarzt

Maxim � Noch etwas zu Augenärzten. Es gehört zur Familien-Überlieferung. Vordem Krieg fuhr Vater zu Konzerten in die Türkei und lieÿ sich dort eine Brille machen.Nach zwei Tagen kam er wieder, bezahlte. Der Meister sagte zu ihm : � Ich habe Ihnenda eine ganz wunderbare Brille gemacht ! � � �Danke ! � Dieser darauf : �Schaun Sie nur,was für eine Brille ! Da, ich werfe sie runter � und sie geht nicht kaputt ! � Er warf dieBrille auf den Boden, und sie blieben heil. Vater sagt : �Vielen Dank, aber dafür braucheich sie eigentlich nicht.� Aber der Meister rückt die Brille nicht heraus und erklärt aufsneue : �Jetzt werde ich sie nochmal runterwerfen, und wieder wird ihr nichts passieren ! �Ein weiterer Wurf � und wiederum ging sie nicht kaputt. �Auch ein drittes Mal werde ichsie auf den Boden werfen ! � � schrie der Meister � und da endlich zerbarsten die Gläserin kleine Splitter.

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23 � Iwan Sollertinski

Galina � Ich erinnere mich, wie auf unserer Datscha in Komarowo Mitja Soller-tinski zu Besuch war. Er war etwas älter als Maxim und ich, hatte in der Schule nurEinsen, und unsere Eltern stellten uns Mitja als Vorbild hin. Sein verstorbener Vater 1,ein weithin bekannter Musikwissenschaftsprofessor, war ein sehr enger Freund unseresVaters. Für Schostakowitsch bedeutete der allzu frühe Tod Sollertinskis groÿen Schmerz.

Aus einem Brief D. Sch.'s an I.Glikman vom 13. Februar 1944 � �IwanIwanowitsch ist am 11. Februar 1944 gestorben. Wir werden ihn nie mehr sehen. Es gibtkeine Worte, den ganzen Schmerz auszudrücken, der mich im Innersten quält. Möge derVerewigung seines Andenkens unsere Liebe zu ihm dienen und unser Glaube an seinegenialische Begabung und seine phänomenale Hingabe an diejenige Kunst, der er seinwunderbares Leben widmete � die Musik. Iwan Iwanowitsch ist nicht mehr. Das ist sehrschwer zu ertragen . . . �

Maxim � Aus irgendeinem Grund erinnere ich mich nicht an Mitjas Besuche beiuns in Komarowo. Aber ich bin mit ihm seit vielen Jahre befreundet, er war lange ZeitDirektor des Groÿen Saals der Leningrader Philharmonie. Und seine Fähigkeiten hatteer natürlich von Iwan Iwanowitsch geerbt. Unser Vater erzählte unglaubliche Dinge vonseinem Freund. So habe Sollertinski etwa, nicht wie die meisten Menschen zeilenweisegelesen, sondern sich beim Blick in ein Buch eine ganze Seite auf einmal gemerkt. Zudemmuss er über ein phänomenales Gedächtnis verfügt haben, nicht nur auf seinem Gebiet� der Musik � kannte er sich aus, sondern auch in Literatur, Philosophie, allgemeinerGeschichte.

D. Sch. (aus dem Buch �Erfahrungen�2) � Eine groÿe Zahl von Studentender Leningrader Universität wollte die Examina in Marxismus-Leninismus ablegen, umdamit im Fall des Erfolgs die Berechtigung für eine Aspirantenstelle zu erhalten. Unterdenen, die auf eine Vorladung bei der Prüfungskommission ho�ten, war auch Sollertinski.

Ich war vor dem Examen sehr aufgeregt. Geprüft wurde nach dem Alphabet. Nacheiniger Zeit rief man Sollertinski vor die Kommission. Und sehr bald kam er von dortwieder heraus. Ich nahm meinen Mut zusammen und fragte ihn : �Sagen Sie bitte, wardas Examen sehr schwer ? � Er antwortete : �Nein, überhaupt nicht schwer.� �Und waswurden Sie gefragt ? � �Die Fragen waren ganz einfach : das Aufkommen des Materialis-mus im antiken Griechenland; die Poesie des Sophokles als eines Vertreters materialis-tischer Tendenzen; englische Philosophen des 17. Jahrhunderts und noch irgendwas . . . �Muss ich noch betonen, dass Iwan Iwanowitsch mir mit seinem Examensbericht ziemlicheAngst einjagte ? . . .

1 Iwan Iwanowitsch Sollertinski (1902 - 1944), sowjetischer Musikwissenschaftler und Theaterkritiker,Universalgelehrter, Apologet der Musik Gustav Mahlers, verfolgt als �Troubadour des Formalismus�

2 ¾Ä.Øîñòàêîâè÷ î âðåìåíè è î ñåáå. 1926-1975¿ Ìèõàèë ßêîâëåâ, Mîñêâà 1980 �

deutsch : �Dmitri Schostakowitsch: Erfahrungen�, Red. Ch. Hellmundt und K. Meyer, Leipzig 1982

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Maxim � Wie an einen Witz erinnerte Vater sich an folgende Geschichte. Sollertinskimusste vor einem Auditorium irgendwelcher �Rot�otten-Matrosen� antreten. Einer vondiesen Seeleuten stellte ihm die Frage : �Stimmt es, dass Puschkins Frau ein Verhältnismit Nikolai dem Zweiten hatte ? � Iwan Iwanowitsch beantwortete die gestellte Frage miterschöpfender Genauigkeit : �Sogar angenommen, Natalia Nikolajewna Gontscharowa(in erster Ehe Puschkina) hätte sich weibliche Anziehungskraft bis ans Ende ihrer Tagebewahrt, und der künftige Herrscher, Groÿfürst Nikolai Alexandrowitsch, wäre auÿer-ordentlich frühreif gewesen, konnte es dazu nicht kommen, da Natalia Nikolajewna imJahr 1863 starb, Nikolai der Zweite aber erst 1868 geboren wurde.�

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24 � Haustiere 1

Galina � Maxim und ich jagen auf unseren Fahrrädern die Straÿen von Komarowoentlang, schauen hinter alle Zäune und rufen laut : �Tom ! Tomka ! Tomka ! . . . �

Unser geliebter Hund war verloren gegangen, davongelaufen. Das war auch früherschon passiert und hatte uns immer ziemliche Aufregung beschert. Meistens fanden wirunseren Ausbrecher bei irgendeiner Datscha. Zum Beispiel bei der bekannten KünstlerinJekaterina Pawlowna Kortschagina-Alexandrowska1, sie hatte einen Hund namens Kara.O�enbar beachtete die alte Schauspielerin unseren Hund gar nicht, als Maxim und ichihn bei ihr anbrachten, und folgerte daraus, dass man Tiere in unserer Familie gern habe.Anders lassen sich die weiteren Geschehnisse nicht erklären.

Im Jahr 1951 starb die Kortschagina-Alexandrowska. Und da stellte sich heraus,dass sie bezüglich ihres Inventars folgendes verfügt hatte : die Datscha in Komarowovermachte sie der Theatergesellschaft, die antiken Leuchten ihrer alten Freundin, denHund aber Schostakowitsch.

Vater reagierte darauf philosophisch, ja geradezu stoisch. Ich weiÿ noch, wie er sagte :� Ist ja gut, dass es ein Hund ist, und kein Esel oder ein Krokodil . . . � So geriet Kara inunsere Familie. Im Sommer war er mit auf der Datscha in Komarowo, im Winter aber inder Wohnung von Mamas Eltern � Wassili Wassiljewitsch und So�a Michailowna Warsar.

Vater hatte eine gute Beziehung zu den Hunden, Vorbehalte gab es nur in hygieni-scher Hinsicht. Er verzog sein Gesicht, wenn er sah, dass der Hund mit schmutzigenPfoten auf's Bett sprang. Maxim und ich hörten dauernd die Au�orderung : �Hör auf,den Hund zu verhätscheln ! Geh wasch dir die Hände ! � Und mit ihrem Bellen störtensie ihn auch noch beim Komponieren. Deshalb mochte er Kater lieber, weil sie stillerwaren als Hunde, ja und auch sauberer.

Maxim � Wie ich mich erinnere, hatten wir in Schukowka eine Zeit lang einen kau-kasischen Schäferhund, der an�ng, über Menschen herzufallen. Sobald sich das bei ihmzeigte, brachte ihn Vater sofort in irgendeiner militärischen Einheit unter.

Boris Tischtschenko2 erinnerte sich an folgende Bemerkung D. Sch.'s�Unter den Hunden gibt es auch Halunken. Unser Hund zer�eischte ein Kätzchen. Wenner wenigstens hungrig gewesen wäre � aber nein, einfach nur aus Mutwillen. Ich habeihn für 24 Stunden verbannt.�

Galina � An einen Fall in jenem Schukowka erinnere ich mich. Irgendjemand brachteein kleines Kätzchen, das bei uns blieb. Es ge�el Vater und durfte sogar in sein Arbeits-zimmer. Dort stand ein Tisch mit aufgezogenen Schubladen, in eine davon sprang dasKätzchen einmal und schlief ein, und da wurde die Schublade zugeschoben. Wenig später

1 Jekaterina Pawlowna Kortschagina-Alexandrowska (1874 - 1951), russische Theater- undFilmschauspielerin

2 Boris Iwanowitsch Tischtschenko (1939 - 2010), russischer Komponist und Musikwissenschaftler,Aspirant bei Schostakowitsch

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wachte es auf und begann zu schreien. Wir hörten das und suchten nach der Quelle desMiauens. Schlieÿlich fanden wir das arme Kerlchen und lieÿen es raus . . .

Zum Abschluss der Katzensache noch das. Ein Freund Vaters, der Regisseur FriedrichErmler1 baute sich in Komarowo eine neue Datscha und lud Schostakowitsch mit Familieein, es sich dort gutgehen zu lassen. Der Hausherr führte uns überall herum : hier wirdes den Kamin geben, hier das, dort jenes. Dann gab es zur Bewirtung noch ein schönesEssen. Damals kamen allmählich Siamkatzen in Mode, und Ermler hatte, sobald einerfür ihn aufzutreiben war, augenscheinlich für viel Geld einen solchen Kater gekauft. Beiuns in der Familie wusste man von solchen Katzen noch gar nichts. Und da, als wirgingen, sagte Vater dem gastfreundlichen Hausherrn zum Abschied : �Alles bei dir istwunderbar. Nur was den Kater da angeht, da könntest du dir ein bisschen was besseresanscha�en . . . �

1 Friedrich Markowitsch Ermler (1898 - 1967), sowjetischer Schauspieler, Regisseur, Drehbuchautor

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25 � Haustiere 2

Galina � In jenem Sommer wohnten wir wie gewohnt in Komarowo. An irgendeinemMorgen ging Vater zum Brunnen, um Wasser zu holen, als ihn völlig unerwartet ein wildgewordener Hahn an�el. Vater lieÿ den Eimer fallen und zog sich zurück.

Dieser dramatischen Episode war folgende Geschichte vorausgegangen. Ein Jahr zu-vor hatten Maxim und ich zwei winzige Küken geschenkt bekommen. Wir brachten sieauf der Veranda unter und ernährten sie mit Schinken- und Käsestückchen. Sogar unserHund Tomka liebte diese beiden, er gestattete ihnen, etwas aus seiner Schüssel zu picken.Gegen Ende des Sommers wurden die Küken gröÿer und verwandelten sich in Hähnchenund Hühnchen. Und als wir nach Moskau wegfuhren, brachten wir sie bei einem derNachbarn unter.

Während des Winters verschwand das Huhn irgendwohin, der mit Schinken gefütterteHahn aber wurde groÿ, stark und furchtbar aggressiv. Als wir dann nach Komarowozurückkehrten, bekamen wir ihn wieder, und eben da passierte der Überfall auf Vater.Der kam mit einem leichten Schrecken davon, der bösartige Vogel aber bezahlte mitseinem Leben dafür � er wurde geköpft und gegessen.

Damals begann jeder Morgen in Komarowo damit, dass Vater mit einem kleinenEimer zum Brunnen ging. Er wohnte im ersten Stock, und neben seinem Zimmer gabes eine Art Kämmerchen mit Waschbecken � etwas ihm ganz Unerlässliches. Um dasWasser dort kümmerte er sich immer selbst.

Maxim � Das Urteil traf den Hahn, weil er, nicht genug damit, Vater anzugreifen,sich auch noch auf den örtlichen Postboten gestürzt hatte, und damit drohten ernsthafteSchwierigkeiten. Solang die Küken klein waren, rührte Tomka sie nicht an. Ich erinneremich an diese Szene : der Hund frisst aus seiner Schüssel, das Hähnchen aber pickt darausvon der gegenüberliegenden Seite. Tomka knurrt es dabei an, ungefähr so wie �Vergissnicht, wer hier der Hausherr ist�.

Vater hatte einen Freund, den Filmregisseur Leonid Sacharowitsch Trauberg 1, undder wiederum hatte einen Hund, einen Scotchterrier. Nun teilte Trauberg einmal mit,dass er uns auf der Datscha mit seinem Hund besuchen wolle. Vater sagt zu ihm : �DenkenSie daran, dass wir einen Airedale Terrier haben.� Aber Trauberg gab zur Antwort : � Istnicht schlimm, meiner wird deswegen nicht beleidigt sein ! � Der Besuch endete skandalös� Tomka jagte diesen Scotchterrier unter das Haus, dort gab es Spalten im Fundament.Nur mit groÿer Mühe konnten wir den unglücklichen, verschreckten Hund von dortwieder herauslocken.

1 Leonid Sacharowitsch Trauberg (1902 - 1990), bedeutender russisch-jüdischer Regisseur undDrehbuchautor, Avantgardist, wirkte Ende der 1920er Jahre bei mehreren Meisterwerken dessowjetischen Kinos mit

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26 � Studien in Ideologie 1

Galina � Es klingelt in unserer Wohnung. Vater, leicht aufgeregt, geht selbst die Türö�nen. Nachdem er den Eintretenden hö�ich begrüÿt hat, hilft er ihm aus dem Mantel,und beide ziehen sich ins Arbeitszimmer zurück.

Seit einiger Zeit erschien dieser kleine, ziemlich �nster dreinblickende Gast regelmäÿigbei uns. Das war im Jahr 1952, als allen Sowjetbürgern vorgeschrieben wurde, eifrig diesoeben erschienenen Elaborate Stalins �Der Marxismus und die Fragen der Sprachwis-senschaft� sowie �Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR� zu studieren.Für Schostakowitsch machte man eine Ausnahme. Nicht, dass man ihn von dieser ernied-rigenden Verp�ichtung freigestellt hätte � man entschied lediglich, dass er die gemein-schaftlichen Studiensitzungen im Komponistenverband nicht zu besuchen brauche, undteilte ihm stattdessen einen persönlichen Dozenten zu � den �Genossen Troschin�, alswelcher dieser bei uns zu Hause auftrat.

Die Studiensitzungen verliefen so : �Genosse Troschin� stellte seinem berühmtenSchüler Fragen zu einem durchgenommenen Thema, überprüfte die ihm vorgelegtenZusammenfassungen, und stellte dann eine neue Aufgabe.

In dieser tragikomischen Situation gri�en Vater zwei seiner Freunde ein wenig unterdie Arme � Isaak Davidowitsch Glikman und Lewon Tadewosowitsch Atowmjan : aus-gerechnet sie fassten die vorgeschriebenen Werke Stalins zusammen. Die Sinnlosigkeitdieses Unternehmens und eine gewisse, sagen wir, Ritualhaftigkeit verstärkte noch derUmstand, dass der Dozent so tat, als bemerke er die anderen Handschriften Glikmansund Awtomjans nicht, die der Handschrift Schostakowitschs absolut nicht ähnlich waren.Übrigens war Glikman in unserem Haus zugegen, als �Genosse Troschin� das erste Malbei uns auftauchte, und es existiert eine Beschreibung dieses Besuchs.

Isaak Glikman � Der Besucher betrachtete das Arbeitszimmer aufmerksam, lobtedie Einrichtung und verlieh in sanfter Form, sogar mit schuldbewusstem Lächeln, derVerwunderung bezüglich des Umstands Ausdruck, dass er an den Wänden hier keinPortrait des Genossen Stalin sehe. Die Zeit war schwer. Die Verwunderung klang vor-wurfsvoll. Dmitri Dmitriewitsch geriet in Verwirrung, begann nervös durchs Zimmer zugehen und platzte schlieÿlich damit heraus, dass er unbedingt ein Portrait des GenossenStalin anscha�en werde. Wahr ist, dass das Versprechen unerfüllt blieb, weil Stalin-Portraits bald aus der Mode kamen.

Michail Ardow � Damals waren absolut alle verp�ichtet, marxistische Theoriezu studieren, und die Musiker, wie wir gesehen haben, waren keine Ausnahme. Fol-gende Begebenheit fällt mir wieder ein. Der berühmte Dirigent Wassili WassiljewitschNebolsin1 legt sein Examen in dieser Disziplin ab. Der Dozent stellt ihm die Frage :�Welche Bedingungen gibt es für die Machtergreifung durch das Proletariat ? � Nebolsinschaut ihn an und fragt hö�ich zurück : �Pardon, durch wen ? �

1 Wassili Wassiljewitsch Nebolsin (1898 - 1958), sowjetischer Dirigent

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Zur der Zeit, als Swjatoslaw Richter1 das Moskauer Konservatorium abschloss, warschon klar, dass er ein groÿartiger Musiker sei und dass sein Name unbedingt die soge-nannte �Goldene Tafel� zieren müsse, auf der alle herausragenden Absolventen verzeich-net sind. Doch da trat ein Hindernis auf : Swjatoslaw Teo�lowitsch war unter keinenUmständen dazu in der Lage, sich diese ganze marxistische Theorie anzueignen. Nunkonnte aber jemand, der in besagtem Fach keine ausgezeichnete Note erhalten hatte,keinen Anspruch auf die �Goldene Tafel� erheben. Die Vorgesetzten führten Verhand-lungen mit dem Dozenten für Marxismus : sie erklärten ihm, wer dieser Richter sei, undwie wichtig es wäre, ihn unter den besten Absolventen aufzuführen. Im Ergebnis sagteder Marxist zu, Nachsicht üben und Swjatoslaw Teo�lowitsch eine sehr einfache Fragestellen zu wollen. Beim Examen fragte der Dozent also : �Wer waren Karl Marx undFriedrich Engels ? � Richter dachte nach und sagte : �Die ersten Sozial-Utopisten ! � DerMarxist gri� sich verzweifelt an den Kopf.

Den in dieser Theorie nicht Bewanderten zur Erklärung : als �Sozial-Utopisten�

bezeichnet man bei ihnen Thomas Morus, Tommaso Campanella und andere Phantasten,

Marx und Engels aber werden als Gründerväter des �wissenschaftlichen Kommunismus�

verehrt . . .

Und noch eine kurze Geschichte zum Thema �Musiker und Marxismus�. Sie ereignetesich im Gnessin-Institut2. Das Examen in dialektischem Materialismus fand statt. (Hierist anzumerken, dass in künstlerischen Studieneinrichtungen fast alle Dozenten solcherDisziplinen an einem Minderwertigkeitskomplex litten.) Einer von den Jungs legte einederartige Ignoranz an den Tag, dass der Prüfer ihn mit einiger Herausforderung fragte :�Gestatten Sie, was sind Sie selbst � Materialist oder Idealist ? � � Ich bin Bajanist3 �,antwortete der junge Musiker demütig. �Geben Sie mir eine Drei . . . �

1 Swjatoslaw Teo�lowitsch Richter (1915 - 1997), russlanddeutscher Pianist2 Gnessin-Institut Moskau, gegründet 1895, Elite-Musikhochschule3 Bajan-Spieler, das Bajan ist die osteuropäische Form des Chromatischen Knopfakkordeons

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27 � Studien in Ideologie 2

Galina � �Antworten Sie mir auf folgende Frage�, sagt unser Vater zu einer Stu-dentin. �Was ist Revisionismus ? �

Das war an dem Tag, als Schostakowitsch selbst in die Haut eines Dozenten derbolschewistischen Ideologie schlüpfen, genauer gesagt, bei der Prüfung von Studentenmithelfen musste, die dieses Fach ablegen wollten. Im Konservatorium gab es eine Regel :niemand durfte ein Examen allein abnehmen, jedem Prüfer wurde verbindlich ein wei-terer Kollege zur Seite gestellt, üblicherweise ein Mitarbeiter eines anderen Instituts.

Das Examen in marxistischer Philosophie fand statt. Ein Spezialist besagten Facheshielt es ab, als Assistent aber wurde Schostakowitsch benannt. In der Prüfung schwieger und stellte keine Fragen. Nun verlieÿ da der Marxist das Auditorium wegen einesbestimmten Bedürfnisses, und Vater blieb ganz einsam zurück. Sogleich nahm vor ihmeine junge Frau Platz, deren Grad an Vorbereitung schon beim ersten Blick zu erahnenwar : sie war furchtbar aufgeregt und hantierte nervös mit ihren Spickzetteln herum.�Gut�, sagte Schostakowitsch, � legen wir nun Ihre Aufzeichnungen beiseite . . . � Und dastellte er ihr seine Frage über den Revisionismus. Das Fräulein dachte ein bisschen nachund formulierte es so : �Revisionismus ist das höchste Stadium in der Entwicklung desMarxismus-Leninismus.� Nachdem er diese Antwort gehört hatte, erbarmte sich Vaterder Studentin : er gab ihr eine ganz und gar nicht verdiente Eins, und sie entferntesich, von ihrem Erfolg be�ügelt. Der Hauptprüfer kam zurück ins Auditorium, woraufSchostakowitsch ihm mitteilte : �Bei mir hier war die Iwanowna, ich habe ihr ein �her-vorragend� gegeben.� �Der Iwanowna ? � fragte der Marxist zurück. �Die war bei Ihnen�hervorragend� ? � �Ja�, sagt Vater, � sie hat alles beantwortet.� �Sonderbar�, sagte derMarxist, �die Iwanowna war bei mir das ganze Jahr grottenschlecht . . . �

Michail Ardow � Schostakowitsch nahm es, Gott sei Dank, bei dieser abgelegten

Prüfung mit dem professionellen Marxismus nicht so ganz genau. Die Antwort hätte ihn

sonst schockieren müssen : �Revisionismus� ist für Marxisten ungefähr dasselbe wie für

Christen �Ketzerei�.

Maxim � Mir fällt ein ähnlicher Fall ein. Im selben Examen, auch über Marxismus,sagte der Hauptprüfer zu Schostakowitsch : �Warum schweigen Sie dauernd ? Stellen Sieden Studenten irgendwelche Fragen.� Im Auditorium, wo das Examen stattfand, hingein Plakat an der Wand, auf dem die Worte geschrieben standen : �Die Kunst gehörtdem Volk. W. I. Lenin�. Und dieses Plakat befand sich direkt über den Häuptern deram Tisch sitzenden Prüfer. Nun also, Schostakowitsch entschloss sich, sein Schweigenzu brechen und damit zugleich dem nächsten Studenten zu helfen, und stellte folgendeFrage : �Wem gehört die Kunst ? Welche Meinung äuÿerte Lenin in dieser Hinsicht ? �Der Student verstand überhaupt nichts und konnte keinerlei Antwort geben.

Vater versuchte ihm unter die Arme zu greifen und wies mit einer Kopfbewegung aufdas hinter ihnen hängende Plakat. Aber all seine Bemühungen erwiesen sich als nutzlos �der Prü�ing verstand gar nicht, womit Schostakowitsch ihm da zu Hilfe kommen wollte.

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28 � Der Tod Stalins

Galina � Aus dem Telefonhörer erklingt Vaters aufgeregte Stimme : �Geh nirgendshin, gleich wird ein Auto zu dir kommen.�

Das ist am 6. oder 7.März 1953. Moskau nimmt Abschied vom verstorbenen �groÿenFührer�. Die Eltern verstanden sehr gut, dass es in diesen Tagen gefährlich war, auf dieStraÿe zu gehen, aber ich war nicht zu Hause geblieben. Zu Fuÿ war ich zum Roten Torgegangen (auÿerhalb des Gartenrings gab es überhaupt keine Absperrungen), zu MuttersVerwandten, den Warsars, von dort rief ich Vater an. Er schickte sofort ein Auto zu mir,das mich glücklich heim brachte. In diesen Tagen gab es bei uns in der Familie keineTrauer. Allerdings auch kein Frohlocken. Wie wir uns erinnern, starb am selben Tag wieder allmächtige Tyrann auch Sergei Sergejewitsch Prokofjew. Aus diesem Grund standbei uns zu Hause das Telefon nicht still � die Musikerkollegen riefen Vater an. Einer vonihnen sagte : �Ach, schade, dass Sergei Sergejewitsch nicht erfahren konnte, dass Stalingestorben ist.�

Maxim � An diesen Tag erinnere ich mich sehr gut. Papa geht aufgeregt durchs Zim-mer und wiederholt : �Jetzt kommt die Chodynka, jetzt kommt die Chodynka . . . gebeGott, dass Galia nicht zerquetscht wird . . . man hätte sie nicht gehen lassen dürfen, manhätte sie nicht gehen lassen dürfen . . . �

Galina � Die Begräbniszeremonie für Stalin wurde im Radio übertragen. Ich erin-nere mich, wie aus dem Apparat Worte in starkem georgischen Dialekt drangen : �Wernicht blind ist, der sieht . . . � Das war die Rede Berijas1. Bei uns zu Hause gab es ein Ton-bandgerät, und unsere Mutter zeichnete damit all das auf. Leider ging das Band dannverloren. Aber Vater machte manchmal in Alltagssituationen Berijas Stimme nach : �Wernicht blind ist, der sieht . . . �

Michail Ardow � Auch ich erinnere mich sehr gut an diesen Tag, den 5.März 1953.In unserer Schule fand im Grunde überhaupt kein Unterricht statt, alle schluchzten,Lehrer wie Schüler . . . Mein jüngerer Bruder Boris kam nach Hause aus seiner Schule,wo auch alle weinten. Beim Betreten des Esszimmers aber sah er plötzlich Vater vor demSpiegel stehen, wie er tänzelte und leise sang : �Endlich ist er doch verreckt, endlich ister doch verreckt . . . � Boria sagte uns daraufhin, in seiner Seele seien irgendwann �dieGefühle des Pawlik Morosow2� erwacht . . .

Und schon am 7.März kletterte ich über ein glattes, vereistes Dach, wobei ich dieMöglichkeit in Kauf nahm, abzustürzen und unten auf dem Asphalt aufzuschlagen. Vorund hinter mir waren noch zwanzig weitere von solchen Verrückten. Jetzt � ein Sprungnach unten, in einen aufgetauten Schneehaufen, � und wir waren fast am Ziel . . . dasDach und der Hof zwischen der Stoleschnikow- und der Kamergerski-Gasse.

1 Lawrenti Pawlowitsch Berija (1899 - 1953) sowjetischer Politiker, ab 1938 Chef des Geheimdienstes2 Pawel Tro�mowitsch Morosow (1918 - 1932), sowjetischer Bauernjunge und Pionier, sozialistischeHeldengestalt bei der Durchsetzung der Kollektivierung

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Wir alle, darunter auch ich mit zwei Freunden, gaben damals das letzte, um unterUmgehung der endlosen Schlange in den Säulensaal1 zu gelangen und den toten Stalin

anzuschauen. Mir war da eine Idee gekommen. Mit meinen fünfzehn Jahren hatte icherfasst, dass man ja ganz einfach von der Seite hineingehen könne, auf der die Leuteherauskamen, die schon drinnen gewesen waren. Gesagt � getan. Vom Majakowski- biszum Puschkinplatz waren die Absperrungen undicht, und ich konnte mich mit den Freun-den ohne besondere Mühe durchdrängen. Vom Puschkinplatz ab musste man durch dieanliegenden Höfe gehen, so kamen wir zur Stoleschnikow-Gasse. Wir reihten uns in dieSchlange fast ganz vorne ein und nach zwanzig Minuten waren wir dort, wo die vomSchmerz aufgewühlten unübersehbaren Massen vergeblich hinstrebten.

Im Gedächtnis geblieben ist mir nur das üppige Grün, das den Sarg umgab, ja, unddie Klänge der Trauermusik. Die Menschen meiner Generation wissen es noch : einigeTage in Folge ertönte aus allen Lautsprechern klassische Musik � ein ununterbrochenesVirtuosenkonzert. Ein Fest für Melomanen ! . . . David Fjodorowitsch Oistrach2 erzählteeiner unserer gemeinsamen Bekannten davon : Als der Sarg Stalins im Säulensaal stand,spielten sie, die besten Musiker, der Reihe nach am Stück. Auch erholen und stärkendurften sie sich dort. Hinter den Kulissen (wie sonst sollte man den angrenzenden Raumnennen ?) standen Stühle und ein Tisch mit belegten Brötchen und Tee. Irgendwannschaute Chruschtschow hinter diesem Vorhang vorbei � mit unrasiertem, müdem aberzufriedenem Gesicht. Als er die dort sitzenden berühmten Musiker sah, sagte er halb-leise : �Freut euch, Kinder ! � Und das kahle Haupt verschwand wieder.

Noch etwas zu den Musikern. Jemand sah J.G.Gilels3 weinen und wollte sie trösten :�Nun, was grämen Sie sich denn so . . . wir werden wieder Führer haben ! Na ja, vielleichtkeine solchen wie Stalin . . . � �Ja, ich pfeife auf euren Stalin ! � antwortete sie. � Ich weinedeswegen, weil Sergei Sergejewitsch Prokofjew gestorben ist . . . �

Der Komponist Andrei Wolkonski4 erzählte mir, dass ihm und anderen SchülernSergei Sergejewitschs wegen der Ausrichtung seines Begräbnisses eine Menge Ärger ent-standen sei. Prokofjew lebte in der Gorki-Straÿe, aber einen Bestattungswagen dorthinzu bringen, war wegen der Absperrungen unmöglich. Seine Schüler trugen den Sarg einigeHäuserblöcke weit auf ihren Schultern, ihr Schmerz aber verband sich in keiner Weisemit dem Schmerz derer, die zum Säulensaal drängten.

1 Säulensaal des Gewerkschaftshauses in Moskau2 David Fjodorowitsch Oistrach (1908 - 1974), bedeutender sowjetisch-jüdischer Geiger3 Jelisaweta Grigorjewna Gilels (1919 - 2008), russische Geigerin, Schwester des Pianisten Emil Gilels4 Fürst Andrei Michailowitsch Wolkonski (1933 - 2008), russischer Komponist, Dirigent, Cembalist

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29 � Schwänzen

Galina � Ein Winterabend fällt mir ein. Vater sitzt am Tisch und legt Patiencen.Ich aber trete wie unabsichtlich zu ihm heran und beginne zu husten. Er schaut michbesorgt an und sagt : �Hast du Husten ? Hast du dich erkältet ? � �Nein�, sage ich, �dasist nichts ernstes . . . � Ich war auch wirklich nicht erkältet, nur stand mir morgen inder Literaturstunde das Schreiben eines Aufsatzes bevor, und dem wollte ich unbedingtentkommen. Vater steht vom Tisch auf, legt seine Hand�äche an meine Stirn und sagt :�Meinem Eindruck nach hast du erhöhte Temperatur. Jedenfalls gehst du morgen nichtzur Schule.� Um unsere Gesundheit war er immer sehr besorgt, und Maxim und ich �aber das war früher � haben ihn dabei ausgenutzt.

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30 � Geburtstage

Galina � Vater feiert seinen Geburtstag. Wie immer brennt eine Menge Kerzen, amTisch sitzen elegante Gäste. Unter ihnen ist auch unser Nachbar in der Moschaiskoje-Chaussee, der Diplomat Wladimir Iwanowitsch Bazykin mit seiner Frau Lidija Alexan-drowna, einer überaus eindrucksvollen Dame. Nach Moskau war das Paar soeben ausAmerika zurückgekehrt, was in diesen Zeiten soviel bedeutete wie von einem anderenPlaneten. An der Wand direkt über Madame Bazykina befand sich ein Leuchter mitzwei brennenden Kerzen. Eine von ihnen wurde plötzlich weich und das Wachs �ng an,auf die bloÿe Schulter des eleganten Gastes zu tropfen. Es gab ein Durcheinander, manleistete ihr Hilfe, setzte sie auf einen sicheren Platz. Das war in seinem fünfzigsten Jahr,Mama lebte noch.

Vater hielt sich an folgende Regel : zu seinem Geburtstag zündete er soviele Kerzenan, wie er Jahre alt war. Diese Gewohnheit ge�el seinen Freunden sehr, löste sie dochein für allemal das Problem der Geschenkauswahl. Alle wussten, Schostakowitsch müsseman Kerzenständer schenken, mit jedem Jahr brauche es mehr. Ich erinnere mich, Vaterging einmal am Tag vor seinem Geburtstag irgendwo hin und kehrte dann mit einemriesigen Paket zurück, das er mit groÿer Vorsicht trug. Er stellte seine Last auf denTisch, nahm das Papier weg, und wir erblickten einen riesigen Kristalllüster, der fürzwölf Kerzen ausgelegt war. Seit der Zeit stand dieser Leuchter immer genau in derMitte des Geburtstagstisches.

Jedesmal vor Ankunft der Gäste beschäftigte sich Vater mit den zahlreichen Kerzen-ständern : er stellte die Kerzen akkurat auf, kürzte die Dochte, damit alles bereit warund es keine Hindernisse beim Abbrennen geben konnte. Und überall waren Streich-holzschachteln hingelegt . . .

Und noch eine Erinnerung, die mit der Ankunft der Gäste verbunden ist : In unsererWohnung am Kutusow-Prospekt war einer der Heizkörper nicht unter dem Fenster, son-dern direkt an der Wand befestigt. Als sich die Gäste in der Wohnung verteilten, wolltesich einer der Angekommenen auf eben diesen Heizkörper setzen. Aber da wurde Vaternervös und sagte zu irgendeiner gewichtigen Besucherin : � Ich bitte Sie sehr, setzen Siesich nicht auf den Heizkörper. Er kann abreiÿen, und dann �ieÿt rostiges, kochendesWasser heraus . . . �

Maxim � Ich möchte einige Worte über Lidija Alexandrowna Bazykina hinzufügen.Sie war auÿerordentlich schön. Es genügt zu sagen, dass sie während ihrer Zeit in Amerikaals Modell gearbeitet hatte, ihre Fotos wurden in Modezeitschriften abgedruckt. Zudemverfügte sie über eine wunderbare Stimme. Ihr Mann bat Vater einmal, ihr beim Singenzuzuhören. Papa hörte zu und sagte : �Sie haben eine wunderbare Stimme, Sie müssenstudieren ! � Und nachdem sie Unterricht genommen hatte, begann sie im Stanislawski-und Nemirowitsch-Dantschenko-Theater zu singen . . .

Noch etwas zu den Kerzenständern : Zwei überaus kostbare Leuchter � bronzene, mitkristallnen Anhängern � bekam Vater von Chatschaturjan geschenkt.

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Galina � Ja, und wo wir jetzt schon über Tischsitten sprechen � überhaupt nichtertragen konnte Vater schmeichlerische Tischreden. Um dem vorzubeugen, rief er, kaumdass die Wein- und Wodkagläser gefüllt waren, gleich selber aus : �Nun, lasst uns aufmeine Gesundheit trinken ! �

Aram Chatschaturjan � Es war schwierig, Dmitri Dmitriewitsch Schostakowitschdirekt persönlich Lob auszusprechen. Ich hatte ein paarmal die Gelegenheit, mit ihmam selben Tisch zu sitzen, besonders in Georgien und Armenien : Als man auf seineGesundheit trank, erhob man die Gläser und begann mit den berühmten kaukasischenTrinksprüchen. Schostakowitsch sprang in solchen Fällen eilig auf, unterbrach den Red-ner und sagte : �Nun, lasst uns trinken ! �, um die über�üssigen Lobreden und honigsüÿenSchmeicheleien abzubrechen . . .

Isaak Glikman � In Moskau bereitete man das fünfzigjährige Jubiläum Schostako-witschs vor, dem er mit groÿer Gereiztheit, Langeweile und Schwermut entgegensah.Schon im Voraus ängstigte ihn die Menge der Jubiläums-Reden, die viel Falschheit undSchmeichelei enthalten würden. Diejenigen, die ihn zuvor immer verfolgt hatten, würdensich nun mühsam die Maske der glühenden Anhänger überstülpen und ihn herzen.

Die Abendveranstaltung fand statt am 24. September im überfüllten groÿen Saal desKonservatoriums. Dmitri Dmitriewitsch befand sich auf der Estrade, von Blumenkör-ben umgeben. Er sah ganz und gar nicht glücklich aus. Es kostete ihn Mühe, Redenmit Interesse zu folgen, die für ihn ganz uninteressant und unnötig waren. Jeder Red-ner versuchte, ihn am Ende seiner Ausführungen zu küssen, aber ich bemerkte, wie ergeschickt und wie zufällig mit dem Ellenbogen diejenigen von sich wegstieÿ, die ihmunangenehm und unsympathisch waren. An der Abendveranstaltung nahmen natürlichauch die teil, die Schostakowitsch liebten und wirklich hochschätzten � als Menschenund als Komponisten.

Am nächsten Morgen warf Dmitri Dmitriewitsch zerstreute und irgendwie befremdeteBlicke auf den Haufen von Geschenken, die man ihm zum Jubiläum überreicht hatte.Diese Geschenke erschienen ihm ebenfalls uninteressant und über�üssig. Wir hatten ver-einbart, beim Morgentee nicht über das Jubiläum zu sprechen, auch wenn dabei nichtsSchlimmes passiert war.

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31 � Kinobesuche

Galina � Von der Leinwand trieft Musik und eine Frauenstimme singt : �TanzeTango, ich fühle mich so leicht . . . � Ich aber fühle mich gar nicht leicht, denn neben mirim halbdunklen Saal sitzt Vater, und in seinem Gesicht drückt sich völliger Widerwillesowohl der Musik als auch dem Gesang gegenüber aus, überhaupt gegenüber allem, waswir auf der Leinwand sehen.

Der Ort des Geschehens war das �Prizyw�, ein Kino neben unserem Haus in der Mo-schaiski-Chaussee. Ins Kino zu kommen, war in diesen Jahren nicht leicht, aber da halfMaxim und mir der Umstand, dass Vater Abgeordneter im Oberen Sowjet der RSFSR(Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) war. Bei Bedarf tippte er auf seinerSchreibmaschine einen Brief und der Administrator verkaufte uns Sonderbilletts.

Einmal hatte ich beschlossen, zehn Mädchen aus meiner Klasse in eine Vorstellungzu bringen. Vater schrieb auf meine Bitte hin einen Brief an das Kino, aber diesmal be-kamen wir einen Korb. Die Administratorin erklärte : �Der Genosse Schostakowitsch hatals Abgeordneter des Oberen Sowjet Anspruch auf den Erhalt zweier Sonderbilletts. Erkann zu einer Vorstellung mit seiner Frau oder mit einem seiner Kinder kommen. Möge erpersönlich erscheinen und die ihm zustehenden Billetts kaufen.� Nun, und damals hatteich Vater überredet, mit mir in �Peter� zu gehen, eine ziemlich dümmliche Komödie,in der die Schauspielerin Franziska Gaal1 die Hauptrolle spielte. Sie zog sich da einMännerkostüm an, machte Faxen, sang und tanzte. Vater blieb tapfer bis zum Ende desFilms sitzen, obwohl sein Gesicht, ich wiederhole mich, gequält aussah. Und als wir nachHause gingen, sagte er : �Führe mich bitte nicht mehr ins Kino . . . �

Maxim � Als Kind ging ich sehr gern ins Kino. Und dafür � das ist aber vorbei �verlegte ich mich auf's Fälschen. Ich nahm ein Abgeordneten-Formular von Vater, tipptemit einem Finger auf seiner Schreibmaschine einen Brief an eben dieses Kino �Prizyw�und machte dann seine Unterschrift nach. Bis jetzt erinnere ich mich an den Text diesergefälschten Briefe : � Ich bitte um den Verkauf eines Billetts für die laufende Vorstellung�.Auf diese Weise sah ich einige Male �Tarzan�2.

Michail Ardow � Damals liebte ich das Kino nicht weniger als Maxim. Nicht weitvon unserem Haus war eines der besten Kinos Moskaus � das �Udarnik�. Mein Vater,der Schriftsteller Viktor Ardow, war bei weitem nicht so berühmt wie der KomponistSchostakowitsch, aber die Administratoren des �Udarnik� kannten ihn und mochtenihn sogar, weil er ihnen seine lustigen kleinen Bücher schenkte. Mit dem Heranwachsenwurde meine Stimme der väterlichen ziemlich ähnlich und ich nutzte diesen Umstandungefähr so, wie Maxim das Abgeordneten-Formular seines Vaters. Ich rief den Admini-strator des �Udarnik� an, gab mich als Viktor Ardow aus und bat darum, seinem SohnMichail Billetts für irgendeinen populären Film zu verkaufen . . .

Aber Kino zu Beginn der fünfziger Jahre steht in meiner Erinnerung vor allem in

1 Franziska Gaal (1903 - 1972), ungarische Schauspielerin2 Dschungelheld, Roman�gur von Edgar Rice Burroughs, seit 1914 in unzähligen Fortsetzungen

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Verbindung mit Schwänzen, ich ging in die damaligen Filme, anstatt in die Schule zugehen. Es gab allerdings auch ein Übel in diesen Jahren : in der Sowjetunion kamen nichtmehr als zehn Streifen pro Jahr heraus, und jeder davon lief mehrere Wochen in allenMoskauer Kinos. Irgend so einen idiotischen Film wie �Kosaken aus dem Kuban� mussteich zwanzig mal anschauen.

Meistens gingen wir alle, die Schwänzer aus der Schule Nr. 12, in dieses nächstliegendeKino �Udarnik�. Die erste Vorstellung begann dort um zehn Uhr vormittags, unserUnterricht dagegen um halb neun. Aber seit einiger Zeit �ngen wir an, weiter von unsererSchule entfernte Orte aufzusuchen. Die Sache war nämlich die, dass unser Direktor (mitSpitzname �Kolos�) manchmal selbst ins �Udarnik� ging und sich neben die Kassestellte. Wenn er dann in der Schlange irgendeinen seiner Schüler erblickte, sagte er miteinem gewissen Hohn : �Du solltest besser zur Schule gehen.� Und der auf frischer Tatertappte Schwänzer schleppte sich traurig in die zweite Stunde.

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32 � Kindergeburtstag

Galina � Schostakowitsch spielt am Flügel den zu seiner Zeit bekannten Foxtrott�Tea for two� und an der Wand seines Zimmers entlang stehen meine verzagten Klassen-kameradinnen. �Na los, tanzt, tanzt ! � fordert Vater sie auf, aber die Mädchen stehenwie angewurzelt da. Ich hatte sie zu meinem Geburtstag geholt. Zuerst gab es ein Essen,am Tisch saÿen die Eltern, der Bruder Maxim und meine Gäste. Aber sie fühlten sichangespannt, keine von ihnen machte den Mund auf. Diese Mädchen lebten in gruse-ligen sowjetischen Gemeinschaftswohnungen, und unsere Einzelwohnung, in der es zweiFlügel und alte, bequeme Möbel gab, erschien ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach wieein Märchenpalast. Als man vom Tisch aufstand, beschloss Vater, die Stimmung zuentspannen. Er lud uns in sein Zimmer ein, setzte sich an den Flügel, spielte Foxtrottsund Tangos, aber damit konnte er meine Klassenkameradinnen nicht begeistern. Wieheute höre ich seine Stimme : �Na los, los, tanzt ! Eine mit der anderen . . . � Zwei oderdrei bewegten sich etwas unschlüssig, aber das Eis wollte so nicht schmelzen.

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33 � Michailowskoje

Galina � Ein Polizist hält unseren Wagen an. �Sie wollen nach Michailowskoje1 ? �fragt er. �Da gibt es keine Durchfahrt mehr, Sie müssen zu Fuÿ gehen.� Vater zeigt seinAbgeordneten-Buch, und unser Auto kann passieren.

Das war im Jahre 1952, Anfang Juni. Wir mussten von Moskau nach Komarowoumziehen, und Vater beschloss, unterwegs die Puschkin-Orte zu besuchen. Je näher dasNaturschutzgebiet kam, umso mehr belebte sich die Straÿe : Lastwägen voller Menschen,PKWs. Und das alles bewegte sich in derselben Richtung wie wir. In Michailowskoje fan-den wir ein Meer von Menschen vor. Vater war gerührt : �Schaut nur, wie man den groÿenDichter ehrt ! Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass er soviele Anhänger hat ! � ImMuseumsgebäude trafen wir einen Führer. Vater stellte sich ihm vor und sagte : �Wiegut, dass wir gekommen sind ! Soviele Leser hat der Dichter ! � �Ja, was hat denn das hiermit dem Dichter zu tun ?! � Der Führer schlug die Hände zusammen. �Pfeifen tun sieauf Puschkin ! Zum Saufen sind sie hergekommen ! Heute ist doch der �neunte Freitag�,früher war da das Patronatsfest im Swjatogorski-Kloster. An diesem Tag gab es hier seitalters her eine Zecherei. Aber für das Museum ist das einfach schlimm : Sie saufen hierherum, kotzen den ganzen Park voll, vermüllen alles, zerschlagen Gläser. Drei Wochendauert es, das Anwesen wieder in Ordnung zu bringen. Und das jeden Sommer . . . �

Aus dem Tagebuch des Kleinbürgers I. I. Lapin aus Opotschka ��1825. Am 29.Mai war ich auf den heiligen Bergen zum `neunten Freitag'. . . und da hatteich das Glück, den Herrn Alexander Sergejewitsch Puschkin zu sehen, der in gewisserWeise mit seiner sonderbaren Kleidung überraschte. Auf dem Kopf trug er einen Stroh-hut, bekleidet war er mit einem roten Kattunhemd und gegürtet mit einem blauen Band,in der Hand hielt er einen eisernen Spazierstock. Er hatte lange schwarze Koteletten,die eher in Richtung eines Bartes gingen, ebenfalls lange Fingernägel. Damit schälte erOrangen und aÿ sie mit groÿem Appetit, ich glaube ungefähr ein halbes Dutzend . . . �

1 früheres Landgut, heute Naturschutzgebiet und Puschkin-Gedenkstätte in der Oblast Pskow,auf dem Gelände des dortigen Swjatogorski-Klosters be�ndet sich das Dichtergrab

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34 � Nina Wassiljewnas Tod

Galina � Ich schaue aus dem Fenster und sehe eine grenzenlose weiÿe Ebene. Dassind die Wolken, über denen unser Flugzeug �iegt. Und ich denke, dass es sehr langsam�iegt. Wenn es sich doch so schnell wie möglich bewegen würde ! Neben mir sitzt Vater,wir �iegen nach Jerewan : dort ist Mama ins Krankenhaus gekommen.

Sie war Physikerin und beschäftigte sich mit kosmischer Strahlung. In Armeniengab es ein Hochgebirgsobservatorium auf dem Aragaz, Mama fuhr in regelmäÿigen Ab-ständen zur Arbeit dorthin. So auch im Herbst 1954, im Dezember erwarteten wir siezurück. Plötzlich ein Anruf aus Jerewan. Vater war im Konzert, nur so als Zuhörer.Man machte ihn im Publikum aus�ndig und teilte ihm mit, dass Mama ins Kranken-haus gekommen sei und eine schwere Operation gehabt habe. Und so �ogen wir nachJerewan. Vom Flughafen eilten wir ins Krankenhaus. Es gab Gespräche mit den Ärzten.Man sagte uns, Mama sei bewusstlos. Wir begannen, die wichtigsten Fragen zu klären :Wie wir einen Rund-um-die-Uhr-Dienst einrichten könnten, wer in der ersten Nachtbei ihr bleiben würde. Eben da kam irgendein Mensch im weiÿen Kittel herein underklärte, dass sie gestorben sei. Alles Weitere geschah wie im Traum . . . was in Jere-wan zu erledigen war . . . wir fahren im Zug nach Moskau . . . der Sarg in unserer Woh-nung . . . Verwandte, Freunde, Nachbarn � alle kamen, um Abschied zu nehmen . . . derNowodewitschi-Friedhof . . . wieder nach Hause zurück � Leichenschmaus . . . In diesenTagen sah ich Vater das erstemal weinen.

Maxim � Als sie nach Jerewan �ogen, hatte Vater so eine Vorahnung. Mich wollteer nicht dorthin mitnehmen. Und ich erinnere mich, wie ich dasaÿ und auf den Telefon-anruf wartete. Ich hatte Hausschuhe, die aufgerissen waren, und versuchte, sie selbst zu�icken. Genau in dem Augenblick kam der Anruf aus Jerewan. Vater sagte : �Mutter istgestorben.� Ich hatte das Gefühl, ihm irgendwie helfen zu müssen und �ng an, etwas inder Art zu sagen, versuchte, ihn zu beruhigen . . . Er und Galina kamen mit dem Zug,der Zinksarg aber im Flugzeug. Ihn begleitete der armenische Komponist Chudojan1.Auf dem Friedhof zeigte man, wo Mutters Grab sein würde, Vater sagte : �Na, auch fürmich ist hier ein Plätzchen, auch für mich ein Plätzchen . . . �

Der Dezember war sehr kalt, aber ich hatte damals keine warme Kleidung. So batPapa am Tag vor der Beerdigung Mutters Freundin Anna Semjonowna Williams, mitmir in einen Laden zu gehen und mir einen Mantel zu kaufen.

Auf dem Friedhof erlaubte Papa nicht, dass Reden gehalten würden. Das Schweigenwurde gebrochen von seinen Worten : �Es ist sehr kalt. Sehr kalt. Gehen wir auseinan-der . . . �

Isaak Glikman � In den qualvollen Stunden, die der Beerdigung vorausgingen,setzte Dmitri Dmitriewitsch einige Male dazu an, mir von den letzten Minuten NinaWassiljewnas zu erzählen, und jedesmal begann sein abgemagertes Gesicht krampfhaft

1 Adam Geganowitsch Chudojan (* 1920), armenischer Komponist, Mitglied des von Chatschaturjanund Schostakowitsch ins Leben gerufenen �mächtigen armenischen Häu�eins�

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zu zucken und aus seinen Augen �ossen Tränen, aber mit groÿer Willensanstrengungnahm er sich zusammen und wir gingen in abgerissenen Phrasen zu anderen, wenigerbedeutsamen Themen über.

Durch das Zimmer zog eine lange Reihe von Menschen, die von der Verstorbenengerne Abschied nehmen wollten. Es erklang die Musik der Quartette und der zweitenSymphonie. L. T.Atowmjan hatte zu diesem Zweck ein Tonbandgerät aufgebaut. Ich saÿauf dem Diwan mit Dmitri Dmitriewitsch, der von Zeit zu Zeit lautlos weinte.

Nach der Beerdigung, die am Nachmittag auf dem verschneiten Nowodewitschi-Friedhof stattfand, richtete die Haushälterin Fenja den Leichenschmaus her, bei demauÿer den Verwandten L.T.Atowmjan, G.W. Swiridow 1 und ich anwesend waren.

Mein Abschied von Dmitri Dmitriewitsch war voll von Trauer und Gram. Nachtsam 10.Dezember fuhr ich zusammen mit Swiridow nach Leningrad. Fast ganz bis zumMorgen sprachen wir mit glühender Liebe von Schostakowitsch, von seiner genialen Be-gabung, von seinem phänomenalen schöpferischen Willen, der durch nichts zu brechensei. Böse Kräfte könnten ihn beugen, aber er richte sich wieder auf wie eine Stahlfeder.

Maxim � Mit Mamas Tod verlor unser Vater nicht nur eine Freundin, die Mutter sei-ner Kinder. Sie war vielmehr auch sein Schutzengel gewesen, sie hatte ihm die täglichenScherereien und Unannehmlichkeiten nach Kräften vom Leibe gehalten, ihn geschützt vorder Gemeinheit der Parteibeamten und den Demütigungen des unfreien Sowjetlebens.

1 Georgi Wassiljewitsch Swiridow (1915 - 1998), russischer Komponist.

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35 � Erziehungsfragen

Galina � Ich spreche am Telefon mit einem jungen Mann. Das Gespräch dauertlange, wir vereinbaren ein Rendezvous unter einer bestimmten Uhren-Laterne. Währenddes ganzen Gesprächs sehe ich, wie Vater nervös im Zimmer hin und her geht � o�en-sichtlich ist mein Gespräch nicht nach seinem Geschmack. Ich lege den Hörer auf, dasagt er zu mir : �Was sind das für Manieren � ein Rendezvous vereinbaren unter irgend-einem Torbogen ? Wohlerzogene Menschen machen so etwas nicht. Dein Kavalier soll zuuns nach Hause kommen, sich mit Deinem Vater bekannt machen. Man muss ihm Teeanbieten . . . �

Unsere Mutter starb, als ich 18 Jahre alt war, und Maxim 16. Und für Vater stelltesich nun das Problem unserer Erziehung. Bis heute erinnere ich mich, wie er michVerhaltensregeln lehrte, wie er beispielsweise erklärte, dass beim Hinabsteigen einerTreppe die Frau vorausgehen müsse, beim Hinaufsteigen jedoch hinterher . . .

Vater wurde immer sehr unruhig, wenn ich oder Maxim abends nicht zu Hause war.Wir waren verp�ichtet, zu Hause anzurufen und ihm mitzuteilen, wo wir uns befändenund wann wir zurückkämen.

Zu Erziehungszielen fällt mir manchmal diese Geschichte ein : Noch vor dem Krieggingen die Eltern zu Besuch zu dem Dichter Iossif Utkin1. Es gab ein reichliches Essen,das die Mutter des Dichters vorbereitet hatte. Irgendwann verlieÿ sie das Zimmer, undda stieÿ meine Mama � Nina Wassiljewna � ein Glas mit Rotwein um. Als die Hausherrinzurückkam, entschloss sich Utkin, die Schuld auf sich zu nehmen, er gab diese Fahrläs-sigkeit, sozusagen, geradezu zu. Dafür �el Mütterchen auch über ihn her : �Was bist Duungeschickt ! Was hast Du da angerichtet ?! Das ist mein bestes Tischtuch ! Ich werde esjetzt doch nicht auswaschen ! Was hast nur Du für Hände ?! Warum lässt Du mit ihnenimmer alles fallen ?! �

Wenn Vater diese Episode erzählte, sagte er zu meinem Bruder und mir : �GuteErziehung besteht nicht darin, dass man kein Weinglas auf dem Tischtuch umwirft,sondern darin, dass man, wenn so etwas passiert ist, den Eindruck vermittelt, als obnichts geschehen wäre.�

1 Iossif Pawlowitsch Utkin (1903 - 1944), russisch-sowjetischer Dichter und Journalist

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36 � �Lady Macbeth aus dem Mzensker Bezirk�

Maxim � Bis jetzt höre ich deutlich die heuchlerische Stimme des KomponistenDmitri Kabalewski1. Er wendet sich an meinen Vater und sagt, Wohlwollen vortäuschend :�Mitja, nun, was beeilst Du Dich ? Noch ist die Zeit für Deine Oper nicht gekommen . . . �Schostakowitsch aber sitzt auf dem Diwan, in der zitternden Hand eine Zigarette, undtut so, als ob er Kabalewski nicht hört.

Das geschah im März des Jahres 1956. Bei uns zu Hause fand sich eine Kommissiondes Ministeriums für Kultur ein, sie sollte über das weitere Schicksal der Oper �LadyMacbeth aus dem Mzensker Bezirk� be�nden, die für eine Dauer von zwanzig JahrenAu�ührungsverbot hatte � seit 1936. Eben damals kam Stalin selbst zu einer der Vorstel-lungen, und die Oper erregte seinen Zorn. In der �Prawda� erschien ein vernichtenderArtikel unter der Überschrift �Chaos statt Musik�, und dann folgten �Konsequenzen� :eine Versammlung der Kulturscha�enden, auf der man einstimmig Resolutionen verab-schiedete, die Schostakowitsch und sein Opus zornig verurteilten.

Im Jahre 1953 starb Stalin, im Land begann das Chruschtschow'sche �Tauwet-ter�, und bei unserem Vater keimte die Ho�nung auf, dass �Lady Macbeth� � einesseiner Lieblingswerke � rehabilitiert werden könne. Das erschien völlig im Bereich desMöglichen, dafür überarbeitete Schostakowitsch die Oper sogar. Sie bekam einen neuenTitel : �Katerina Ismailowa�. Eine Aufhebung des Verbots strebte nicht nur unser Vateran, sondern auch die Leitung des �Kleinen Operntheaters� in Leningrad : man wolltedieses Stück dort unbedingt ins Repertoire aufnehmen.

Zu Beginn des Jahres 1956 wurde im Ministerium für Kultur eine Kommissiongebildet, die über das weitere Schicksal der leidgeprüften Oper be�nden sollte. Vor-sitzender der Kommission war Kabalewski, dazu kamen noch, wie ich mich erinnere, derKomponist Michail Tschulaki und ein Musikwissenschaftler namens Chubow. Anwesendwar aber auch noch Isaak Davidowitsch Glikman, er half Vater bei der Neufassung desLibrettos. Der Umstand, dass das Durchhören der Oper und die Kommissions-Sitzungbei uns zu Hause stattfanden, konnte auf zweierlei Weise gedeutet werden : einerseits alsAusdruck des Respekts vor Schostakowitsch, andererseits als subtiler Hohn.

Die Mitglieder der Kommission und die von ihnen eingeladenen Personen befandensich in Vaters Zimmer. Er saÿ am Flügel und sang die ganze Oper zur eigenen Begleitungvor. Ich war damals an seiner Seite : er hatte mich gebeten, die Noten umzublättern.Dann begann die Beratung. Kabalewski, Chubow und Tschulaki stürzten sich buch-stäblich auf Schostakowitsch. Glikman versuchte, ihnen zu widersprechen, aber sie woll-ten von ihm nichts hören. Ich schaute auf diese widerlichen Menschen und bedauerte,dass ich meine Schleuder nicht mehr hatte, mit der ich damals in Komarowo auf dieBeleidiger meines Vaters geschossen hatte . . .

Isaak Glikman � Die Kommission erschien in Dmitri Dmitriewitschs Zimmer amNachmittag zu der vereinbarten Stunde. Alle begrüÿten den Hausherrn freudig. Mirschien nichts auf ein Scheitern des ganzen Unternehmens hinzudeuten. Schostakowitsch

1 Dmitri Borissowitsch Kabalewski (1904 - 1987), russischer Komponist

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war ziemlich aufgeregt und verteilte die beizeiten mit der Schreibmaschine abgetipptenExemplare des Librettos in der Neufassung. < . . . > Dann setzte er sich an den Flügelund trug die Oper wunderbar vor. Nach einer kurzen Pause, in der sich die Kommissions-Mitglieder unnahbar streng gaben, begann die Beratung.

Man unterzog die Oper einer äuÿerst erbitterten Kritik, ganz im Sinne des traurig-berühmten Artikels �Chaos statt Musik�. < . . . > Schostakowitsch hörte den Rednernzu, während er allein auf dem groÿen Diwan saÿ. Er drückte sich an dessen breite Rücken-lehne, wie um dort Halt zu suchen. Seine Augen waren geschlossen. Wahrscheinlich wares ihm unerträglich, seine Kollegen anzublicken, die so gut geübt waren im Übelreden.Auf seinem Gesicht erschien von Zeit zu Zeit eine schmerzliche Grimasse.

Zum gröÿten Missfallen der Kommission sprach ich zweimal, und zwar aufgeregt undfeurig, von der Notwendigkeit, die groÿe Oper unverzüglich aufzuführen, deren Musik vorzwanzig Jahren zum �Chaos� erklärt worden war. G.N.Chubow unterbrach mich immerwieder mit scharfen, kreischenden Zwischenrufen und versuchte, mich zu verwirren. Dasgelang ihm zwar nicht, aber letzten Endes blieb meine Rede die Stimme eines Rufers inder Wüste. Die Kommission beschloss einmütig, �Lady Macbeth� aufgrund ihrer schwe-ren ideologisch-künstlerischen Mängel nicht zur Au�ührung zu empfehlen. Am 14.März1956 kehrte ich aus Moskau nach Hause zurück, besinnungslos und auÿer mir wegender nochmaligen Hinrichtung der �Lady Macbeth�, diesmal vollstreckt von gebilde-ten Musikern. Noch ganz unter diesem Eindruck verfasste ich eine kurze Aufzeichnungdieser denkwürdigen Sitzung, von der aller Wahrscheinlichkeit nach die Schostakowitsch-Biografen nichts wissen. Ich erlaube mir, daraus mit einigen Kürzungen zu zitieren :

�Die Beratung über `Lady Macbeth' kann man nur als schändlich bezeichnen. Chu-bow, Kabalewski und Tschulaki bezogen sich die ganze Zeit auf den Artikel `Chaos stattMusik'. Besonders eifrig taten das Chubow und Kabalewski. Sie brachten bestimmteAusschnitte der Musik mit verschiedenen Abschnitten dieses Artikels in Verbindung, dievoll waren von Beschimpfungen. Dabei wiederholten sie, dass sich bezüglich des Artikelsbis heute nichts geändert, er vielmehr seine Aussagekraft und Bedeutung bewahrt habe.Klar ! Heiÿt es doch darin, in der Oper �bricht die Musik zusammen, grunzt, keucht understickt�.

Einige Stellen der Oper lobte Kabalewski, aber das war doppelt unangenehm zuhören. Zum Abschluss sagte er (in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Kommission),dass man die Oper nicht au�ühren könne, weil sie die Apologie eines mörderischen undliederlichen Frauenzimmers darstelle, und das beeinträchtige ihre moralische Qualität inhohem Maÿe . . . Ich widersprach ziemlich eindringlich, aber alle meine Argumente zer-brachen an diesem Artikel, den Kabalewski und Chubow wie einen Knüppel schwangen.

Am Ende der Debatte bat Kabalewski Dmitri Dmitriewitsch um seinen Kommentar,wobei er ihn in freundschaftlicher Vertraulichkeit mit Mitja anredete, aber der lehnteweitere Äuÿerungen ab, nachdem er sich mit erstaunlicher Selbstbeherrschung für dieKritik bedankt hatte. Im Inneren war er aufgebracht. Wir fuhren zusammen in einRestaurant und tranken ziemlich viel, nicht aus Gram, sondern aus Abscheu. Das warim `Aragwi', in einem eigenen Zimmer. Dmitri Dmitriewitsch stand vom Tisch auf, kamzu mir und sagte : �Du bist mein erster, treuster und liebster Freund. Danke.� Er hattedabei auch mein Verhalten während der heutigen Sitzung im Blick . . . �

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Michail Ardow � Das �Aragwi� war das bekannteste Restaurant in Moskau, wiralle liebten es sehr. Sobald jemand aus unseren Kreisen etwas Geld hatte, begaben wiruns unverzüglich in eben dieses �Aragwi�. Dort emp�ng und bediente uns ein Kellnernamens Ljoscha. Seine Gesichtszüge hatten einen dunkelhäutigen Einschlag, weswegenMaxim Schostakowitsch sich den Spitznamen �Paul Robson� für ihn ausdachte.

Zu besonders festlichen Anlässen (zu irgendjemandes Geburtstag) wies man uns eineigenes Zimmer zu. Und da erinnere ich mich an den Vorabend von Maxims Geburtstag.Wir waren zusammen im Restaurant, und �Paul Robson� nahm unsere Bestellung fürdas morgige Festessen entgegen. Maxim sagt : �Acht Flaschen guten Trockenen und fünfFlaschen Wodka . . . � �Paul Robson� fällt ihm ins Wort : �Maxim, was ist, bist Du ver-rückt geworden ?! Du willst den Wodka hier bestellen, und ihn nicht selber mitbringen ?!Das erlauben nicht einmal wir uns ! . . . �

Komisch waren die Zeiten. Der Kellner aus dem �Aragwi� dachte im Ernst, er stündein der sozialen Hierarchie höher als der Sohn des gröÿten Komponisten.

Maxim � Schostakowitsch schrieb nicht nur die Musik, sondern auch das Libretto zu�Lady Macbeth aus dem Mzensker Bezirk�, weswegen diese Oper ihm als sein geistigesKind doppelt lieb war. Überhaupt verhielt er sich zu seinen Werken wie zu Kindern. Unddiejenigen unter ihnen, die am meisten unter Verboten und ungerechter Kritik zu leidenhatten, waren ihm wertvoller als die übrigen. Aber in �Lady Macbeth� geht es nichtum ein dramatisches, sondern um ein wahrhaft tragisches Schicksal. Schostakowitschentwickelte als Librettist eine klare Vorstellung davon, wie gerade das nicht nur klingen,sondern auch auf der Bühne aussehen sollte.

Theaterregisseure erlaubten, ja erlauben sich da völlig absurde Sachen. Beispielsweisesah ich selbst in einer der jüngsten Au�ührungen einen solchen �Einfall�. Wie man weiÿ,heiÿt es in der Partie des �verkommenen Bauern� : �Bei den Ismailows liegt eine Leicheim Keller ! � Nun also, in besagter Au�ührung lag die Leiche nicht im Keller, sondernim Ko�erraum eines �Lada�1, den man dazu eigens aus Moskau hatte heranscha�enlassen. So eine Wahnidee. Ich äuÿerte diesem Regisseur gegenüber mein Befremden : imAllgemeinen müsse man der Absicht des Autors folgen. Aber er sagte mir : �Nun, MaximDmitriewitsch, so arbeitet jetzt keiner mehr . . . � In derselben Au�ührung gab es eineweitere Widersinnigkeit. Katerina singt : �Die Knechte schütten das Weizenmehl auf.��Das Mehl� heiÿt das. Aber er hat da Leute mit Plastikhelmen und einem Zementsack . . .In einer anderen Au�ührung tauchen auf der Bühne zwischen den Polizisten Mitarbeiterdes KGB auf . . .

Schostakowitsch konnte solche Sachen nicht ertragen, daher bemühte er sich, bei denVorbereitungen zu allen �Lady Macbeths� anwesend zu sein. Für die beste Au�ührunghielt er die im Kiewer Opern- und Ballett-Theater (Dirigent : K.A. Simeonow, Regis-seur : I. A.Molostow, die Premiere fand im März 1965 statt).

Aus einem Brief D. Sch.'s an I. A.Molostow � �Ich habe schon einige Auf-führungen meiner Oper gesehen. In der Londoner Au�ührung und besonders in der

1 sowjetische Automarke

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Zagreber gab es eine sehr starke Tendenz zur erotischen Seite hin, was vollkommen un-zulässig ist. Es gelang mir, einiges davon zu korrigieren. In London mehr als in Zagreb.

Ich hätte sehr gerne, dass im 5.Bild Katerina Lwowna den Tags zuvor verprügeltenSergei so p�egt, wie das eine liebende Frau tun würde. Erotik ist hier unzulässig. Diewichtigsten Gefühle Katerina Lwownas sind Liebe und Mitgefühl für Sergei, Angst umsich selbst und Sergei, Gewissensbisse nach dem Mord an Boris Timofejewitsch. Sergeimuss ein Schurke sein. Aber zu der Zeit muss er so sein, dass man versteht, warumKaterina sich in ihn verliebt hat. Er muss äuÿerlich etwas hermachen. Im Stanislawski-Theater war er schon sehr unscheinbar, und es war unverständlich, wie Katerina sich inso jemanden verlieben konnte . . . �

Aus Notizen D. Sch.'s zu den Proben im Kiewer Opern- und Ballett-Theater � �Zweites Bild. Katerina und Sergei kämpfen miteinander, während sie sichumarmt halten. Sie sollen mit den Unterarmen kämpfen und ihre Kräfte messen : Wergibt nach ? Wenn nach dem Kampf Boris Timofejewitsch auftaucht, sollte Katerinaschnell aufspringen oder sich hinsetzen. Nicht in der alten Position verharren . . .

Drittes Bild. Wenn Sergei das Schlafzimmer betritt, helles Licht in den Türen. Woherkommt es ? Die Sache geschieht doch nachts ! Am Ende des Bildes nach �Meine Katja ! �plötzlich das Licht löschen und Vorhang . . .

Fünftes Bild. Nach den Worten �Drück' mich fester ans Herz ! � Licht wegnehmen.Die Musik soll zu hören sein und sonst nichts. Vor der Ankunft von Sinowi Borissowitschsprechen Katerina und Sergei sehr laut. Besser Flüstern oder Halb�üstern.

Sechstes Bild. Der verkommene Bauer kann nicht ohne weiteres in den Keller ein-dringen, er muss ein Schloss abreiÿen oder eine Tür aufbrechen.

Vierter Akt. Sonjetkas Spott über Katerina. Sonjetka muss boshafter sein. In Sergeiist sie nicht verliebt. Der Kuss mit Sergei scheint mir über�üssig.

Der alte Zwangsarbeiter muss älter sein. Soll er doch aussehen wie Lew Tolstoi.Am Ende eines jeden Aktes muss das Licht im Zuschauerraum schneller angehen,

damit das Publikum weiÿ, jetzt ist Pause und man kann zum Bu�et gehen . . . AllesÜbrige ist wunderbar organisiert !!! �

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37 � Autofahren, Autorenrechte

Galina � Unser Auto fährt auf der Primorski-Chaussee, ich sitze am Steuer, Vaterneben mir. Ich bin schrecklich aufgeregt : eben fahren wir nach Leningrad hinein, wotausende von Autos hin und her schieÿen. Und meine Fahrpraxis kann man vergessen.

Das war im Sommer 1956. Anfang Sommer wurde unser �Pobeda�1 nach Komarowoüberführt, wo er dann in aller Ruhe stand. Und da erklärt mir Vater plötzlich : �Morgenfährst Du mich nach Leningrad�.

Die Aufregung war umsonst, alles ging gut. Vor allem, weil er mich anleitete : erwarnte vor Kurven, zeigte die Spur an, in der man fahren musste. Die Fahrtheorie kannteVater aus dem E�e�. Nur mit der Praxis gab es Probleme, hinter dem Steuer wollte ernicht sitzen.

Beim Kauf unseres ersten �Pobeda� kam es zur folgenden Geschichte. Ein Auto zubekommen war damals eine langwierige Angelegenheit, und erforderlich war natürlichdie unbedingte Anwesenheit des künftigen Besitzers. So fuhr Vater also selbst in denLaden und überführte das Auto nach Hause. Es fuhr ziemlich schlecht.

Vater parkte das Auto neben unserem Haus, schloss die Tür ab und wollte gehen. Indem Augenblick rief ihm irgendein anderer Fahrer zu : �He, Du mit der Brille ! Schau,was mit Deinem Auto los ist ! � Vater schaute und sah, dass es aus den Rädern herausrauchte. Es stellte sich heraus, dass er die ganze Strecke vom Laden nach Hause mitangezogener Handbremse gefahren war.

Maxim � Ich erinnere mich an eine weitere derartige Geschichte, Mama hat sieerzählt. Sie sagte einmal zu Vater : �Du hast doch einen Führerschein, komm, lass unsmit dem Auto irgendwohin in die Stadt fahren . . . � Sie fuhren zum Hunde-Platz2, dorthatten wir eine Garage. Vater setzte sich ans Steuer, lieÿ den Motor an und begannloszufahren. Doch dabei hatte er vergessen, die Türe zu schlieÿen, er streifte mit ihr einTor und sie wäre beinahe abgerissen. Als Ergebnis wurde die Reise abgebrochen, dieEltern schlossen die Garage ab und gingen heim.

Bei alledem parodierte Vater manchmal den Fahrer-Jargon, indem er sagte : �Kolben,Gänge � davon verstehe ich nichts ! � Auch erzählte er noch die Sache mit der hervor-ragenden Harfenistin Vera Dulowa3. Nach einem Konzert kam irgendeine Tante zu ihr,zeigte auf das Harfenpedal und fragte : �Und das ist also Ihre Gangschaltung ? �

Galina � Es kommt mir so vor, als ob Autofahren für Schostakowitsch aus psycho-logischen Gründen nicht in Frage kommen konnte. Er war zu gefühlsbetont, zu verletzbar,und das in Verbindung mit einem gesteigerten Verantwortungsbewusstsein . . .

Isaak Glikman � Einem von ihm festgesetzten Brauch gemäÿ emp�ng mich DmitriDmitriewitsch immer am Bahnhof. Diesmal aber hatte er � wegen Krankheit des Chauf-

1 sowjetischer PKW der oberen Mittelklasse in den Jahren 1946 - 19582 seit 1962 Arbat3 Vera Georgiewna Dulowa (1909 - 2000), sowjetische Harfenistin

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feurs � beschlossen, das Auto selbst zu fahren, und auf dem Heimweg machte er einenkleinen Fehler : er hupte an unerlaubtem Ort. Im Handumdrehen tauchte ein furchte-in�öÿender Ordnungshüter auf, der Schostakowitsch in höchste Aufregung versetzte. Es�el ihm natürlich nicht ein, dem Milizbeamten sein Abgeordnetenmandat des OberenSowjets vorzuzeigen (das widersprach seinen Lebensprinzipien) : gehorsam zog er seinenFührerschein heraus. Der Milizbeamte kanzelte den Gesetzesübertreter grob ab, solangeer seinen Namen noch nicht gelesen hatte, fragte aber dann, ob er etwa der Komponistsei. Trübe befriedigte Dmitri Dmitriewitsch die Neugier des Milizbeamten und wurdein alle vier Winde entlassen . . . Es ist seltsam, aber dieser unbedeutende Zwischenfallbrachte den überaus nervösen Schostakowitsch aus dem Gleichgewicht.

Galina � Schostakowitsch geht zum Auto, fasst den Türgri� an. Und da � etwasUnglaubliches � ein elektrischer Stromschlag ! Vor Schreck springt Vater vom Wagenzurück, seine Brille fällt herunter.

Das war die Wirkung des selbstgebastelten Systems einer Wegfahrsperre, das unserdamaliger Chau�eur Alexander Lwowitsch Limonadow eingerichtet hatte. Verständlicher-weise wurde seine scharfsinnig erdachte Vorrichtung entfernt, nachdem der Besitzer selbstzum ersten Opfer geworden war.

Limonadow arbeitete einige Jahre bei Vater, aber dann löste ihn ein anderer Fahrerab, er hieÿ Viktor Gogonow. Auch über ihn gibt es viele komische Geschichten.

In der Lawruschinski-Gasse, direkt gegenüber der Tretjakow-Galerie, steht ein hohesHaus, in dem viele Moskauer Schriftsteller Wohnungen hatten. Im Erdgeschoss diesesGebäudes befand sich lange Jahre das �Amt zum Schutz von Autorenrechten�, woSchriftsteller und Komponisten, deren Werke ö�entlich aufgeführt wurden, Geld erhiel-ten. Dort gab es auch eine Sparkasse, wohin diese Honorare überwiesen wurden.

Bei seinen Reisen durchs Land verbrauchte Schostakowitsch viel Geld, und bei derRückkehr nach Moskau musste er sofort in der Lawruschinski-Gasse vorbeigehen, um dieturnusmäÿige Summe vom Konto abzuheben. Gogonow erklärte sich diese regelmäÿigenFahrten auf seine Art : �Wie intelligent, kultiviert Dmitri Dmitriewitsch doch ist ! Dafährt er ein zwei Wochen aus der Stadt weg, kommt nach Moskau zurück � und fährtdirekt vom Bahnhof in die Tretjakow-Galerie ! . . . �

Maxim � Mit diesem Gogonow gab es auch noch folgende Sache. Er kam einmalzu uns nach Hause und sah mich am Flügel sitzen. Da sagte er : �Lass mich doch malversuchen �Moskauer Nächte�1 zu spielen . . . � Mit der rechten Hand begann er auf dieTasten zu drücken, aber irgendwie unsicher, holprig. Plötzlich �el ihm ein : �Warte, ichweiÿ, woran es liegt ! � Er kroch daraufhin unter den Flügel, streckte von da die Handnach oben und spielte die Melodie wesentlich sicherer. Wie sich herausstellte, war erAkkordeon-Amateur und daher daran gewöhnt, dass die Tasten an seinem Bauch entlangverliefen.

Aber jetzt zum �Amt zum Schutz von Autorenrechten�. Eines Tages durfte ich Vaterdorthin begleiten. Auf dem Weg zur Kasse sahen wir neben dem Schalter Jean Paul

1 populäres Lied von Wassili Solowjow-Sedoi aus dem Jahr 1955

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Sartre stehen, der sorgfältig einen ziemlich dicken Packen Scheine nachzählte. Dazumuss man anmerken, dass in diesen Zeiten an Ausländer keine Honorare ausgezahltwurden. Nur in Ausnahmefällen geschah das, zur Förderung solcher Personen, die dembolschewistischen Regime von besonderem Nutzen waren. O�ensichtlich gehörte Sartredazu. Vater warf einen schnellen Blick auf den Franzosen und �üsterte mir direkt ins Ohr :�Wir lehnen einen materiellen Anreiz zum Übergang vom reaktionären zum fortschritt-lichen Lager nicht ab.�

Michail Ardow � Schostakowitsch parodierte da den in diesen Jahren recht bekann-ten Spruch Lenins : �Wir (d. h. die Kommunisten) lehnen einen materiellen Anreiz fürdie Arbeiter zur Erhöhung der Arbeitsleistung nicht ab.�

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38 � Auslandsreisen

Galina � Schostakowitsch geht mit schnellen Schritten von einem Flügel zu einemanderen, dann zu einem dritten, einem vierten, er probiert aus, wie jeder von ihnen klingt.Das ist in Helsinki, im riesigen Warenhaus von Stockmann, im obersten Stockwerk, woMusikinstrumente verkauft werden.

Einer von den Flügeln ge�el Vater mehr als die anderen, und alle, darunter auch erselbst, waren überzeugt, dass es zum Kauf kommen würde. Aber das Schicksal wollte esanders . . .

Im Jahr 1958 wurde Schostakowitsch der Jean-Sibelius-Preis verliehen, und zur Ent-gegennahme dieser Auszeichnung fuhr Vater in die �nnische Hauptstadt. Ich durfte ihnauf der Reise begleiten, das war Anfang Oktober.

Auÿer einem Flügel wollten wir einige Möbel und etwas Kleidung kaufen, in Moskaunämlich konnte man unmöglich irgendetwas Anständiges anscha�en. Der Sibelius-Preiswar mit einem ansehnlichen Dollarbetrag dotiert, unsere Pläne schienen völlig realisierbar.

Aber da, am Vortag eben dieser Preisverleihung, erklärte irgendein BevollmächtigterVater gegenüber : Es gebe �die Ansicht� (so lautete damals die Formel, sie drückte einenkategorischen Befehl aus), man solle den Geldanteil des Preises der Gesellschaft für dieFinnisch-Russische Freundschaft spenden. So stürzten also all unsere Anscha�ungsplänemit einem Mal zusammen. Ja, und nicht nur diese : Wir hatten geplant, einige Tagein Finnland zu bleiben und durchs Land zu fahren. Aber, da man nun Vater das Geldweggenommen hatte, erklärte er entschieden : �Morgen fahren wir nach Hause ! � Und sowaren wir in Helsinki gerade drei Tage geblieben.

Noch zu Hause in Moskau, als Vater eben erklärte, dass er mich mit nach Finn-land nehmen würde, �ngen mein Bräutigam, mein Bruder und alle unsere gemeinsamenFreunde an, mich um Mitbringsel zu bitten. Alle wollten dasselbe : Kaugummi undWaldmesser.

Gleich als wir in Helsinki ankamen, gab Vater mir Geld zum Einkauf von Souvenirs,aber für welche, ausgerechnet, wusste er freilich nicht. Ich begann mit dem Kaugummi,den man in der Eingangshalle unseres Hotels kaufen konnte. Diese Anscha�ung hatteeine etwas unerwartete Folge. So ein Typ, o�enbar aus der Botschaft, sagte zu Vater :�Dmitri Dmitriewitsch, wissen Sie, dass Ihre Tochter den Kaugummiautomaten benutzthat ? Ich bitte Sie, Ihre Tochter zu davor zu warnen, irgendwo oder bei irgendeinerGelegenheit Kaugummi zu kauen, das gilt hier als vollkommen unanständig.�

Die Waldmesser kaufte ich vor der Rückfahrt nach Moskau in irgendeinem Souvenir-laden. Als ich begann, meine Sachen zu packen, kam Vater ins Zimmer und erblickteam Boden meines Ko�ers fünf eben solche Messer. Als vorsichtiger und gesetzestreuerMensch geriet er in Angst : �Was hast Du da gekauft ?! Denk daran, dass im Zollgesetzsteht : keine Wa�en. Und hier � kalte Wa�en ! Man wird uns an der Grenze festnehmen ! �

Dennoch gelang es mir, ihn zu beruhigen, indem ich erklärte, es handle sich umhiesige Souvenirs. Auÿerdem versprach ich ihm, die Messer wegzuwerfen, falls sie dieAufmerksamkeit des Zolls erregen sollten. Doch alles ging gut, unser Gepäck kam ohnejede Kontrolle durch.

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Im Unterschied zu anderen Sowjetbürgern fuhr Schostakowitsch überhaupt nicht gernins Ausland. Vor allem deswegen, weil er weder die Möglichkeit noch das Recht hatte,seine wahren Gedanken und Gefühle o�enzulegen. Er wusste, dass beharrliche Journa-listen ganz sicher damit anfangen würden, ihm provozierende Fragen zu stellen. Undschlieÿlich war es demütigend für ihn als international Prominentem, sich im Auslandohne genügende Geldmittel aufzuhalten � Geld aber bekam Vater, wie alle unsere Lands-leute, so gut wie keines.

Ich erinnere mich noch an eine bezeichnende Geschichte, die im Jahr 1950 passierte.Schostakowitsch war nach Deutschland eingeladen worden, wo eine Feier zum zwei-hundertsten Todestag Bachs stattfand. Dort nun kam eine Gruppe angesehener Musikerauf ihn zu, die ihm einen riesigen Bildband zum Kauf anboten, der für einen wohltätigenZweck verö�entlicht worden war. Der Preis war unverhältnismäÿig hoch, da der Erlös ausdem Verkauf der Jubiläumsausgabe der Hilfe für betagte und kranke Orchestermusikerzugute kommen sollte. Den Kauf abzulehnen, war Schostakowitsch peinlich, so nahmer den Bildband und sagte, er werde das Geld später übergeben. Wonach er sich in diesowjetische Botschaft begab, bei irgendjemandem die geforderte Summe auslieh und sichauf diese Weise aus der unangenehmen Lage befreite.

Wie ich mich erinnere, hatte er bei seiner Rückkehr nach Moskau ein Gespräch in ei-ner hohen Dienststelle, vielleicht sogar mit Molotow selbst. Vater erklärte, dass er weitereAuslandsreisen kategorisch ablehne, da er nicht sicher sein könne vor der Wiederholungähnlicher Situationen, die seinen Namen, ja den unseres Landes, in Verruf brächten.

Michail Ardow � Sowjetische Beamte sahen Künstlerpersönlichkeiten streng aufdie Finger, damit diese sich nicht �bereichern�, das heiÿt, eine Entlohnung für ihreArbeit erhalten konnten. Besonders streng limitiert waren Einkünfte von Künstlern, diezu Gastspielen ins Ausland gefahren waren. Geld, das ihnen zustand, eignete sich derStaat fast zur Gänze an. Jeder sowjetische Bürger, der sich im Ausland aufhielt undein Honorar bezog � für eine Au�ührung, eine Vorlesung oder eine Publikation in derPresse � war verp�ichtet, in der sowjetischen Botschaft achtzig Prozent der erarbeitetenSumme abzugeben.

Man erzählt, dass sich Mstislaw Rostropowitsch nicht lange nach seiner Emigra-tion in der westdeutschen Hauptstadt Bonn aufhielt. Dort hatte er die Gelegenheit, inirgendeinem Klub aufzutreten, wo man ihm zusammen mit dem Honorar eine groÿeKristallvase überreichte. Gleich nach dem Konzert fuhr der groÿe Musiker in die sow-jetische Botschaft. Er betrat die Empfangshalle und schmiss dort mit aller Kraft diekostbare Vase auf den Boden, so dass sie in tausend kleine Splitter zerbarst. Nachdemer ungefähr ein Fünftel der Kristallsplitter aufgesammelt hatte, wies Rostropowitsch dieüberraschten Diplomaten auf die verbliebenen Stückchen hin : �Und das da � ist für Sie.Nehmen Sie, bitte.�

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39 � Briefe, Propaganda

Galina � �Gehst Du mit dem Hund raus ? Wirf bitte die Briefe ein�, bittet Vater.Er schrieb sehr viele Briefe. Jeden Tag häufte sich auf seinem Tisch ein Stapel von

Kuverts und Postkarten an. Er beschriftete sie nicht sowjetisch-nachlässig � den Fami-liennamen zuerst und dann die Initialen des Adressaten �, sondern so, wie es sich imalten Russland gehört hatte, respektvoll � Vor- und Vatersname ausgeschrieben, underst dann den Familiennamen.

Fast alle Briefe Schostakowitschs sind kurz und sachlich. Manchmal allerdings, anseine engsten Freunde, schrieb er auch ausführlicher und, ich würde sagen, emotionaler.Aber auch in diesen Fällen war das mehr Ironie als Lyrik : Vater war ein auÿerordentlichreservierter, Unbekannten gegenüber absolut verschlossener Mensch.

Eine gute Vorstellung von seinem Brief-Nachlass vermittelt das Buch �Story ofa friendship�1. Darin ist verö�entlicht, was Isaak Davidowitsch Glikman in seinemArchiv aufbewahrt hat, und er war ja vertraut mit Schostakowitsch über mehr als vierJahrzehnte. Dort gibt es, neben einer Menge kurzer Notizen, sehr wesentliche Briefe, dieGedanken und Gefühle des Autors einen Spaltbreit o�en legen.

Nicht von ungefähr habe ich die Formulierung �einen Spaltbreit o�en legen� ge-braucht. Die Menschen der Generation meines Vaters wussten : der Schriftverkehr gehtdurch die Zensur.

Letzterer Umstand zwang Schostakowitsch, Zu�ucht zu einer äsopischen Sprache zunehmen, und das, muss man zugeben, machte er virtuos. Der Stil einiger seiner Briefeist den Erzählungen Michail Soschtschenkos verwandt, dessen Freund und Bewundererunser Vater war. Und noch etwas gibt es da. Der Briefwechsel mit Glikman gibt eineerschöpfende Antwort auf die Frage : welche Beziehung hatte Schostakowitsch wirklichzur Sowjetmacht, zu all ihren Ungeheuerlichkeiten und ihren äuÿerst geschmacklosenErscheinungsformen.

Aus den Briefen D. Sch.'s an Isaak Glikman�Im Verband der Sowjetkomponisten sollte ihre Begutachtung statt�nden (der zweitenSymphonie � G. Sch.), die aber wegen meiner Erkrankung verschoben wurde. Jetzt �n-det diese Begutachtung aber statt, und ich bezwei�e nicht, dass dabei wertvolle kritischeAnmerkungen vorgebracht werden, die mich inspirieren werden für ein künftiges Schaf-fen, in dem ich mein vorheriges Scha�en revidiere, und mit einem Schritt zurück werdeich einen Schritt vorwärts machen.� (8. Dezember 1943)

�Mein Magen hat aufgehört, seine Verp�ichtung zur guten Verdauung der Nahrungernstzunehmen.� (6. Mai 1953)

�Ganze Tage verbringe ich auf dem Komponisten-Kongress. An den Abenden binich bei den feierlichen Premieren der neuerschienenen musikalischen Werke. Aber nichtimmer werden mir diese Feste auch zu Festen.� (19. Dezember 1968)

1 vgl. S. 7, Anmerkung 1

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�Vom ästhetischen Eindruck her möchte ich eine Schallplatte mit Zigeuner-Gesanghervorheben. Der ist groÿartig, wenn auch sehr traurig. < . . . > Die Sängerin Wolscha-ninowa singt und ein Zigeunerchor. < . . . > Die Tränen �ieÿen, wenn ich sie höre, undder Wunsch nach Essen und Trinken taucht auf.� (30. August 1967)

�29. XII. 1957. Odessa.Lieber Isaak Davidowitsch !Ich bin nach Odessa gefahren zum Volksfeiertag für vierzig Jahre sowjetische Ukraine.Heute morgen ging ich auf die Straÿe. Du verstehst sicher, dass man an einem solchenTag nicht zu Hause sitzen kann. Ungeachtet des trüben und nebligen Wetters war ganzOdessa auf den Beinen.Überall Portraits von Marx, Engels, Lenin, Stalin, aber auch solche von A. I. Beljaew,L. I. Breschnew, N.A.Bulganin, K. E.Woroschilow, N.G. Ignatow, A. I.Kirilenko,F. P.Koslow, O.W.Kuusinen, A. I.Mikojan, N.A.Muchitdinow, M.A. Suslow,E.A. Furzewa, N. S. Chruschtschow, N.M. Schwernik, A.A.Aristow, P.N. Pospelow,J. E.Kalnbersin, A. P.Kirilenko, A.N.Kosygin, K.T.Masurow, W.P.Mschawanadse,M.G.Perwuchin, N.T.Kaltschenko.Überall Flaggen, Losungen, Transparente. Ringsherum frohe, freudestrahlende,russische, ukrainische, jüdische Gesichter. Hier wie dort hört man die Willkommensrufezu Ehren des Banners von Marx, Engels, Lenin, Stalin, aber auch zu Ehren vonA. I. Beljaew, L. I. Breschnew, N.A.Bulganin, K. E.Woroschilow, N.G. Ignatow,A. I. Kirilenko, F. P.Koslow, O.W.Kuusinen, A. I.Mikojan, N.A.Muchitdinow,M.A. Suslow, E.A. Furzewa, N. S. Chruschtschow, N.M. Schwernik, A.A.Aristow,P.N.Pospelow, J. E.Kalnbersin, A. P.Kirilenko, A.N.Kosygin, K.T.Masurow,W.P.Mschawanadse, M.G.Perwuchin, N.T.Kaltschenko, D. S.Korotschenko.Überall ist russische und ukrainische Sprache zu hören. Manchmal hört man auch aus-ländische Sprachen von den Vertretern der fortschrittlichen Menschheit, die nach Odessagekommen sind, um den Odessiten zum groÿen Feiertag zu gratulieren. Ich ging umherund, auÿer Stande meine Freude zurückzuhalten, kehrte ich ins Hotel zurück und be-schloss, den Volksfeiertag in Odessa zu schildern, wie ich nur konnte.

Urteile nicht streng. Ich umarme dich fest. D. Schostakowitsch�

Michail Ardow � Die o�zielle sowjetische Propaganda wirkte immer wie eineParodie, da sie primitiv war und auf eine herausfordernde Art geschmacklos. FolgendeEpisode fällt mir ein : Im Jahr 56 oder 57 begeisterten mein Bruder Boris und ich unsfür eine gewisse Idee. Da verfassen wir Parolen in Versform . . . der Bruder schreibtsie auf Whatman-Papier . . . wir machen uns mit einer Drahtaufhängung zu scha�en . . .wir laufen in die Pjatnitzkaja-Straÿe zu einem Buchladen und kaufen dort politischeBroschüren . . .

Und das Klo in der Wohnung an der Ordynka verwandelt sich. Ein Gestell mitBroschüren erscheint da, ein Lautsprecher hängt an der Wand, der unaufhörlich etwasvon �unsere Errungenschaften� vor sich hin brummt . . . und farbenprächtige Parolengibt es :

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Verwandeln wir unsere Klosin Wohnungen der Hauptabteilung für politische Bildung !

Wenn ihr die Not hier erledigt(physiologisch)vergesst nicht die Feindschaft(sozialpolitisch) !

Es gab viel Gelächter, aber das alles existierte nur für ein paar Stunden. Unsere Elternund Achmatowa hatten erfahren, dass Witze nicht ungefährlich waren, und so wurdedas Klo in der Ordynka wieder ein ganz prosaischer Ort.

Aber ich komme zurück auf den Brief Schostakowitschs aus Odessa. Er bezeugt seineauÿergewöhnliche satirische Begabung, nicht von ungefähr liebte er Soschtschenko sosehr. Nicht von ungefähr auch schuf Dmitri Dmitriewitsch gegen Ende seines Lebensden glänzenden Zyklus von Satiren nach Versen von Sascha Tschorny. Ich kann mir dasVergnügen nicht versagen, einen nicht weniger aufschlussreichen Text hier anzuführen �er wirkt ebenso parodistisch, wie der Brief Dmitri Schostakowitschs an Glikman. Aber� o weh � das, was ich jetzt zitiere, wurde ganz im Ernst geschrieben, in der Ho�nungdarauf, sowjetische Beamte würden den patriotischen Eifer des Autors würdigen.

Ich biete dem Leser an, Einsicht zu nehmen in ein Postskriptum, das der KomponistWano Muradeli irgendwann handschriftlich auf der letzten Seite seiner Oper �Die groÿeFreundschaft� eingetragen hat. Ein Exemplar mit diesem Autograph birgt die Bibliothekdes Komponistenverbandes und eben dort entdeckte es Mstislaw Leopoldowitsch Rostro-powitsch. Von ihm gelangte der Text zu Maxim Schostakowitsch, und der übergab ihnmir. Weitere Kommentare halte ich für über�üssig. Hier also, was Muradeli ohne eineSpur von Ironie schrieb :

�Soweit es die Bühnenmöglichkeiten erlauben, wäre wünschenswert : dass nach derSalve `Aurora' auf der Bühne Blumengärten sich auftäten � als ein Symbol des glück-lichen und blühenden sowjetischen Volkes unserer Tage; dass hinter diesen Blumengärtendas groÿe sowjetische Volk sich erhöbe : Pioniere in roten Halstüchern, Arbeiter und Ar-beiterinnen, Kommunisten und Komsomolzen, die ganze sowjetische Jugend, die helden-mütigen Krieger der sowjetischen Armee und der Seekriegs�otte, die ruhmreichen Acker-bauern unseres Landes, die furchtlosen Kosmonauten und die weisen Gelehrten; dasssich hinter ihnen mit breitem Rücken fruchtbare Kolchosen-Felder ausbreiteten; dasswie Meeresbrandung der Neuland-Weizen rauschte; dass sich die erhabenen Bauwerkedes Kommunismus erhöben; dass sich das ganze sowjetische Volk mit seiner machtvollenStimme vereinte im Ausruf der Helden des Oktober; dass sie zusammen, in gemeinsamemChor, hingerissen, die Schlussworte der Oper sängen:

Unser lichter Glaube ist festUnser Glück � ein Glück für die Ewigkeit �Das ist der groÿe Weg des Bolschewisten !Voran ! Voran ! Voran !!!

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Die Worte �Voran ! Voran ! Voran !!! � sollten nicht nur klingen wie der Aufruf zum Sturmauf das Winterpalais, sie sollten klingen wie ein Ausruf aller Völker des sowjetischenLandes, wie ein Ausruf der heimatlichen Kommunistischen Partei � immer voran undvoran zu gehen zu den lichten Gipfeln des Kommunismus !

Wano Muradeli�

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40 � Wodka

Galina � Unser Vater war kein Feind von Flaschen, all seine Freunde und Bekanntenwussten, dass er gerne Wodka trank. Als das chruschtschow'sche Tauwetter begann,�ngen die Musiker an, zu Gastspielen ins Ausland zu reisen. Irgendjemand brachte vondort Spirituosen als Geschenk für Schostakowitsch mit.

In diesem Zusammenhang fällt mir die folgende Szene ein. Vater sitzt am Tisch,vor ihm eine ausländische Flasche mit einem Schraubverschluss. Für uns war das eineNeuheit : Der Inlandswodka wurde zu diesen Zeiten mit einer �Beskosyrka�1 verschlos-sen, einem weichen Metallstückchen, das man immer sofort wegwarf. Und da erinnereich mich, wie Vater sagt : � Ihre Flaschen haben Schraubverschlüsse, weil bei ihnen eineFlasche ein Gegenstand für den Langzeitgebrauch ist. Unsere Halbliter�aschen aber sindEinweggegenstände, wenn du sie einmal aufgemacht hast, brauchst du sie nicht mehr zu-machen.� Auch benutzte er öfter das in Russland bekannte Sprichwort : �Wodka ist nurgut oder sehr gut. Schlechten Wodka gibt es nicht.�

Ein Brief D. Sch.'s an I.D.Glikman

�25. III. 1974. Schukowka.Lieber Isaak Davidowitsch !Ich schicke dir hiermit das Etikett einer Flasche `Extra'-Wodka. Der Pfeil, den ich aufdas Etikett gezeichnet habe, weist auf das Qualitätssiegel hin. Kenner sagen, dass, wenndas Etikett obengenanntes Siegel enthält, das auf die hohe Qualität des Wodka `Extra'hindeutet. Deswegen rate ich Dir : Wenn Du `Extra' kaufst, achte auf Vorhandenseinoder Fehlen des Qualitätssiegels.

Glück und Gesundheit.Herzlichen Gruÿ von unserer Vera Wassiljewna�

1 Bordmütze für Matrosen

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41 � Uhren

Galina � Ich stehe in unserem Esszimmer, vor mir die geö�nete Türe einer groÿenUhr. Der Radioempfänger wird gleich einen spezi�schen Piepton senden � �exakte Zeitsig-nale�, und genau in dem Augenblick muss ich das Pendel anstossen. Vater aber wirdgenau dieselbe Handlung in seinem Zimmer ausführen.

Er liebte Uhren aller Art sehr, in jedem Zimmer gab es bei uns welche. Allerdingsschlug nur die, die im Esszimmer auf dem Boden stand, und die in seinem Zimmer aufdem Tisch. Und da war Vater darauf aus, dass ihr Schlag gleichzeitig erklang, aus genaudiesem Grund �ngen wir zusammen die �exakten Zeitsignale� ab.

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42 � Filmmusik

Galina � Im Telefonhörer knackt und knistert es, und Vaters Stimme ist sehrschlecht zu hören. Er ruft von der Datscha aus an, aus Bolschewo, und von dort war dieVerbindung immer sehr schlecht.

Ich halte ein Blatt Papier in der Hand und diktiere : �� Ein Brand � drei Minuten fünf-zehn Sekunden . . . Nächtliche Straÿe � vier Minuten genau . . . Regen vor dem Fenster �zwei Minuten dreiÿig Sekunden . . . �

Vater schrieb nicht gern Filmmusik, aber leider war er dazu während seines ganzenLebens gezwungen : das war immerhin eine recht annehmbare und anständige Art desEinkommens. Der Film brachte bei weitem mehr Geld ein, als jedes symphonische Werk.Ja, und auÿerdem waren das die Zeiten, in denen es verboten war, seine Bühnenwerkeaufzuführen.

In einer dieser Perioden schrieb Vater an Isaak Glikman : � Im letzten Jahr habe ichviel Filmmusik geschrieben. Das gibt mir den Lebensunterhalt, aber es ist auch lästigbis zum Äuÿersten.�

Wenn er den nächsten Filmmusik-Auftrag annahm, bekam Vater so etwas ähnli-ches wie einen Arbeitsplan. Darin waren die Episoden des Films mit ihrer Zeitdaueraufgezählt. Diesmal nun fuhr er nach Bolschewo, aber das Blatt mit dem Plan war inMoskau geblieben. Er musste also zu Hause anrufen, ich fand auf seinem Tisch dasPapier und diktierte : �� Hast Du's ? Ein Trolleybus auf der Moskauer Straÿe � sechsMinuten . . . Weiÿe Stille � drei Minuten . . . �

Diese �weiÿe Stille� fand Vater besonders lustig. Er sagte : �Wie soll ich nach eurerAnweisung ein Stück �weiÿe Stille� vertonen ? �

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43 � Rauchen

Galina � Vater kommt in Maxims Zimmer : �Du musst Zigaretten haben.� �Wasfür Zigaretten ? � sagt mein Bruder verlegen. � Ich weiÿ, dass Du Zigaretten hast. Durauchst.� �Wie kommst Du darauf ? . . . � �Gib mir was zu rauchen�, bringt Vater es aufden Punkt.

Er rauchte sein ganzes Leben lang, seine Lieblingsmarke war �Kasbek�, aber manch-mal vergaÿ er, sie in ausreichender Menge zu kaufen. Obwohl er in gewissen Fällen ganzvorsorglich war. Zum Beispiel, als er 1949 nach Amerika reiste, da war sein Ko�er zurHälfte voller �Kasbek�-Päckchen.

Als Maxim gröÿer wurde, konnte er auch nicht ohne Tabak auskommen. Das warentweder in seinem letzten Schuljahr oder bereits auf dem Konservatorium. Vor demVater zu rauchen, genierte er sich noch, der aber machte seinerseits den Eindruck, alsob er davon nichts ahnte.

An diesem Tag waren Vater die Zigaretten ausgegangen, und er machte sich in dasZimmer des Sohnes auf. Maxim beschloss, es zuzugeben und seinen Vater mit Zigarettenzu bewirten.

Obwohl unser Vater ziemlich viel rauchte, konnte er volle Aschenbecher nicht ertra-gen : wenn er da auch nur zwei Zigarettenstummel sah, warf er sie sofort weg.

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44 � Drohende Provinz

Galina � Vater geht nervös im Zimmer umher. �Man wird dich wer weiÿ wohinschicken ! � sagt er zu mir. �Nach Tmutarakan1, in den Fernen Osten. Wenn du Sängerinwärst, könnte ich dich ja hier irgendwo unterbringen. Warum hat es dich überhaupt aufdie biologische Fakultät verschlagen ?! �

Das Gespräch fand im Frühjahr 1959 statt. Ich hatte die Universität beendet und diesogenannte Zuweisung stand mir bevor. Wer keine Möglichkeit hatte, bei einer Arbeitin Moskau unterzukommen und dafür in der Fakultät eine entsprechende Bescheinigungvorzulegen, musste in die tiefe Provinz gehen und Biologielehrer an irgendeiner entle-genen Mittelschule werden.

Vater war auf eine solche Wendung der Ereignisse nicht vorbereitet, ja und ich, ehrlichgesagt, wollte nicht unbedingt von zu Hause weggehen. Wir �ngen an, uns zu besinnen,wer von unseren Verwandten und Bekannten irgendetwas mit Biologie oder Medizin zutun hatte. Wir mussten nicht lange überlegen : der Mann meiner Tante, Vaters leiblicherSchwester, Grigori Konstantinowitsch Chruschtschow, hatte den Lehrstuhl Histologieam Zweiten Medizinischen Institut inne. Dort wurde zu dieser Zeit gerade das ZentraleWissenschaftliche Forschungslabor erö�net, wo ich eine Arbeitsstelle antreten konnte.

1 antike Stadt an der Straÿe von Kertsch, heute synonym für � entfernte oder obskure Provinz�

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45 � Datschas, Valuten

Galina � Schostakowitsch betritt entschlossenen Schrittes das Haus und begibt sichsofort ins Badezimmer. Er probiert den Wasserhahn � Wasser �ieÿt ins Waschbecken.Er schaut in die Toilette, zieht an der Kette � Wasser rauscht in die Toilettenschüssel.Danach erklärt Vater : �Die Datscha kaufe ich ! � Die übrigen Räume schaute er gar nichtan, er ging nicht in den ersten Stock und begutachtete weder Dach noch Keller. Nur einesinteressierte ihn : die Wasserversorgung ! So wurde im Jahr 1960 das Haus in Schukowkaerworben, wo er viele Jahre leben sollte.

Vorher gab es die Datscha in Bolschewo, die man Schostakowitsch auf persönliche An-weisung Stalins hin zur Verfügung gestellt hatte. Das war ein unansehnliches Holzhaus,aber Vater liebte es � er konnte sich dort zurückziehen. Nur eines plagte ihn in Bolschewo :Probleme mit dem Wasser. Trinkwasser brachte man sowieso von weiter her, man grubzwar Brunnen neben dem Haus, aber all das blieb irgendwie erfolglos. Und Vater war einReinheitsfanatiker, dauernd wusch er sich die Hände. Zum Wasser hatte er besondereBeziehungen. Und da bot man ihm nun an, die Datscha in Schukowa zu kaufen, in einerSiedlung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Man musste Vater hier vergel-ten, was man seiner Gewissenhaftigkeit schuldig war. Indem er die von Stalin geschenkteDatscha in Bolschewo verkaufte, gab er sie an den Staat zurück. Dazu war für das neueHaus eine überaus bedeutende Summe zu zahlen.

Zu Sowjetzeiten hatten diejenigen Komponisten, deren Werke im Ausland aufge-führt wurden, Konten in ausländischer Währung, auf die sie die wenigen Prozenteihrer dort verdienten und ihnen weggenommenen Honorare überwiesen. Man erlaubteeinem �Valuten�-Komponisten, für eine Auslandsreise ein wenig Geld von seinem Kontoabzuheben. Aber das geschah widerwillig und nur nach einer Entscheidung der höherenDienststelle. Ein solches Konto hatte auch Schostakowitsch. Und da, um die Datscha inSchukowka rechtzeitig zu bezahlen, war Vater gezwungen, seine ganzen Valuten in Rubelzu tauschen. Der Staat bereicherte sich dabei, insofern der Umtausch zum räuberischeno�ziellen Kurs erfolgte. Darüberhinaus hatte die Finanzaktion auch noch unerwarteteFolgen. Chatschaturjan rief Vater an und sagte : �Was hast du da gemacht ?! In was füreine Lage hast du uns alle gebracht ?! Man sagt uns : Schostakowitsch ist ein Patriot, erhat seine ganzen Valuten in Rubel getauscht. Jetzt sollen wir alle deinem Beispiel folgen.Nun, Sowjetgeld hättest du dir jedenfalls von mir leihen können. Ja, jeder von uns hättedir welches geliehen ! . . . �

Ein Leser der Gegenwart könnte den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte in Zweifelziehen. Aber Vater verbrachte sein ganzes bewusstes Leben unter der Sowjetmacht undwar gezwungen, Erniedrigungen gleichsam auf Schritt und Tritt zu ertragen. Noch kurzvor seinem Tod, in den siebziger Jahren, die turnusmäÿige triumphale Auslandsreisestand bevor, unternahm er den Versuch, eine bedeutende Summe von seinem Valuten-konto abzuheben � er wollte sich ein ausländisches Auto kaufen, anscheinend einen Mer-cedes. Die Dienststelle erlaubte es ihm nicht : �Bei uns in der Sowjetunion werden absoluthochwertige Autos hergestellt : �Wolgas�1 ! . . . �

1 eine bis 2010 produzierte russische, vormals sowjetische Automarke

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46 � Nachwuchs

Aus den Erinnerungen Olga Grudzowas1 an K. I. Tschukowski �Um sieben Uhr morgens tauchte über der Balkonbrüstung im ersten Stock der Kopf desEnkels Genia auf.Genia Groÿvater, mir wurde ein Sohn geboren.Kornei Iwanowitsch Glückwunsch ! Wieviel ?Genia Fünfzig. In der Windel.Kornei Iwanowitsch Gut. Bekommst du. Nur von meinem Blut sind da wenigerProzent drin als von Dmitri Dmitriewitsch. Ich bin Urgroÿvater und er Groÿvater. Sagihm, dass er sich damit ganz schön Sorgen aufgeladen hat.Genia Gut.Kornei Iwanowitsch Man muss Galia Rosen schicken.Genia Der alte Nilin schläft noch, ich gehe sie bei ihm im Garten p�ücken . . .Der Kopf verschwand.

Nach einiger Zeit brachte man den Kleinen. Kornei Iwanowitsch betrachtete ihn langestaunend. Und als alle gegangen waren, sagte er wehmütig : �Sie werden geboren, um zusterben, sie sterben, um geboren zu werden . . . in diesem Zimmer starb Maria Borisowa,und hierher hat man jetzt einen Neugeborenen gebracht . . . �

Galina � �Los, eine Schüssel her . . . Nicht so eine, eine gröÿere�, kommandiertGalina PawlownaWischnewskaja2. �Wir brauchen einen ganzen Eimer heiÿes Wasser . . . �

So ging das erste Baden meines ältesten Sohnes Andrei vor sich, das war im Sommerdes Jahres 1960. Aus dem Geburtshaus brachte man uns direkt auf die Datscha inSchukowka. In unserer Familie kannte sich niemand im Umgang mit Neugeborenen aus.Mama war schon lange tot, die Haushälterin Fedja war eine alte Jungfer.

Ich stillte das Kind, wickelte es. Und ständig interessierte sich Vater : �Wann werdenwir den Enkel baden ? � Um ehrlich zu sein, ich fürchtete mich etwas davor, und damachte sich Vater zu Rostropowitschs auf und brachte Galina Pawlowna mit � eineresolute Dame und überdies auch Mutter zweier Töchter.

1 Olga M.Grudzowa (1905 - 1982), russische Literaturwissenschaftlerin2 Galina Pawlowna Wischnewskaja (1926 - 2012), russische Sopranistin, Ehefrau MstislawRostropowitschs

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47 � Presse

Galina � Ich nehme den Telefonhörer ab und höre eine Männerstimme : �GutenTag. Sie sprechen mit der Zeitung �Sowjetkultur�. Kann ich Dmitri Dmitriewitsch ansTelefon bitten ? � �Er ist jetzt nicht in Moskau�, antworte ich. �Und wann kommt erzurück ? � �Das wissen wir leider noch nicht.� Solche Gespräche gab es mehr oder wenigerregelmäÿig. Über dem Telefonapparat hing eine von Vaters Hand geschriebene Liste, diemit dem Punkt �Alle Zeitungen und Zeitschriften� begann. Des Weiteren waren dortnoch einige Institutionen eingetragen, aber dann auch konkrete Personen. Der Sinn dieserAufzählung war nur den Hausgenossen bekannt : auf gar keinen Fall durften wir Vaterans Telefon rufen, wenn Leute anriefen, die auf der Liste standen, oder Vertreter vondort aufgeführten Organisationen.

Journalisten gegenüber empfand Schostakowitsch eine besondere Feindseligkeit. Erhielt sie, und das nicht ohne Grund, für ungezogene, ungebildete Menschen, die in derLage waren, ihm taktlose Fragen zu stellen.

Maxim � Einige Journalisten streiten bis heute eine kränkende Haltung Schostako-witsch gegenüber ab : sie meinen, Vater hätte sie ohne ersichtlichen Grund nicht gemocht.Diese Leute machen sich nicht die Mühe zu verstehen, in welcher Lage Schostakowitschsein Leben verbrachte. Er und seine ganze Familie, im wesentlichen gesprochen, warenGeiseln eines verbrecherischen und erbarmungslosen Regimes. Und unser Vater wargezwungen, jedes seiner Worte im Hinblick auf die herrschsüchtigen Peiniger zu for-mulieren.

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48 � Hilfe für andere

Galina � Ich erinnere mich an Vaters Klagen : �Wenn ich nur das Recht hätte,wenigstens über zwei Wohnungen im Jahr zu verfügen . . . aber so � womit kann ichbedürftigen Menschen helfen ? �

Viele Jahre lang war Schostakowitsch Abgeordneter des Oberen Sowjet der Rus-sischen Föderation und erfüllte strikt alle damit verbundenen Verp�ichtungen : er warbei den Sitzungen dabei, er fuhr eigens nach Leningrad, um die Aufnahme der Stimm-berechtigten zu leiten . . . aber irgendeine wirkliche Macht hatten die damaligen Abge-ordneten nicht und konnten sie auch nicht haben. Weswegen Vater, ein in hohem Gradeverantwortungsbewusster Mensch, dem fremder Kummer nahe ging, sich von dem Abge-ordnetenamt bedrückt fühlte. Die Angelegenheiten, mit denen man sich an ihn wandte,waren von zweierlei Art : Wohnungsprobleme und solche, die mit Repressalien zusam-menhingen. In diesen Fällen war Vater besonders bestrebt, den Leuten zu helfen.

Michail Ardow � Gegen Ende des Jahres 1963 begann die Verfolgung JosephBrodskys durch die Behörden. Unter denen, die besonders leidenschaftlich mit dem inUngnade gefallenen Dichter mitfühlten, war die Achmatowa, und sie beschloss, Schosta-kowitsch um Hilfe zu bitten. Dazu lud man diesen in die Wohnung meiner Eltern indie Ordynka ein, in der auch die Achmatowa normalerweise wohnte, wenn sie nachMoskau fuhr. Am Morgen sagte Anna Andrejewna nach dem Frühstück : �Das ist allesgut, aber ich weiÿ nicht, worüber man mit Schostakowitsch sprechen muss . . . � UndMaxim erzählte uns, dass Dmitri Dmitriewitsch auf dem Weg in die Ordynka sagte :�Das ist alles gut, aber worüber werde ich mit der Achmatowa sprechen ? . . . � Nichts-destoweniger waren beide miteinander zufrieden, allgemeine Themen fanden sich. Icherinnere mich, dass Schostakowitsch Brodsky half und über dessen Schicksal mit demdamaligen Leningrader HauptvorsitzendenW. S.Tolstikow sprach. Aber � o weh � Nutzenbrachte es keinen. Joseph wurde verhaftet und verurteilt. Hierbei ist zu sagen, dassAnna Andrejewna eine glühende Anhängerin Schostakowitschs war, dafür gibt es einschriftliches Zeugnis. Am 22.Dezember 1958 trug sie in ihr Gedichtbuch : �Für DmitriDmitriewitsch Schostakowitsch, in dessen Epoche ich auf Erden lebe.�

Anna Achmatowa

D.D. S.

Etwas Wundertätiges strahlt in ihrUnd in ihren Augen facettieren sich die Ränder.Sie allein spricht mit mir,Wenn die anderen sich fürchten, herzukommen.Als der letzte Freund die Augen abwandte,War sie mit mir in meinem GrabUnd sang, so wie ein erstes GewitterOder auch alle Blüten zu sprechen anfangen.

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49 � Einsatz für Kollegen

Maxim � �Dmitri Dmitriewitsch, Sie brauchen doch nur den Hörer abzunehmen�,sagt eine Besucherin schmeichelnd. Schostakowitsch schaut sie gequält an.

Vater konnte diese Phrase vom Hörer nicht ertragen, aber er bekam sie regelmäÿigzu hören. Sehr viele Bittsteller nahmen fälschlicherweise an, dass Schostakowitsch beiseiner Popularität allmächtig sein müsse. Es genüge, wenn er einen hohen Vorgesetztenum irgendetwas bäte, und jede beliebige Sache würde positiv beschieden werden.

Die Dame, an die ich mich hier erinnere, war die Witwe des Komponisten W., diesehr besorgt war um das �ewige� Andenken an ihren Mann. Ihrer Meinung nach sollteein einziger Anruf Schostakowitschs ausreichen, damit W.s Musik von nun an in Kon-zerten aufgeführt und im Radio zu hören sein würde. Unser Vater nahm sowohl denHörer oft in die Hand, als er auch Briefe unterzeichnete, aber der Witwe war das alles zuwenig. In irgendeinem folgenden Gespräch klagte Madame W. : �Mein Mann ist gestor-ben, und keiner ist bei mir geblieben . . . � Hier sagte Schostakowitsch rundheraus : �Ja,ja . . . und da hat nun Johann Sebastian Bach zweimal zehn Kinder gehabt. Und allehaben sie sich um die Verbreitung seiner Musik gekümmert.� �So ist es �, �el die Witweein. �Bis jetzt werden sie aufgeführt ! Aber ich bin doch allein, ganz allein ! . . . � Icherinnere mich, wie sich Vater nach dem folgenden Gespräch mit dieser aufdringlichenDame an uns Familienangehörige wandte : �Bitte, wenn ich sterbe, kümmert euch nichtum meine Unsterblichkeit. Kümmert euch nicht darum, dass meine Musik gespielt wird.�

Galina � Aber dabei setzte er sich sein ganzes Leben lang für die Musik sei-ner Studenten und Kollegen ein. In Zeitschriften und Archiven kann man eine ganzeMenge seiner Briefe lesen mit lobenden Äuÿerungen über die Werke von Prokofjew,Chatschaturjan, Swiridow, Karajew, Weinberg, Ustwolskaja, Tischtschenko, Denissow 1

und anderen. Und all das war vollkommen aufrichtig geschrieben � seines Feingefühlsund seiner Hö�ichkeit ungeachtet verbog sich Schostakowitsch innerlich in Meinungenüber Musik niemals.

Boris Chaikin � S. S. Prokofjew erzählte das im Jahr 1948 : Nach der Premiereseines Balletts �Cinderella� erschien in einer der wichtigsten Zeitungen eine Rezension,die Schostakowitsch geschrieben hatte. Prokofjew ruft Schostakowitsch an und bedanktsich für die freundliche Besprechung. Schostakowitsch antwortet : �Sergei Sergejewitsch,Sie bedanken sich zu Unrecht. Ich habe nicht nur gelobt. Ich habe mich auch missbilli-gend über etwas geäuÿert, aber die Redaktion hat es irgendwie nicht verö�entlicht . . . �

Maxim � Sehr hoch schätzte Vater das Talent seines Freundes Matwei Blanter ein,Moti, wie ihn alle seine Freunde nannten. Deswegen bekam ich sogar einmal Schwierigkei-ten. Bei uns in der Schule eine sogenannte Nacherzählung zu schreiben. Und darin kameine Person mit Namen Matwei vor. Ja, und ich schrieb immerzu �Motwei�. Die Lehrerin

1 Edisson Wassiljewitsch Denissow (1929 - 1996), sowjetisch-russischer Komponist undMusiktheoretiker

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fragt : �Warum schreibst du �Motwei� und nicht �Matwei� ? � Und ich sage ihr : �MeinVater hat einen Freund, Blanter, und den nennen alle Motja . . . �

Vaters Prinzipientreue erstreckte sich nicht nur auf Kollegen : schickten ihm dochdie unterschiedlichsten Menschen, die Komponisten werden wollten, ihre Werke. Under antwortete allen in wohlwollendem Tonfall. Allerdings weckte er niemals unbegrün-dete Ho�nungen. Da schickt ihm irgendein Mensch, der in einem Baukran arbeitet, einselbstverfasstes Lied. Schostakowitsch schreibt : �Sie haben so einen herrlichen Beruf :Sie bauen Wohnungen, und das brauchen die Menschen so dringend. Mein Rat an Sie :Fahren Sie fort in Ihrer nützlichen Tätigkeit.� Na, und anderes in der Art . . .

Aus einem Brief D. Sch.'s an Edisson Denissow � � Ich freue mich sehr, dassallerlei Fragen Sie umtreiben zur Kunst, die mir so teuer ist und ohne die ich wahrschein-lich keinen Tag leben könnte . . . Ein wirklicher Künstler liebt sein Scha�en . . . Es wäreeine groÿe Sünde, wenn Sie Ihr Talent beerdigen würden. Natürlich müssen Sie viellernen, wenn Sie Komponist werden wollen. Und nicht nur Handwerk, sondern auchviel anderes. Ein Komponist ist nicht schon der, der ganz gut eine Melodie und eine Be-gleitung zusammenstellen, einigermassen orchestrieren kann, usw.. Das, bitte, kann jedermusikalisch gebildete Mensch. Ein Komponist ist etwas weit gröÿeres. Und, bitte, wasein solcher Komponist ist, können Sie erfahren, indem Sie sehr gut dieses überaus reichemusikalische Erbe studieren, das uns von den groÿen Meistern hinterlassen wurde . . .Sie bitten um einen Rat bezüglich des Weiteren. Ihr unzweifelhaftes Talent lässt michdarauf bestehen, dass Sie Komponist werden sollten. Aber wenn Sie nur noch ein Jahrauf der Universität haben, so machen Sie das zu Ende. Der Weg eines Komponisten istdornenreich (verzeihen Sie die etwas abgegri�ene Wendung). Am eigenen Leib habe iches erfahren und erfahre es noch . . . Wenn Sie sich dafür entscheiden, dann ver�uchen Siemich nicht in der Zukunft. Ich wiederhole : dornenreich ist der Weg eines Komponisten.Ich habe es erfahren und erfahre es noch am eigenen Leib. Aber bringen Sie die Univer-sität unbedingt zu Ende . . . �

Maxim � Keineswegs aus eigenem Willen bekleidete Schostakowitsch die Funktiondes Leiters des russischen Komponistenverbandes. Da er es nun aber einmal innehatte,arbeitete er in diesem Amt nicht aus Angst, sondern gemäÿ seinem Gewissen, er nutztedie sich ihm erö�nenden Möglichkeiten, um begabten Menschen zu helfen.

Sofia Chentowa 1 � Verblü�end war seine Objektivität, seine Unvoreingenommen-heit. Obwohl er ein emp�ndlicher Mensch war, erlaubte er sich als Leiter keinerlei per-sönliche Kränkungen. Jewgeni Dolmatowski 2 wurde Zeuge, wie ein Student Schostako-witsch, der ihn �hoch gebracht� hatte, �undankbar, unschön behandelte, indem er mitsonderbarer Stimme und der nächsten Mode zuliebe gegen den Lehrer auftrat. Schostako-witsch war im tiefsten Inneren gekränkt, aber dann bei seinem Auftritt im Plenum recht-fertigte er sich nicht . . . Als er die Erfolge der Komponisten würdigte, erwähnte er bei

1 So�a M.Chentowa (* 1922), russische Musikwissenschaftlerin und Pianistin2 Jewgeni Dolmatowski (1915-1994), sowjetischer Dichter

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den Besten auch seinen Beleidiger. Das kränkte sogar mich selbst�, erinnert sich Dolma-towski, �und gleich bei der ersten Begegnung sagte ich ihm, dass er zu Unrecht einenSchuft gelobt hatte. Dmitri Dmitriewitsch kühlte meine Hitzigkeit ab : �Er gehörte zumeinen besten Studenten, und ich habe nicht das Recht, meine Meinung über seine Be-gabung wegen einer Taktlosigkeit zu ändern. Zum Leiter der Komponisten-Organisationder RSFSR hat man mich deswegen gewählt, weil ich nicht mit anderen abrechnen kann.�Und dann brachte er das Gespräch auf die witzige Ebene : � Na, und natürlich deswegen,weil ich auch gar nicht leiten kann.��

Boris Tischtschenko � Schostakowitsch erzählte, wie einer seiner BekanntenMusik für einen anderen schrieb, der �verkaufen konnte� und dann mit ihm �teilenwürde� : �Auf der Toilette, versteht ihr, übergab er Geld aus einer Tasche in eine an-dere Tasche, und dieser gab ihm Noten, damit es keiner sehen sollte. Ich sage : �Wer istder Halunke ? Ich werde ihn aus dem Verband ausschlieÿen !� Aber er weigert sich, mirseinen Namen zu nennen : �Immerhin hat er mir etwas zum Verdienen gegeben . . . ��

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50 � Leben in Schukowka

Galina � Vater nimmt einen Stoÿ Karten in die Hand und beginnt sie auszuteilen.�So, jetzt kein Herz ziehen�, sagt er. Das ist in Schukowka, wir spielen �King�. AmTisch sitzen auÿer Vater und uns unsere Nachbarn, das Mitglied der Akademie NikolaiAntonowitsch Dolleschal 1 und seine Frau Alexandra Grigorjewna.

Karten gab es im Leben Schostakowitschs immer. �King� spielten wir schon, alsMutter noch lebte. Auÿerdem legte Vater sehr gerne Patiencen, das wirkte beruhigendauf ihn. Man muss sagen, dass bei uns immer um Geld gespielt wurde, bloÿes Klatschenmit den Karten ohne Gewinn und Verlust lieÿ Vater nicht gelten. Selbstverständlich,wenn ich verloren hatte, zahlte er für mich.

Während der Jahre unseres Lebens in Schukowka kamen wir den Dolleschals näher,einige Male feierten wir zusammen Neujahr. Das begann in unserer Datscha, da gab esdie Vorspeise und etwas Warmes. Dann gingen wir über die Straÿe zu Dolleschals, wo wiruns Dessert und Eis schmecken lieÿen. Und wenn an der Neujahrsfeier Rostropowitschund die Wischnewskaja teilnahmen, gingen wir zu ihnen, und dort aÿen wir Früchte . . .

Maxim � In der Akademiesiedlung, wo unsere Datscha steht, lebten hauptsächlichKernphysiker. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, wurde diese Siedlung auf eineAnordnung Berijas hin gebaut, der in der Stalinzeit für die Produktion der Atomwa�enverantwortlich war. Auch Sacharow hatte in Schukowka eine Datscha, und ebenso andereGelehrte, die auf diesem Gebiet arbeiteten. Ich erinnere mich, wie Vater mit irgend-einem Gast durch die Akademiesiedlung spaziert und ihm erklärt : �Hier wohnt von denAkademiemitgliedern der und der, und hier der und der. Aber hier nun ein absolut ge-nialer Mensch ! Er hat eine Substanz erfunden, von der ein Teelö�el, wenn er über dieErdkugel verteilt wird, absolut alles Lebendige auf unserem Planeten vernichtet ! Eingenialer Mensch ! Einfach genial ! Da bleibt jetzt nur ein Problem : wie kann man dasgleichmäÿig über die ganze Erde verteilen . . . �

Michail Ardow � Und noch ein paar Worte über einen Datscha-Nachbarn Schosta-kowitschs. Einer von denen, die nicht weit von ihm entfernt wohnten, das Akademie-mitglied Jakow Borissowitsch Seldowitsch 2, überreichte Dmitri Dmitriewitsch irgendwiesein Buch, das fast durchwegs aus mathematischen Formeln bestand. Als er es ö�netegeriet der Komponist in Verlegenheit und sagte : �Aber jetzt sagt mir bloÿ, was ich tunsoll ? Soll ich ihm eine Partitur von mir schenken ? . . . �

1 Nikolai A.Dolleschal (1899 - 2000), sowjetischer Energietechniker2 Jakow B. Seldowitsch (1914 - 1987), sowjetischer Physiker, maÿgeblich beteiligt an der Entwicklungdes Atomwa�enarsenals

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51 � Verhältnis zu anderen Komponisten

Maxim � Einmal ging Vater zum Friseur, um sich rasieren zu lassen, und ich warteteim Nebenraum. Da lief das Radio, irgendjemand sang Aljabjews 1 Romanze �Solowej�.Als das Rasieren zu Ende war und wir auf die Straÿe hinausgingen, verzog Vater dasGesicht und sagte : �Was ist das für eine widerliche, unmusikalische Sache � so eineKoloratur . . . � Ich erinnere mich an diese seine Worte, aber ich bin überzeugt, dass maneiner solchen Äuÿerung keine absolute Bedeutung beimessen kann. Gut möglich, dassSchostakowitsch unter anderen Umständen und in anderer Stimmung diesen Gesangnicht ohne Vergnügen gehört hätte.

Er sagte über sich : � Ich liebe jede gute Musik � von Bach bis O�enbach.� Zu einigenberühmten Komponisten hatte er ein schwieriges Verhältnis. Bei Tschaikowski etwa ge�elihm eine gewisse Geschäftigkeit nicht, aber einige Werke liebte er sogar. DauerhafteAbneigung empfand Schostakowitsch nur der Musik Skrjabins gegenüber, ich erinneremich an sein erbarmungsloses Urteil über diesen Komponisten : �Eine Mischung ausTheosophie und Parfümerie.�

Von den russischen Klassikern schätzte er besonders Mussorgski, und er verwendeteviel Kraft darauf, dessen Musik den Zuhörern auf höchst authentische Weise zu vermit-teln. Schostakowitsch orchestrierte von neuem �Boris Godunow�, �Chowanschtschina�und �Lieder und Tänze des Todes�. Überhaupt hatte er eine Neigung, fremde Werke,die er dessen für wert hielt, zu vervollkommnen.

Aus einem Brief D. Sch.'s an Boris Tischtschenko ��Mit Scheu schicke ich Ihnen eine Partitur. Glauben Sie es, ich habe Ihr Konzert instru-mentiert, mit vollem Respekt und groÿer Begeisterung für den Klavierauszug. GenauereErklärungen werde ich Ihnen bei unserer nächsten Begegnung geben. Ich habe denBläserklang nicht überstrapaziert, und das Blech entschieden aus der Partitur herausge-lassen. So habe ich für mich zwei Probleme gelöst : erstens wird der Klang nicht langweiligwerden und zweitens wird das Solo-Violoncello überall hörbar bleiben . . . Weiter habeich meine General-Eigenwilligkeit nicht getrieben.�

Boris Chaikin � . . . Wir führten den �Zigeunerbaron� auf . . . Der Regisseur A.N.Feona hatte beschlossen, im dritten Akt eine Ballettnummer einzufügen, eine Polka(Tanz des Journalisten), die von der sehr begabten G. I. Isajewa2 in einer Hosenrolleausgeführt werden sollte. Ich gehe in die Bibliothek der Leningrader Philharmonie undbitte um irgendeine Polka von Johann Strauss. Der Bibliothekar antwortet : �Wir habenzweihundert Stück davon, suchen Sie sich nach Belieben eine aus, die Ihnen gefällt.�Indem ich mich auf die populäreren und allgemein bekannten beschränke, �nde ich einesehr ansprechende Polka, die Bibliothek macht mir eine Kopie, und bald wird es einenwunderbaren Tanz in der Inszenierung B.A. Fensters3 geben.

1 Alexander Alexandrowitsch Aljabjew (1787 - 1851), russischer Komponist2 Galina Iwanowna Isajewa (* 1915), sowjetische Ballettkünstlerin3 Boris Alexandrowitsch Fenster (1916 - 1960), sowjetischer Ballettmeister

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Dann war es soweit, die Polka mit dem Orchester durchzugehen. Wieder gehe ich indie Philharmonie, diesmal wegen des Orchestermaterials. Es stellt sich heraus, dass es fürdiese Polka keine Orchesterstimmen gibt. Einen Klavierauszug gibt es � zwei Seiten mitdem obligatorischen Da Capo, aber nichts weiter. Was tun ? Ich rufe Schostakowitsch an,erzähle ihm mein Malheur, und er kommt sofort. Ich zeige ihm die Polka und lenke seineAufmerksamkeit nebenher auf einen groÿen Septakkord, den ich für einen Druckfehlerhielt (die Ausgabe war zweifelhaft). Er sagte nichts, nahm den Klavierauszug und warfzum Abschied hin : �Morgen komme ich zu Ihnen� . . . Am nächsten Tag kam er miteiner Partitur. Ich schaute hin und sah ein Werk Schostakowitschs. Er hatte nichts vonStrauss geändert, keine einzige Note. Den groÿen Septakkord hatte er stehen lassen,er hielt ihn nicht für einen Druckfehler, und bald schien auch mir, er sei nicht nurnicht unangebracht, sondern werte die Polka sogar auf und verleihe ihr eine besondereAnmut. Aber Schostakowitschs Orchestrierungsstil war wie immer so farbenreich, dassder prachtvolle Johann Strauss daneben glanzlos wirkte . . .

Ein aufschlussreiches Detail : die Polka hatte auf der Bühne allergröÿten Erfolg undwurde obligatorisch wiederholt (wie komisch, wenn auf der Bühne die Nummer dengröÿten Erfolg hat, die vom Autor überhaupt nicht vorgesehen ist). Da sagte der Bal-lettmeister B.A. Fenster einmal : �Los, bei der Wiederholung tanzen wir eine anderePolka, eine kürzere, und ich mache einen anderen Tanz, eine Art Fortsetzung des ers-ten ! � Ich bitte also in der Bibliothek der Philharmonie um eine weitere Polka. Ausder groÿen Menge eine auszuwählen, ist nicht schwer. Diesmal vergewissere ich michrechtzeitig, dass Orchesterstimmen vorhanden sind. Fenster richtet einen neuen Tanzein, auch sehr schön. Isajewa tanzt auch groÿartig. Aber diese �Wiederholung� lief beiuns nur zweimal, nicht öfter. Es erwies sich, dass die Zusammenstellung mit Schostako-witsch sogar für den wunderbaren, das Gehör berückenden Johann Strauss ungünstigwar. Das Publikum reagierte enttäuscht auf die �Wiederholung�, obwohl Inszenierungwie Ausführung tadellos waren. So gri� man wieder auf die erste Polka zurück, die nachder zweiten Ausführung dieselben Begeisterungsstürme hervorrief wie nach der ersten . . .

Michail Ardow � In den sechziger Jahren erzählte mir jemand folgende Geschichte :Bei irgendeinem Moskauer Festival war aus Indien ein reicher und in seinem Landberühmter Komponist zugegen. Er schrieb hauptsächlich Filmmusik. Er wurde Schosta-kowitsch vorgestellt. Der Inder sagte beiläu�g : �Sie zahlen Ihrer Hilfskraft sicher eineMenge Geld ? � �Was für einer Hilfskraft ? � wunderte sich Schostakowitsch. �Na dem,der Ihre Melodien aufschreibt.� � Ich schreibe meine Musik selber auf �, sagte Schostako-witsch. �Wie ? � der indische Gast war erstaunt. �Sie kennen sich sogar mit Noten aus ?! �

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52 � Achtes Streichquartett

Galina � Es war in Schukowka, im Sommer 1960. Vater kam aus dem ersten Stockherunter, setzte sich auf einen Stuhl und erklärte : �Soeben habe ich ein Werk beendet,das meinem Andenken gewidmet ist.� Er blieb eine Zeitlang sitzen, rauchte, und gingwieder nach oben in sein Zimmer.

An diesem Tag wurde sein berühmtes achtes Streichquartett fertig. Man spielte eszu seiner Zeit, es hatte riesigen Erfolg, und sogleich begann da auch der routinemäÿigeDruck auf den Autor damit, dass er die Widmung ändern sollte. Vater war zum Nach-geben gezwungen, und das Opus erhielt einen neuen Titel : �Dem Andenken an die Opferdes Faschismus�. Mit dieser gefälschten Widmung wird das Werk bis heute aufgeführtund gibt damit ein über�üssiges Zeugnis von der Gleichgültigkeit der Musikerkollegengegenüber dem Schicksal Schostakowitschs.

Maxim � Natürlich wirkte im Jahr 1960 die Widmung �Dem Andenken an die Opferdes Faschismus� etwas dubios. Aber wenn man das Wort �Faschismus� als ein Syn-onym für �Totalitarismus� versteht, verschwindet die Zweideutigkeit. Schostakowitschwar eines von den Opfern des ungeheuerlichen totalitären Regimes.

Galina � Nein, damit bin ich nicht einverstanden. Bis heute klingt mir in den Ohren :� Ich habe es meinem Andenken gewidmet� . . . So etwas hört man nicht oft, und schongar nicht von einem so zurückhaltenden Menschen, wie unser Vater einer war.

Maxim � Jemand, der in dieser Zeit nicht gelebt hat, könnte denken : was für einOpfer war Schostakowitsch denn ? Abgeordneter des Oberen Sowjet, Volkskünstler derUdSSR, Held der Sozialistischen Arbeit, Träger aller möglichen Preise, und anderesmehr . . .

So gesehen kann man auch Alexander Sergejewitsch Puschkin für einen nicht Verfolg-ten halten : er wurde vom Zaren liebevoll behandelt und verfasste staatstreue Gedichte.Dennoch besteht die allgemeine Überzeugung, dass der groÿe Dichter unter der Mon-archie litt.

O weh ! Schostakowitsch musste sein Leben aber nicht im Russland Nikolais des Ers-ten führen, sondern in der stalinistischen Sowjetunion. Es gab Phasen, in denen Vatersich haarscharf am Abgrund stehen sah. Und bis zu seinem Tod war er unmittelbar ab-hängig von ungebildeten, unverschämten und grausamen Beamten, die ihn fortwährendgeradezu erpressten. Nie werde ich vergessen, wie Vater im Sommer 1960 Galia und michin sein Zimmer rief und sagte : �Man hat mich in die Partei getrieben . . . � Und dabeiweinte er. Zweimal habe ich ihn in meinem Leben weinen sehen : als Mama starb undan diesem unglückseligen Tag.

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D.D. Schostakowitsch �Vorwort zu den gesammelten Werken�1,aufgeführt im Jubiläumskonzert im Groÿen Saal des Konservatoriums

�Mit einem einzigen Atemzug beschmutze ich ein Blatt Papier,

Mit gewohntem Gehör vernehme ich ein Pfeifen,

Dann zerreiÿe ich der ganzen Welt das Gehör,

Dann wird es gedruckt � und im Sommer � patsch ! . . .

Ein solches Vorwortkönnte man schreibennicht nur für meine gesammelten Werke,sondern auch für die gesammelten Werkevieler, sehr vieler Komponisten,sowjetischer wie ausländischer . . .Und hier die Unterschrift : Scho - sta - ko - witsch.Volkskünstler der UdSSR.Auch sehr viele andere ehrenvolle Titel.Erster Sekretär des Komponistenverbandes der RSFSR.Einfacher Sekretär des Komponistenverbandes der UdSSR.Und auch sehr, sehr vieleranderer verantwortungsvoller Inanspruchnahmenund Posten . . . �

Aus einem Brief D. Sch.'s an I.D.Glikman �Von der Reise nach Dresden binich zurückgekehrt. Ich habe das Material zum Film `Fünf Tage � Fünf Nächte' 2 angese-hen, den L.Arnstam gerade dreht . . . Man hat mich dort sehr gut untergebracht und fürdie Einrichtung einer inspirierenden Umgebung gesorgt. Ich habe in der Stadt Gorlicegewohnt, auch im Kurort Gorlitz, der unter der Stadt Königstein liegt, 40 Kilometer vonDresden entfernt. Ein Ort von unerhörter Schönheit. Er muss allerdings auch so sein :man nennt diesen Ort `Sächsische Schweiz'. Die inspirierenden Bedingungen haben sichausgezahlt : ich verfasste dort das achte Quartett. So wenig ich versuchte, einen Ent-wurf für den Filmmusik-Auftrag herzustellen, so wenig hätte ich es gekonnt. Stattdessenschrieb ich ein unnötiges und ideologisch unkorrektes Quartett.

Ich habe darüber nachgedacht, dass, wenn ich einmal sterbe, kaum jemand ein Werkzu meinem Andenken schreiben würde. Deswegen habe ich beschlossen, mir selber einszu schreiben. Man könnte auf den Einband schreiben : `Dem Andenken an den Ver-fasser dieses Werks gewidmet'. Das Hauptthema des Quartetts besteht aus den TönenD-Es-C-H, das sind meine Initialen. Im Quartett werden Themen aus meinen Werkenverwendet und das Revolutionslied `Im Kerker zu Tode gemartert'. Meine eigenen The-men sind die folgenden : aus der ersten Symphonie, aus der achten Symphonie, aus demTrio, aus dem Violoncello-Konzert und aus `Lady Macbeth'. In Andeutungen werdenWagner (Trauermarsch aus der `Götterdämmerung') und Tschaikowski (zweites Thema

1 D.D. Schostakowitsch �Vorwort zu meinen gesammelten Werken und eine kurze Betrachtung zudiesem Vorwort� für Bass und Klavier op. 123 (1966)

2 �Fünf Tage � Fünf Nächte�, deutsch-sowjetisches Nachkriegsdrama, 1961, Regie : Leo Arnstam

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aus dem ersten Satz der sechsten Symphonie) verwendet. Ja : ich vergaÿ noch meinezehnte Symphonie . . . Eine ziemliche Okroschka !1 Die Pseudotragik des Quartetts istderartig, dass ich beim Schreiben soviele Tränen vergoss, wie Urin ab�ieÿt nach einemhalben Dutzend Bieren. Als ich nach Hause gefahren war, versuchte ich zweimal, es zuspielen, und wieder �ossen die Tränen. Aber da bereits nicht mehr nur wegen seiner Pseu-dotragik, sondern aus einem Staunen über die wunderbare Geschlossenheit der Form.Allerdings kann hier eine gewisse Selbstbegeisterung, die vielleicht bald vorübergeht,eine Rolle spielen, und der Katzenjammer der Selbstkritik tritt dann an ihre Stelle.

Jetzt habe ich das Quartett zur Abschrift weggegeben und ho�e, das Einstudierenmit diesen Beethoven-Leuten2 beginnen zu können. Nun, das ist alles, was ich in derSächsischen Schweiz erlebt habe.�

Isaak Glikman � Hier die Umstände der Abfassung des achten Streichquartetts.Ende Juni 1960 fuhr Dmitri Dmitriewitsch nach Leningrad und quartierte sich nichtwie gewöhnlich im �Europäischen� Hotel ein, sondern in der Wohnung seiner SchwesterMaria Dmitriewna. Wie sich später herausstellte, geschah das nicht ganz ohne Grund.

Am 28. Juni stattete ich Dmitri Dmitriewitsch einen kurzen Besuch ab. Er teilte mirmit, dass er neulich �Fünf Satiren nach Gedichten von Sascha Tschorny� geschriebenhabe und ho�e, mich bald mit diesem Opus bekannt machen zu können. Am nächstenTag, dem 29. Juni früh am Morgen, rief Dmitri Dmitriewitsch an und bat mich, sofortzu ihm zu kommen. Als ich ihn �üchtig ansah, überraschte mich der leidende Ausdruckauf seinem Gesicht, Verwirrung und Bestürzung. Dmitri Dmitriewitsch führte mich eiligin das kleine Zimmer, wo er übernachtete, lieÿ sich kraftlos auf's Bett nieder und be-gann zu weinen, laut zu weinen, lautstark. Voller Angst dachte ich, ihm oder seinenAngehörigen sei ein groÿes Unglück zugestoÿen. Auf meine Fragen hin sagte er unver-ständlich durch die Tränen hindurch : �Sie verfolgen mich seit langem. Sie sind hinter mirher . . . � In einer solchen Verfassung hatte ich Dmitri Dmitriewitsch noch nie gesehen. Erbefand sich im Zustand einer ernsten Hysterie. Ich reichte ihm ein Glas kaltes Wasser, ertrank es, klapperte mit den Zähnen und beruhigte sich allmählich. Ungefähr eine Stundespäter, nachdem er sich wieder in der Hand hatte, begann er mir davon zu erzählen,was mit ihm vor einiger Zeit in Moskau geschehen war. Dort hatte man auf InitiativeChruschtschows hin entschieden, ihn zum Vorsitzenden des Komponistenverbandes derRSFSR zu machen, aber zur Bekleidung dieses Postens musste er unbedingt in die Parteieintreten. Die Ausführung dieser Mission übernahm das Mitglied des ZK-Büros für dieRSFSR P.N.Pospelow3.

Hier ist das, was mir Dmitri Dmitriewitsch (wörtlich) am Junimorgen 1960, auf demHöhepunkt des �Tauwetters�, sagte : �Pospelow suchte mich auf jede Weise dazu zuüberreden, in die Partei einzutreten, in der man unter Nikita Sergejewitsch leicht undfrei atmen könne. Pospelow war von Chruschtschow begeistert, von seiner Jugend, so

1 Kwas-Suppe, russisches Nationalgericht2 Staatliches Beethoven-Streichquartett, gegründet 1923, eines der wichtigsten Kammerensembles derUdSSR

3 Pjotr Nikolajewitsch Pospelow (1898 - 1979), Funktionär der KPdSU, Propagandist, Journalist undbolschewistischer Historiker

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hat er es tatsächlich gesagt � Jugend, von seinen grandiosen Plänen, und es sei unab-dingbar für mich, den Parteireihen anzugehören, die sich nicht Stalin, sondern NikitaSergejewitsch an die Spitze gestellt hatten. Völlig überrumpelt, lehnte ich, so gut ichkonnte, eine solche Ehre ab. Ich klammerte mich an einen Strohhalm, sagte, dass es mirnicht gelungen sei, den Marxismus zu erlernen, dass man noch warten müsse, bis ich ihnbeherrschte. Dann berief ich mich auf meine Frömmigkeit. Dann sagte ich, dass ich einparteiloser Vorsitzender des Komponistenverbandes sein könne, nach dem Beispiel Kon-stantin Fedins1 und Leonid Sobolews2, die als Parteilose Führungspositionen im Schrift-stellerverband innehätten. Pospelow wies alle meine Argumente zurück und nannte einigeMale den Namen Chruschtschows, der um das Schicksal der Musik besorgt sei, und ichsei verp�ichtet, darauf zu reagieren. Ich war durch dieses Gespräch völlig zermürbt. Beider zweiten Begegnung mit Pospelow drückte er mich wieder an die Wand. Meine Nervenhielten das nicht aus und ich gab nach . . . �

Die Erzählung Dmitri Dmitriewitschs wurde einige Male von meinen aufgeregtenFragen unterbrochen. Ich erinnerte ihn daran, wie oft er zu mir gesagt hatte, dass erniemals in eine Partei eintreten werde, die Gewalt erzeuge. Nach groÿen Pausen fuhrer fort : � Im Komponistenverband hat man sofort vom Ergebnis der Unterredungen mitPospelow erfahren, und irgendjemandem ist es gelungen, eine Erklärung zu fabrizieren,die ich wie ein Papagei auf der Versammlung hersagen muss. So wisse : ich habe festbeschlossen, bei der Versammlung nicht zu erscheinen. Ich bin heimlich nach Leningradgefahren, ich habe mich bei der Schwester einquartiert, um mich vor ihren Quälereienzu verstecken. Alles erscheint mir so, als ob sie sich besonnen hätten, mich verschonenwürden und in Ruhe lieÿen. Und wenn das nicht geschieht, werde ich hier hinter Schlossund Riegel sitzen. Allein gestern Abend kamen Telegramme mit der Au�orderung zumeiner Anreise. So wisse, dass ich nicht fahren werde. Sie können mich nur mit Gewaltnach Moskau bringen, verstehst du, nur mit Gewalt ! . . . �

Nachdem er diese Worte gesagt hatte, deutlich vernehmbar, wie einen Eid, wurdeer plötzlich völlig ruhig. Mit seiner, wie ihm schien, endgültigen Entscheidung löste ergleichsam den stra�en Knoten, der seine Kehle zusammenzog. Der erste Schritt war be-reits getan : mit seinem Nichterscheinen würde er die sich mit groÿem Pomp anbahnendeVersammlung sabotieren. Froh darüber verabschiedete ich mich von Dmitri Dmitrie-witsch und fuhr nach Selenogorsk, wo meine Mutter eine Datscha gemietet hatte. Ichhatte versprochen, die Einsiedlerin für ein paar Tage zu besuchen. Er aber wartete nichtauf mich sondern kam selbst ohne Ankündigung am 1. Juli spät abends zu mir nachSelenogorsk mit einer Flasche Wodka. Es regnete. Dmitri Dmitriewitsch sah erschöpftaus nach einer wahrscheinlich schla�osen, seelisch aufwühlenden Nacht.

Kaum hatte er die Schwelle unseres Häuschens überschritten, sagte Dmitri Dmitrie-witsch : �Verzeih, dass es so spät ist. Aber ich wollte dich schnell sehen und meinenSchmerz mit dir teilen.� Ich wusste damals nicht, dass er diesen an ihm nagenden Schmerzeinige Wochen lang in die Musik seines achten Streichquartetts hatte ein�ieÿen lassenund so seine Seele ablenken konnte.1 Konstantin Alexandrowitsch Fedin (1892 - 1977), russischer Schriftsteller und Schauspieler)2 Leonid Sergejewitsch Sobolew (1898 - 1971), sowjetischer Schriftsteller

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Vom Wodkatrinken nicht mehr nüchtern umging Dmitri Dmitriewitsch die verhäng-nisvolle Versammlung, sprach stattdessen über die Macht des Schicksals und zitierte eineZeile aus den Puschkin'schen �Zigeunern� : �Und überall verhängnisvolle Schrecken, /Und vor den Fügungen des Schicksals kein Schutz�. Wie ich ihn so hörte, dachte ichplötzlich voller Traurigkeit, ob er sich nicht doch dem Schicksal geschlagen geben würde,nachdem ihm die Unmöglichkeit bewusst geworden war, sich mit ihm zu messen und eszu besiegen. Leider kam es auch so. Die Versammlung, die einer tragischen Farce glich,wurde ein zweites Mal organisiert, und Dmitri Dmitriewitsch verlas, glühend vor Scham,die für ihn verfasste Erklärung über die Aufnahme in die KPdSU . . .

In Schostakowitsch verband sich schöpferische, künstlerische Kühnheit mit einer vomstalinistischen Terror eingeimpften Angst. Die jahrelange geistige Unfreiheit umspannihn mit ihrem Netz, und nicht von ungefähr erklingt in seinem autobiogra�schen achtenStreichquartett so überspannt, so dramatisch die Melodie des Liedes �Im Kerker zu Todegemartert� . . .

Michail Ardow � Im Herbst des Jahres 1960 fand die Hochzeit Maxim Schostako-witschs statt. Das war in der Wohnung am Kutusow-Prospekt, aber die ganze Be-wirtung wurde vom �Aragwi� ausgerichtet. Die Gäste bediente unser Freund Robson,ihm standen noch zwei Kellner zur Seite. Der Brautvater war ein bekannter sowjetischerDiplomat (soviel ich weiÿ, bekleidete er einen Posten, über den man ihn nach Belgiengeschickt hatte), unter den Geladenen waren viele seiner Kollegen. Wir, die Freunde desBräutigams, saÿen am Tischende und langweilten uns, während o�zielle Toasts ausge-bracht wurden und die Unterhaltung dahinplätscherte. Aber da ergri� irgendein Diplo-mat das Wort und schlug vor, auf das Wohl von Maxim Maximowitsch zu trinken. Wirverstanden nicht, wen er meinte � Maxim Dmitriewitsch oder Dmitri Dmitriewitsch ? . . .Niemand korrigierte den Redner, alle erhoben die Gläser und leerten sie. Nun, an dieserStelle beschloss ich, die Tafelrunde etwas zu beleben; ich erklärte, einen Toast ausbringenzu wollen. Als Schweigen eingetreten war, sagte ich : �Bisher haben wir nur auf Max-im Maximowitsch getrunken, ich schlage vor, dass wir jetzt auf Petschorin1 trinken ! �Meine Freunde wurden lebhaft, auf den Gesichtern der Diplomaten zeigte sich Verlegen-heit . . . Sie hatten o�ensichtlich in ihrer Schulzeit Lermontow nicht so genau gelesen . . .Jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen, gibt es in der Familie Schostakowitsch einen MaximMaximowitsch, das ist der jüngere Sohn von Maxim Dmitriewitsch.

1 Figur in Michail J. Lermontows Roman �Ein Held unserer Zeit� (1840)

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53 � Krankenhaus in Kurgan

Galina � �Als er hereinkam, war ich erstaunt, wie ähnlich er dem jungen Stalinwar � das östliche Gesicht, der Schnurrbart . . . � Das war eine Äuÿerung meines Vatersüber den berühmten Chirurgen aus der Stadt Kurgan, Gawriil Abramowitsch Ilisarow1.1969 wandte Vater sich an ihn, da die Moskauer Ärzte ihm auf keine Weise bei derÜberwindung seines Leidens helfen konnten � einer Schwäche in den Beinen.

Auf Vaters Bitte hin fuhr Rostropowitsch, Ilisarow am Bahnhof abzuholen. Man ver-abredete sich darüber am Telefon, und der Scherzen zugeneigte Mstislaw Leopoldowitschsagte : � Ich werde am Anfang des Bahnsteigs stehen. Sie können mich leicht erkennen : ichgleiche einem A�en.� Das Tre�en kam glücklich zustande, danach beklagte sich Rostro-powitsch : �O�enbar sehe ich wirklich wie ein A�e aus. Ilisarow stieg aus dem Waggonund kam direkt auf mich zu, obwohl auf dem Bahnsteig eine ziemliche Menge von Leutenstand . . . � Im Frühjahr 1970 begab sich Vater zur Behandlung nach Kurgan.

Aus einem Brief D. Sch.'s an I.D.Glikman �Wir leben hier so : Aufstehen um7 Uhr. Von 7 bis 8 verrichte ich mein Morgenritual : Waschen, Rasieren, Körperkultur, dieneuesten Nachrichten hören. Um 8.30 Frühstück. Um 9.15 fahren wir in den Wald, wo wireine Stunde spazieren gehen. Von 11 bis 12.30 grausame, schweiÿtreibende Gymnastikund Massage. Um 13.30 Mittagessen. Um 15.30 fahren wir wieder zum Spazierengehenin den Wald. Um 17 Uhr kehren wir ins Krankenhaus zurück. Das alles ist sehr nützlich.Arme und Beine werden kräftiger. Aber gegen Abend bin ich erledigt . . . Auÿerdemgeben sie mir alle drei Tage eine Spritze. Man hat eine leichte Operation vorgenommen.Was ich im Krankenhaus auf dem Gebiet der Behandlung sah, ruft in mir Begeisterung,Erstaunen und groÿe Bewunderung für den menschlichen Geist hervor. In diesem Fallgeht es um Gawriil Abramowitsch Ilisarow. Wenn wir uns wiedersehen, erzähle ich dirvon seinen Leistungen . . . �

Maxim � Ich erinnere mich, Vater erzählte von einem ziemlich intensiven Erlebnisin Kurgan. Mit ihm zusammen im Krankenhaus befand sich eine Menge von Kindernmit unterentwickelten oder geschädigten Armen und Beinen . . . Und da sah er, wiediese Kinderchen Ball spielten. Während des Spiels waren sie vollkommen glücklich, siedachten nicht an ihre Verstümmelungen und nahmen sie gar nicht wahr � Lachen undfröhliche Schreie waren zu hören.

Sofia Chentowa � Von den Heilverfahren erholte sich Schostakowitsch indemer mit dem kleinen Jungen Serjoscha spielte, der auch von Ilisarow behandelt wurde.Der Junge tauchte ganz unbefangen im Krankenzimmer auf und schlug vor : �DmitriDmitriewitsch, los, spielen wir Ball ! � � �Ach was, spielen wir ! � Und zu zweit �ngen siemit ihrem Fuÿball an . . .

1 Gawriil Abramowitsch Ilisarow (1921 - 1992), Chirurg und Orthopäde, Gründer und langjährigerLeiter eines Forschungszentrums

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54 � Krankheit

Maxim � Erste Anzeichen einer Krankheit machten sich bei Vater im Jahr 1958 be-merkbar. Er war in Frankreich und trat in Konzerten auf. Und da fühlte er mit einemMal ein Unwohlsein im rechten Arm. Zuerst dachte er, er habe den Arm überanstrengt.Pianisten kennen das Phänomen, wenn von den Proben und Au�ührungen her der Armzu sehr beansprucht wird und etwas zu schmerzen beginnt . . . Aber die Erkrankung ent-wickelte sich weiter, und schlieÿlich wurde die Diagnose gestellt : �Amyotrophe Lateral-sklerose�, in der amerikanischen Abkürzung �SLA�. Eine ganz abscheuliche Krankheit;bei Vater war die gesamte rechte Körperseite betro�en . . . Und es bestand die Gefahr,dass irgendwann der Atemapparat versagen könnte. Aber das erlebte Vater nicht mehr,bei ihm entwickelte sich Lungenkrebs . . . Seiner Unpässlichkeiten schämte er sich, ichwürde sagen, seinen Krankheiten gegenüber hatte er ein keusches Verhältnis.

Isaak Glikman � Am 5.Mai 1972 fand die Urau�ührung der fünfzehnten Sym-phonie statt. Der Saal der Philharmonie war bis auf den letzten Platz besetzt. Alle Au-gen im Publikum waren auf die Loge gerichtet, in der Schostakowitsch saÿ. Mir schien,dass viele nicht nur ins Konzert gekommen waren, um die Symphonie zu hören, sondernauch, um unbedingt den geliebten Autor zu sehen.

Er war im schwarzen Anzug mit einem schneeweiÿen Hemd, und auf die Entfernungsah er wie früher aus, jung, schön. Nach Ende der Symphonie begann der Applaus. DasErscheinen Schostakowitschs auf dem Podest rief ungeheure Begeisterung im Publikumhervor. Hinter der Bühne sagte er mir : �Wenn du wüsstest, welche Anstrengung esmeine Beine gekostet hat, der Au�orderung zu folgen und hinauszugehen ! . . . � Und seinGesicht verzog sich gequält.

Der Dirigent Kirill Kondraschin 1 � Gegen das Jahr 1970 hin hatte ich vieleWerke Schostakowitschs in meinem Repertoire, und der Gedanke an eine zyklischeAu�ührung aller seiner Symphonien zu Ehren seines 65.Geburtstages entstand. DasVorhaben wurde im Lauf von zwei Jahren verwirklicht. Dmitri Dmitriewitsch war beivielen Konzerten anwesend, oft ungeachtet seines gesundheitlichen Zustandes. Jedes Malvor Konzertbeginn sagte er mir ungefähr folgendes : �Kirill Petrowitsch, wenn die Sym-phonie Erfolg haben sollte, und Sie mich etwa zum Verbeugen herausrufen wollen, bitte,nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich nicht auf die Bühne hochkomme, sondern nurauf's Podium. Es fällt mir schwer, die Stufen schnell hochzulaufen, alle werden auf michschauen, aber das kann ich nicht ertragen . . . �

Sofia Chentowa � Mit Freude und Dankbarkeit nahm Schostakowitsch das Ange-bot an, bei der Vorbereitung zur Oper �Die Nase� auf der Bühne des Kammermusik-

1 Kirill Petrowitsch Kondraschin (1914 - 1981), russischer Dirigent)

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theaters 1 unter der Regie von B.A.Pokrowski 2 mit G.N.Roschdestwenski 3 als Dirigentdabei zu sein. Im Theater, das in einem Kellerraum liegt, bedeutete es für den Kom-ponisten, wie sich Pokrowski erinnert, � eine qualvolle Anstrengung, die Treppe hinabzu steigen, und noch mehr, sich nach der Probe wieder nach oben zu arbeiten . . . Diebegeisterten Künstler boten an, Dmitri Dmitriewitsch auf Armen über die Treppe zutragen (das wäre so einfach gewesen !). Aber das lehnte er schlicht und einfach ab. Ihmwar die gefährliche Treppe auf den Hof ganz recht, und niemand sah, wie sich unserteurer Gast auf ihr bewegte. Keiner schaute hin, half, empfand Mitleid und richtete dieAufmerksamkeit auf die ver�uchte Krankheit. Eine Bagatelle ? Nein, er schützte sich voreinem beleidigenden Mitgefühl. Aber wir wissen noch, wie er plötzlich mitten unter unsauftauchte, um unsere Arbeit mit uns zu teilen.�

Galina � Ich erinnere mich, wie Vater sich vor einem seiner Bekannten entschul-digte : �Verzeihen Sie, ich bin gezwungen, Sie mit meiner linken Hand zu begrüÿen . . . �

Am Ende des Jahres 1973 entdeckte man bei Schostakowitsch eine Geschwulst in derlinken Lunge. Ich weiÿ noch, er kam aus der Polyklinik zurück und legte sich hin. Ich gingzu ihm, er sagte : � Im Röntgenraum haben sie mich zwei Stunden lang untersucht . . . einArzt kam, dann ein anderer . . . � Natürlich ahnte er, dass es schlecht stand . . . Aber mitkeinem seiner Angehörigen gri� er dieses Thema auf. Es war sein Lebensprinzip, niemalsjemandem seine eigenen Probleme aufzuladen . . .

Aus den Tagebüchern I.D.Glikmans�9. Juni 1974 � Heute war ich bei Dmitri Dmitriewitsch in Repino. Wir plaudertenziemlich lange über alles Mögliche . . . Als wir allein waren (Irina Antonowna hatte dasZimmer verlassen), �ng Dmitri Dmitriewitsch von den Qualen zu reden an, die ihmBeine und Arme verursachten. Er äuÿerte sich dazu in abgehackten Phrasen, und dabeitraten Tränen in seine Augen. Dann hatte er sich wieder unter Kontrolle und sagte : � ImÜbrigen mag ich keine Jammerer und will auch selber nicht bemitleidet werden.� Als ichihn so hörte, musste ich fast selber weinen . . . �

Maxim � Unmöglich ist es, nichts über die Rolle zu sagen, die im Leben unseresVaters seine Frau Irina Antonowna gespielt hat. Sie heirateten im Jahr 1962, als seineKrankheit sich im Anfangsstadium befand, und die Diagnose noch gar nicht gestellt war.Aber in allen folgenden Jahren war gerade Irina Antonowna sein wichtigster Halt undBeistand. Auf allen Reisen waren sie zusammen, in den Krankenhäusern und Sanatorien,zudem war sie seine Sekretärin, Chau�eurin und Krankenwärterin . . .

Galina � Neben allem anderen konnte Irina Antonowna das Alltagsleben organi-sieren. Da arbeitet Dmitri Dmitriewitsch, und da ruht er sich aus. Und sie achtete äuÿerststreng darauf, dass er nicht zu viel abgelenkt oder beunruhigt wurde.

1 Moskauer Kammermusiktheater, 1972 gegründet von B.A.Pokrowski2 Boris Alexandrowitsch Pokrowski (1912 - 2009), sowjetischer Regisseur und Pädagoge3 Gennadi Nikolajewitsch Roschdestwenski (* 1931), russischer Dirigent

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Und dann in den letzten Jahren wurde sie sein �Blindenführer�, wenn man so sagenwill für jemanden, der sich um einen Sehenden kümmert. Ich habe das so vor mir, siegeht mit ihm, hält ihn unterm Arm und sagt : �Vorsicht, Mitja, hier ist eine kleine Stufeabwärts . . . und hier eine nach oben . . . �

Schlieÿlich wurde auf der Datscha in Schukowka ein Lift eingebaut, damit Vater direktvom Vorraum zu sich ins Zimmer kommen konnte. Nun lebten wir aber in der Sowjet-union, und für diesen Lift brauchte man jemanden, der o�ziell berechtigt war, ihn zubedienen. Und da besuchte Irina Antonowna kopfschüttelnd Spezialkurse für Liftführerund erhielt darüber ein Abschlussdiplom.

Nun, und eines Tages kamen ihr die erworbenen Fähigkeiten zustatten. Der Lift, indem sich Schostakowitsch befand, blieb zwischen den Stockwerken stecken. Da kletterteIrina Antonowna über eine aufgestellte Leiter auf den Dachboden und dort drehte siezusammen mit der Haushälterin per Hand an dem riesigen Metallrad. Der Lift setztesich in Bewegung, kam im ersten Stock an, und Vater konnte aus seiner Gefangenschaftbefreit werden.

Maxim � Ich bin überzeugt, dass vor allem dank der Fürsorge, mit der ihn IrinaAntonowna umhegte, unser Vater, ungeachtet seiner schweren Leiden, fast siebzig Jahrealt wurde. Und dabei darf man nicht vergessen, dass Schostakowitsch bis in seine letztenLebenstage hinein schöpferisch tätig blieb. Seinen Schülern predigte er immer : �Mansollte keine Musik schreiben, wenn man dazu nicht in der Lage ist.� Selber konnte ernicht nicht schreiben, er war vom Scha�en beseelt sein ganzes Leben lang. Ich bin sicher,dass das wesentlichste und wahrste Urteil über Schostakowitsch am 14.August 1975über seinem Sarg gesprochen wurde. Georgi Wassiljewitsch Swiridow, einer seiner bestenund liebsten Schüler, sagte : �Weich, entgegenkommend, manchmal unentschieden inAlltagsdingen, war dieser Mensch in seinem Wichtigsten � seinem verborgenen innerenWesen � unerschütterlich wie ein Stein. Seine Zielstrebigkeit war mit nichts zu ver-gleichen.�

Im Jahr 1936, in einer für ihn (und alle Länder) schrecklichen Zeit, wo man ihnentehrte und erniedrigte, sagte Schostakowitsch : �Wenn sie mir beide Hände abhacken,nehme ich die Feder zwischen die Zähne � und werde trotzdem Musik schreiben ! . . . �

Das waren keine leeren Worte.

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Nachwort

In den siebziger Jahren sahen Maxim und ich uns nicht oft. Die Jugend war vorbei,jeder von uns hatte einen Beruf ergri�en, und alle Freunde verfolgten ihre eigenen Wege.Aber ich freute mich immer über Maxims Erfolge, und meine Gefühle ihm gegenüberblieben unverändert. Unsere letzte Begegnung vor seiner Emigration war nur �üchtig. Ichverlieÿ das Restaurant beim �Haus des Schauspielers�, während Maxim gerade dorthinging. Das war, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, im Jahr 1979.

Aber da kam das Jahr einundachtzig, und die Auslandspresse verbreitete eine Sensa-tion : der Dirigent Maxim Schostakowitsch und sein Sohn, der Pianist Dimitri, bliebenim Westen. Gierig hörte ich, so sagt mir mein Gedächtnis, die �Stimme Amerikas� unddie �Freiheit�, alle Einzelheiten interessierten mich. Mitgeteilt wurde, Sohn und Enkeldes groÿen Komponisten hätten in den USA um politisches Asyl gebeten, und PräsidentRonald Reagan habe sie persönlich empfangen . . . Für Maxim begann ein neues Leben.

Ein Jahr vor seinem endgültigen Abschied hatte ich mein Dasein kaum wenigereinschneidend verändert � ich war Dorfgeistlicher geworden. Im Jahr achtzig, als dasgeschah, bedeutete ein solcher Schritt so etwas wie �innere Emigration�, vergessen wirnicht : die Kirche existierte unter der Sowjetherrschaft in so einer Art Ghetto. Zu keinemZeitpunkt verhehlten die Bolschewiki ihr Ziel � den religiösen Glauben auszurotten, unddeshalb ist der Ghetto-Vergleich keineswegs scherzhaft gemeint. Als Ausgestoÿene abergenossen Christen vollwertigen Staatsbürgern gegenüber ein wichtiges Privileg � wirnahmen fast nie am damaligen, absurden �ö�entlichen Leben� teil.

Die allmächtigen Bürokraten, ja überhaupt alle �Sowjetmenschen�, hatten von unsKlerikern eine völlig unverrückbare Meinung : wir waren entweder Gauner oder Geis-teskranke. Diese Haltung Geistlichen gegenüber als einem durch und durch verdächti-gen Menschenschlag erfuhr ich am eigenen Leib bei meinen ersten Schritten in dieserTätigkeit. Nie werde ich die Ankunft an meinem Dienstort vergessen � einem abgele-genen Dorf in der Oblast Jaroslawl, sechsundzwanzig Kilometer Feldweg entfernt vomKreiszentrum, Danilow. Es waren die letzten Apriltage. Am Wegrand und im Wald lagennoch Schneereste. Die ersten paar Kilometer konnte ich noch glücklich auf einem Trak-tor mitfahren, der die gleiche Richtung hatte. Desweiteren stapfte ich dann in meinenGummistiefeln durch den Schlamm . . .

Der Weg führte durch ein groÿes Dorf � Spas1. Dort bemerkte mich ein Bauer,der den Zaun an seinem Haus ausbesserte. Er betrachtete mich aufmerksam von obenbis unten und sagte : �Und du gehst wohl nach Gorinskoje, Vater Iwan ablösen ? � Ichbestätigte das. Man muss sagen, dass einen nicht nur der aufgeweichte Boden schwer-mütig machte, auch die Namen der Ortschaften, durch die ich gehen musste, trugennicht zur Verbesserung der Stimmung bei � Stonjatino2, Skulepowo3 . . . Ja, und natür-lich Gorinskoje4 selber � der Ort, an dem mir mein Dienst bevorstand.

1 deutsch : �Heiland�, �Erlöser�2 abgeleitet von �Klagen�3 abgeleitet von �Trübsinn�4 abgeleitet von �Kummer�

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Nach meinem kurzen Dialog mit dem Bauern war ich kaum anderthalb Kilometerweitergegangen, als mich ein Lastwagen einholte, und sich auf der Lade�äche über derFahrerkabine die Grenadiersgestalt des Revierinspektors in Polizeiuniform erhob. Ohnegroÿe Umstände hielt man mich an, hob mich auf die Lade�äche und scha�te mich zumDorfsowjet von Gorinskoje. Dort studierte man aufmerksam meinen Pass und den Erlassdes Erzpriesters über meine Zuweisung zu dieser Gemeinde.

In der Folge begann ein nettes bürokratisches Spielchen � der Beauftragte des Sowjetsfür Religionsangelegenheiten weigerte sich kategorisch, mir eine Registrierungsbescheini-gung auszustellen, solange ich noch nicht in Gorinskoje angemeldet sei, aber das Exeku-tivkomitee des Kreissowjets in Danilow und der ihm nachbetende Dorfsowjet hatten garkeine Lust, mich anzumelden, solange ich keine Registrierungsbescheinigung vorweisenkonnte . . . Das alles zog sich zwei Wochen lang hin, und ich musste die 26 Kilometer aus�üssigem Schlamm noch einigemale bewältigen . . .

Im Herbst desselben Jahres, als ich schon in Gorinskoje wohnte, kam der örtlichePostbote zu mir ins Kirchenhaus. Er fragt : �Wollen Sie Zeitungen und Zeitschriftenabonnieren ? � �Ja, natürlich�, sage ich, � ich werde die �Prawda� abonnieren.�

(Dazu ist anzumerken, dass man in jenen �märchenhaften Jahren�, wenn man miteinigem Geschick zwischen den Zeilen las, gerade in diesem �Zentralorgan� die wesent-lichste Information �nden konnte.)

Auf meine Antwort hin stutzte der Postbote : �Meinen Sie das ernst ? � �Vollkommenernst. Ich abonniere nur eine einzige Publikation � die Zeitung �Prawda�.� �Aber hörnSie : in meinem Bereich abonnieren nicht mal die Parteimitglieder die �Prawda� . . . � �Na,dann�, sage ich, � erzählen Sie ihnen das : ihr habt euer Zentralorgan nicht abonniert, derPope aber kriegt's . . . � Der Postbote bekam von mir das Geld, stellte mir eine Quittungaus und entfernte sich völlig erschüttert.

Nachdem ich mit der Kirchenältesten von Gorinskoje näher bekannt geworden warund sie Vertrauen zu mir gefasst hatte, teilte sie mir eine Äuÿerung des Sekretärs desKreisexekutivkomitees in Danilow über mich mit (in den Kreissowjets befassten sichmeistens die Sekretäre mit den religiösen Angelegenheiten). Als da nun der Sekretäraus Danilow, ich glaube er hieÿ Orlow, Papiere und Lebenslauf von mir studiert hat-te, schaute er auf die Älteste und sagte : �Ein Sowjetmensch . . . wie weit es mit ihmgekommen ist . . . �

Unser �Kirchenghetto� existierte noch einige Jahre weiter � bis ins Jahr achtund-achtzig. In jenen Tagen beging man auf Staatsebene ein wahrhaft groÿes Jubiläum �die Tausendjahrfeier der Taufe Russlands. Damals stürzte auch die Mauer ein, die dieBolschewiki so eifrig zwischen gläubigen und nicht gläubigen Mitbürgern aufgerichtethatten.

Während all dieser Jahre war ich der festen Überzeugung, die Wege von MaximSchostakowitsch und mir hätten sich endgültig getrennt. Aber im Winter dreiundneunzigklingelte bei mir zu Hause das Telefon. Zu meiner Verwunderung erkannte ich die StimmeMaxims. Er rief aus Amerika an und lud mich ein, ihn zu besuchen.

Das Jahr 1994 begann, und ich fuhr in kirchlichen Angelegenheiten über den Ozean.Als Maxim erfuhr, dass ich in Amerika war, in New Jersey, kam er angerannt und nahmmich mit nach Connecticut. Dort lernte ich sein Frau Marina kennen und die winzige

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Tochter Mascha, und verlebte dann einige unvergessliche Tage. Das Fragen und Erzählennahm kein Ende, aber das wichtigste war : ich erfuhr, dass Maxim und seine Frau dieHeilige Taufe angenommen hatten, und beide tatsächlich gläubige Menschen gewordenwaren. Alle zusammen unternahmen wir eine Pilgerfahrt in das Örtchen Jordanville1,ins Heilige-Dreifaltigkeits-Kloster, das das geistige Zentrum der �Russischen Kirche imAusland� bildet. Auÿerdem weihte ich kraft meines Amtes das Haus, in dem die Familiedamals lebte.

Soweit ich mich entsinne, stürzte ich mich auf die Bibliothek, da Maxim eine Mengevon Büchern hatte, die damals in Russland noch nicht zu bekommen waren. Mehr aberals alle Emigranten-Ausgaben erregte ein Buch meine Aufmerksamkeit, das in unseremLand verö�entlicht worden war und die Briefe D.D. Schostakowitschs an I.D.Glikmanenthielt2. Zuerst nahm ich es nur in die Hand, dann aber las ich es und konnte mich nichtmehr losreiÿen. Mein Interesse an dem groÿen Komponisten ent�ammte da natürlich mitneuer Stärke. Damals kam mir der Gedanke in den Sinn, die Erinnerungen Maxims undGalinas an ihren Vater aufzuzeichnen.

Meine Idee weckte bei ihnen keine Begeisterung. Ich führe das auf die von DmitriDmitriewitsch geerbte Bescheidenheit zurück, auf den beständigen Wunsch, im Hinter-grund zu bleiben. Maxim lehnte es rundweg ab, aber ich blieb hartnäckig und suchteihn bei jeder neuen Begegnung zu überreden, die Sache mit den Memoiren anzugehen.Galina erschien nachgiebiger, blieb aber skeptisch gestimmt. Sie ging davon aus, dassalles was sie über ihren Vater erzählen könnte, unbedeutend und uninteressant wäre.

Und doch nahm ich mit ihr im Frühling des Jahres 2001 die Arbeit auf. Ich schaltetedas Diktiergerät ein und begann mit den Fragen. Unschätzbare Hilfe leistete uns dabeifortwährend dieses erwähnte Buch � die Briefe Dmirtri Dmitriewitschs an Glikman.Ich las die Briefe des Vaters der Reihe nach vor und fragte, ob sie bei der Tochternicht irgendwelche Erinnerungen oder Assoziationen hervorriefen ? . . . Schritt für Schrittarbeiteten wir uns vor bis zu dem Punkt, an dem sich ein gewisser zusammenhängenderText abzeichnete.

Anfang Sommer aber, als ich die Erinnerungen Galinas in Händen hatte, einigte ichmich mit Maxim auf ein Tre�en. In diesen Tagen hielt er sich mit seiner Familie in derOblast Iwanowo auf, im Dorf Kitainowo, nahe dem Städtchen Juscha. Dort hinzukommenist nicht ganz einfach. Der Bus fährt um zehn Uhr abends aus Moskau ab und kommtin Juscha an morgens um fünf. Die Fahrt verlief ohne besondere Zwischenfälle, war aberziemlich anstrengend � ein alter Bus mit harten Sitzen, an Schlaf nicht zu denken.

Drei Tage hielt ich mich bei Maxim auf, und wie immer verstanden wir uns aufsBeste. Wir arbeiteten folgendermaÿen : ich las ihm vor, was mir Galina erzählt hatte,und er steuerte seine Ergänzungen bei. Am zweiten Arbeitstag sagte Maxim zu mir : �So,jetzt erst hast du mich überzeugt, dass wir dieses Buch tatsächlich schreiben müssen.�

Am Jahresende stand mir nochmal eine Fahrt nach Kitainowo bevor, um mit Maximden endgültigen Text abzustimmen. Eingedenk der ersten anstrengenden Reise beschlossich, diesmal nicht nachts zu fahren, sondern tagsüber : mit dem Bus kam ich nach

1 Siedlung innerhalb der US-amerikanischen Stadt Warren im Bundesstaat New York2 vgl. S. 7, Anmerkung 1

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Iwanowo und mietete dort einen PKW. Unterwegs erklärte ich dem Chau�eur, dassich nicht direkt nach Juscha müsse, sondern nach Kitainowo � ein Dorf fünfzehn Kilo-meter von dem Städtchen entfernt. Der Fahrer hörte mir aufmerksam zu und sagte :�Dort irgendwo wohnt der Sohn von Rostropowitsch.� �Nicht von Rostropowitsch, vonSchostakowitsch�, antwortete ich, �na, und genau zu dem fahre ich.�

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Index

Achmatowa, Anna A., 77, 87Aljabjew, Alexander A., 92Ardow, Viktor J., 5, 59Arnstam, Leo O., 23, 95Atowmjan, Lewon T., 18, 51, 64

Bach, J. S., 74, 88, 92Bakowka, 22Basner, Wenjamin J., 39Berija, Lawrenti P., 54, 91Blanter, Matwei I. (�Motja�), 29, 30, 88Bolschewo, 28, 81, 84Bonn, 74Brodsky, Joseph, 87

Chaikin, Boris, 9, 18, 23, 88, 92Chatschaturjan, Aram, 10, 14, 35, 57, 58,

84, 88Chentowa, So�a M., 7, 29, 89, 99, 100Chrennikow, Tichon N., 38Chruschtschow, Grigori K., 83Chruschtschow, Nikita S., 30, 55, 66, 96,

97Chudojan, Adam G., 63Connecticut, 104

Danilow, 43, 103, 104Denissow, Edisson, 88Die Nase (Oper), 39, 100Dolleschal, Nikolai A., 91Dolmatowski, Jewgeni, 89Dresden, 95Dulowa, Vera G., 70

Edinburgh, 19Emka, 9Ermler, Friedrich M., 49

Fadejew, Alexander A., 43Fenster, Boris A., 92, 93Formalismus, 32, 38, 41, 42Fredericks, Wsewolod K., 39

Gaal, Franziska, 59Gauk, Alexander W., 19Gilels, Emil G., 55Gilels, Jelisaweta G., 55Glikman, Isaak D., 7, 12, 34, 46, 51, 58,

63, 66, 70, 75, 77, 79, 81, 95, 96,99�101

Gnessin-Institut, Moskau, 52Gorino, 14, 15Gorinskoje, 103, 104Grudzowa, Olga M., 85

Haus des Scha�ens, 14�16Helsinki, 73Hotel �Moskwa�, 9

Ilisarow, Gawriil A., 99Isajewa, Galina I., 92, 93Iwanowo, 14�16, 30, 105

Jaroslawl, 10, 43, 103Jerewan, 63Jessenin, Konstantin S., 29Jordanville, 105Juscha, 105, 106

Kabalewski, Dmitri B., 66, 67Katerina Ismailowa (Oper), 66Kellomäki, 9, 21, 22Kirowstraÿe, Moskau, 17, 28Kitainowo, 105, 106Koktebel, 6Komarowo, 9, 21�24, 35, 36, 41, 46, 48�

50, 62, 66, 70Komponistenverband, 27, 38, 51, 77, 89,

90, 95�97Kondraschin, Kirill P., 100Kortschagina-Alexandrowska, Jekaterina

P., 48Krim, 6, 30Krjukow, Wladimir W., 22

107

Kuibyschew, 10�12Kurgan, 99Kutschajew, Andrei L., 5Kutusow-Prospekt, Moskau, 57, 98

Lady Macbeth . . . (Oper), 32, 39, 40, 66�68, 95

Lenin, Wladimir I., 53, 72Leningrad, 9, 18, 19, 28, 30, 32, 39, 46,

64, 66, 70, 87, 92, 96, 97

Marienhof, Anatoli B., 23Meyerhold, Wsewolod E., 29, 39, 40Michailowskoje, 62Mischor, 6Molotow, Wjatscheslaw M., 74Morosow, Pawel T., 54Moschaiskoje-Chaussee, Moskau, 28, 57,

59Moskau, 9, 10, 14, 17, 18, 22, 25, 28, 33,

40, 50, 54, 57, 58, 62, 63, 67, 68,71, 73, 74, 81, 83, 86, 87, 96, 97

Mrawinski, Jewgeni A., 19Muradeli, Wano I., 32, 38, 77, 78Mussorgski, Modest, 92

Nebolsin, Wassili W., 51New Jersey, 104Nilin, Alexander P., 5NKWD, 39

O�enbach, Jaques, 92Oistrach, David F., 55Ordynka, Straÿe in Moskau, 5, 10, 33, 34,

76, 87

Peiko, Nikolai, 15Peredelkino, 6Perwenzew, Arkadi A., 33Pokrowski, Boris A., 101Pospelow, Pjotr N., 96, 97Prokofjew, Sergei S., 14, 15, 19, 32, 34,

38, 54, 55, 88Ptiza, Klawdi B., 19Puschkin, Alexander S., 47, 62, 94, 98

Rappoport, Herbert, 25Reagan, Ronald, 103Reich, Sinaida N., 40Repino, 101Richter, Swjatoslaw T., 52Roschdestwenski, Gennadi N., 101Rostropowitsch, Mstislaw, 16, 74, 77, 85,

91, 99, 106Ruslanowa, Lidia A., 22

Sacharow, Andrei D., 91Samara, 10Sartre, Jean-Paul, 72Schaginjan, Marietta S., 31Schdanow, Andrei A., 34, 38Schneerson, Grigori, 10, 14Schostakowitsch, Irina A., 101, 102Schtschedrin, Rodion K., 40Schukowka, 16, 48, 79, 84, 85, 91, 94, 102Seldowitsch, Jakov B., 91Serow, Iwan A., 30Simferopol, 6Simonow, Konstantin M., 33Sinjawski, Wadim S., 15Skrjabin, Alexander N., 92Slonim, Ilja, 11, 13Sokolow, Nikolai, 10Sollertinski, Iwan I., 46, 47Soschtschenko, Michail M., 31�34, 75, 77Stalin, Josef W., 32, 34, 38�40, 42, 43,

51, 54, 55, 66, 84, 97, 99Strauss, Johann, 92, 93Swiridow, Georgi W., 64, 88, 102Swjatogorski-Kloster, 62Symphonien

01., 9502., 64, 7506., 9607., 10, 11, 3908., 14, 19, 20, 9510., 9615., 100

Sächsische Schweiz, 95, 96

Tarzan, 59

108

Tischtschenko, Boris I., 48, 88, 90, 92Tmutarakan, 83Trauberg, Leonid S., 50Tschaikowski, Peter I., 92, 95Tschorny, Sascha, 77, 96Tschukowski, Jewgeni, 5, 6, 85Tschukowski, Kornei I., 5, 6, 85Tuchatschewski, Michail N., 39, 40Tur, Alexander F., 18

Ulanowa, Galina S., 23Ustwolskaja, Galina I., 88Utkin, Iossif P., 65

Wagner, Richard, 95Warsar (Eltern NinaW. Schostakowitschs),

39, 48, 54Williams, Pjotr, 10Wischnewskaja, Galina P., 85, 91Wolkonski, Andrei M., 55Wright, Gebrüder, 10

ZK-Beschluss zu Muradeli, 32, 38, 42

109