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1 ERSTES KAPITEL Eine kürzere Fassung Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren 1. In Deutschland dauerte die wirtschaftliche Schwä- chephase das dritte Jahr in Folge an. Das Bruttoinlands- produkt stagnierte (Schaubild 1). Die Hoffnung des ver- gangenen Jahres auf eine sich allmählich kräftigende Erholung zerschlug sich im Frühjahr durch die Abküh- lung des weltwirtschaftlichen Umfelds und durch die Auswirkungen der Euro-Aufwertung. Dies drückte sich in zurückgehenden Zuwachsraten des Bruttoinlandspro- dukts und in einer deutlichen Verschlechterung der Lage am Arbeitsmarkt aus. Ab der Jahresmitte erholte sich die Exportkonjunktur vor dem Hintergrund einer Belebung der Weltwirtschaft merklich und trug maßgeblich zu den leicht positiven Zuwachsraten der Produktion in diesem Zeitraum bei. Die Binnennachfrage blieb erneut sehr schwach; der außenwirtschaftliche Funke sprang in die- sem Jahr nicht auf die inländische Verwendung über. Die Aussichten für das nächste Jahr lassen zwar etwas Licht am konjunkturellen Horizont erkennen; mit einem An- stieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 1,5 vH bleibt die Erholung jedoch verhalten und wird noch nicht zu einer verringerten Unterauslastung der gesamt- wirtschaftlichen Kapazitäten beitragen. Die Prognose für die gesamtwirtschaftliche Zuwachsrate unterstellt den gesetzgeberischen Status quo zum Zeit- punkt der Prognoseerstellung. Berücksichtigt wurden diejenigen steuerpolitischen Maßnahmen, die in diesem Jahr mit Wirkung für das kommende Jahr bereits gesetz- lich beschlossen sind und solche Maßnahmen, die – obgleich noch nicht verabschiedet – nicht der Zustim- mung des Bundesrates bedürfen. In einer Alternativrech- nung wurde unterstellt, dass die im Bundesrat zustim- mungspflichtigen Maßnahmen, also vor allem das geplante Vorziehen der Steuerreform und die Konsoli- dierungsmaßnahmen des Haushaltsbegleitgesetzes – mit den von der Bundesregierung veranschlagten Entlas- tungs- und Belastungseffekten für die öffentlichen Haushalte –, für das kommende Jahr realisiert werden. Unter diesen Annahmen ergibt sich ein Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts im kommenden Jahr von 1,7 vH. Die geringfügigen Unterschiede in den Zuwachsraten er- klären sich dadurch, dass sich die in der Alternativrech- nung ergebende Nettoentlastung der Haushalte und Un- ternehmen durch das Vorziehen der Steuerreform in Höhe von 15,6 Mrd Euro aufgrund der diversen finanz- politischen Sparmaßnahmen auf knapp 4 Mrd Euro re- duziert. 2. Für die Frage der Intensität der konjunkturellen Bele- bung ist das Wachstum des Produktionspotentials ein entscheidender Einflussfaktor, denn es signalisiert das Tempo, mit dem eine Volkswirtschaft in der mittleren Frist spannungsfrei wachsen kann. Je niedriger das Poten- tialwachstum ist, desto eher stößt ein Aufschwung an vorhandene Kapazitätsgrenzen und desto eher wird bei negativen konjunkturellen Impulsen ein Zustand der gesamtwirtschaftlichen Stagnation erreicht. Dem Poten- tialwachstum kommt damit sowohl für die Konjunktur- analyse, als auch für die Wirtschaftspolitik eine ent- scheidende Bedeutung zu. Eine empirische Analyse des Produktionspotentials unter Verwendung unterschiedli- cher Schätzverfahren zeigt, dass sich das Potentialwachs- tum in Deutschland in den zurückliegenden Jahren merk- lich verlangsamt hat und gegenwärtig bei rund 1,5 vH liegen dürfte (Ziffern 734 ff.). Die Unterauslastung der Schaubild 1 1) Vierteljahreswerte: Saisonbereinigung nach dem Census-Verfahren X-12-ARIMA.– 2) Zahlenangaben: Veränderung gegenüber dem Vor- jahr in vH. Voraussichtliche Wirtschaftsentwicklung 1) Mrd Euro Log. Maßstab Prognose 2) Bruttoinlandsprodukt in Preisen von 1995 Log. Maßstab Mrd Euro Prognosezeitraum 1,5 vH Jahresdurchschnitte 2) -0,0 vH 0,2 vH I II III IV I II III IV I II III IV 2002 2003 2004 480 490 500 510 520 480 490 500 510 520 SR 2003 - 12 - 0650

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ERSTES KAPITEL

Eine kürzere Fassung

Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

1. In Deutschland dauerte die wirtschaftliche Schwä- schwach; der außenwirtschaftliche Funke sprang in die-

chephase das dritte Jahr in Folge an. Das Bruttoinlands-produkt stagnierte (Schaubild 1). Die Hoffnung des ver-gangenen Jahres auf eine sich allmählich kräftigendeErholung zerschlug sich im Frühjahr durch die Abküh-lung des weltwirtschaftlichen Umfelds und durch dieAuswirkungen der Euro-Aufwertung. Dies drückte sichin zurückgehenden Zuwachsraten des Bruttoinlandspro-dukts und in einer deutlichen Verschlechterung der Lageam Arbeitsmarkt aus. Ab der Jahresmitte erholte sich dieExportkonjunktur vor dem Hintergrund einer Belebungder Weltwirtschaft merklich und trug maßgeblich zu denleicht positiven Zuwachsraten der Produktion in diesemZeitraum bei. Die Binnennachfrage blieb erneut sehr

sem Jahr nicht auf die inländische Verwendung über. DieAussichten für das nächste Jahr lassen zwar etwas Lichtam konjunkturellen Horizont erkennen; mit einem An-stieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 1,5 vHbleibt die Erholung jedoch verhalten und wird nochnicht zu einer verringerten Unterauslastung der gesamt-wirtschaftlichen Kapazitäten beitragen.

Die Prognose für die gesamtwirtschaftliche Zuwachsrateunterstellt den gesetzgeberischen Status quo zum Zeit-punkt der Prognoseerstellung. Berücksichtigt wurdendiejenigen steuerpolitischen Maßnahmen, die in diesemJahr mit Wirkung für das kommende Jahr bereits gesetz-lich beschlossen sind und solche Maßnahmen, die– obgleich noch nicht verabschiedet – nicht der Zustim-mung des Bundesrates bedürfen. In einer Alternativrech-nung wurde unterstellt, dass die im Bundesrat zustim-mungspflichtigen Maßnahmen, also vor allem dasgeplante Vorziehen der Steuerreform und die Konsoli-dierungsmaßnahmen des Haushaltsbegleitgesetzes – mitden von der Bundesregierung veranschlagten Entlas-tungs- und Belastungseffekten für die öffentlichenHaushalte –, für das kommende Jahr realisiert werden.Unter diesen Annahmen ergibt sich ein Zuwachs desBruttoinlandsprodukts im kommenden Jahr von 1,7 vH.Die geringfügigen Unterschiede in den Zuwachsraten er-klären sich dadurch, dass sich die in der Alternativrech-nung ergebende Nettoentlastung der Haushalte und Un-ternehmen durch das Vorziehen der Steuerreform inHöhe von 15,6 Mrd Euro aufgrund der diversen finanz-politischen Sparmaßnahmen auf knapp 4 Mrd Euro re-duziert.

2. Für die Frage der Intensität der konjunkturellen Bele-bung ist das Wachstum des Produktionspotentials einentscheidender Einflussfaktor, denn es signalisiert dasTempo, mit dem eine Volkswirtschaft in der mittlerenFrist spannungsfrei wachsen kann. Je niedriger das Poten-tialwachstum ist, desto eher stößt ein Aufschwung anvorhandene Kapazitätsgrenzen und desto eher wird beinegativen konjunkturellen Impulsen ein Zustand dergesamtwirtschaftlichen Stagnation erreicht. Dem Poten-tialwachstum kommt damit sowohl für die Konjunktur-analyse, als auch für die Wirtschaftspolitik eine ent-scheidende Bedeutung zu. Eine empirische Analyse desProduktionspotentials unter Verwendung unterschiedli-cher Schätzverfahren zeigt, dass sich das Potentialwachs-tum in Deutschland in den zurückliegenden Jahren merk-lich verlangsamt hat und gegenwärtig bei rund 1,5 vHliegen dürfte (Ziffern 734 ff.). Die Unterauslastung der

Schaubild 1

1) Vierteljahreswerte: Saisonbereinigung nach dem Census-VerfahrenX-12-ARIMA.– 2) Zahlenangaben: Veränderung gegenüber dem Vor-jahr in vH.

Voraussichtliche Wirtschaftsentwicklung1)

Mrd Euro

Log. Maßstab

Prognose2)

Bruttoinlandsprodukt in Preisen von 1995

Log. Maßstab

Mrd Euro

Prognosezeitraum

1,5 vH

Jahresdurchschnitte2)

-0,0 vH0,2 vH

I II III IV I II III IV I II III IV2002 2003 2004

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Eine kürzere Fassung

gesamtwirtschaftlichen Kapazitäten betrug im vergan-genen Jahr etwa 1,0 vH. Diese Werte deuten ebenfallsdarauf hin, dass die konjunkturelle Erholung eherverhalten ausfallen wird. Das Potentialwachstum istallerdings keine Naturkonstante, sondern durch wirt-schaftspolitische Maßnahmen beeinflussbar (JG 2002Ziffern 205 ff.).

3. Die Gründe für die Wachstumsschwäche sind vomSachverständigenrat vielfach diagnostiziert und Wegezu ihrer Beseitigung aufgezeigt worden. In den vergan-genen Monaten hat die Bundesregierung zahlreiche Re-formen auf den Weg gebracht. Dies gilt vor allem fürden Arbeitsmarkt, aber auch in der Gesetzlichen Ren-tenversicherung ist angesichts der belastenden Finanz-probleme eine Reihe langfristig angelegter Anpassungs-maßnahmen beschlossen worden. Schließlich wurde imBereich der Gesetzlichen Krankenversicherung ein ers-ter Schritt in Richtung einer umfassenden Gesundheits-reform eingeleitet. Gegenwärtig ist für viele derReformmaßnahmen noch nicht hinreichend klar, in wel-cher Form sie den komplizierten Gesetzgebungspro-zess verlassen werden; eine abschließende Beurteilungdes „deutschen Reformherbstes“ ist deshalb zum gegen-wärtigen Zeitpunkt noch nicht möglich. Betrachtet manaber die bereits beschlossenen Maßnahmen und dieGrundtendenz der sich noch im parlamentarischen Ver-fahren befindenden Vorschläge, dann fällt das Gesamt-urteil positiv aus. Die noch vor Jahresfrist richtungs-lose Politik hat in den vergangenen Monateninsbesondere mit Blick auf den Arbeitsmarkt ein Maß-nahmenbündel auf den Weg gebracht, das mehr ist alsnur ein erster Schritt in die richtige Richtung. Diesschließt Kritik nicht aus: Einzelne Elemente der be-schlossenen Arbeitsmarktreformen, beispielsweise imBereich des Kündigungsschutzes, sind zu zaghaft ange-gangen worden; in nicht unwichtigen Details der einzel-nen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maßnahmen,beispielsweise bei der Zusammenlegung von Arbeitslo-senhilfe und Sozialhilfe, wurden wesentliche Anreizef-fekte nicht hinreichend beachtet. Schließlich hat man inder Gesetzlichen Krankenversicherung eine richtungs-weisende Weichenstellung sowohl auf der Finanzie-rungsseite als auch auf der Leistungsseite in diesemJahr versäumt. Bemerkenswert ist aber dennoch, dasssich das Diskussionsklima in der Politik spürbar gewan-delt hat: Sowohl für die Regierungsparteien als auch fürdie Opposition liegen von Kommissionen ausgearbei-tete Entwürfe zu einer weitergehenden Reform der So-zialsysteme vor, die bei allen Unterschieden dennochrichtungsweisende Gemeinsamkeiten enthalten. Ange-sichts der Tatsache, dass der Sachverständigenrat in sei-nem letzten Jahresgutachten die Reformen für die Sozi-alversicherungen ausführlich thematisiert hat, und dadie Regierungskommission viele der Vorschläge auf-griff, werden in diesem Jahresgutachten keine weiterenVorschläge unterbreitet, sondern die Ergebnisse der Rü-rup-Kommission dargestellt und kommentiert. Für denBereich des Arbeitsmarkts stellt der Sachverständigen-rat in diesem Jahr Vorschläge zur Diskussion, die die

Ausführungen des letztjährigen Gutachtens konkretisie-ren und ergänzen.

4. Die Auswirkungen der anhaltenden wirtschaftli-chen Schwächephase zeigten sich in diesem Jahr in allerDeutlichkeit in den öffentlichen Haushalten. Die Defizit-grenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts wurde mit4,1 vH erneut deutlich überschritten, und auch im kom-menden Jahr wird es aller Voraussicht nach nicht gelin-gen, die 3 vH-Vorgabe aus Brüssel einzuhalten. Zwar istein nicht unbedeutender Teil der hohen Neuverschul-dung durch die schlechte Konjunktur bedingt; eine Kre-ditaufnahme, die bei einem gegenüber dem Vorjahrkaum verschlechterten Zuwachs des Bruttoinlandspro-dukts allein für den Bundeshaushalt die Planansätze indiesem Jahr um mehr als das Doppelte überstieg, signali-siert aber auch, dass die öffentlichen Haushalte einerNeuausrichtung bedürfen: Vor allem geht es darum, ver-lässliche Rahmenbedingungen für die Einkommenspers-pektiven und Einkommensdispositionen der Unterneh-men und Haushalte zu schaffen. Angesichts der aus demRuder laufenden staatlichen Defizite verlangt dies zumeinen die Formulierung und Durchsetzung einer schlüs-sigen und auf Dauer angelegten Strategie zur Rückfüh-rung der staatlichen Kreditaufnahme. Die Politik hat hierin diesem Jahr bereits beträchtliche mittelfristige Kon-solidierungsschritte, vor allem in der GesetzlichenRentenversicherung und in der Gesetzlichen Kranken-versicherung, eingeleitet. Die Umsetzung der diversensteuerpolitischen Maßnahmen ist jedoch gegenwärtigmit vielen Fragezeichen versehen. Zudem mangelt esden zahlreich vorgetragenen Sparmaßnahmen an einerklaren Systematik. Der Sachverständigenrat widmet des-halb der Frage der Haushaltskonsolidierung besondereAufmerksamkeit. Grundsätzlich liegt in der Steuerpoli-tik gegenwärtig vieles im Argen: Es ist vor allem keinkonsistentes Leitbild erkennbar, an dem sich die Steuer-gesetzgebung ausrichtet. Ohne ein solches Leitbild aberfehlt es den steuerpolitischen Einzelmaßnahmen an Sys-tematik, und einzelne Maßnahmen werden vielfach alswidersprüchliche Ad-hoc-Interventionen wahrgenom-men. Dieses steuerpolitische Chaos verstärkt – über dasdem Wirtschaftsgeschehen ohnehin inhärente Ausmaßhinaus – die Unsicherheit bezüglich der zukünftigenEinkommensentwicklung und Ertragserwartungen undist Gift für einen robusten Aufschwung aus eigenerKraft. Verlässlichkeit erfordert zudem, die mittelfristi-gen und langfristigen Folgen der Finanzpolitik und derSozialpolitik in den Blick zu nehmen. Insbesonderedurch die demographischen Veränderungen in den kom-menden Jahrzehnten ist ohne grundlegende Politikände-rungen die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen be-droht.

Die Diskussion wirtschaftspolitischer Handlungsoptio-nen im Bereich der Finanzpolitik steht deshalb im Vor-dergrund des diesjährigen Jahresgutachtens, das unterden Titel „Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystemreformieren“ gestellt wurde.

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I. Weltwirtschaft: Aufschwung bei anhaltenden Unsicherheiten

5. Geopolitische Unsicherheiten im Vorfeld des Kriegsim Irak sowie die Verbreitung der LungenkrankheitSARS dämpften die konjunkturelle Dynamik der Welt-wirtschaft zu Beginn dieses Jahres. Nach dem raschenEnde der militärischen Konflikthandlungen und begüns-tigt durch eine Erholung an den internationalen Finanz-märkten hellte sich das internationale Stimmungsbild abdem Frühjahr auf. Die positiven Signale der Vertrauens-indikatoren schlugen sich ab der Jahresmitte auch zu-nehmend in den Produktionsdaten nieder. Vor allem inden Vereinigten Staaten und in Japan übertraf das Aus-maß der Erholung die allgemeinen Erwartungen(Tabelle 1). In Europa hingegen verlief die konjunktu-relle Entwicklung gedämpft, gleichwohl stellte sich auchhier eine leichte Verbesserung in der zweiten Jahres-hälfte ein. Gestützt wurde die weltwirtschaftliche Dyna-mik durch eine stimulierende Ausrichtung der Geld- undFinanzpolitik in den großen Wirtschaftsräumen mit al-lerdings markanten Unterschieden in der Intensität derdiskretionären Impulse (Schaubild 2).

6. Niedrige Inflationsraten, die bereits reichlich vor-handene Liquiditätsausstattung sowie die Erwartung,dass die Notenbanken in den Industriestaaten auf abseh-bare Zeit nicht die zinspolitischen Zügel straffen wer-den, führten in der ersten Jahreshälfte auf den internatio-

nalen Finanzmärkten zu einem kräftigen Rückgang derlangfristigen Zinsen. Die Renditen langfristiger Staats-anleihen erreichten in zahlreichen Ländern den niedrigs-ten Stand seit mehr als 40 Jahren. Ab der Jahresmittekam es infolge des zunehmenden Optimismus darüber,dass die Talsohle der weltwirtschaftlichen Entwicklungdurchschritten sei, aber auch infolge der stärker in dasBlickfeld der Anleger rückenden gestiegenen Bud-getdefizite zu einem deutlichen Anstieg der langfristigenNominalzinsen. Gemessen an ihren langjährigen

Schaubild 2

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-5 -4 -3 -2 -1 10

Fiskalpolitischer StimulusVeränderung des strukturellen Haushaltssaldos

2000 bis 2003 in Prozentpunkten

Konjunkturimpulse der Geldpolitik und der Finanzpolitikseit dem Jahr 2000

Quellen: CBO, OECD

Vereinigte Staaten

Vereinigtes Königreich

Frankreich

Deutschland

EWU

Japan

SR 2003 - 12 - 0663

Ta b e l l e 1

Gesamtwirtschaftliche Entwicklungin ausgewählten Ländergruppen und Ländern

2003 2004 2002

Europäische Union4) ...... + 0,7 + 1,9 54,7

Euro-Raum4) ................ + 0,4 + 1,8 42,6 darunter:

Deutschland ............. - 0,0 + 1,5 X

Frankreich ............... + 0,2 + 1,7 10,8

Italien ...................... + 0,4 + 1,5 7,3

Niederlande ............. - 0,7 + 0,9 6,1

Vereinigtes König- + 2,0 + 2,9 8,4 reich ........................

Vereinigte Staaten ....... + 2,9 + 4,0 10,3

Japan ............................ + 2,7 + 1,8 1,9

Mittel- und Osteuropa5) + 3,3 + 3,8 8,8

Lateinamerika6) ............. + 1,0 + 3,7 2,0

SüdostasiatischeSchwellenländer7) ........ + 3,0 + 4,6 3,5

1) Eigene Schätzung auf Basis von Angaben internationaler und natio-naler Institutionen. - 2) Spezialhandel. Vorläufige Ergebnisse. - 3) Die Veränderungen gegenüber dem Vorjahr für die Ländergruppen sind gewichtet mit ihren Anteilen am nominalen Bruttoinlandsprodukt der Welt in jeweiligen Preisen und Kaufkraftparitäten im Jahr 2002. -4) Die Veränderungen gegenüber dem Vorjahr sind gewichtet mit denAnteilen am realen Bruttoinlandsprodukt (in Euro) der EuropäischenUnion im Jahr 2002. - 5) Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn. - 6) Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru, Venezu-ela. - 7) Hongkong (China), Malaysia, Singapur, Südkorea, Taiwan, Thailand.

Ländergruppe/Land

Bruttoinlands-produkt(real)1)

Anteil an der Ausfuhr2)

Deutschlands

Veränderunggegenüber

dem Vorjahrin vH3)

vH

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Eine kürzere Fassung

Durchschnitten lagen diese aber auch zum Jahresendeimmer noch auf einem niedrigen Niveau.

7. Nicht zuletzt aufgrund der schwachen Entwicklungin der Europäischen Währungsunion nahm die weltweiteProduktion im Jahresdurchschnitt mit 3,5 vH lediglichwenig stärker zu als im vergangenen Jahr. Die Kapazi-tätsauslastung im globalen Maßstab lag in diesem Jahrnoch geringfügig niedriger als in der Abschwungsphasezu Beginn der neunziger Jahre. Das Welthandelsvolu-men expandierte in diesem Jahr mit 3,7 vH nur wenigmehr als das globale Bruttoinlandsprodukt(Schaubild 3).

8. Die Konjunktur in den Vereinigten Staaten blieb zuBeginn des Jahres verhalten. Nach einem schwachenersten Quartal kam es dann vor allem aufgrund gesunke-ner geopolitischer Unsicherheiten zu einer kräftigen Er-holung. Im dritten Quartal verzeichnete die Zunahmedes Bruttoinlandsprodukts nach ersten vorläufigenSchätzungen die stärkste Dynamik seit dem Jahr 1984.Der Aufschwung wurde maßgeblich begünstigt durchdie überaus expansive Ausrichtung der Geldpolitik undder Finanzpolitik: Die privaten und öffentlichen Kon-sumausgaben waren Motor der gesamtwirtschaftlichen

Entwicklung (Schaubild 4). Der private Konsum wurdedurch die neuerliche Zinssenkung der US-amerikani-schen Notenbank und durch zusätzliche steuerliche Ent-lastungen gestützt. Der Zielsatz für Tagesgeld (FederalFunds Rate) liegt seit Juni bei 1 %, dem niedrigsten Wert

seit 45 Jahren. Im Verlaufe des Jahres erreichten auchdie Renditen der langfristigen staatlichen SchuldtitelTiefstände, die letztmals im Jahr 1958 zu beobachtenwaren. Das niedrige Zinsniveau wirkte zusätzlich bele-bend auf den Konsum, da es den Verbrauchern erlaubte,bestehende Hypothekenkredite zu niedrigeren Sätzen zurefinanzieren und dadurch frei werdende Mittel zu Kon-sumzwecken zu verwenden. Mit dem Anstieg der lang-fristigen Zinsen ab der Jahresmitte verlor dieser Effekt

Schaubild 3

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1995 96 97 98 99 2000 01 02 03

Entwicklung des Bruttoinlandsproduktsund des Handelsvolumens in der Welt

Veränderung gegenüber dem Vorjahr

Handelsvolumen

Bruttoinlandsprodukt

Quelle: IWF

vH vH

a) Eigene Schätzung aufgrund von Angaben internationaler und natio-naler Institutionen.

a)

SR 2003 - 12 - 0652

S c h a u b i l d 4

Gesamtwirtschaftliche Entwicklung und derBeitrag der Verwendungskomponenten

Jahr 20031)

PrivateKonsum-ausgaben

Konsum-ausgabendes Staates

Bruttoanlage-investitionen

Außenbeitrag

Vorratsver-änderungen4)

Bruttoinlands-produkt2)

Vereinigte Staaten

1) Eigene Schätzung aufgrund von Angaben internationaler und nationaler In-stitutionen.– 2) – 3) Zur Verän-Veränderung gegenüber dem Jahr 2002 in vH.derung des Bruttoinlandsprodukts.– 4) Einschließlich Nettozugang an Wert-sachen.

Japan

Euro-Raum ohne Deutschland

Deutschland

-2 -1 1 2 30

in Prozentpunkten

Beitrag der Verwendungskomponenten3)

SR 2003 - 12 - 0665

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Weltwirtschaft: Aufschwung bei anhaltenden Unsicherheiten

auf die Entwicklung des privaten Verbrauchs jedoch anBedeutung.

Im Unternehmensbereich machte die Bilanzkonsolidie-rung weitere Fortschritte. Die Verschuldung der nichtfi-nanziellen Unternehmen in Relation zum nominalenBruttoinlandsprodukt, die von Anfang des Jahres 1998bis Ende des Jahres 2001 um mehr als zehn Prozent-punkte zunahm, hat sich seitdem stabilisiert. Die Bilanz-bereinigung der Unternehmen hatte deren Investitions-bereitschaft in den vergangenen Jahren merklichgedämpft. Seit dem zweiten Quartal war jedoch eine zu-nehmende Dynamik bei den Bruttoanlageinvestitionenzu verzeichnen, so dass der Aufschwung an Breite ge-wann.

Die gedämpfte Entwicklung zu Jahresbeginn führte al-lerdings dazu, dass mit einem Zuwachs des Brutto-inlandsprodukts in diesem Jahr von 2,9 vH das Poten-tialwachstum erneut, wenn auch nur noch leichtunterschritten wurde.

9. Angesichts des an Fahrt gewinnenden Aufschwungsrückte die mittelfristige Ausrichtung der US-amerikani-schen Wirtschaftspolitik stärker in den Blickpunkt. Ins-besondere die Finanzpolitik hat in diesem Jahr erneut dasöffentliche Defizit merklich ausgeweitet. Der Großteildes Defizitanstiegs beruhte auf zusätzlichen steuerlichen

Entlastungen sowie gestiegenen Verteidigungsausgaben.Damit erhöhte sich das konjunkturbereinigte Defizit imFiskaljahr 2003 auf 3,1 vH in Relation zum nominalenProduktionspotential. Das konjunkturbereinigte Defizitwird im kommenden Fiskaljahr voraussichtlich noch-mals um rund 0,6 Prozentpunkte ansteigen. Die Ver-schlechterung der US-amerikanischen Haushaltspositionseit dem Jahr 2000 hat, gemessen am konjunkturberei-nigten Defizit, die Konsolidierungserfolge der neunzigerJahre vollständig eliminiert (Schaubild 5).

Konjunkturbereinigte Defizite in dieser Größenordnungwerden in den kommenden Jahren schwer aufrechtzuer-halten sein. Dies nicht zuletzt, weil auch in den Vereinig-ten Staaten in der absehbaren Zukunft Belastungen ausder demographischen Entwicklung auf die öffentlichenHaushalte zukommen werden. Die allmähliche Rück-nahme der fiskalischen Stimuli und die Rückkehr zu ei-ner tragfähigen Haushaltspolitik ist auch angesichts dessich abermals ausweitenden Leistungsbilanzdefizits derVereinigten Staaten ein Thema von erheblicher Relevanzfür die Weltwirtschaft. Eine abrupte Anpassung derLeistungsbilanz ginge vermutlich mit einer weiterenmassiven Abwertung des US-Dollar einher. Dies stelltein nicht zu vernachlässigendes Risiko für die konjunk-turelle Entwicklung in Europa und damit auch inDeutschland dar.

Schaubild 5

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Konjunkturbereinigter Finanzierungssaldo in Relation zum Produktionspotential in den Vereinigten Staaten1)

1) Konjunkturbereinigter Finanzierungssaldo des Staates in Relation zum Produktionspotential in jeweiligen Preisen; Berechnungen für das Fiskaljahr (1. Oktoberbis 30. September).– a) Für die Jahre 2003 und 2004 des CBO.Prognose

Quelle: CBOSR 2003 - 12 - 0664

19 2004a)

Defizit (-), Überschuss (+)

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Eine kürzere Fassung

10. Besser als erwartet verlief die Entwicklung inJapan; das Bruttoinlandsprodukt nahm mit einer Ratevon 2,7 vH zu. Hierfür war insbesondere die private In-vestitionstätigkeit verantwortlich. Im zweiten Halbjahrwirkten zusätzlich positive Impulse von der Exportseite.Die Tatsache, dass die konjunkturelle Dynamik nichtdurch zusätzliche staatliche Stimulierungsmaßnahmenverursacht war, begründet einen vorsichtigen Optimis-mus, dass die zweitgrößte Volkswirtschaft ihre langan-haltende Stagnationsphase allmählich überwindenkönnte. Dennoch bestehen nicht unerhebliche Risikenfür eine nachhaltige Erholung: Die Deflation hat dasLand weiterhin im Griff; die Arbeitslosigkeit verharrtauf einem für japanische Verhältnisse sehr hohen Niveauund die Probleme im Finanzsektor bestehen weiterhin.Die Quasi-Verstaatlichung einer japanischen Großbankin diesem Jahr war ein deutliches Signal, dass dieSchwierigkeiten im Bankensektor alles andere als über-wunden sind. Der monetäre Transmissionsprozess istweiterhin gestört: Eine fortgesetzt massive Ausweitungder Zentralbankgeldmenge schlägt sich nicht in den brei-ten Geldmengenaggregaten und der Kreditentwicklungnieder.

11. In den Schwellenländern Südostasiens kam es indiesem Jahr zu einer leicht schwächeren Entwicklung:Der Einfluss der Lungenkrankheit SARS, aber auch bin-nenwirtschaftliche Probleme in einer Reihe von Ländernführten insbesondere in der ersten Jahreshälfte zu einermerklichen Eintrübung. Mit der globalen konjunktu-rellen Belebung und der anziehenden Nachfrage ins-besondere nach Produkten der Informations- und Kom-munikationstechnologien seitens der Industrieländerverbesserte sich die gesamtwirtschaftliche Entwicklungjedoch im Jahresverlauf zunehmend. Trotz der vorhan-denen hemmenden Einflussfaktoren bildeten die Staatendes asiatisch-pazifischen Raums erneut die am dyna-mischsten wachsende Region der Weltwirtschaft. Insbe-sondere China erwies sich mit Zuwachsraten von über7 vH in den vergangenen Jahren als weitgehend robustgegenüber negativen externen Einflüssen. Hier treten ge-genwärtig allerdings strukturelle Probleme stärker in denVordergrund der Diskussion, vor allem im Bankenbe-reich. Ihre Beseitigung ist eine wesentliche Vorausset-zung für eine allmähliche Flexibilisierung des Wechsel-kurses.

12. Die konjunkturelle Dynamik im Euro-Raum kamin der ersten Jahreshälfte zum Erliegen. Die Bruttoanla-geinvestitionen verringerten sich nochmals und ent-täuschten die Hoffnungen des Vorjahres auf ein Ende derInvestitionszurückhaltung. Der kräftigste negative Im-puls ging jedoch von der Außenwirtschaft aus: Die Ex-porte sanken wechselkursbedingt in den ersten beidenQuartalen mit einer annualisierten Rate von über 4 vHgegenüber dem zweiten Halbjahr des Jahres 2002. Stüt-zend wirkten einzig die privaten und staatlichen Kon-sumausgaben. Die weltwirtschaftliche Erholung ab derJahresmitte erreichte den Euro-Raum mit zeitlicher Ver-zögerung und auch nur in abgeschwächter Form. Sieführte zu einer merklichen Belebung der Ausfuhr. Die

Investitionstätigkeit blieb weiterhin schwach. Im Jahres-durchschnitt nahm die Produktion um 0,4 vH zu. Ge-messen an früheren konjunkturellen Abschwüngen er-wies sich im aktuellen Zyklus der Arbeitsmarkt alserstaunlich robust. Zwar stagnierte die Beschäftigungmehr oder weniger seit Ende des Jahres 2002, aber ange-sichts einer ebenfalls stagnierenden Produktion wäreneher stärkere Rückgänge der Zahl der Beschäftigten zuerwarten gewesen. Gleiches galt mit umgekehrtem Vor-zeichen für die Arbeitslosenquote. In beiden Fällen dürf-ten sich die in den vergangenen Jahren in einer Reihevon Ländern durchgeführten Arbeitsmarktreformen po-sitiv ausgewirkt haben.

Der konjunkturelle Verbund zwischen den Mitgliedslän-dern der Währungsunion hat sich seit dem Jahr 1999 er-kennbar verstärkt. Die kontemporäre Korrelation der na-tionalen gesamtwirtschaftlichen Auslastungsgrade hatsich zwischen den großen Volkswirtschaften des ge-meinsamen Währungsgebiets erhöht, und es lässt sicheine generelle Tendenz hin zu einem stärkeren zykli-schen Gleichlauf erkennen. Diese Entwicklung ist si-cherlich zu einem Teil durch die Tatsache erklärbar, dassder Abschwung der letzten beiden Jahre von einer Reihesymmetrisch wirkender globaler Schocks verursachtwurde. Ungeachtet dessen bedeutet die stärkere Paralle-lität der Konjunkturverläufe eine willkommene Bot-schaft für die gemeinsame Geldpolitik, denn je wenigerheterogen die Zyklen in den einzelnen Mitgliedsländernverlaufen, desto angemessener ist für sie der von der No-tenbank gesetzte einheitliche Leitzins.

Die Wirtschaftspolitik im Euro-Raum setzte im Ver-gleich zu den Vereinigten Staaten deutlich weniger aufdiskretionäre antizyklische Impulse. Das konjunkturbe-reinigte Defizit in Relation zum nominalen Bruttoin-landsprodukt erhöhte sich seit dem Jahr 2000 um0,4 Prozentpunkte auf 2,3 vH; das unbereinigte Defizit(ohne UMTS-Erlöse) verschlechterte sich durch dasWirken der automatischen Stabilisatoren um 2,0 Pro-zentpunkte. Die Europäische Zentralbank senkte imLaufe des Jahres den Leitzins in zwei Schritten um75 Basispunkte auf 2 %. Die Leitzinsen haben in denLändern der Europäischen Währungsunion damit dasniedrigste Niveau in der Nachkriegszeit erreicht. Diezinspolitische Lockerung erfolgte dabei als Reaktion aufdie eingetrübte realwirtschaftliche Lage. Die Inflations-erwartungen signalisierten zudem keine Gefahren für diemittelfristige Preisniveaustabilität. Die Geldpolitik bliebdamit angesichts der schwachen konjunkturellen Ent-wicklung unverändert expansiv. Betrachtet man die eu-ropäische Geldpolitik seit Beginn der Währungsunionmittels der populären Taylor-Regel, dann lässt sich dievielfach anzutreffende Kritik, die Europäische Zentral-bank sei in ihren Zinsentscheidungen „auf dem konjunk-turellen Auge blind“, auch schon für die vergangenenJahre nicht belegen.

Am 1. Mai kommenden Jahres wird die EuropäischeUnion um zehn Länder erweitert. Dazu wurde mit Ab-schluss der Beitrittsverhandlungen sowie der Unter-zeichnung und Ratifizierung des Beitrittsvertrags in die-

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Weltwirtschaft: Aufschwung bei anhaltenden Unsicherheiten

sem Jahr der Weg geebnet. Da alle beitretenden Länderein deutlich geringeres Wohlstandsniveau als die bishe-rigen Mitgliedsländer aufweisen, wird die Struktur- undRegionalpolitik der Europäischen Union vor neue He-rausforderungen gestellt. Das Einkommen je Einwohnerin den acht mittel- und osteuropäischen Beitrittsländernliegt gegenwärtig bei weniger als 50 vH des EU-Durch-schnitts. Zwar befinden sich diese Länder in einem real-wirtschaftlichen Konvergenzprozess, sollte dieser je-doch nicht an Tempo gewinnen, wird es noch mehrereJahrzehnte dauern, bis der Einkommensrückstand zurEuropäischen Union auch nur halbiert sein wird. Hin-sichtlich einer späteren Teilnahme dieser Länder an derEuropäischen Währungsunion dürften die öffentlichenDefizite, vor allem in den größeren Ländern, aus heuti-ger Sicht die höchste Hürde im Rahmen der Maastricht-Kriterien darstellen.

II. Deutschland: Außenwirtschaftliche Belebung bei schwacher Binnennachfrage

13. Die Hoffnungen auf eine konjunkturelle Belebungwurden in diesem Jahr erneut enttäuscht (Tabelle 2). DasBruttoinlandsprodukt stagnierte im dritten Jahr in Folge.Dass es in diesem Jahr nicht zu einem positivenZuwachs des Bruttoinlandsprodukts kam, hatte seine Ur-sachen in einer weiterhin sehr schwachen Inlandsnach-frage und in ausgeprägt dämpfenden außenwirtschaftli-chen Einflüssen in der ersten Jahreshälfte. Zu tief warnach drei Jahren der Stagnation die Skepsis über einedurchgreifende Verbesserung der Einkommensperspekti-ven und Ertragserwartungen bei den Haushalten und Un-ternehmen verankert, so dass selbst der kräftige Impulsüber eine anziehende Weltkonjunktur in der zweiten Jah-reshälfte, der sich in einem deutlichen Exportanstiegniederschlug, nicht auf die Binnenwirtschaft übersprang.Bei einem robusten weltwirtschaftlichen Umfeld undohne zusätzliche negative Wechselkurseinflüsse erholtensich zum Jahresende hin aber auch die Komponenten derInlandsnachfrage allmählich.

– Die Verlangsamung der weltwirtschaftlichen Dyna-mik zu Beginn des Jahres und die Auswirkungen derAufwertung des Euro führten zu einem Rückgang derAusfuhr in den ersten sechs Monaten: Der Exportvon Waren und Dienstleistungen schrumpfte in die-sem Zeitraum mit einer annualisierten Rate von über2,5 vH gegenüber dem zweiten Halbjahr des Vorjah-res. Mit der Verbesserung des internationalen Um-felds ab dem Frühjahr kam es jedoch ab dem drittenQuartal zu einer merklichen Erholung der Ausfuhren.Dies bestätigt, dass für die deutsche Ausfuhr der Ein-kommenseffekt eine bedeutendere Rolle spielt als derWechselkurseffekt. Die schwache inländische Nach-frage führte zu einem Rückgang der Importe, so dassder Außenbeitrag in der zweiten Jahreshälfte denstärksten Beitrag zum Zuwachs des Bruttoinlandspro-dukts beisteuerte.

– Die Investitionstätigkeit war mit einem Rückgangder Bruttoanlageinvestitionen um 1,9 vH auch in die-sem Jahr ein belastender Faktor. Der Abschwung derInvestitionen, der in der zweiten Jahreshälfte 2000eingesetzt hatte, fand noch kein Ende. Die Ausrüs-tungsinvestitionen gingen erneut um 0,3 vH zurück.Dies kontrastierte ein wenig mit den positiven Anzei-chen der Geschäftsklima-Indikatoren ab der Jahres-mitte. Letztere signalisierten aber bereits auch schonim Jahr 2002 eine Erholung, die sich dann nicht inden Produktionsdaten wiederfand. In diesem Jahrdürfte die verbesserte Exportkonjunktur die Unter-nehmensaussichten positiv beeinflusst haben, in denInvestitionszahlen schlug sich diese Entwicklung je-doch nicht nieder. Hierfür spricht auch, dass die Ver-besserung der Auftragslage in der zweiten Jahres-hälfte nahezu ausschließlich durch eine gestiegeneAuslandsnachfrage zustande kam. Angesichts einerweiterhin unterdurchschnittlichen Kapazitätsauslas-tung konnte diese auch ohne zusätzliche Erweite-rungsinvestitionen befriedigt werden. Die Bauinves-titionen verringerten sich um 3,6 vH und trugenhauptsächlich zur negativen Entwicklung der Anlage-investitionen bei. Mit Ausnahme des Jahres 1999 wardamit in jedem Jahr seit dem Jahr 1995 ein Rückgangder Bauinvestitionen zu verzeichnen. Der Investi-tionsrückgang verlangsamte sich allerdings in diesemJahr. Hieraus lässt sich jedoch noch kein deutlichesSignal für ein Ende des Anpassungsprozesses imBaugewerbe ablesen, denn die Entwicklung wurde inder Hauptsache durch den Wohnungsbau verursacht,bei dem angesichts der Diskussion um die Eigen-heimzulage und die Beseitigung der Flutschäden inOstdeutschland in diesem Jahr Einmaleffekte zumTragen kamen.

– Der Konsum der privaten Haushalte erholte sichnur unmerklich. Nachdem es im vergangenen Jahrerstmals seit der Vereinigung zu einem Rückgangdieser Nachfragekomponente gekommen war, bliebder Zuwachs in diesem Jahr mit 0,2 vH erneut hinterden Erwartungen zurück: Die enttäuschende Ent-wicklung am Arbeitsmarkt – das bezahlte Arbeitsvo-lumen verringerte sich um 1,1 vH – sowie die ausge-prägte Lohndrift von minus 1,2 Prozentpunktenführten zu leicht sinkenden Bruttolöhnen und -gehäl-tern. Zusätzlich belasteten die über eine Ausweitungder Beitragsbemessungsgrenze und Beitragssatzerhö-hungen gestiegenen Sozialversicherungsbeiträge dieNettolöhne und -gehälter, die um einen vollen Pro-zentpunkt niedriger waren als im Vorjahr. Der sichdennoch ergebende Anstieg der verfügbaren Einkom-men der privaten Haushalte um 1,4 vH in diesem Jahrist in der Hauptsache den empfangenen Sozialleistun-gen und Transfers geschuldet. Vor diesem Hinter-grund und angesichts der durch die fortgesetzten Dis-kussionen um steuerliche und sozialpolitischeMaßnahmen erzeugten Ungewissheit über die zu-künftige Einkommensentwicklung blieb auch dasKonsumentenvertrauen schwach.

7

Eine kürzere Fassung

Ta b e l l e 2

Einheit 2000 2001 2002 20031) 20041)

Bruttoinlandsprodukt ......................... vH2) 2,9 0,8 0,2 -0,0 1,5

Inlandsnachfrage3) ............................. vH2) 1,8 -0,8 -1,6 0,0 0,9

Ausrüstungsinvestitionen .............. vH2) 10,1 -4,9 -9,1 -0,3 3,0

Bauinvestitionen ........................... vH2) -2,6 -4,8 -5,8 -3,6 0,2

Sonstige Anlagen .......................... vH2) 9,0 5,6 1,6 1,9 4,5

Konsumausgaben .......................... vH2) 1,7 1,3 -0,3 0,3 0,6

Private Haushalte4) ....................... vH2) 2,0 1,4 -1,0 0,2 0,8

Staat ........................................... vH2) 1,0 1,0 1,7 0,6 0,1

Exporte von Waren undDienstleistungen ........................... vH2) 13,7 5,6 3,4 1,1 4,8

Importe von Waren undDienstleistungen ........................... vH2) 10,5 0,9 -1,7 1,4 3,4

Erwerbstätige (Inland)5) ....................... Tausend 677 163 -240 -545 -122

Registrierte Arbeitslose5) ..................... Tausend -210 -37 208 323 16

Arbeitslosenquote6) .............................. vH 9,6 9,4 9,8 10,5 10,6

Verbraucherpreise7) ............................. vH 1,4 2,0 1,4 1,1 1,2

Finanzierungssaldo des Staates8) ......... vH -1,2 -2,8 -3,5 -4,1 -3,4

1) Jahr 2003: eigene Schätzung, Jahr 2004: Prognose (Ziffern 360 ff.). - 2) In Preisen von 1995; Veränderung gegenüber dem Vorjahr. - 3) In-ländische Verwendung. - 4) Einschließlich der privaten Organisationen ohne Erwerbszweck. - 5) Veränderung gegenüber dem Vorjahr. - 6) An-teil der registrierten Arbeitslosen an allen zivilen Erwerbspersonen (abhängig zivile Erwerbspersonen, Selbständige, mithelfende Familienange-hörige). Von 2000 bis 2002 Quelle: BA. - 7) Verbraucherpreisindex (2000 = 100); Veränderung gegenüber dem Vorjahr. - 8) Finanzierungssal-do der Gebietskörperschaften und Sozialversicherung in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen in Relation zum nomina-len Bruttoinlandsprodukt. - a) Mit Berücksichtigung der UMTS-Lizenzeinnahmen: + 1,3 vH.

Wirtschaftliche Eckdaten für Deutschland

a)

14. Die Situation der öffentlichen Haushalte ver- sich das Wirken der automatischen Stabilisatoren wider-

schlechterte sich in diesem Jahr nochmals merklich. Miteinem gesamtstaatlichen Defizit von 4,1 vH in Relationzum nominalen Bruttoinlandsprodukt wurde die Defizit-grenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts zum zwei-ten Mal in Folge deutlich überschritten. Die Defizite be-trafen sämtliche Gebietskörperschaften – insbesondereden Bund und die Länder –, aber auch die Sozialversi-cherungen. Der Hauptanteil der Defizitausweitung in die-sem Jahr entfällt allerdings auf den Bundeshaushalt, vorallem bedingt durch höhere Ausgaben aufgrund der ge-stiegenen Arbeitslosigkeit. Bereits im Oktober legte dieBundesregierung einen Nachtragshaushalt vor, der eineErhöhung der Nettokreditaufnahme von 18,9 Mrd Euroauf 43,4 Mrd Euro vorsah. Die höhere Neuverschuldungdes Bundes überstieg seine investiven Ausgaben inHöhe von 26,7 Mrd Euro deutlich. Um nicht gegenArtikel 115 Absatz 1 Grundgesetz zu verstoßen, musstedie Bundesregierung erneut eine Störung des gesamt-wirtschaftlichen Gleichgewichts erklären. Neben derkonjunkturell verschlechterten Haushaltsposition, in der

spiegelt, wurde der Spielraum des Bundes aber auchdurch strukturelle Faktoren wesentlich eingeengt.

Die Überschreitung der 3 vH-Grenze des Stabilitäts- undWachstumspakts bereits im vergangenen Jahr führte zuder Eröffnung eines Verfahrens bei übermäßigem Defizitdurch die Europäische Kommission und den ECOFIN-Rat. Im Jahresverlauf wurde zunehmend deutlich, dassim kommenden Jahr aller Wahrscheinlichkeit nach die3 vH-Grenze erneut überschritten wird. In Reaktion da-rauf zeichnete sich vor dem Hintergrund des parallelenVerfahrens gegen Frankreich ab, dass die EuropäischeKommission Deutschland gegen eine Konsolidierungs-vorgabe von einem Prozentpunkt der konjunkturberei-nigten Defizitquote ein Überschreiten auch für das kom-mende Jahr zugestehen würde.

Angesichts der ausufernden Defizite hat die Bundesre-gierung in diesem Jahr ein steuerpolitisches und sozial-politisches Maßnahmenbündel auf den Weg gebracht,das den Gesamtstaat in den kommenden Jahren in be-

8

Deutschland: Außenwirtschaftliche Belebung bei schwacher Binnennachfrage

trächtlichem Ausmaß entlasten wird. Für das Jahr 2005sind hierbei Einsparungen in Höhe von über20 Mrd Euro veranschlagt, die sich bis zum Jahr 2007auf über 26 Mrd Euro erhöhen sollen. Für das kom-mende Jahr bedeutet das geplante Vorziehen der drittenStufe der Steuerreform jedoch einen verringerten Konso-lidierungsimpuls, insbesondere für die Haushalte desBundes und der Länder (Tabelle 3 und Tabelle 40,Seite 186). Allerdings ist neben der Frage des Vorzie-hens der Steuerreform ein Großteil der steuerpolitischenEinsparmaßnahmen angesichts der Zustimmungspflichtdes Bundesrates in ihren Auswirkungen auf die öffent-lichen Haushalte ungewiss. Darüber hinaus sind dieEntlastungseffekte einiger Maßnahmen, beispielsweiseder erwarteten Einnahmen aus der Regelung zur Steuer-amnestie, die mit 5 Mrd Euro veranschlagt werden, alsüberaus optimistisch zu betrachten.

15. Im Zuge der schwachen gesamtwirtschaftlichenEntwicklung verschlechterte sich die Lage auf demArbeitsmarkt in diesem Jahr weiter. Es kam zu einemnochmals verstärkten Rückgang der Erwerbstätigkeitum 1,4 vH auf 38,13 Millionen Erwerbstätige. Die re-gistrierte Arbeitslosigkeit nahm auf 4,38 Millionen Per-sonen im Jahresdurchschnitt zu. Dies entspricht einerQuote von 10,5 vH gegenüber 9,8 vH im Vorjahr. Ins-besondere in der ersten Jahreshälfte verlief die Ent-wicklung auf dem Arbeitsmarkt sehr schwach: ImJahresverlauf stabilisierte sich die saisonbereinigte Ar-beitslosenzahl. Verantwortlich hierfür war allerdingsnicht eine Verbesserung der konjunkturellen Rahmenbe-dingungen, sondern eine Neuausrichtung der Arbeits-marktpolitik an dem Prinzip „Fördern und Fordern“.Hierbei wurde die tatsächliche Arbeitsbereitschaftdurch die Arbeitsämter verstärkt überprüft und die Mel-depflichten strenger durchgesetzt. Infolgedessen nah-men die Abmeldungen bisher registrierter Arbeitsloserin die Nichterwerbstätigkeit stärker zu. Zudem wurde

die aktive Arbeitsmarktpolitik zunehmend auf dieFörderung regulärer Beschäftigung ausgerichtet, die In-strumente der „Beschäftigung schaffenden Maßnah-men“ und der beruflichen Weiterbildung wurden merk-lich zurückgefahren. Dies ist angesichts der bisherverfügbaren empirischen Evidenz zur Wirksamkeit die-ser arbeitsmarktpolitischen Instrumente ein richtigerSchritt.

Das Jahr 2003 war geprägt durch eine Vielzahl von Re-formmaßnahmen auf dem Arbeitsmarkt. Im Septemberwurde mit dem „Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt“eine Neuregelung des gesetzlichen Kündigungsschutzessowie der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds verab-schiedet. Mit der Verkürzung der Bezugsdauer des Ar-beitslosengelds auf grundsätzlich maximal zwölf Mo-nate (18 Monate für Personen nach Vollendung des55. Lebensjahres) hat der Gesetzgeber einen wichtigenSchritt zur Verringerung der Arbeitslosigkeit getan. Esist ein auch empirisch gut dokumentierter Befund, dassdie Dauer der Unterstützungszahlungen bei Arbeitslo-sigkeit einen negativen Effekt auf die Höhe und dieDauer der Arbeitslosigkeit hat. Da die Neuregelung al-lerdings mit einer zweijährigen Übergangsfrist beschlos-sen wurde, werden die positiven Arbeitsmarkteffektedieser Maßnahme (und auch die fiskalischen Einsparun-gen) erst ab dem Jahr 2006 anfallen. Bei der Neurege-lung des Kündigungsschutzes hat den Gesetzgeber je-doch der reformerische Mut weitgehend verlassen. Diesbetrifft sowohl die Regelung des Schwellenwerts, abdem der Kündigungsschutz greift, als auch die Frage derAbfindungen bei betriebsbedingten Kündigungen. Zubegrüßen ist hingegen die Klarstellung der Kriterien ei-ner Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen,die erleichterten Ausnahmeregelungen im Rahmen einervorzunehmenden Sozialauswahl sowie die Einschrän-kungen der gerichtlichen Überprüfbarkeit der Auswahl-tatbestände im Rahmen eines betrieblichen Interessen-ausgleichs. Die Rechtsunsicherheit für Arbeitnehmerund Arbeitgeber im Kündigungsverfahren, die vielfachals das schwerstwiegende Hemmnis der bisherigenRegelung angesehen wird, verringert sich durch die Re-form jedoch nicht merklich. Der Sachverständigenrat er-gänzt deshalb in diesem Gutachten seine bisherigenAusführungen zu einer Reform des Kündigungsschutzesund stellt diese in einen engeren Zusammenhang zueinem weitergehenden Reformvorschlag für die Ar-beitslosenversicherung, da beide institutionellen Regel-werke nicht unabhängig voneinander betrachtet werdensollten.

16. Die im Rahmen des Vierten „Gesetzes für moderneDienstleistungen am Arbeitsmarkt“ geplante Zusam-menlegung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfebeseitigt das Nebeneinander von zwei parallelen steuer-finanzierten Unterstützungsleistungen bei Arbeitslosig-keit und ist insofern uneingeschränkt zu begrüßen. UmLangzeitarbeitslosigkeit zu verringern, ist es jedoch not-wendig, die Anreize zur Aufnahme einer regulären Er-werbstätigkeit stärker zu erhöhen, als dies die bisherigenPläne vorsehen. Im Modell des Sachverständigenrateszur Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und

Tabelle 3

Mio Euro2)

2004 2005 2006 2007

Bund ................ - 2 834 + 7 347 + 7 733 + 8 607 Länder .............. - 4 126 + 2 699 + 3 235 + 3 529 Gemeinden ....... + 1 443 + 4 020 + 4 194 + 4 980 Sozialver- sicherungen .... + 6 260 + 5 350 + 6 250 + 6 750Insgesamt ........... + 2 643 +21 916 +23 912 +26 366

1) Haushaltsbegleitgesetz 2004, Reform der Gewerbesteuer, Förderungder Steuerehrlichkeit, Korb II, Steueränderungsgesetz 2003, Altersein-künftegesetz, Zweites und Drittes Gesetz zur Änderung des SGB VIund anderer Gesetze, Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen amArbeitsmarkt, GKV-Modernisierungsgesetz, Gesetz zur Änderung des Tabaksteuergesetzes und anderer Verbrauchsteuergesetze; zu den Ein-zelheiten siehe Tabelle 40, Seite 186. - 2) Belastungen (-).

Finanzielle Auswirkungen der Reformmaßnahmender Bundesregierung1)

9

Eine kürzere Fassung

Sozialhilfe in eine einheitliche Unterstützungszahlungfür erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger und bedürftigeBezieher von Arbeitslosenhilfe ist zusätzlich zu der auchvon der Bundesregierung geplanten Regelung eine groß-zügigere Anrechnung von zusätzlichem Arbeitseinkom-men auf das neue Arbeitslosengeld II als bisher – undauch großzügiger als in der geplanten Neuregelung –vorgesehen (JG 2002 Ziffern 447 ff.). Zudem wird imModell des Sachverständigenrates über eine Absenkungdes Regelsatzes für Bezieher von Arbeitslosengeld II dieAufnahme einer Beschäftigung am ersten Arbeitsmarktattraktiver. Diese Anreizproblematik wird durch die ge-plante Reform des Niedriglohnsektors nicht entschiedengenug berücksichtigt, da sie auf eine Kombination vonmehr Hinzuverdienstmöglichkeiten und einer Absen-kung der Regelleistung verzichtet. Damit steht zu be-fürchten, dass die geplante Reform ihr Ziel, nämlich eineErhöhung der Beschäftigung gering Qualifizierter, nichterreichen wird. Vor diesem Hintergrund ist auch der vor-gesehene zweijährige Zuschlag für vormalige Beziehervon Arbeitslosenhilfe kontraproduktiv. Gleiches gilt fürdie Regelung, dass bei Arbeitsaufnahme ein Tariflohnoder ortsüblicher Mindestlohn gezahlt werden muss. Beialler Kritik an dieser Abschwächung der Zumutbarkeits-regelung ist jedoch zu beachten, dass für Bezieher vonArbeitslosengeld II zukünftig jede Tätigkeit als zumut-bar gilt, unabhängig von ihrer Qualifikation und ihremfrüheren Beruf.

Die seit April gültigen Regelungen zu den Mini- undMidi-Jobs werden die Beschäftigungschancen geringQualifizierter ebenfalls nicht wesentlich verbessern.Zwar bedeuten sie eine teilweise Flexibilisierung desArbeitsmarkts im Bereich niedrig entlohnter Beschäfti-gung, wobei das zusätzliche Beschäftigungspotential ge-genwärtig mangels eindeutiger statistischer Angabennicht exakt zu quantifizieren ist. Aber dieses Mehr anBeschäftigung dürfte zu einem großen Teil bei Personen-gruppen entstehen, die nicht zu den Problemfällen amArbeitsmarkt zählen. Für Bezieher von ArbeitslosengeldII bleibt die Aufnahme einer Beschäftigung im Rahmeneines Mini- oder Midi-Jobs wegen der nur in begrenztemUmfang besseren Hinzuverdienstmöglichkeiten hinge-gen unattraktiv.

17. Auf dem Berufsausbildungsstellenmarkt zeichnetesich im Laufe des Berufsberatungsjahres 2002/2003 eindeutlicher Bewerberüberhang ab, und zeitweise wurdeeine Lücke von bis zu 70 000 fehlenden Lehrstellen be-fürchtet. Diese Entwicklung stieß, wie zu erwarten, wie-der einmal die Diskussion um die Einführung einer Aus-bildungsplatzabgabe als Instrument zur Sicherstellungeines ausreichenden Angebots an Ausbildungsplätzenan. Am Ende des Berufsberatungsjahres hatte sich dieSchere zwischen der Zahl der noch unvermittelten Be-werber und den noch nicht besetzten Ausbildungsplät-zen zwar wieder etwas geschlossen, gleichwohl bestandnoch ein rechnerischer Bewerberüberhang von rund20 000 Personen. Ob diese Lücke bis zum Jahresendenoch geschlossen werden kann, lässt sich noch nicht ab-sehen, denn es kommt aufgrund von nicht angetretenenoder abgebrochenen Ausbildungsverhältnissen zur

Nachmeldung sowohl von Bewerbern als auch von Aus-bildungsplätzen. Ungeachtet dessen hält der Sachver-ständigenrat das Konzept einer Ausbildungsplatzabgabe,wie sie inzwischen auch von Teilen der Regierungskoali-tion angestrebt wird, nach wie vor für nicht sachdienlichund im Ergebnis kontraproduktiv (JG 97 Ziffer 367).Eine derartige Abgabe wirft mannigfaltige Problemehinsichtlich der konkreten Ausgestaltung auf, etwa wasdie adäquate Bemessungsgrundlage oder die Behand-lung von Betrieben ohne Ausbildungsberechtigung an-geht, und zu befürchten sind neben einer teuren Bürokra-tisierung der Ausbildung erhebliche Mitnahmeeffekteauf der einen und das Loskaufen vom Zwang zur Ausbil-dung auf der anderen Seite. Ein Mehr an Ausbildungs-plätzen und eine Stärkung der Berufsausbildung werdendadurch nicht erreicht.

Die voraussichtliche Entwicklung im Jahr 2004: Konjunkturhoffnungen ruhen auf der Weltwirtschaft

18. Die Hoffnungen für das Jahr 2004 richten sich dar-auf, dass sich der Aufschwung der Weltwirtschaft fort-setzt und der außenwirtschaftliche Funke im kommen-den Jahr auf die Binnenwirtschaft überspringt. DieAusgangsbedingungen sind günstig. Insgesamt wird diegesamtwirtschaftliche Produktion in den meisten Indus-trieländern im Jahr 2004 deutlich stärker zunehmen alsin diesem Jahr.

Die Perspektiven für die deutsche Binnenwirtschaft sindweniger klar. Die Europäische Zentralbank verfolgt ei-nen expansiven Kurs: Die Realzinsen sind auf einemsehr niedrigen Stand, und gegenwärtig spricht vieles fürein Beibehalten des derzeitigen Leitzinsniveaus bis weitin das nächste Jahr hinein. Die Finanzpolitik steht unterKonsolidierungsdruck. In diesem Jahr wurde insbeson-dere in den Sozialversicherungen ein Maßnahmebündelbeschlossen, das für das kommende Jahr beträchtlicheNettoentlastungen vorsieht. Bei steuerpolitischen Vorha-ben ist die Umsetzung hingegen mit zahlreichen Frage-zeichen versehen. Dies betrifft vor allem das Vorziehender Steuerreform und deren Gegenfinanzierung sowiedie Reform der Gewerbesteuer. Die bisher beschlosse-

Die voraussichtliche Entwicklung im kommenden Jahr

– Die konjunkturelle Entwicklung in Deutschlandbleibt verhalten. Sie wird sich, gezogen von demweltweiten Aufschwung, im Jahr 2004 nur langsambeleben. Das Bruttoinlandsprodukt wird ohne Vor-ziehen der Steuerreform um 1,5 vH steigen, mitSteuerreform und weitgehender Gegenfinanzierungwird der Zuwachs 1,7 vH betragen.

– Die Preisniveaustabilität ist auch im Jahr 2004nicht gefährdet.

– Die Arbeitslosenquote verharrt auf über 10 vH.

10

Deutschland: Außenwirtschaftliche Belebung bei schwacher Binnennachfrage

nen Sparmaßnahmen haben für sich genommen einenkontraktiven Effekt. Dem steht die dadurch ermöglichteBeitragssatzsenkung in der Gesetzlichen Krankenversi-cherung entgegen. Zudem sollte von den bereits in An-griff genommenen Strukturreformen ein positiver Er-wartungseffekt auf die Unternehmen ausgehen: DerReformstau in Deutschland beginnt sich aufzulösen. Mitraschen und kräftigen Wirkungen der Reformen ist je-doch kurzfristig nicht zu rechnen; der Einfluss auf dieinländische Wirtschaftsentwicklung im Jahr 2004 wirddaher eher in einer Verbesserung des Vertrauens in dieHandlungsfähigkeit der Politik bestehen als in konkretenBeschäftigungs- und Produktionseffekten. Zusammenmit den Impulsen aus dem Ausland dürfte dies aber aus-reichen, um eine moderate Erholung der Inlandsnach-frage herbeizuführen.

19. Der Sachverständigenrat erstellt seine Prognose zurgesamtwirtschaftlichen Entwicklung für das kommendeJahr regelmäßig unter der Annahme des gesetzgeberi-schen Status quo. Das bedeutet, dass bei Gesetzesände-rungen nur diejenigen Maßnahmen einfließen, die zumZeitpunkt der Prognoseerstellung bereits verabschiedetsind oder bei denen keine Zustimmungspflicht des Bun-desrates besteht. Dieses Vorgehen ist im Regelfall un-problematisch. Angesichts der Vielzahl der im kommen-den Jahr finanzwirksamen Gesetze, deren Umsetzungdurch die Beteiligung des Bundesrates im weiteren Ver-lauf der Gesetzgebung gegenwärtig ungewiss ist, entste-hen aber für die Prognose des kommenden Jahres erheb-liche Unsicherheiten. Dies betrifft das Vorziehen derSteuerreform sowie die steuerpolitischen Einsparmaß-nahmen (Haushaltsbegleitgesetz, Reform der Gewerbe-steuer, Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit,Korb II, Steueränderungsgesetz 2003 und Hartz IV-Ge-setz). Die Auswirkungen dieser Maßnahmen werdendeshalb in der Basisprognose nicht berücksichtigt. Unterdiesen Annahmen ergibt sich für das kommende Jahreine Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts von 1,5 vH.In einer Alternativprognose wird unterstellt, dass dieentsprechenden Gesetze, so wie vom Deutschen Bundes-tag beschlossen, in Kraft treten. Unter dieser Annahmeergibt sich für das kommende Jahr eine Zuwachsrate desBruttoinlandsprodukts von 1,7 vH.

20. Den beiden Prognoseszenarien unterliegt eineReihe identischer Annahmen. So ist unterstellt, dass derÖlpreis im kommenden Jahr durchschnittlich 27 US-Dollar pro Barrel der Sorte Brent betragen wird. ImJahresdurchschnitt wird das Welthandelsvolumen nacheiner verhaltenen Zunahme in diesem Jahr um 3,7 vH imJahr 2004 um 7,4 vH steigen. Der reale effektive Wech-selkurs des Euro bleibt gegenüber seinem Niveau vomNovember 2003 unverändert. Die Inflationsrisiken blei-ben niedrig und veranlassen die Europäische Zentral-bank nicht zu einer Änderung des gegenwärtigen Leit-zinsniveaus.

21. Im Zuge der fortgesetzten weltwirtschaftlichen Be-lebung wird sich der Exportzuwachs im nächsten Jahr auf4,8 vH belaufen. Auch die Importe werden zulegen, we-gen der moderaten Erholung im Inland aber schwächer alsdie Exporte. Der Beitrag des Außenhandels zum Anstieg

der gesamtwirtschaftlichen Produktion im Inland wird inder Größenordnung von 0,7 Prozentpunkten liegen.

Die Bruttoanlageinvestitionen expandieren im kommen-den Jahr mit 1,6 vH verhalten. Die Ausrüstungsinvesti-tionen erholen sich im Zuge der robusten Ausfuhr-konjunktur im Jahresverlauf sukzessive. Mit einerSteigerungsrate von 3 vH lässt sich jedoch noch keinedurchgreifende Belebung der Investitionstätigkeit erken-nen. Das dominierende Investitionsmotiv werden weiter-hin Ersatz- und Rationalisierungsinvestitionen bleiben.Die Investitionstätigkeit am Bau bleibt ebenfalls ge-dämpft. Einzig der Wohnungsbau sollte von den Sonder-effekten der Diskussion um die Eigenheimzulage profi-tieren. Mit einer jahresdurchschnittlichen Zuwachsratevon 0,2 vH wird für die Bauinvestitionen der Rückgangim kommenden Jahr jedoch erstmals seit dem Jahr 1999zum Stillstand kommen.

Die privaten Verbrauchsausgaben tragen im nächstenJahr leicht zur Konjunkturbelebung bei. Nach einer Er-höhung um 0,2 vH in diesem Jahr ist im nächsten Jahrmit einem Zuwachs von 0,8 vH zu rechnen. ImJahr 2004 wird das verfügbare Einkommen lediglich ineiner ähnlichen Größenordnung zunehmen wie in die-sem Jahr. Die Steigerungsrate der Verbraucherpreisebleibt mit 1,2 vH im kommenden Jahr gegenüber diesemJahr nahezu unverändert.

22. Der seit drei Jahren andauernde Rückgang der Er-werbstätigkeit setzt sich im Jahr 2004 zunächst fort, imweiteren Jahresverlauf kommt es dann aber zu einemleichten Beschäftigungsanstieg; im Jahresmittel wird dieZahl der Erwerbstätigen gleichwohl um 0,3 vH auf38,00 Millionen im Inland zurückgehen (Tabelle 48,Seite 245). Die Zahl der registrierten Arbeitslosen wirdmit 4,40 Millionen nur geringfügig über dem Vorjahres-niveau liegen. Dies widerspricht der Erfahrung, nach derdie Zahl der Arbeitslosen der Entwicklung der Erwerbs-tätigkeit nachläuft, so dass im Jahr 2004 eigentlich einstärkerer Anstieg zu erwarten wäre. Dass es nicht sokommt, liegt daran, dass wie bereits im Jahr 2003 diekonjunkturelle Entwicklung durch Änderungen in derPolitik der Arbeitsverwaltung überlagert wird, die bei-spielsweise zu verstärkten Abgängen von Nichtleis-tungsempfängern aus der registrierten Arbeitslosigkeitführen und damit den aufgrund der Beschäftigungsent-wicklung eigentlich zu erwartenden Anstieg der Arbeits-losigkeit dämpfen.

23. Im kommenden Jahr wird das staatliche Finanzie-rungsdefizit nach einem Betrag von 86,6 Mrd Euro indiesem Jahr mit etwa 74,8 Mrd Euro zwar etwas vermin-dert, aber es befindet sich noch immer auf einem hohenNiveau. Das Ziel, eine Defizitquote von unter 3,0 vH zurealisieren, wird damit zum dritten Mal in Folge ver-fehlt. In der Basisprognose beträgt das Defizit in Rela-tion zum nominalen Bruttoinlandsprodukt 3,4 vH, in derAlternativprognose steigt es auf 3,6 vH. Kommt es hin-gegen ausschließlich zu einem Vorziehen der drittenStufe der Steuerreform ohne die geplanten Konsolidie-rungsmaßnahmen, würde das staatliche Defizit in Rela-tion zum nominalen Bruttoinlandsprodukt mit 4,1 vHgenauso hoch ausfallen wie in diesem Jahr.

11

Eine kürzere Fassung

III. Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

24. Die deutsche Volkswirtschaft konnte sich auch indiesem Jahr nicht aus den Fesseln der Stagnation be-freien: Das Wenige, was sich unter der Rubrik Dynamikverbuchen lässt, ist in der Hauptsache außenwirtschaftli-chen Einflüssen geschuldet. Die Arbeitslosigkeit isterneut gestiegen. Von den vier großen makroökonomi-schen Zielen – stabiles Preisniveau, außenwirtschaftli-ches Gleichgewicht, hoher Beschäftigungsstand sowieangemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum –, dieder Sachverständigenrat gemäß seinem gesetzlichenAuftrag zu untersuchen hat, wurden in diesem Jahr diebeiden letztgenannten Ziele zum wiederholten Male ver-fehlt. Diese enttäuschende Bestandsaufnahme unter-scheidet sich im Grundsatz nicht von derjenigen desletzten Jahresgutachtens. Damals hatte der Sachverstän-digenrat angesichts einer weitgehend richtungslosenWirtschaftspolitik das Fehlen einer in sich schlüssigenStrategie für mehr Wachstum und Beschäftigung konsta-tiert. Seitdem – und dies ist der wesentliche Unterschiedzur Situation von vor einem Jahr – hat sich in der Wirt-schaftspolitik einiges bewegt. Dieses grundsätzlicheUrteil soll nicht verdecken, dass es im Hinblick auf dieUngewissheit über die Umsetzung vieler Maßnahmenein gehöriges Maß an Vorschusslorbeeren enthält unddass in Teilbereichen durchaus Kritik angebracht ist:Aber die Richtung stimmt und insofern fällt die Beurtei-lung der Wirtschaftspolitik positiver aus als noch vorJahresfrist.

25. Dieses Urteil ist allerdings zu differenzieren: Esgilt im Grundsatz für die eingeleiteten Maßnahmen aufdem Arbeitsmarkt und in den Systemen der Sozialen Si-cherung. Es gilt nicht für die Finanzpolitik im Allgemei-nen und die Steuerpolitik im Besonderen. Zwar habendie Probleme, vor denen die öffentlichen Haushalte ge-genwärtig stehen, teilweise konjunkturelle Ursachen,und unzweifelhaft sind sie auch zum Teil das Resultatnur halbherziger Reformen der Vergangenheit in den So-zialversicherungen. Kommt dann eines zum anderensind öffentliche Defizite in der Größenordnung, wie sieletztes und dieses Jahr zu verzeichnen waren, die fastunvermeidliche Folge. Die Finanzpolitik ist aber weni-ger für die konjunkturbedingte Verschlechterung der öf-fentlichen Defizite zu kritisieren, sondern vielmehr da-für, dass sie in ihrer ureigenen Domäne im vergangenenJahr zu wenig getan hat, die Aussichten für mehr Wachs-tum und Beschäftigung zu verbessern: Die Konsolidie-rung der öffentlichen Haushalte mit dem Ziel einerRückführung der staatlichen Verschuldung, ein Ziel, dasder Sachverständigenrat ausdrücklich unterstützt undmit dem die Finanzpolitik in den vergangenen JahrenVertrauenskapital aufgebaut hatte, wurde zunehmendunter Konjunkturvorbehalt gestellt. Die Vorgaben desStabilitäts- und Wachstumspakts wurden angesichts derkonjunkturellen Lage immer stärker als wachstumshem-mendes Zwangskorsett angesehen, dessen man sich übereine flexible Interpretation des Regelwerks entledigenkönne. Die Nettokreditaufnahme des Bundeshaushalts

überstieg wiederum die Ausgaben für die öffentlichenInvestitionen, und die Verzerrungen an der Schnittstellevon Einkommens- und Unternehmensbesteuerung wur-den nicht beseitigt. Im Bereich der Steuerpolitik hat dieGesetzgebung nicht nur jeglichen perspektivischen Elanverloren, die Systematik des Einkommensteuerrechtsschwindet zunehmend. Stattdessen gewann die Idee ei-ner diskretionären konjunkturstabilisierenden Rolle derFinanzpolitik an Prominenz.

26. Der Sachverständigenrat beurteilt die Wirtschafts-politik daran, eine konsistente Strategie für mehr Wachs-tum und Beschäftigung zu formulieren und umzusetzen.Hierzu gehört auch, dass die Wirtschaftspolitik ange-sichts der zukünftigen demographischen Veränderungendie Konsequenzen der gegenwärtigen Politik unter ei-nem langfristigen Zeithorizont erfasst. Dies gilt insbe-sondere für die Finanzpolitik und die Sozialpolitik. Vordem Hintergrund der eingeleiteten Reformmaßnahmenund der bestehenden Reformdefizite legt das diesjährigeJahresgutachten deshalb einen Schwerpunkt auf dieRolle, die der Finanzpolitik im Rahmen einer solchenPolitikkonzeption zukommt. Angesichts der weiterhinbestehenden Zielverfehlungen auf dem Arbeitsmarktstellt der Sachverständigenrat darüber hinaus Vorschlägezur Diskussion, die die bisher eingeleiteten Reformmaß-nahmen ergänzen sollen.

1. Öffentliche Haushalte sanieren(Ziffern 390 ff.)

27. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jah-ren die Notwendigkeit einer Konsolidierung der öffentli-chen Haushalte zu einem integralen Bestandteil ihrerFinanzpolitik gemacht. In den „Finanzpolitischen Leit-planken“ wurden im Jahr 2000 als grundsätzliche Zieleder Finanzpolitik „ein Schuldenabbau für nachhaltigesolide Staatsfinanzen“ sowie „die Förderung von Wachs-tum und Beschäftigung durch ein tragfähiges und ge-rechtes Steuer- und Abgabensystem“ formuliert. Diesgeschah in der Erkenntnis: „Schulden von heute sind dieSteuern und Abgaben von morgen“. Im vergangenenJahr wurde jedoch das dieser Philosophie unterliegendestrikte Konsolidierungserfordernis durch eine stärker aufdie Stabilisierung der Konjunktur ausgerichtete Rolleder Finanzpolitik abgeschwächt. Es ist geplant, die dritteStufe der Steuerreform vorzuziehen. Begründet wirddieses Vorhaben mit dem Erfordernis, die notwendigenStrukturreformen und den eingeschlagenen Konsolidie-rungskurs angesichts der schwachen gesamtwirtschaftli-chen Entwicklung mit einem konjunkturellen Impuls zustützen. In der Tat wurde in der Steuerpolitik und in derSozialpolitik ein Bündel an Maßnahmen geschnürt, dasin den kommenden Jahren einen deutlichen Konsolidie-rungseffekt entfalten wird, vorausgesetzt, die Maßnah-men werden in der veranschlagten Größenordnung um-gesetzt. Hier sind aber gerade bei den steuerlichenEinsparmaßnahmen gegenwärtig viele Fragen, sowohldie Umsetzung als auch die Finanzierung betreffend, of-fen. Dies gilt auch für die steuerliche Entlastung selbst.Damit ist die Entwicklung der öffentlichen Haushalte im

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Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

kommenden Jahr mit erheblichen Unsicherheiten behaf-tet: Kommt es zu einem Vorziehen der Steuerreform undwerden die entsprechenden Gegenfinanzierungsmaßnah-men über den Bundesrat realisiert, dann dürfte das Defi-zit der öffentlichen Haushalte im kommenden Jahr3,6 vH in Relation zum nominalen Bruttoinlandsproduktbetragen.

28. Die Hoffnung auf einen mit dem Vorziehen derSteuerreform verbundenen positiven konjunkturellenImpuls nimmt in Kauf, dass im kommenden Jahr die er-neute Verletzung der Defizitvorgabe des Stabilitäts- undWachstumspakts wahrscheinlicher wird. Angesichts derempirischen Evidenz zu den geringen kurzfristigen ge-samtwirtschaftlichen Auswirkungen einer diskretionärenkreditfinanzierten Steuersenkung ist dies ein hoher Preis,denn es besteht die Gefahr, dass die Finanzpolitik in demSpagat zwischen langfristigen Konsolidierungserforder-nissen und kurzfristigem Stabilisierungsziel als inkon-sistent in ihren Zielen wahrgenommen wird. Der damitverbundene Glaubwürdigkeitsverlust wäre insbesonderedann groß, wenn die steuerliche Entlastung beschlossenwürde und die steuerlichen Konsolidierungsmaßnahmenin den Verhandlungen zwischen Bundesregierung undOpposition im Vermittlungsverfahren auf der Streckeblieben. Dies ist aus politökonomischen Gründen nichtunwahrscheinlich. Das Schicksal des Steuervergüns-tigungsabbaugesetzes liefert das beste Anschauungs-beispiel, wie finanzpolitische Konsolidierungsmaßnah-men im System des „kooperativen Föderalismus“bundesdeutscher Prägung bis zur Unkenntlichkeit ver-wässert werden können. Angesichts des dringlichenKonsolidierungsbedarfs wäre dies die schlechteste allerLösungen.

Renaissance der diskretionären Finanzpolitik

29. Die Vorstellung, dass mit den Instrumenten der Fi-nanzpolitik der gegenwärtigen konjunkturellen Schwä-che wirksam entgegengesteuert werden kann und sollte,hat in den zurückliegenden Jahren nicht nur in Deutsch-land an Gewicht gewonnen: Das prominenteste Beispielhierfür sind die Vereinigten Staaten, die in zunehmen-dem Maße die Finanzpolitik diskretionär zur Stabilisie-rung der Gesamtwirtschaft einsetzen. Mit dem geplantenVorziehen der dritten Stufe der Steuerreform beabsich-tigt die Bundesregierung nun ebenfalls eine teilweisekreditfinanzierte Entlastung in Höhe von rund15,6 Mrd Euro für das kommende Jahr. Auf den Bundes-haushalt entfallen davon rund 7 Mrd Euro, von denen5 Mrd Euro über eine höhere Verschuldung finanziertwerden sollen. Für die Länder und Gemeinden ist die Fi-nanzierung ungeklärt. Die vorliegenden empirischenStudien zu den Auswirkungen einer kreditfinanziertenSteuersenkung kommen in der Mehrzahl zu dem Ergeb-nis, dass eine solche Maßnahme kurzfristig positive kon-junkturelle Effekte entfaltet. Die entsprechenden Multi-plikatoren sind aber regelmäßig gering. Eine Senkungder Steuerbelastung gemessen am nominalen Bruttoin-landsprodukt um einen Prozentpunkt erhöht demgemäßden Zuwachs der gesamtwirtschaftlichen Produktion

kurzfristig um rund 0,2 bis 0,5 Prozentpunkte. Diesergeringe positive gesamtwirtschaftliche Impuls der steu-erlichen Entlastung war abzuwägen gegen den mit ei-nem höheren Defizit verbundenen möglichen Vertrau-ensverlust in die Glaubwürdigkeit des mittelfristigenKonsolidierungspfads. Der Sachverständigenrat hätteangesichts dieser Alternative und eines strukturellen De-fizits von 3½ vH im Jahr 2003 in Relation zum nomina-len Bruttoinlandsprodukt von dem Vorziehen der Steuer-reform abgeraten. Da aber inzwischen der DeutscheBundestag das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerre-form beschlossen hat, sollte dieser Schritt auch umge-setzt werden. Das ständige Hin und Her in der Steuerpo-litik muss endlich ein Ende haben; denn auch so wirddas Vertrauen der Bürger in die Handlungsfähigkeit derPolitik beschädigt. Zu warnen ist allerdings davor, zu-künftig eine Renaissance der diskretionären Finanzpoli-tik einzuläuten. Groß sind bei nur geringen konjunktu-rellen Effekten die Risiken einer prozyklischen Politik,die daraus entstehen, dass die politischen Maßnahmenangesichts der zeitlichen Verzögerung im Diagnose- undEntscheidungsprozess zu spät kommen und nicht mehrantizyklisch wirken, sondern den Zyklus noch verstär-ken. Die Stabilisierungsaufgabe der Finanzpolitik wirddamit nicht negiert; als Regel sollte aber gelten, dass siediese Aufgabe über das Wirken der automatischen Stabi-lisatoren gewährleistet und nicht ihre Energien im politi-schen Gezerre um konjunkturstimulierende Maßnahmenerschöpft. Dazu sind die übrigen unerledigten Problemeder Finanzpolitik zu bedeutend.

Stabilitäts- und Wachstumspakt

– Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist ein sinn-volles und notwendiges Regelwerk. Er soll dieTragfähigkeit der nationalen Finanzpolitiken imEuro-Raum sicherstellen und möglichen Konflik-ten zwischen der einheitlichen Geldpolitik und dennationalen Finanzpolitiken vorbeugen.

– Die Europäische Kommission wird derzeit ihrerRolle als Hüterin des Pakts nicht gerecht. Sie sollteden Pakt konsequent anwenden und Verstößen ge-gen den Pakt entschlossener entgegentreten.

– Mehr noch als die Europäische Kommission trägtgegenwärtig der ECOFIN-Rat zur Demontage desPakts bei. Er hat die Entscheidung über weitereSchritte im Defizitverfahren gegen Frankreich mitungewissem Ausgang vertagt. Werden fortgesetztVerstöße gegen die Vorgaben des Pakts nicht sank-tioniert, ist der Pakt faktisch tot.

– Als Konsequenz der wiederholten und andauern-den Verstöße gegen die Haushaltsregeln des Paktsmüssen in Deutschland umgehend entschlosseneKonsolidierungsmaßnahmen eingeleitet werden.Andernfalls sind mögliche Sanktionen − zunächstdie Hinterlegung einer zinslosen Bareinlage − zuakzeptieren.

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Eine kürzere Fassung

Stabilitäts- und Wachstumspakt: Flexibilität überstrapaziert

30. Deutschland verfehlte in diesem Jahr mit einem De-fizit von 4,1 vH in Relation zum nominalen Bruttoin-landsprodukt im zweiten Jahr in Folge die Defizitober-grenze von 3 vH des Stabilitäts- und Wachstumspakts.Und auch im kommenden Jahr wird es nicht gelingen, dieDefizitquote unter diese Grenze zurückzuführen. Mit ei-nem strukturellen Defizit von über 3 vH ist man zudemweit entfernt von dem mittelfristigen Ziel eines ausgegli-chenen Haushalts. Insofern war es konsequent, zu Be-ginn dieses Jahres ein Defizitverfahren gegen Deutsch-land zu eröffnen. Auch gegen Frankreich wurde einVerfahren eingeleitet. Diese weitgehend zeitgleichenVerfahren gegen die beiden größten Länder der Europäi-schen Währungsunion bedeuteten die erste große Bewäh-rungsprobe für den Pakt. Diese endete vorläufig mit derEntscheidung des ECOFIN-Rates, die Empfehlungen derEuropäischen Kommission an Frankreich im Rahmendes Artikel 104 Absatz 9 EG-Vertrag auf seiner SitzungAnfang November zu vertagen, in einer existentiellenKrise des Pakts. Die Empfehlung der EuropäischenKommission, Frankreich gegen das Versprechen einerZurückführung der konjunkturbereinigten Defizitquoteum einen Prozentpunkt, ein Überschreiten der 3 vH-Grenze bis zum Jahr 2005 zu gestatten, war schon einVorgehen, mit dem die Flexibilität des Stabilitäts- undWachstumspakts bis an die Grenze strapaziert wurde.Dadurch, dass sich der ECOFIN-Rat bisher nicht mit dernotwendigen Mehrheit auf diese ohnehin laxe Vorgabeeinigen konnte, riskiert er die Demontage des Pakts.

31. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist ein sinnvol-les Regelwerk. Er soll mögliche Konflikte zwischen dereinheitlichen europäischen Geldpolitik und den weiter-hin nationalen Finanzpolitiken in den Mitgliedstaaten derEuropäischen Währungsunion verhindern und darüberhinaus die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen si-chern und so die langfristigen Wachstumsaussichten stär-ken. Dass solide öffentliche Finanzen einen positivenEinfluss auf das langfristige Niveau der Produktion ha-ben, findet für die Mitgliedsländer der EuropäischenWährungsunion auch empirische Bestätigung (Zif-fern 789 ff.). Die genannten Ziele erfordern in der Logikdes Pakts eine ausgeglichene Haushaltsposition und da-mit für Länder, in denen der konjunkturbereinigte Haus-halt defizitär ist, eine entsprechende Konsolidierungsan-strengung. In einer ganzen Reihe von Ländern ist in denvergangenen Jahren eine deutliche Rückführung der De-fizite und Schuldenstandsquoten erreicht worden. Ausge-hend von der Situation eines ausgeglichenen Haushaltsist dann auch bei normalen konjunkturellen Schwankun-gen eine über die automatischen Stabilisatoren wirkendeStabilisierung durch die Finanzpolitik möglich, ohne mitder 3-vH-Defizitvorgabe in Konflikt zu geraten. Insofernist die Möglichkeit, dass es – wie im Falle Deutschlandsund Frankreichs – angesichts einer nicht übermäßigschweren gesamtwirtschaftlichen Abschwungsphase zueinem Überschreiten der Defizitgrenze kommt, nur miteinem Konsolidierungsversagen in der jüngeren Vergan-genheit erklärbar.

32. In diesem Fall ist dann in der Tat ein Zielkonfliktzwischen den kurzfristigen stabilisierungspolitischen Er-fordernissen und den Defizitvorgaben des Pakts vorhan-den. Die Logik des Pakts lässt den betreffenden Ländernaber zwei prinzipielle Möglichkeiten: Verfolgt die Poli-tik das Ziel, die öffentlichen Defizite unter die 3-vH-Grenze zu bringen, impliziert dies eine prozyklischePolitik; will man diese vermeiden, dann ist gemäß dengeltenden Regeln ein Defizitverfahren mit seinen mögli-chen Folgen zu akzeptieren. Ein Land, das sich in einersolch schwierigen Situation befindet, ist demnach nichtunter allen Umständen zu einer die Konjunkturschwan-kungen verstärkenden Politik gezwungen, hat dann aberdie Konsequenzen dieser Entscheidung zu akzeptieren.Diesen Zielkonflikt nicht offen zu Tage treten zu lassen,sondern das wiederholte Überschreiten der Defizit-grenze ohne entsprechende Sanktionierung zu gestatten,eröffnet die Gefahr, dass der Stabilitäts- und Wachs-tumspakt zu einer formaljuristischen Hülse verkommt.Deshalb sind die Beschlüsse der Europäischen Kommis-sion und des Ministerrats im laufenden Defizitverfahrengegenüber Frankreich so kritisch zu sehen.

33. Eine strikte Auslegung des Pakts würde spätestensEnde 2004 die Verhängung von Sanktionen erfordern, essei denn, die Defizite würden im kommenden Jahr unterdie 3-vH-Grenze geführt. Dies ist im Falle Deutschlandsund Frankreichs unrealistisch. Als Konsequenz müsstendann die Regeln wie vorgesehen angewandt werden. AlsSanktion ist in der Regel zunächst eine unverzinslicheBareinlage vorgesehen. Diese wäre in den konkretenFällen vermutlich nicht vor Ende 2004 zu hinterlegenund würde in den Jahren 2005 und 2006 vergleichsweisegeringe finanzielle Belastungen nach sich ziehen, da nuretwaige Zinszahlungen für die Finanzierung der Barein-lage als Kosten anfallen. Erst danach wird bei fortge-setztem Verstoß die Bareinlage in eine Geldbuße umge-wandelt.

34. Der Sachverständigenrat spricht sich gegen eine ra-dikale Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts aus.Keine der von der Politik oder der Wissenschaft vorge-schlagenen Alternativen bietet so eindeutige Vorteile,dass sie das Risiko einer weit reichenden Umgestaltungdes Pakts in der gegenwärtigen Situation aufwiegen.Dies schließt nicht die Möglichkeit gradueller Reformenaus, diese lassen sich aber weitgehend im Rahmen desgegenwärtigen Regelwerks umsetzen. Hierzu zählt dieStärkung der Europäischen Kommission bei Frühwar-nungen und im Verlauf des Defizitverfahrens.

Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen

– Zur Beurteilung der Tragfähigkeit der öffentlichenHaushalte sind neben den expliziten staatlichenSchulden auch die impliziten Staatsschulden zu be-rücksichtigen, die insbesondere aus der Gesetzli-chen Rentenversicherung, der Gesetzlichen Kran-kenversicherung und den Pensionsansprüchen derBeamten resultieren.

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Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sichern

35. Eines der zentralen Ziele des Stabilitäts- undWachstumspakts ist die Sicherung der Nachhaltigkeitder Finanzpolitik. Die Mitgliedsländer der EuropäischenWährungsunion sind gemäß Artikel 121 Absatz 1 EG-Vertrag verpflichtet, „eine auf Dauer tragbare Finanzlageder öffentlichen Hand“ sicherzustellen. Die Beurteilungnachhaltiger öffentlicher Finanzen erfolgt dabei über dieHöhe der gesamtstaatlichen Finanzierungssalden undSchuldenstände. Diese Indikatoren haben allerdings le-diglich eine begrenzte Aussagekraft für die Frage, obeine Finanzpolitik nachhaltig ist. In ihnen drückt sich,im Falle der Defizitquote, lediglich die aktuelle oder, imFalle der Schuldenstandsquote, die vergangene Ausrich-tung der Finanzpolitik aus. Damit erfassen beide Indika-toren nicht, dass neben der verbrieften expliziten staatli-chen Schuld eine zweite Form der Staatsschuld existiert,die impliziten Verbindlichkeiten. Letztere entstehen alsDifferenz aus den auf der Grundlage der gegenwärtigenPolitik erzeugten zukünftigen unverbrieften Leistungs-versprechen und den diese Ansprüche deckenden zu-künftigen Einnahmen. Derartige unverbriefte zukünftigeLeistungsansprüche haben ihre Ursachen vor allem inden Leistungszusagen der Sozialversicherungen, aberauch in den zukünftig zu erfüllenden Pensionsverpflich-tungen des Staates. Reichen – auf die Gegenwart bezo-gen – die zukünftigen Einnahmen nicht aus, die zukünf-tigen Leistungsversprechen zu erfüllen, dann liegt eineimplizite Schuld vor.

36. Damit wird deutlich, dass die Frage der nachhalti-gen oder tragfähigen Finanzpolitik nicht durch eine al-leinige Betrachtung der aktuellen öffentlichen Defiziteoder des ausgewiesenen Schuldenstands beantwortetwerden kann. Notwendig ist darüber hinaus vielmehreine langfristige Betrachtung der Konsequenzen, diesich aus einer Fortschreibung der gegenwärtigen Politikergeben. Der Sachverständigenrat legt in diesem Jahres-gutachten erstmals eine Analyse der Tragfähigkeit derFinanzpolitik im Rahmen des Konzepts der Generatio-nenbilanzierung vor. Die Ergebnisse belegen einen er-heblichen zukünftigen Konsolidierungsbedarf der öf-fentlichen Haushalte: Bezogen auf das nominaleBruttoinlandsprodukt des Jahres 2002 beträgt der Anteilder impliziten Schulden ein Mehrfaches der Quote derexpliziten Schulden von 60,8 vH. Die gesamte Tragfä-higkeitslücke, definiert als Summe beider Schulden-

standsquoten, macht im Basisszenario rund 330 vH aus.Eine Schließung dieser Tragfähigkeitslücke zur Gewähr-leistung tragfähiger öffentlicher Finanzen verlangte beiunveränderten Einnahmen eine Kürzung sämtlicher heu-tiger und zukünftiger Staatsausgaben um rund 12 vH.Bezogen auf das Jahr 2002 bedeutete dies eine Rückfüh-rung der staatlichen Ausgabenquote von 48,5 vH auf42,6 vH beziehungsweise eine Kürzung der laufendenstaatlichen Ausgaben um über 120 Mrd Euro. Ange-sichts der vielfältigen Abgrenzungs-, Zurechnungs- undPrognoseprobleme, die mit einer solchen langfristigenAnalyse verbunden sind, sollte man zwar die konkretennumerischen Werte für die ermittelten Tragfähigkeitslü-cken mit einer gewissen Vorsicht interpretieren. Deutlichwird aber trotz dieser qualifizierenden Einschränkung,dass der tatsächliche Konsolidierungsbedarf, vor demdie deutsche Finanzpolitik in den kommenden Jahrzehn-ten steht, ein Mehrfaches dessen ist, was ein Blick aufdie laufenden Defizite und die ausgewiesene Schulden-standsquote suggeriert.

37. Eine Analyse der Ursachen der Tragfähigkeitslückezeigt, dass diese in der Hauptsache durch die Kombina-tion zweier Sachverhalte verursacht wird: der demogra-phischen Entwicklung in den kommenden Jahrzehntensowie der umlagefinanzierten Systeme der Sozialen Si-cherung. An der demographischen Entwicklung kann diePolitik wenig ändern, deshalb muss eine Verringerungder Tragfähigkeitslücke an den Sozialsystemen anset-zen. So würde eine Rentenreform, wie sie die Kommis-sion „Nachhaltigkeit in der Finanzierung der SozialenSicherungssysteme“ (Rürup-Kommission) vorgeschla-gen hat, über eine Verlängerung des gesetzlichen Ren-teneintrittsalters und einen die demographischen Verän-derungen berücksichtigenden Nachhaltigkeitsfaktor dieQuote der impliziten Schuld nahezu halbieren. Zu be-herzten Reformen der Gesetzlichen Rentenversicherungund der Gesetzlichen Krankenversicherung gibt es vordiesem Hintergrund in einer den zukünftigen Herausfor-derungen gerecht werdenden Konsolidierungsstrategiekeine Alternative.

– Die Tragfähigkeitslücke zeigt einen unabweisbarenfinanzpolitischen und sozialpolitischen Handlungs-bedarf an. Nach unseren Berechnungen beträgt sieein Mehrfaches der expliziten staatlichen Schul-denstandsquote von 60,8 vH im Basisjahr 2002.

– Die Höhe der impliziten Staatsschuldenquote kannin etwa halbiert werden, wenn das gesetzliche Ren-teneintrittsalter langfristig von 65 auf 67 Jahre he-raufgesetzt und die Rentenanpassungsformel umeinen Nachhaltigkeitsfaktor ergänzt wird.

Soziale Sicherung

– Mit der Gesundheitsreform 2003 (GKV-Moderni-sierungsgesetz) wurden wichtige, allerdings viel zuzaghafte Schritte zur Stärkung des Wettbewerbsvorgenommen.

– Das vom Sachverständigenrat zur Reform des Fi-nanzierungssystems der Gesetzlichen Krankenversi-cherung vorgeschlagene Pauschalprämienmodell istin allokativer, vor allem in beschäftigungspoliti-scher Hinsicht einer Bürgerversicherung überlegen.

– Die Anhebung des gesetzlichen Renteneintritts-alters und die Ergänzung der Rentenanpassungs-formel um einen Nachhaltigkeitsfaktor sind dazugeeignet, die Gesetzliche Rentenversicherung lang-fristig zu stabilisieren.

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Eine kürzere Fassung

Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen(Ziffern 289 ff.)

38. Entsprechende Reformvorschläge für die einzelnenZweige der Sozialversicherungen wurden durch dieKommissionen der Bundesregierung und der CDU/CSUvorgelegt. Trotz aller Unterschiede in Einzelfragenkennzeichnet beide Reformentwürfe die Einsicht in dieNotwendigkeit, angesichts der demographischen Ent-wicklung und der lohnabhängigen Finanzierung die Sys-teme der umlagefinanzierten Sozialen Sicherung neu zujustieren. Die Bundesregierung hat im Bereich der Ge-setzlichen Krankenversicherung und der GesetzlichenRentenversicherung erste gesetzgeberische Schritte zurUmsetzung der Vorschläge der Rürup-Kommission ein-geleitet. Da der Sachverständigenrat sich in seinem letz-ten Jahresgutachten ausführlich zu den Reformoptionenim Bereich der Sozialversicherungen geäußert hat, wer-den für diese Politikbereiche in diesem Gutachten dieMaßnahmen der Bundesregierung sowie die Vorschlägeder Rürup-Kommission anhand der Vorstellungen desSachverständigenrates beurteilt.

39. In der Gesetzlichen Krankenversicherung wurde mitdem GKV-Modernisierungsgesetz der Einstieg in eineumfassendere Gesundheitsreform eingeleitet. Das imKonsens mit der CDU/CSU-Opposition verabschiedeteGesetz sieht wichtige Maßnahmen auf der Ausgabenseiteund zur Stärkung des Wettbewerbs vor. Durch den ver-stärkten Einsatz von Zuzahlungen sowie durch die Ein-führung von Praxisgebühren sollen die gesetzlichenKrankenkassen im kommenden Jahr um 3,2 Mrd Euroentlastet werden. Ab dem Jahr 2005 ist mit der Ausglie-derung des Zahnersatzes aus dem Regelleistungskatalogder Gesetzlichen Krankenversicherung eine Einsparungvon rund 3,5 Mrd Euro verbunden. Ab dem Jahr 2006wird das Krankengeld zumindest teilweise über einenSonderbeitrag von den Versicherten allein finanziert. Dieletztgenannte Lösung kann aus konzeptionellen Gründennicht überzeugen, da der direkte Bezug zum Kranken-geld nicht hergestellt wurde, sondern einzig eine ein-malige Verschiebung in der paritätischen Finanzierungherbeigeführt wird. Da sich damit die gesamte Abgaben-belastung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht ver-ändert, sind von dieser Maßnahme auch keine wesentli-chen Beschäftigungseffekte zu erwarten. Kritisch zusehen ist auch der beschlossene Einstieg in die Finanzie-rung über Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt. Gedecktwerden sollen damit versicherungsfremde Leistungen;der Zuschuss wurde aber nicht explizit an diese Ausga-ben gekoppelt, sondern wird als pauschale Zuweisung indas System eingespeist und über eine mehrstufige Erhö-hung der Tabaksteuer finanziert. Welche Dynamik derar-tige Zuschüsse, einmal etabliert, entfalten können undwelche Einschränkung des finanzpolitischen Bewe-gungsspielraums mit ihnen verbunden sein kann, dafürliefert die Gesetzliche Rentenversicherung ein Beispiel(Ziffer 268). Im Arzneimittelvertrieb wurden erste zag-hafte Wettbewerbselemente beschlossen. Insgesamtwurde mit der Reform, nicht zuletzt durch den Einflussklientelpolitisch motivierter Interventionen im Prozess

der Konsenssuche, der Wettbewerb auf der Ebene derLeistungserbringer aber nur unzureichend gestärkt. DieBundesregierung erhofft sich durch die Reformmaßnah-men eine Senkung des Beitragssatzes auf 13,6 vH imkommenden Jahr. Diese Prognose erscheint zu opti-mistisch.

40. Eine Entscheidung über eine grundlegende Reformder Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherungkam in diesem Jahr nicht zustande. Die Rürup-Kommis-sion stellte dem Gesetzgeber diesbezüglich zwei alterna-tive Modelle zur Auswahl: eine Finanzierung der Ge-sundheitsleistungen über Pauschalprämien mit sozialemAusgleich sowie eine Finanzierung über eine Bürgerver-sicherung, das heißt eine einkommensbezogene Kran-kenversicherung mit einer Ausweitung des Kreises derVersicherungspflichtigen und der einzubeziehenden Ein-kommensarten sowie einer Anhebung der Beitragsbe-messungsgrenze. Der Sachverständigenrat sprach sichschon in seinem letzten Jahresgutachten nachdrücklichfür ein Prämienmodell aus. Dies vor allem aus folgendenGründen: Eine Prämienlösung koppelt die zukünftigeEntwicklung der Gesundheitsausgaben von denbisherigen auf das Arbeitseinkommen bezogenen Beiträ-gen ab; dies erhöht die Arbeitsanreize für den Großteilder Einkommensbezieher merklich. Zudem wird dieÄquivalenz zwischen Beiträgen zur und Leistungen ausder Gesetzlichen Krankenversicherung erhöht. Auch dasPrämienmodell enthält, dies wird in der Politik und denMedien nicht selten verkürzt dargestellt, einen sozialenAusgleich für die Bezieher niedriger Einkommen, derüber die Ausschüttung an die Arbeitnehmer und die an-schließende Versteuerung des bisherigen Arbeitgeberan-teils zur Krankenversicherung finanziert werden soll.

Das Alternativmodell einer Bürgerversicherung ist mitBlick auf die Beschäftigungseffekte den Gesundheits-prämien eindeutig unterlegen. Durch die Einbeziehungzusätzlicher Einkommen wird nur eine begrenzte Ab-koppelung der Beiträge vom Lohn erreicht. Dies wird er-kauft durch zusätzliche Verzerrungen, die über eine Er-höhung der Beitragsbemessungsgrenze und dieEinbeziehung zusätzlicher Einkommen entstehen. ImErgebnis sind damit sogar negative Effekte auf dieBeschäftigung zu erwarten. Die Popularität der Bürger-versicherung erklärt sich primär durch die als gerechterempfundenen Verteilungswirkungen dieses Modells ge-genüber der Gesundheitsprämie. Hier sollte man aberbedenken, dass gerade aus Verteilungsaspekten weniggewonnen ist, wenn die Verteilungsmasse durch die ver-meintlich gerechteren Maßnahmen eher verringert, dennvergrößert wird.

41. Im Bereich der Gesetzlichen Rentenversicherungdrohte auch in diesem Jahr insbesondere durch die Ero-sion der Einnahmeseite ein Beitragssatzanstieg; und wiein den Vorjahren wurde diesem durch Ad-hoc-Maßnah-men entgegengesteuert. Dies mag man unter dem Blick-winkel der Beschäftigungssicherung begrüßen, dasVertrauen in die Verlässlichkeit der Gesetzlichen Ren-tenversicherung wurde dadurch aber erneut beschädigt.Beschlossen wurde unter anderem eine Aussetzung der

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Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

Rentenanpassung im Jahr 2004, eine weitere Absenkungder Schwankungsreserve sowie die alleinige Finanzie-rung des Beitrags zur Pflegeversicherung durch dieRentner im kommenden Jahr. Letzteres bedeutet einefaktische Kürzung der Nettorenten um 0,85 vH.

Vor dem Hintergrund der anhaltenden Wachstumsschwä-che und angesichts eines sich gegenüber den Annahmender Rentenreform 2001 abzeichnenden verstärkten de-mographischen Drucks wurden weitere mittelfristig wir-kende rentenrechtliche Maßnahmen notwendig. DieBundesregierung beabsichtigt vor diesem Hintergrunddie Abschaffung der bewerteten Anrechnungszeiten beischulischer Ausbildung, die Erhöhung des tatsächlichenRenteneintrittsalters durch den Abbau von Anreizen zurFrühverrentung sowie eine Modifikation der Rentenan-passungsformel, mit der sowohl einer niedrigeren Ge-burtenhäufigkeit als auch einer steigenden Lebenserwar-tung Rechnung getragen wird. Diese Maßnahmen sindrichtig. Insbesondere der von der Rürup-Kommissionvorgeschlagene Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenfor-mel als Ausdruck einer einnahmeorientierten Ausgaben-politik ist angesichts der demographischen Entwicklungeine zielführende Innovation. Die Heraufsetzung des tat-sächlichen Renteneintrittsalters, so begrüßenswert dieRückführung der Anreize zur Frühverrentung auch ist,muss jedoch durch eine Anhebung des gesetzlichen Ein-trittsalters in die Rente ergänzt werden. Der Sachver-ständigenrat hat hierzu – wie die Rürup-Kommission –eine allmähliche Erhöhung des Renteneintrittsalters,beginnend ab dem Jahr 2011, als geeigneten Weg vor-geschlagen. Die von der Rürup-Kommission empfohle-nen Maßnahmen würden den Beitragssatzanstieg biszum Jahr 2030 unter 22 vH begrenzen. Die sinnvolleOrientierung an einer derartigen stärker einnahmeorien-tierten Ausgabenpolitik führt allerdings zu niedrigerenimpliziten Renditen für die mittleren und jüngerenJahrgänge sowie zu einer deutlichen Absenkung desBruttorentenniveaus. Im Gegenzug gewinnen die jünge-ren Geburtsjahrgänge aber finanziellen Spielraum füreine ergänzende kapitalgedeckte Eigenvorsorge, mitdem die Leistungsrücknahmen des Umlagesystems ge-mildert oder gar – in Abhängigkeit von der erzieltenRendite und dem Ansparzeitraum – überkompensiertwerden können. Vor dem Hintergrund des demographi-schen Drucks auf die Tragfähigkeit des umlagefinanzier-ten Rentensystems und damit die öffentlichen Haushaltebefürwortet der Sachverständigenrat eine möglichst ra-sche Umsetzung der diesbezüglichen Vorschläge derRürup-Kommission.

42. Auch in der Sozialen Pflegeversicherung ist ange-sichts der Defizitentwicklung in den vergangenen Jahreneine Reform erforderlich. Hier hat die Bundesregierungjedoch noch nicht einmal den Vorschlag der Rürup-Kommission aufgegriffen, der im Wesentlichen daraufabzielt, das derzeitige System beizubehalten und übereine Höherbelastung der Rentner sowie den Aufbau ei-nes individuellen Kapitalstocks die Beitragsbelastungkonstant zu halten. Besser wäre ohnehin ein – auchheute noch möglicher – Übergang zu einer kapitalge-deckten Privaten Pflegeversicherung. Die Entwicklung

der vergangenen Jahre, in denen es zu einem merklichenAbschmelzen der zunächst nach Einführung der Pflege-versicherung im Jahr 1995 aufgebauten Reserven kam,zeigt deutlich, dass es ein Fehler war, die Pflegeversi-cherung in der Form einer Umlageversicherung zu orga-nisieren. Ein Umstand, auf den der Sachverständigenratim Vorfeld mit Nachdruck hingewiesen hatte (SG 94 ab-gedruckt in JG 95 Anhang).

Konsolidierung der öffentlichen Haushalte: Strategien und Optionen(Ziffern 455 ff.)

43. Über die Beschlüsse und Vorhaben in den Syste-men der Sozialen Sicherung hinaus, für die in den kom-menden Jahren eine beträchtliche Nettoentlastung er-wartet wird, hat die Bundesregierung ein umfangreichessteuerliches Maßnahmenbündel auf den Weg gebracht.Dieses wird bei vollständiger Umsetzung – ein-schließlich des Vierten Gesetzes für Moderne Dienstleis-tungen am Arbeitsmarkt – für die Gebietskörperschaftenab dem Jahr 2005 veranschlagte jährliche Mehrein-nahmen in einer Größenordnung von über 17 Mrd Euroerbringen. Im kommenden Jahr wird bei Vorziehen der

Haushaltskonsolidierung

– Haushaltskonsolidierung sollte der Realisierunglangfristiger Ziele dienen.

– Konsolidierungen durch Ausgabenkürzungen sinderfahrungsgemäß nachhaltiger als solche überEinnahmeerhöhungen. Eine erfolgreiche Haus-haltskonsolidierung benötigt kein günstiges kon-junkturelles Umfeld.

– Der Abbau von Steuervergünstigungen zur Finan-zierung von Tarifsenkungen hat positive gesamt-wirtschaftliche Effekte. Eine Rückführung vonSteuervergünstigungen ist aber auch zu Konsoli-dierungszwecken angebracht.

– Ein gezielter, kriteriengeleiteter Abbau von Finanz-hilfen und Steuervergünstigungen ist der Rasenmä-hermethode überlegen.

– Das Volumen der hier vorgeschlagenen Ausgaben-kürzungen und Rücknahmen von Steuererleichte-rungen beläuft sich nach Auslaufen dieser Maßnah-men auf über 25 Mrd Euro pro Jahr. Nichtberücksichtigt sind dabei Steuervergünstigungenim Unternehmensbereich; ihr Abbau muss in eineReform der Unternehmensbesteuerung integriertwerden.

– Das Ehegattensplitting ist keine Steuervergünsti-gung. Die Entfernungspauschale ist nicht generelleine Steuervergünstigung; daher ist eine Kürzungvertretbar.

17

Eine kürzere Fassung

dritten Stufe der Steuerreform einschließlich der geplan-ten Einsparmaßnahmen allerdings eine Mindereinnahmevon annähernd 4 Mrd Euro zu verzeichnen sein. Ange-sichts der aus dem Ruder laufenden Defizite und derfestgestellten Tragfähigkeitslücke ist ein darüber hinaus-gehender mittelfristiger Konsolidierungsbedarf aber of-fensichtlich und unabweisbar: Die Hoffnung, dass alleinüber ein höheres Wirtschaftswachstum diesem Druckausgewichen werden könnte, ist unrealistisch. Insoweitsind die Maßnahmen der Bundesregierung richtig undnotwendig, wenn auch nur ein erster Schritt. Vor diesemHintergrund wäre es fatal, wenn sich das Schicksal desSteuervergünstigungsabbaugesetzes erneut wiederholte.Die Einsicht, dass die öffentlichen Haushalte einer drin-genden Sanierung bedürfen, setzt sich jedoch mehr undmehr über die Parteigrenzen hinweg durch. In den ver-gangenen Monaten war beinahe ein Überbietungswett-lauf zu beobachten, was potentielle Sparmaßnahmenangeht. Woran es aber nach Einschätzung des Sachver-ständigenrates mangelt, das ist eine ökonomisch fun-dierte Analyse der Ansatzpunkte und Handlungsfeldereiner erfolgversprechenden Konsolidierungsstrategie.Mit anderen Worten: Es ist ein Leichtes, eine milliarden-schwere Liste von Einsparmaßnahmen zusammenzustel-len, es ist aber ohne überzeugende Argumente ungleichschwerer, sie im politischen Prozess durchzusetzen.

44. Konsolidierung bedeutet eine Verbesserung derkonjunkturbereinigten öffentlichen Primärsalden, alsodes Saldos aus staatlichen Einnahmen und Ausgabenohne Berücksichtigung von konjunkturellen Effektenund ohne Berücksichtigung der Zinsausgaben der öffent-lichen Hand. Konsolidierungsanstrengungen können da-mit prinzipiell über die Ausgabenseite und/oder die Ein-nahmeseite des staatlichen Gesamthaushalts erfolgen.Die Erfahrungen von Konsolidierungsphasen in denLändern der Europäischen Währungsunion belegen aber,dass am ehesten eine dauerhafte Verbesserung der öf-fentlichen Haushalte gelingt, wenn die Konsolidierungauf der Ausgabenseite ansetzt. Darüber hinaus zeigtsich, dass kräftige Sparmaßnahmen auch in einem ge-samtwirtschaftlich schwierigen Umfeld eingeleitet wer-den können, ohne dass sich die mit den kurzfristigenKonsolidierungsmaßnahmen befürchteten konjunkturel-len Verschlechterungen einstellen müssen. Oft lässt sichsogar der gegenteilige Effekt feststellen. Insofern ist esnicht angebracht, den notwendigen Konsolidierungsbe-darf unter den Generalvorbehalt einer günstigen kon-junkturellen Ausgangslage zu stellen. Der Sachverstän-digenrat plädiert deshalb für eine konsistente und aufDauer angelegte Konsolidierungsstrategie. Diese sollteunabhängig von den zyklischen Schwankungen über dasErwirtschaften konjunkturbereinigter Primärüberschüsseerfolgen und die Aufgabe der konjunkturellen Stabilisie-rung an die automatischen Stabilisatoren delegieren.

45. In der politischen Diskussion über Konsolidierungwird oftmals ein Streichen von Steuervergünstigungenohne eine entsprechende Senkung der Steuersätze alsSteuererhöhung gebrandmarkt, die abzulehnen sei. Die-ses Argument überzeugt aus einer Reihe von Gründen

nicht. So ist die Unterscheidung zwischen Steuerver-günstigungen und staatlichen Ausgaben oft nicht so ein-deutig, wie es in der öffentlichen Diskussion denAnschein hat. Eine ganze Reihe von Steuervergünsti-gungen, wie beispielsweise die Eigenheimzulage, die inder Finanzstatistik als Minderung der Steuereinnahmenverbucht wird, ist ökonomisch einer Ausgabe äquiva-lent. Wichtiger noch ist aber, dass die Beseitigung vonsteuerlichen Subventionstatbeständen über eine Verbrei-terung der steuerlichen Bemessungsgrundlage die ver-zerrenden Effekte und damit die Zusatzlasten der Be-steuerung verringert. Dies ist unmittelbar einsichtig,wenn gleichzeitig mit der Verbreiterung der Bemes-sungsgrundlage auch die Steuersätze reduziert werden.Es gilt aber im Grundsatz auch, wenn anstelle der Steu-ersatzsenkungen die öffentlichen Defizite und damit diezukünftigen Zinslasten des Staates zurückgeführt wer-den. Das Streichen von Steuervergünstigungen darf des-halb kein Tabu in einer glaubwürdigen Konsolidierungs-strategie sein.

46. Der Abbau von Subventionen, also Finanzhilfenund Steuervergünstigungen, sollte dabei gezielt und kri-teriengeleitet erfolgen. Die „Rasenmähermethode“, dieein Kürzen sämtlicher Tatbestände um einen einheitli-chen Prozentsatz bedeutet, ist deshalb abzulehnen. Nichtjede Finanzhilfe und Steuervergünstigung ist unberech-tigt und eine gleichmäßige Kürzung unterscheidet nichtzwischen den Sachverhalten, die stark verzerrende Ef-fekte aufweisen, und den Sachverhalten, bei denen diesnur in sehr viel geringerem Ausmaß der Fall ist oder fürdie sich gar ökonomisch gute Gründe anführen lassen.Das Kriterium, mit dem der Sachverständigenrat die re-levanten Subventionen auf ihre Berechtigung hin beur-teilt, ist das der Effizienz: Subventionen müssen selektivgekürzt werden und zuerst und am stärksten dort, wo siedie größten nachteiligen Wohlfahrtseffekte hervorrufen.Von einer effizienzmindernden und damit Beschäftigungund Wachstum beeinträchtigenden Verzerrung staatli-cher Eingriffe spricht man üblicherweise dann, wenn dieEntscheidung eines Individuums aufgrund eines staatli-chen Eingriffs, zum Beispiel einer steuerlichen Maß-nahme, über den primären Einkommensentzug hinausverzerrt wird, kurz: wenn Zusatzlasten auftreten.

47. Vor diesem Hintergrund wird in diesem Jahresgut-achten eine Reihe von Ausgaben und Subventionenidentifiziert und ökonomisch analysiert, von denen vieleseit geraumer Zeit eine bedeutende Rolle in der öffentli-chen Diskussion um relevante Konsolidierungstatbe-stände spielen. Hierzu zählt der Bereich der aktiven Ar-beitsmarktpolitik als ein gewichtiger Ausgabenblock.Darüber hinaus werden wichtige Finanzhilfen und Steu-ervergünstigungen betrachtet. Das Gesamtvolumen derin die Betrachtung einbezogenen Maßnahmen beträgtrund 60 Mrd Euro. Das Gesamtvolumen der betrachtetenund gänzlich abzuschaffenden Sachverhalte beläuft sichauf eine Summe von rund 25 Mrd Euro. Darüber hinauslässt sich eine Reihe von Subventionen identifizieren,bei denen, wenn auch keine vollständige Abschaffung sodoch eine merkliche Rückführung in Betracht kommt.

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Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

Ein Teil davon ist bereits im Haushaltsbegleitgesetz ent-halten. Ein nicht unbeträchtlicher Teil ist aber bishernicht entschlossen genug angegangen worden. DieseSpielräume für weitere Konsolidierungen gilt es, in denkommenden Jahren zu nutzen. So sollte im Bereich deraktiven Arbeitsmarktpolitik der begonnene Prozess derKürzung wenig erfolgversprechender Maßnahmen zügigfortgesetzt werden. Hierbei handelt es sich vor allem umdie „Beschäftigung schaffenden Maßnahmen“ sowieTeile des Weiterbildungsangebots. Von den gewichtigenFinanzhilfen sind abzuschaffen: die Zuschüsse für denAbsatz deutscher Steinkohle sowie die Förderung desWohnungsbaus (einschließlich der Eigenheimzulage).Im Rahmen der als Steuervergünstigung gewährten Sub-ventionen lässt sich keine Berechtigung der steuerfreienZuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit be-gründen. Gleiches gilt beispielsweise für den Sparerfrei-betrag, den Sonderausgabenabzug für Beiträge zu Le-bensversicherungen, die Steuerfreiheit für Erträge ausLebensversicherungen, die Übungsleiterpauschale undden Sonderausgabenabzug für Spenden an Kirchen, Par-teien und gemeinnützige Zwecke. Die heftig diskutierteEntfernungspauschale lässt sich demgegenüber nichtpauschal als Steuervergünstigung einordnen. Hier isteine Reduzierung vertretbar, eine komplette Streichungwäre aus Effizienzüberlegungen heraus nicht begründ-bar. Steuersystematisch korrekt, und damit nicht abzu-schaffen, ist auch das Ehegattensplitting. Nicht einge-schlossen in diese Berechnung ist der Abbau vonSteuervergünstigungen im Unternehmensbereich, dadies in eine Reform der Unternehmensbesteuerung inte-griert werden sollte.

In einer Analyse zur Verteilung des Markteinkommensund der Einkommensteuerschuld, die der Sachverständi-genrat in diesem Jahr erstmals durchgeführt hat, zeigtsich mit Blick auf Einkünfte aus Vermietung und Ver-pachtung, dass rund die Hälfte der Steuerpflichtigen mitpositiven Einkünften von über 250 000 Euro negativeEinkünfte aus Vermietung und Verpachtung zu verzeich-nen hatte. Bemerkenswert ist ferner, dass die negativenEinkünfte aus dieser Einkunftsart mit zunehmenden posi-tiven Einkünften stiegen und in den Einkommensklassenab einer Summe der positiven Einkünfte von mehr als500 000 Euro im Durchschnitt zwischen 130 000 Euround 510 000 Euro betrugen (Ziffern 822 ff.). Hier liegtdie Vermutung nahe, dass die Verluste über großzügigeAbschreibungsregelungen rein steuerlich bedingt wa-ren.

Reform des Föderalismus: Entscheidungsblockaden aufbrechen

48. Eine auf Dauer angelegte, ökonomisch begründeteKonsolidierungsstrategie wird sich in Deutschland nurdann umsetzen lassen, wenn es gelingt, politische Ent-scheidungsblockaden aufzubrechen. Derartige Blocka-den, das haben die zurückliegenden Monate erneut be-wiesen, liegen nur zum Teil darin begründet, dass es fürdie Politik schwierig ist, Mehrheiten in den eigenen Rei-hen für einen Kurs zu finden, der teilweise erheblicheEinschnitte mit sich bringt. Bedeutender für die quälendlangsamen Entscheidungsprozesse ist die föderale Struk-tur des politischen Systems. Die politischen Entschei-dungsprozesse in Deutschland sind seit geraumer Zeitlangsam, undurchsichtig und unberechenbar. Dies ver-unsichert die Bürger und erzeugt eine permanente Unge-wissheit über die Belastungen und Entlastungen selbst inder unmittelbaren Zukunft. So war bis Mitte Novembernoch immer nicht entschieden, ob die dritte Stufe derSteuerreform vorgezogen wird und welche Gegenfinan-zierungsmaßnahmen realisiert werden. Die praktischeAusgestaltung des Föderalismus in Deutschland bildetein hohes, vielleicht sogar das höchste Hindernis für dieUmsetzung grundlegender Reformen, unbeschadet, dassin einigen Fällen der Bundesrat ein sinnvolles Korrektiveinzelner Gesetzesvorhaben darstellen kann. Aber esgeht hier nicht um die Inhalte einzelner Entscheidungen,sondern um den Entscheidungsmechanismus. Eine Re-form des „kooperativen Föderalismus“ ist unumgäng-lich, soll die Wirtschafts- und Finanzpolitik mehr Ver-lässlichkeit gewinnen.

49. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Föderalis-musreform ist in der Politik vorhanden. Am 16. Oktober2003 hat der Deutsche Bundestag eine gemeinsameKommission von Bundestag und Bundesrat zur Moder-nisierung der bundesstaatlichen Ordnung eingesetzt.Grundsätzlich ist die Einsetzung dieser Kommission zubegrüßen. Zu hoffen ist, dass sie sich zu mutigen Refor-mempfehlungen durchringen kann, die dann auch vonder Politik zügig umgesetzt werden. Zu befürchten ist je-doch, dass diese Hoffnung enttäuscht wird. Zentrale Fra-gestellungen sind nicht in den Untersuchungsauftrag derneu gebildeten Kommission eingegangen. Dazu gehöreninsbesondere eine Überarbeitung der Finanzverfassungmit einer Steuerentflechtung zwischen Bund undLändern sowie eine damit verbundene (begrenzte)Steuerautonomie für die Bundesländer. Gegenwärtig ist

Föderalismusreform

– Die politischen Entscheidungsprozesse in Deutsch-land sind langsam, undurchsichtig und unberechen-bar. Wichtigste Ursache für dieses Politikversagensind die föderalen Entscheidungsstrukturen.

– Der kooperative Föderalismus muss durch einenwettbewerblichen Föderalismus ersetzt werden;Föderalismus ohne Wettbewerb ist eigentlich keinFöderalismus.

– Zu einem funktionierenden Föderalismus gehörteine begrenzte Steuerautonomie der Bundesländer.

– Die Mischfinanzierungen zwischen Bund und Län-dern sind zurückzuführen.

– Die Rahmengesetzgebung des Bundes und die kon-kurrierende Gesetzgebung sind einzuschränken.

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Eine kürzere Fassung

jegliche Modifikation von Steuersätzen und Bemes-sungsgrundlagen der Gemeinschaftssteuern – sie ma-chen rund zwei Drittel des gesamten Steueraufkommensin Deutschland aus – nur mittels Zustimmung des Deut-schen Bundestages und des Bundesrates erreichbar. Diedadurch möglichen Entscheidungsblockaden müssenaufgelöst werden, sonst bleibt jede Föderalismusreformunvollständig.

50. In Rede steht dabei nicht die Abschaffung der föde-ralen Struktur der Bundesrepublik. Gefordert ist abereine Lösung aus der „Politikverflechtungsfalle“, diedurch die Verschränkungen der Gebietskörperschaftenauf der Einnahmeseite und im Gesetzgebungsprozessüber den Bundesrat im Laufe der vergangenen Jahr-zehnte entstanden ist. Eine durchgreifende Neugestal-tung der bundesstaatlichen Ordnung muss auf mehrWettbewerb zwischen den einzelnen staatlichen Ebenensetzen. Dies lässt sich nur erreichen über eine höhereAutonomie bei der Erfüllung der Aufgaben und vorallem bei der Erzielung der Einnahmen. Hier bestehenderzeit gravierende Mängel: Die Bundesländer habenpraktisch keine Gestaltungsfreiheit bei den Steuerein-nahmen; durch Mischfinanzierungen und Gemein-schaftsaufgaben kommt es zu Fehlanreizen und einerVermengung von Verantwortlichkeiten; die eine Ebenekann über Aufgaben und Ausgaben entscheiden, die eineandere Ebene zu übernehmen hat. In all diesen Berei-chen besteht dringender Handlungsbedarf. Darauf hatder Sachverständigenrat wiederholt hingewiesen(JG 2000 Ziffern 169 ff.). Grundelemente eines refor-mierten föderalen Systems sollten sein: mehr Steuerau-tonomie der Länder, sei es über ein Trennsystem oder– die wohl realistischere Variante – über ein Zuschlag-system auf einen bundesweit einheitlichen abgesenktenTarif beziehungsweise auf das daraus resultierende Steu-eraufkommen sowie ein weitgehender Abbau der zahl-reichen Mischfinanzierungstatbestände, bis auf dieFälle, bei denen ausgeprägte länderübergreifende ex-terne Effekte zu vermuten sind, beispielsweise in derGrundlagenforschung.

2. Steuerpolitik: Vom Chaos zum System(Ziffern 518 ff.)

51. Neben dem Schuldenabbau war eine der von derBundesregierung im Jahr 2000 für die Finanzpolitik for-mulierten zwei „Finanzpolitischen Leitplanken“ die„Förderung von Wachstum und Beschäftigung durch eintragfähiges und gerechtes Steuer- und Abgabensystem“.Das Steuersystem des Jahres 2003 ist weit entfernt vondiesen Zielen. Eine entsprechende Untersuchung dersteuerlichen Attraktivität von Investitionsentscheidun-gen im Vergleich zu wichtigen europäischen Partnerlän-dern anhand der effektiven Grenz- und Durchschnitts-steuersätze zeigt, dass der Standort Deutschland in denvergangenen beiden Jahren an Boden verloren hat. FürUnternehmen ist Deutschland weiterhin ein Hochsteuer-land. Dies gilt für inländische und grenzüberschreitendeInvestitionen gleichermaßen.

Es ist aber nicht nur die Standortattraktivität, die gelittenhat. Vielmehr noch schwindet die Systematik des deut-schen Einkommensteuerrechts zusehends. Die Einkom-mensteuer entwickelt sich immer mehr zu einer unsyste-matischen Schedulensteuer, ohne dass ein neuessteuerliches Leitbild erkennbar wäre. Hinzu kommt,dass die deutsche Steuerpolitik aufgrund ihrer Sprung-haftigkeit auch an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. DieSteuerpolitik ist zum Spielball widerstreitender Interes-sen innerhalb der Bundesregierung, zwischen Bund,Ländern und Gemeinden sowie zwischen Regierung undOpposition geworden. Für die Planungssicherheit vonKonsumenten und Investoren und für den StandortDeutschland allgemein stellt dies eine fatale Entwick-lung dar.

Durchbrechung des Prinzips der synthetischen Einkommensteuer im geltenden Recht und Reformoptionen

52. Den Referenzpunkt des geltenden Einkommensteu-ersystems bildet die klassische synthetische Einkom-mensteuer. Im Idealfall werden hierbei sämtliche Ein-kommen, gleich aus welcher Einkunftsquelle und gleichwelcher Herkunft, im Wohnsitzland besteuert. Für dieunterschiedlichen Einkunftsarten wird dabei weder inder steuerlichen Bemessungsgrundlage noch im Steuer-

Steuerpolitik

– Deutschland ist − bezogen auf die effektiven Steu-erbelastungen von Unternehmen − immer noch einHochsteuerland.

– Die deutsche Steuerpolitik hat aufgrund ihrerSprunghaftigkeit erheblich an Glaubwürdigkeiteingebüßt; die Systematik des Steuerrechts hat wei-ter abgenommen.

– Zur Stärkung der Standortattraktivität und zum Ab-bau der Verzerrungen bei den Investitions- und Fi-nanzierungsentscheidungen sowie bei der Rechts-formwahl bieten sich entweder eine Integration derKörperschaftsteuer in die Einkommensteuer (Steu-erreformoption I) oder eine duale Einkommen-steuer (Steuerreformoption II) an.

– Die Gewerbesteuer/Gemeindewirtschaftssteuer istin ein kommunales Zuschlagsmodell zur Einkom-mensteuer und Körperschaftsteuer (Option I) oderzur Steuer auf Arbeitseinkommen und Kapitalein-kommen (Option II) zu überführen.

– Der Sachverständigenrat hält die duale Einkom-mensteuer für die vorteilhaftere Steuerreform-option; der proportionale Steuersatz auf Kapital-einkommen sollte bei etwa 30 vH liegen, derEingangssteuersatz der Besteuerung von Arbeits-einkommen bei 15 vH und der Spitzensteuersatzbei etwa 35 vH.

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Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

tarif differenziert. Das gegenwärtige Steuersystemdurchbricht dieses Prinzip in vielfältiger Weise. Von ei-ner einheitlichen Besteuerung der unterschiedlichen Ein-kunftsarten kann keine Rede sein.

– Dieses Prinzip wird systematisch durch die unter-schiedliche Art der Einkünfteermittlung – Gewinn-einkünfte auf der einen Seite und Überschussein-künfte auf der anderen Seite – verletzt. Dies führt zuUnterschieden in der Besteuerung von Veräußerungs-gewinnen: Grundsätzliche Steuerfreiheit bei Über-schusseinkünften, Steuerpflicht bei Gewinneinkünf-ten. Ebenfalls systematische Unterschiede zeigen sichin der Behandlung der Kapitaleinkünfte. Sie werdenüber den Sparerfreibetrag gegenüber anderen Ein-kunftsarten privilegiert. Weiterhin ergeben sich durchdie Einführung des Halbeinkünfteverfahrens Unter-schiede in der Besteuerung von ausgeschütteten Ge-winnen und Einkommen in gleicher Höhe aus ande-ren Einkunftsquellen. Einkünfte aus gewissenkapitalbildenden Lebensversicherungen sind steuer-frei.

– Durch das Nebeneinander von Einkommen- und Kör-perschaftsteuer entstehen Verzerrungseffekte bei denFinanzierungsentscheidungen und bei der Rechts-formwahl der Unternehmen.

– In einer synthetischen Einkommensteuer sind da-rüber hinaus Gewinne und Verluste steuerlich gleichzu behandeln. Das deutsche Steuerrecht enthält abereine Reihe von Beschränkungen des Verlustaus-gleichs innerhalb einer Einkunftsart und auch überunterschiedliche Einkunftsarten hinweg.

– Ein wesentliches Prinzip der Einkommensbesteue-rung ist das Nettoprinzip. Es gewährleistet insbeson-dere die Abzugsfähigkeit der betrieblich oder beruf-lich veranlassten Ausgaben, den so genanntenErwerbsausgaben. Verstöße gegen dieses Prinzip fin-den sich im geltenden Einkommensteuerrecht bei-spielsweise in der Behandlung des Aufwands für Be-teiligungen an Kapitalgesellschaften sowohl vonnatürlichen Personen als auch von Körperschaften.Insbesondere die Frage der Absetzbarkeit des Beteili-gungsaufwands bei grenzüberschreitenden Beteili-gungen führt zudem zu erheblichen Problemen der Si-cherung des nationalen Steueraufkommens.

53. Diese Beispiele, die durchweg nicht Randbereichedes deutschen Einkommensteuerrechts betreffen, ma-chen deutlich, dass sich die deutsche Einkommensteuerbeträchtlich von dem Idealtypus einer synthetischen Ein-kommensteuer entfernt hat. Der sich hieraus ergebendeBefund ist eindeutig: Deutschland bedarf einer grundle-genden Reform der Einkommens- und Unternehmensbe-steuerung. Der Sachverständigenrat stellt hierzu in sei-nem Jahresgutachten zwei Reformoptionen vor. In derSteuerreformoption I wird die Körperschaftsteuer in dieEinkommensteuer integriert. In der SteuerreformoptionII, einer dualen Einkommensteuer, werden Kapitalein-kommen und Arbeitseinkommen unterschiedlich besteu-ert. Bei Zugrundelegung eines expliziten Krite-rienkatalogs und unter Abwägung der jeweiligen

Vorteile und Nachteile beider Optionen spricht sich derSachverständigenrat für den Übergang zu einer dualenEinkommensteuer aus.

Die Steuerreformoption I bleibt dem Ideal einer synthe-tischen Einkommensteuer verhaftet. Mit der dualen Ein-kommensteuer wird hingegen eine Modifikation diesesPrinzips vollzogen. Hierbei ist aber zu beachten, dassauch mit der Steuerreformoption I nicht das Idealbild ei-ner synthetischen Einkommensteuer nach dem Wohn-sitzprinzip verwirklicht werden kann. Denn dann müsstekonsequenterweise zu einem Vollanrechnungsverfahrenvon im Ausland erzielten Einkommen übergegangenwerden, was angesichts der geltenden Doppelbesteue-rungsabkommen, die regelmäßig eine Freistellung dieserEinkünfte vorsehen, keine realistische Option darstellt.Im Bereich der Körperschaftsteuer müsste zudem auf-grund EG-rechtlicher Vorgaben die Belastung von Ge-winnen mit ausländischer Körperschaftsteuer voll ange-rechnet werden. Dies würde das Steueraufkommen imInland unter Umständen erheblich gefährden, denn in ei-nem Vollanrechnungsverfahren wäre auf die im Auslanderzielten Einkünfte die dort gezahlte Steuer vom deut-schen Fiskus anzurechnen. Angesichts dieser Problemeist ein Vollanrechnungsverfahren, obwohl von der Kon-zeption her überzeugend, keine realistische Option fürjedweden Reformvorschlag.

Steuerreformoption I: Integration der Körperschaftsteuer in die Einkommensteuer

54. In der Steuerreformoption I wird die Körperschaft-steuer in die Einkommensteuer in der Form integriert,dass der Spitzensatz der Einkommensteuer dem Körper-schaftsteuersatz entspricht. Damit die Belastung von Ka-pitalgesellschaften international attraktiv bleibt, mussein niedriger Spitzensatz der Einkommensteuer erreichtwerden. Ein Wert von 30 vH bis maximal 35 vH stellthier eine realistische Obergrenze dar. Konsequenter-weise verlangt eine Angleichung der Spitzensteuersätzevon Einkommen- und Körperschaftsteuer dann die Frei-stellung von im Inland erzielten Dividendeneinkommenund Gewinnen aus der Veräußerung von Anteilen an Ka-pitalgesellschaften. Andernfalls käme es auf der Anteils-eignerebene zu einer Höherbesteuerung von Dividenden.Mit der Angleichung wäre aber, solange an einem pro-gressiven Einkommensteuersystem festgehalten wird,keine Neutralität in der Wahl der Unternehmensrechts-form und der Finanzierung zu erreichen.

55. Während bei dieser Reformoption Veräußerungsge-winne von Anteilen an Kapitalgesellschaften steuerfreisein müssen, werden die Gewinne aus einer Veräußerungvon Anteilen an Personenunternehmen und die Gewinnevon im Privatvermögen gehaltenen Grundstücken in vol-ler Höhe der Einkommensbesteuerung unterworfen.Auch dies führt dazu, dass keine Rechtsformneutralitäthergestellt werden kann. Die Freistellung von im Inlanderzielten Dividendeneinkommen führt aufgrund EU-rechtlicher Diskriminierungsverbote dazu, dass auch dieins Ausland fließenden Dividenden nicht besteuert wer-den dürfen. Ebenso müssten auch die aus dem Ausland

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Eine kürzere Fassung

empfangenen Dividendeneinkommen und Veräuße-rungsgewinne im Inland steuerfrei gestellt werden. Da-mit würde das Quellenprinzip, also die Besteuerung vonEinkommen an dem Ort, an dem sie erwirtschaftet wur-den, sehr weitgehend verwirklicht. Von einer Einkom-mensbesteuerung nach dem Wohnsitzprinzip wäre mandemzufolge weit entfernt. Zudem birgt eine umfassendeQuellenbesteuerung die Gefahr eines internationalenSteuersenkungswettlaufs, was unter Umständen die Not-wendigkeit bedeutet, aus Wettbewerbsgründen den Spit-zensatz der Einkommensteuer weiter zu senken, mit al-len Folgen für das nationale Steueraufkommen.

56. Wenn auch mit der Steuerreformoption I keinevollständige Neutralität in der Wahl der Unternehmens-rechtsform erreicht werden kann und sich auch die Ver-zerrungen in den Finanzierungsentscheidungen nichtgänzlich beheben lassen, so werden beide Probleme ge-genüber dem Status quo doch erheblich reduziert. DieKoppelung des Körperschaftsteuersatzes an den Spitzen-satz der Einkommensteuer hat jedoch die Konsequenz,dass – will man ein wettbewerbsfreundliches Niveau derTarifbelastung erreichen – der Einkommensteuertarif inder Spitze merklich abgesenkt werden muss. Dies wirdbei Sicherung des Steueraufkommens nur gelingen,wenn zugleich die steuerliche Bemessungsgrundlagedrastisch verbreitert wird. Die Attraktivität und die Er-folgschance dieser Reformoption hängt damit entschei-dend davon ab, ob ein konsequenter Abbau von Steuer-vergünstigungen gelingt.

Steuerreformoption II: Duale Einkommensteuer

57. Die Steuerreformoption II modifiziert das Leitbildeiner synthetischen Einkommensteuer. An ihre Stelle trittmit der „dualen Einkommensteuer“ eine systematischausgestaltete Steuer, die zwischen zwei Einkunftsartenunterscheidet − umfassend definierten Kapitaleinkom-men und Arbeitseinkommen – und diese unterschiedlichbesteuert. Kapitaleinkommen, bestehend aus den Gewin-nen von Einzelunternehmern und Personenunternehmen,Dividenden, Zinsen, Einkünften aus Vermietung undVerpachtung sowie privaten Veräußerungsgewinnen,werden mit einem niedrigen proportionalen Satz besteu-ert. Wie bei der ersten Steuerreformoption sollte eineGesamtbelastung von 30 vH nicht überschritten werden.Arbeitseinkommen werden demgegenüber progressivbesteuert und umfassen vor allem Löhne, einschließlichkalkulatorischer Unternehmerlöhne, Pensionen, gesetzli-che Altersrenten und staatliche Transferleistungen. ZurBegrenzung von Steuerarbitrage sollte der Spitzensteu-ersatz allerdings nicht wesentlich über dem Kapitalein-kommensteuersatz liegen, gleichwohl besteht hier mehrGestaltungsfreiheit für die Steuerpolitik als in derReformoption I. Die separate Besteuerung von Kapital-gesellschaften mit Körperschaftsteuer wird beibehalten.Allerdings sind Körperschaftsteuer und Kapitaleinkom-mensteuer vollständig aufeinander abgestimmt. Dieswird über zweierlei Maßnahmen sichergestellt: Zum ei-nen stimmt der Körperschaftsteuersatz mit dem proporti-onalen Satz der Kapitaleinkommensteuer überein. Zumanderen werden die Doppelbesteuerung von Ausschüt-tungen sowie von Gewinnen aus der Veräußerung von

Anteilen an Kapitalgesellschaften vollständig vermie-den. Somit kann in der Tat von einer dualen Einkom-mensteuer gesprochen werden: Der Besteuerung vonArbeitseinkommen steht die Besteuerung von Kapi-taleinkommen gegenüber, mit vollständig integrierterKörperschaftsteuer.

58. Für den Übergang zu einer dualen Einkommen-steuer sprechen vor allem Effizienzüberlegungen. Eineduale Einkommensbesteuerung stärkt die Neutralität derBesteuerung im Hinblick auf Investitions-, Finanzie-rungs- und Rechtsformentscheidungen, und sie erhöhtdie Standortattraktivität vor dem Hintergrund der zuneh-menden internationalen Kapitalmobilität. Dies führt zueiner Verbesserung der Wachstumsbedingungen und derChancen der Arbeitnehmer auf höhere Einkommen.Gegenüber den geltenden Regelungen wird zudem dieSystematik des Steuerrechts durch eine konsistente undeinheitliche Besteuerung von Kapitaleinkommen verbes-sert. Im Einzelnen bietet eine duale Einkommensteuergegenüber dem geltenden System die folgenden Vor-teile:

– Neutralität der Unternehmensbesteuerung: Die An-gleichung der Steuersätze für Unternehmensgewinnebeziehungsweise private Kapitaleinkommen an denKörperschaftsteuersatz, die vollständige Integrationder Körperschaftsteuer in die Kapitaleinkommen-steuer sowie durchgängig proportionale Steuersätzefür sämtliche Kapitaleinkommen stellen grundsätz-lich die Finanzierungsneutralität der Besteuerungsicher. Sämtliche Finanzierungswege werden unab-hängig von den persönlichen Verhältnissen der Kapi-talgeber in gleicher Höhe belastet. Damit differen-ziert die Besteuerung auch nicht im Hinblick auf dieUnternehmensrechtsform.

– Standortattraktivität: Für eine Tarifdifferenzierungzwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen lassen sichvor allem Effizienzgesichtspunkte anführen. Kapi-taleinkommen sind international wesentlich mobilerals Arbeitseinkommen. Mit der Abkoppelung desSteuersatzes für Kapitaleinkommen von der Besteue-rung der Arbeitseinkommen wird somit ein flexiblesInstrument geschaffen, um im internationalen Steuer-wettbewerb bestehen zu können, ohne dass unmittel-bar das gesamte Steueraufkommen in Mitleidenschaftgezogen wird.

– Verbesserte Systematik: Eine umfassende Besteue-rung der Kapitaleinkommen mit einem proportiona-len Satz begrenzt Möglichkeiten zur Steuerarbitragezwischen den betroffenen Einkünften und vermindertin erheblichem Maße Abgrenzungsprobleme bei derZuordnung von Einnahmen und Ausgaben.

59. Ebenso wie bei der Steuerreformoption I werdenauch bei einer dualen Einkommensteuer die im Inlanderzielten Dividenden freigestellt. Zwar existiert auch dieMöglichkeit eines Vollanrechnungsverfahrens, aber die-ses ist angesichts der potentiellen Aufkommenswirkun-gen nicht zu empfehlen. Ebenfalls sind aus Praktikabili-tätsgründen Gewinne aus der Veräußerung von Anteilenan Kapitalgesellschaften von der Steuer zu befreien.

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Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

Gleiches gilt für Auslandsdividenden und entsprechendeVeräußerungsgewinne. Damit wird auch bei einer dualenEinkommensteuer die Besteuerung grenzüberschreiten-der Einkommen dem Quellenprinzip folgen. Im Gegen-satz zur Steuerreformoption I ist es bei einer dualen Ein-kommensteuer aufgrund der gespaltenen Steuersätzeaber möglich, aus Gründen der Standortattraktivität denSteuersatz auf Kapitaleinkommen zu senken, ohne dass– zumindest in Grenzen – dies eine parallele Senkungder Sätze in der Einkommensteuer erforderte.

60. Eines der wesentlichen Probleme einer dualen Ein-kommensteuer ist die Abgrenzung von unternehmeri-schen Gewinneinkünften und Arbeitseinkommen inForm von Unternehmerlöhnen. Die Tatsache, dass Kapi-taleinkommen im Regelfall niedriger besteuert werdenals Arbeitseinkommen, erzeugt bei Personenunterneh-men Anreize, Arbeitseinkommen in Gewinneinkommenumzudeklarieren, um so die steuerliche Gesamtbelastungzu senken. Eine perfekte Lösung wird hier nicht möglichsein. Zur Lösung der damit verbundenen Abgrenzungs-probleme lässt sich allerdings auf die Erfahrungen derskandinavischen Staaten zurückgreifen, die in der erstenHälfte der neunziger Jahre zu einer dualen Einkommen-steuer übergegangen sind. Dort wird in der Regel dasGewinneinkommen über eine unterstellte Verzinsung deseingesetzten Eigenkapitals errechnet; das dem progressi-ven Einkommensteuersystem unterworfene Arbeitsein-kommen ergibt sich dann als Restgröße zwischen demausgewiesenen bilanziellen Gewinn und dem errechne-ten Gewinneinkommen. Die Anreize zur Arbitragezwischen den beiden Einkunftskategorien sind umso ge-ringer, je weniger sich der Spitzensatz der Einkommen-steuer von dem auf Kapitaleinkommen unterscheidet.Dies spricht dafür, die Sätze relativ nahe beieinander zulassen. Dann allerdings verringert sich auch der mit einerdualen Einkommensteuer mögliche Umverteilungsspiel-raum.

Zur Reform der Gewerbesteuer: Ein Trauerspiel

61. Zur Stärkung der Rechtsform- und Finanzierungs-neutralität der Besteuerung ist die Gewerbesteuer inihrer jetzigen Ausgestaltung abzuschaffen. Ein kommu-nales Zuschlagsrecht zur Einkommen- und Körper-schaftsteuer, für das der Sachverständigenrat plädiert,lässt sich demgegenüber problemlos in eine reformierteEinkommen- und Körperschaftsteuer integrieren. DasHin und Her um die Reform der Gewerbesteuer und ihreUmbenennung in „Gemeindewirtschaftssteuer“ zeigtnicht nur, wie quälend eine Steuerreformdiskussion seinkann; es verdeutlicht auch, wie durch massive Interven-tionen von Verbänden oder Interessenvertretern ein ur-sprünglich noch akzeptables Reformmodell zu einerselbst gegenüber dem Status quo schlechteren Lösungmutieren kann.

Das vom Deutschen Bundestag am 17. Oktober diesesJahres verabschiedete Gesetz sieht neben einer Anhe-bung der Steuermesszahl von ursprünglich vorgesehenen3 vH auf 3,2 vH auch unverändert die hälftigeZurechnung von Schuldzinsen und von anderen ertrags-unabhängigen Elementen vor. Der ursprüngliche Geset-

zesentwurf der Bundesregierung vom 8. September be-inhaltete demgegenüber noch die nahezu vollständigeStreichung gewinnunabhängiger Bestandteile.

Im Vergleich zum Status quo bewirken die bislang vomDeutschen Bundestag beschlossenen Regelungen zurGemeindewirtschaftssteuer (Ziffer 531) eine weitereVerschlechterung der steuerlichen Rahmenbedingun-gen. Bei nationaler Geschäftstätigkeit erhöhen sich beiKapitalgesellschaften die effektiven Grenzsteuerbelas-tungen und Durchschnittssteuerbelastungen um bis zueinen Prozentpunkt. Richtiger wäre es gewesen, wie imursprünglichen Regierungsentwurf vorgesehen, auf diehälftige Hinzurechnung der Dauerschuldzinsen ganz zuverzichten, weil dadurch der Standort Deutschland insteuerlicher Hinsicht an Attraktivität gewonnen hätte.Bei Kapitalgesellschaften wären die effektiven Grenzbe-lastungen bei Einbeziehung der Kapitalgeberseite unddurchschnittlichen Finanzierungswegen um rund 2 Pro-zentpunkte geringer ausgefallen als bei den jetzt be-schlossenen Regelungen.

Lohnpolitik und Arbeitsmarkt

– Die Tarifvertragsparteien sollten auf einen beschäf-tigungsfreundlichen Kurs einschwenken und beider Tariflohnentwicklung den Verteilungsspiel-raum nicht voll ausschöpfen.

– Die qualifikatorische Lohnstruktur sollte insbeson-dere im Bereich gering qualifizierter Arbeit weitergespreizt werden.

– Das Tarifvertragsrecht ist zu flexibilisieren.

– Das Kündigungsschutzrecht sollte modifiziert underweitert werden. Dazu gehören die Einschränkun-gen der Beweistatbestände bei arbeitgeberseitigenKündigungen und eine weitere Flexibilisierungdurch Optionen bei Abdingung des gesetzlichenKündigungsschutzes.

– Beim Arbeitslosengeld I sollten die Anreize zu ei-ner zügigeren Arbeitsaufnahme verstärkt werden,indem diese Leistung zwar für die erste Phase derArbeitslosigkeit angehoben wird, dann aber mit zu-nehmender Dauer der Arbeitslosigkeit sinkt.

– Die Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversiche-rung sollten teilweise unternehmensspezifisch aus-gestaltet werden und zwar in Anlehnung an dieNettokosten, die betriebsbedingt entlassene Arbeit-nehmer des betreffenden Unternehmens bei der Ar-beitslosenversicherung verursachen.

– Der Sachverständigenrat erneuert seinen Vor-schlag einer grundlegenden Reform der Sozial-hilfe/Arbeitslosengeld II, damit mehr Beschäfti-gung im Niedriglohnbereich geschaffen wird. Vonder Einführung einer staatlich festgelegten Lohn-untergrenze im Rahmen der Zumutbarkeitsrege-lung sollte abgesehen werden.

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Eine kürzere Fassung

3. Lohnpolitik und Arbeitsmarkt: Chancen für mehr Beschäftigung verantwortungsvoll wahrnehmen

(Ziffern 633 ff.)

62. Die ohnehin bedrückende Lage auf dem Arbeits-markt hat sich in diesem Jahr noch weiter verschlechtert.Die Bundesregierung hat allerdings mit einer Reihe mu-tiger Reformschritte auf die andauernde Misere reagiert.Wichtige Gesetzentwürfe sind auf den Weg gebrachtworden, einige bereits verabschiedet, während anderenoch der parlamentarischen Umsetzung harren. Letzterebetreffen vor allem die Zusammenlegung von Arbeitslo-senhilfe und Sozialhilfe. Hier will die Opposition überihre Bundesratsmehrheit bei der Frage der Anreize zurAufnahme einer regulären Beschäftigung für die er-werbsfähigen Empfänger von Arbeitslosengeld II nochüber die Vorhaben der Bundesregierung hinausgehen.Diese Überlegungen gehen aus Sicht des Sachverständi-genrates im Grundsatz in die richtige Richtung, weisengleichwohl Probleme eigener Art auf. Die schlechtesteLösung für die Beschäftigungschancen der Betroffenenwäre es aber, wenn im Gesetzgebungsverfahren übereine gegenseitige Blockade kein Kompromiss zustandekäme. Alles in allem ist aber auf dem Arbeitsmarkt eini-ges in Bewegung geraten. Diese Chancen für mehr Be-schäftigung gilt es in den kommenden Jahren zu nutzen.Hier stehen die Tarifvertragsparteien in einer besonderenVerantwortung.

Die Verantwortung der Tarifvertragsparteien und des Gesetzgebers

63. Gefordert ist eine verstetigte maßvolle Lohnpolitik.Diese sollte auf betriebsspezifische und qualifikatori-sche Belange Rücksicht nehmen und, solange eineUnterbeschäftigungssituation vorliegt, den Verteilungs-spielraum nicht ausschöpfen. Kollektive Lohnvereinba-rungen legitimieren sich nicht zuletzt dadurch, dass siesolche gesamtwirtschaftlichen Belange beachten. DerSachverständigenrat erläutert in seinem diesjährigenGutachten ausführlich diese lohnpolitische Konzeptionund setzt sich mit einer Reihe von Einwänden auseinan-der. Diese betreffen insbesondere die Frage der gesamt-wirtschaftlichen Auswirkungen einer Strategie derLohnzurückhaltung sowie die Frage der korrekten Be-messung des zur Verfügung stehenden Verteilungsspiel-raums. In der Öffentlichkeit weithin beachtete Größenfür die Ausrichtung der Lohnpolitik, insbesondere dieLohnstückkosten, weisen eine Reihe konzeptionellerSchwächen auf und sind als Indikatoren einer zurückhal-tenden Lohnpolitik nur sehr bedingt geeignet. Worauf esankommt, das ist die Arbeitsproduktivität, und zwar dieum Beschäftigungsänderungen bereinigte Grenzproduk-tivität. Wird der hierdurch definierte Verteilungsspiel-raum überschritten, dann kommt es zu Arbeitsplatz-abbau. Wird der Verteilungsspielraum vollständigausgeschöpft, dann wird lediglich Arbeitsplatzabbauverhindert. Erst wenn ein gewisser Abschlag von der be-reinigten Produktivitätsentwicklung vorgenommen wird,entstehen per saldo Arbeitsplätze. Eine dieser Maxime

verpflichtete Lohnpolitik sollte, um den UnternehmenPlanungssicherheit zu gewährleisten, längerfristig ange-legt sein und sich an branchen- oder betriebsspezifischenKennziffern ausrichten. Eine nachträgliche Beurteilungder Tariflohnpolitik ist allerdings angesichts erheblicherDatenprobleme auf eine Beurteilung der entsprechendengesamtwirtschaftlichen Kennziffern angewiesen. Hierzeigt sich, dass die Tariflohnpolitik ihrer Verantwortungfür mehr Beschäftigung auch im Jahr 2003 nicht nachge-kommen ist: Die Tarifvertragsparteien nahmen keinenAbschlag vom erwarteten Verteilungsspielraum vor; le-diglich durch Kürzungen der übertariflichen Leistungen,also durch eine negative Lohndrift, war es den Unterneh-men möglich, eine vollständige Ausschöpfung des tat-sächlich realisierten Verteilungsspielraums zu verhin-dern.

Die vielfach geäußerte Befürchtung einer geringerenNachfrage aufgrund einer solchen tarifpolitischen Stra-tegie, gerade wenn sie verlässlich und glaubwürdig übereinen längeren Zeitraum angelegt ist, erweist sich nachAnsicht des Sachverständigenrates als nicht stichhaltig.Denn beschäftigungsfreundliche Anhebungen der Tarif-verdienste stellen eine Verbesserung der Angebotsbedin-gungen dar – eine Verbilligung des Faktors Arbeit, hö-here internationale Wettbewerbsfähigkeit und aufgrundhöherer Gewinne potentiell auch eine Ausweitung derInvestitionstätigkeit –, über die sich dann auch ein Be-schäftigungsaufbau einstellt. Dies bedeutet demnachnicht, dass die Nachfrageseite der Volkswirtschaft un-wichtig sei – oder gar irrelevant. Es bedeutet vielmehr,dass die gesamtwirtschaftliche Kausalitätskette, die vonLohnmoderation zu mehr Beschäftigung führt, sich nichthinreichend über eine rein verwendungsseitig orientierteAnalyse ermitteln lässt. Kurz gesagt: Beschäftigung ent-steht primär durch die Bedingungen auf dem Arbeits-markt.

64. Die Auswirkungen der Tarifpolitik sind nicht alleinden Tarifvertragsparteien zuzuschreiben. Vielmehr müs-sen auch im Tarifvertragsrecht selbst die Voraussetzun-gen für eine beschäftigungsfreundliche Lohnpolitik ge-setzt werden. Hierauf weist der Sachverständigenrat seitmehreren Jahren beständig hin, ohne dass bis jetzt we-sentliche Flexibilisierungen vorgenommen worden wä-ren. Zu den Forderungen in diesem Bereich gehören bei-spielsweise eine Neuregelung des Günstigkeitsprinzips,eine Aufhebung der Sperrwirkung des § 77 Absatz 3 Be-triebsverfassungsgesetz für tarifungebundene Arbeitneh-mer, die Verkürzung der Tarifbindung bei Austritt einesUnternehmens aus dem Arbeitgeberverband oder dieAbschaffung von Allgemeinverbindlicherklärungen.Schließlich ist zu prüfen, inwieweit im Tarifvertragsge-setz eine wirksame Öffnungsklausel vorgeschriebenwerden kann, um tarifgebundenen Unternehmen auf be-trieblicher Ebene Abmachungen zu ermöglichen.

Zu den in den letzten beiden Ziffern formulierten Posi-tionen gibt es abweichende Meinungen, die in den Text-ziffern (659 ff. und 675 ff.) begründet sind.

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Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

Kündigungsschutz: Mehr Rechtssicherheit und Chancengleichheit

65. Zu begrüßen ist der von der Bundesregierung mitdem Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt modifizierteKündigungsschutz insoweit, als er nun eine Eingrenzungder Kriterien der Sozialauswahl sowie eine einge-schränkte gerichtliche Überprüfbarkeit im Rahmen einesInteressenausgleichs zwischen Arbeitgeber und Betriebs-rat vorsieht. Damit sind wichtige Voraussetzungen ge-schaffen worden, die die Probleme des bislang geltendenKündigungsschutzes in einem gewissen Ausmaß zu redu-zieren vermögen. Allerdings sollten darüber hinaus auchdie Beweistatbestände bei arbeitgeberseitigen Kündigun-gen eingeschränkt werden, um die hier weiterhin beste-hende Rechtsunsicherheit im Kündigungsprozess, diestarke Inanspruchnahme von Arbeitsgerichten und die da-mit einhergehenden hohen Kosten für die Unternehmenweiter zu verringern. Über die mit der Gesetzesänderungvorgesehene Möglichkeit hinaus, zum Zeitpunkt der Ent-lassung eine Abfindung im Rahmen eines Auflösungsver-trags zu vereinbaren, sollten auch Ex-ante-Regelungennach Beendigung der Probezeit in Erwägung gezogenwerden. Hierbei sind zwei Optionen möglich. Einerseitskann für den Fall einer späteren betriebsbedingten Kündi-gung freiwillig auf den Kündigungsschutz verzichtet wer-den, wenn gleichzeitig eine in diesem Fall zu zahlendeAbfindung vereinbart wird. Andererseits könnte dem Ar-beitnehmer die Möglichkeit eingeräumt werden, im Ein-vernehmen mit dem Arbeitgeber vollständig auf den Kün-digungsschutz zu verzichten und im Gegenzug dafür einhöheres Gehalt auszuhandeln. Die Höhe der Abfindungenbeziehungsweise des Lohnzuschlags sollte individuellzwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber geregelt wer-den, um unternehmensspezifischen Gegebenheiten ange-messen Rechnung zu tragen. Mit der Realisierung dieserOptionen würde Arbeitnehmern und Arbeitgebern einegroße Flexibilität eingeräumt, so dass die Präferenzenbeider Seiten berücksichtigt würden.

Reformvorschläge für die Arbeitslosenversicherung und die Mindestsicherung

66. Die Bundesregierung hat in diesem Jahr bei denLohnersatzleistungen und im Bereich der Mindestsiche-rung Reformen angestoßen, bei denen teilweise aber dasGesetzgebungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist.Zu nennen sind insbesondere die Verkürzung der maxi-malen Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld, das zukünf-tig als Arbeitslosengeld I bezeichnet wird, auf12 Monate und auf 18 Monate für über 55-jährigeArbeitnehmer sowie die Zusammenlegung von Arbeits-losenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II.Obwohl einige der Regelungen dem Ziel, die Arbeits-anreize für erwerbsfähige Arbeitslose zu stärken, zuwi-derlaufen – zu nennen sind hier insbesondere der zwei-jährige Zuschlag zum Arbeitslosengeld II für vormaligeBezieher von Arbeitslosengeld I und die Einführungeines Mindestlohns im Rahmen der Zumutbarkeits-regeln –, handelt es sich gleichwohl um mutige und ziel-führende Reformen. Damit wurden auch einige wichtigeVorschläge aufgegriffen, die der Sachverständigenrat inseinem letzten Jahresgutachten unterbreitet hat.

67. Um für Bezieher von Arbeitslosengeld I die An-reize zu einer zügigen Arbeitssuche über die Verkürzungder Bezugsdauer hinaus zu stärken, entwickelt der Sach-verständigenrat seine Vorschläge fort und stellt eine wei-terführende Reform zur Diskussion: Das Arbeitslosen-geld I sollte zwar für die erste Phase der Arbeitslosigkeitüber das bisherige Niveau angehoben werden, dann abermit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit sinken. Dergenaue zeitliche Verlauf der Lohnersatzquote ist dabeiso auszugestalten, dass die Reform für die Arbeitslosen-versicherung kostenneutral ist. Der erhöhte Satz für Ar-beitslose mit unterhaltspflichtigen Kindern ist in der Ar-beitslosenversicherung systemfremd und im Hinblickauf das Ziel der Förderung von Familien mit Kindernoder Alleinerziehenden nicht sachgerecht, da die Höheder Förderung nicht mit der Zahl der Kinder, sondernmit dem früheren Arbeitseinkommen steigt: Der erhöhteSatz sollte daher abgeschafft und – wenn der Gesetzge-ber das für notwendig erachtet – durch einen steuerfi-nanzierten Zuschlag zum Kindergeld ersetzt werden.

68. Fehlanreize erzeugt das gegenwärtige System derArbeitslosenversicherung jedoch auch bei den Unterneh-men, und zwar infolge einer unzureichenden Internali-sierung der durch eine Entlassung verursachten Kosten;neben dem Verlust des betriebsspezifischen Humankapi-tals und des sozialen Umfelds sind dies insbesondere dieAusgaben der Arbeitslosenversicherung. Der einheitli-che Beitragssatz der Arbeitgeber führt zu einer Quersub-ventionierung zwischen Unternehmen mit unterschiedli-chem Entlassungsverhalten und zu gesamtwirtschaftlichineffizienten Entlassungsentscheidungen. Anstatt zu ver-suchen, diese über einen rigiden, uniformen Kündi-gungsschutz zu kompensieren, sollte der Gesetzgebersich auch auf dem Arbeitsmarkt die Lenkungswirkungvon am Verursacherprinzip orientierten Abgaben zu-nutze machen. Der Sachverständigenrat wirbt daher fürdie Einführung teilweise unternehmensspezifisch diffe-renzierter Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversiche-rung, wobei die Arbeitgeberbeiträge sich an den tatsäch-lich bei der Arbeitslosenversicherung verursachtenNettokosten von betriebsbedingten Entlassungen orien-tieren sollten. Ein solches, in anderen Ländern auch un-ter dem Begriff „Experience Rating“ bekanntes Systemwürde zudem durch die gezielte Verteuerung vongesamtwirtschaftlich kostenträchtigen Entlassungen teil-weise die Aufgabe des Kündigungsschutzes überneh-men. Dieser ließe sich im Gegenzug bei betriebsbeding-ten Kündigungen lockern und könnte auf den Schutz vorDiskriminierung und den Ausgleich von unmittelbar miteiner Entlassung verbundenen Nachteilen zurückgeführtwerden.

Geldpolitik

– Die Geldpolitik hat ein hohes Maß an Preisniveau-stabilität gesichert und die Inflationserwartungenauf einem niedrigen Niveau verankert. Die Euro-päische Zentralbank sollte diese zielgerichtete Poli-tik fortsetzen. Die reichlich vorhandene Liquiditätund die historisch niedrigen Zinssätze sind gute Vo-raussetzungen für eine Wirtschaftsbelebung.

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Eine kürzere Fassung

4. Geldpolitik: Revision der geldpolitischen Strategie

(Ziffern 719 ff.)

69. Nach mehr als vier Jahren Erfahrungen mit der ein-heitlichen Geldpolitik überprüfte die Europäische Zen-tralbank zum Beginn dieses Jahres ihre geldpolitischeStrategie und nahm eine Reihe sinnvoller Anpassungenvor. Ein Resultat der Strategieüberprüfung ist die Kon-kretisierung der Definition von Preisniveaustabilität.Hierunter versteht die Europäische Zentralbank nunmehreinen Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisin-dex in der mittleren Frist von „unter, aber nahe 2 vH“gegenüber dem Vorjahr. Die neue Festlegung soll stärkerals früher neben den Inflationsgefahren auch vor Defla-tionsrisiken schützen, mögliche statistische Messfehlerbei der Verbraucherpreisentwicklung berücksichtigenund die Heterogenität der Inflationsraten im Euro-Raum

angemessen reflektieren. Dies ist positiv zu werten, je-doch hätte eine genauere numerische Festlegung des In-flationsziels und des geldpolitischen Entscheidungshori-zonts zu mehr Transparenz beigetragen. Ein zweitesErgebnis der Strategieprüfung ist die Umstrukturierungund Neugewichtung der beiden Säulen der Strategie. Diekonzeptionell richtige Klärung der Rolle breiter Geld-mengenaggregate ist zu begrüßen, ebenso wie die weni-ger prominente Rolle der Geldmenge. Konsequenterwäre es jedoch gewesen, die beiden Säulen der geldpoli-tischen Strategie zu verschmelzen. Auch sollte die Euro-päische Zentralbank klarer herausarbeiten, welche Infor-mationen sie aus den verschiedenen Indikatoren derwirtschaftlichen und monetären Analyse zieht, wie siediese Informationen kombiniert und wechselseitig über-prüft und wie daraus ein entscheidungsrelevantes undwiderspruchsfreies Bild über die Wirtschaftslage imEuro-Raum entsteht. Der Sachverständigenrat ist derAuffassung, dass dies am leichtesten durch die stärkereEinbindung von quantitativen Inflationsprognosen in diegeldpolitische Strategie zu erreichen wäre. Dies solltenicht als Forderung nach einer rein modellbasierten me-chanistischen Form der Geldpolitik interpretiert werden,die sich ausschließlich an formalen Modellen zu orien-tieren hätte. In die Prognosen können auch modellexo-gene Informationen einfließen, die sich in der aktuellenEntscheidungssituation als relevant für die Beurteilungder Inflationsrisiken erweisen. Eine stärkere Fokussie-rung auf Prognosen würde jedoch die Transparenz derEntscheidungsfindung erhöhen. Ihr höherer Stellenwertauch in der Kommunikation würde es der EuropäischenZentralbank zudem erleichtern, die Markterwartungenim Vorfeld zinsentscheidender Sitzungen des EZB-Rateszu steuern, ohne deutlich einen anstehenden Zinsschrittsignalisieren zu müssen.

– Im Zuge der Strategierevision wurde das Preis-niveaustabilitätsziel konkretisiert und die konzep-tionelle Rolle breiter Geldmengenaggregate an-gemessen geklärt. Die zunehmend integrierteGesamtsicht aller Risiken für die Preisniveaustabi-lität ist sinnvoll, eine vollständige Integration bei-der Strategiesäulen wäre konsequenter gewesen.

– Die Verfahren zur Bündelung der entscheidungsre-levanten Informationen könnten transparenter undnachvollziehbarer gestaltet werden. Die Europäi-sche Zentralbank sollte die Rolle ihrer Inflations-und Konjunkturprognosen in der Entscheidungsfin-dung und Kommunikation weiter stärken.

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