(mit/with/con schultz, rainer) kubanische revolution [revolución cubana/ cuban revolution]

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HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS

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HISTORISCH-KRITISCHESWÖRTERBUCH

DES MARXISMUS

EINE VERÖFFENTLICHUNGDES BERLINER INSTITUTS FÜR KRITISCHE THEORIE (INKRIT)

IN KOOPERATION MIT DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN

GEFÖRDERT VONROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG (BERLIN)

CENTRUM FÖR MARXISTISKA SAMHÄLLSSTUDIER (STOCKHOLM)MARXILAISEN YHTEISKUNTATIETEEN SEURA (TAMPERE)ISTITUTO ITALIANO PER GLI STUDI FILOSOFICI (NEAPEL)

KARL MARX-SÄLLSKAPET I FINLAND (HELSINKI)NICOS-POULANTZAS-STIFTUNG (ATHEN)

ESPACES MARX (PARIS)TRANSFORM! EUROPE

INKRIT / ARBEITSSTELLE AN DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLINHKWM-REDAKTION

MALTESERSTRASSE 74 –100 / L 511 / 12249 [email protected] · WWW.INKRIT.DE

KONTO NR 7412309 · KREISSPARKASSE ESSLINGEN-NÜRTINGEN · BLZ 611 500 20IBAN DE53 6115 0020 0007 4123 09 · BIC ESSLDE66XXX

DAS INKRIT IST ALS GEMEINNÜTZIGE EINRICHTUNG ANERKANNT

HISTORISCH-KRITISCHES

WÖRTERBUCHDES MARXISMUS

BAND 8 / I

KRISENTHEORIENBIS

LINIE LUXEMBURG-GRAMSCI

ARGUMENT

HERAUSGEGEBENVON

WOLFGANG FRITZ HAUGFRIGGA HAUG, PETER JEHLE UND WOLFGANG KÜTTLER

UNTER MITWIRKUNG VONMEHR ALS 800 WISSENSCHAFTLERINNEN UND WISSENSCHAFTLERN

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-88619-440-7 (Band 8 / I)ISBN 978-3-88619-441-4 (Band 8 / II)

Alle Rechte vorbehalten © I!"#$T 2012; für diese Ausgabe Argument-VerlagGlashüttenstraße 28, 20357 Hamburg, www.argument.de

Satz: Martin Grundmann, Hamburg. Druck: freiburger graphische betriebeAbbildung auf dem Schutzumschlag: Pablo Picasso, Foulard für 3. Weltjugendfestival

© Succession Picasso/VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Wissenschaftlicher BeiratSamir Amin (Dakar), Étienne Balibar (Paris), Narihiko Ito (Tokio), Fredric Jameson (Durham)

Bob Jessop (Lancaster), Domenico Losurdo (Urbino), Isabel Monal (Havanna), Pedro Ribas (Madrid) Gabriel Vargas Lozano (Mexico City), Victor Wallis (Somerville), Bastiaan Wielenga (Madurai/Indien)

Yin Xuyi (Peking), Moshe Zuckermann (Tel Aviv)

RedaktionWolfram Adolphi, Frigga Haug, Wolfgang Fritz Haug, Peter Jehle, Wolfgang Küttler

Ingo Lauggas, Jan Loheit, Christof Ohm, Thomas Pappritz, Jan Rehmann, Bernd RöttgerOliver Walkenhorst, Thomas Weber, Christian Wille

In der Wörterbuch-Werkstatt wirkten ferner mitMatthias Bösinger, Elenio Cicchini, Rolf Czeskleba-Dupont, Nicoletta Di Vita, Mehmet Dincer Joseph Fracchia, Richard Gebhardt, Peter Herrmann, Juha Koivisto, Jan Köstner, Sissy MüllerVesa Oittinen, Rainer Schultz, Thomas Sablowski, Jürgen Stahl, Kamil Uludag, Alban Werner

EditionsassistenzOliver Walkenhorst, Christian Wille

GesamtleitungThomas Weber

Fremdsprachige ÄquivalenzenHuda Zein (Arabisch), Joseph Fracchia und Jan Rehmann (Englisch), Étienne Balibar (Französisch) Lutz-Dieter Behrendt (Russisch), Jesús de la Hera Martínez (Spanisch), Zhou Sicheng (Chinesisch)

ÜbersetzungenAna-Marija Grebenar, Wolfgang Fritz Haug, Peter Jehle, Max Köhler, Else Laudan, Jan Loheit

Victor Rego Diaz, Rainer Schultz, Andreas Umgelter, Linus Westheuser, Christian Wille

KorrekturenMatthias Bösinger, Aaron Bruckmiller, Johannes Funke, Eva Gerber, Ruedi Graf, Michael Hauke

Franz Heilgendorff, Peter Jehle, Max Köhler, Hans-Jürgen Krug, Ingo Lauggas, Jan Loheit, Sissy Müller Thomas Pappritz, Mark Schmitz, Kolja Swingle, Bernd Szczepanski, Oliver Walkenhorst

Markus Weidmann, Linus Westheuser, Christian Wille, Mathias Wittchen

InternetpräsenzMarc Hanisch, Wolfgang Fritz Haug, Santiago Vollmer (spanisch)

Download-ServiceFrank Eckgold, Marc Hanisch, Margret Langenberger

www.inkrit.de

VORWORT

I.

Mit dem vorliegenden Band ist das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxis-mus auf der Mitte der Strecke angekommen. Wie die früheren Bände ist auch dieser für Überraschungen gut. Die brandaktuellen Krisentheorien begegnen dem zeitlosen, doch selten unparteiischen Lachen, die Liebe stößt auf die Kritik, sogar die rettende, der Lamarckismus auf den Lacanismus. Der Lange Marsch und die Langen Wellen der Konjunktur treffen auf Kurzarbeit und Leiharbeit, die lebendige Arbeit und die lesenden Arbeiter auf die künstliche Intelligenz und das Kybertariat sowie auf Leistung und Leitung. In Lassalleanismus, Lib-Lab, Kronstädter Aufstand und Kubanische Revolution geht es um Statio-nen und Einschnitte der Sozialismusgeschichte. Bei Leviathan, Liberalismus, Laizität, Legalität/Legitimität und Legitimationskrise dreht es sich vor allem ums widersprüchliche Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat. Kurtisane, Lesbenbewegung und die Farbe Lila bilden einen feministischen Block, der im Hauptteil des Artikels Liebe gipfelt. Legaler Marxismus, Lehr-buchmarxismus, Leitfaden und zumal Linie Luxemburg-Gramsci bereiten den zweiten Teilband vor, in dem das Alphabet den Marxismus und den Marxismus-Leninismus aufrufen und zur historisch-kritischen Refl exion anhalten wird. Dort wird auch der ursprünglich als eigenes Stichwort vorgesehene Leninismus, der dann in Lenins Marxismus umbenannt wurde, nachzuarbeiten sein. Dass wir im vorliegenden Band an ihm gescheitert sind, bedeutet keinesfalls Gleich-gültigkeit oder unausgesprochene Distanzierung. Es ist dies nicht das Einzige, was missglückt ist. Auch die überaus aktuellen Stichwörter Landfl ucht und Landwirtschaft haben die Autoren und damit die Herausgeber nicht bewältigt.

Die thematischen Hauptblöcke sammeln sich um die Begriffe Kritik und Kultur mit dem angrenzenden Feld der Kunst. Unter dem Stichwort der Kritik refl ektiert sich ein wesentlicher Schwerpunkt des historisch-kritischen Wör-terbuchs. Daher treten hier die vier Herausgeber und der organisatorische Gesamtleiter des Projekts demonstrativ als Autoren zusammen, die je einen spezifi schen Durchgang durch dieses grundlegende Thema machen. Hieran

schließt sich zunächst die Kritik der politischen Ökonomie als das marxistisch grundlegende Werk. Es folgen Kritischer Rationalismus und Kritische Theorie als theoretische Paradigmen sowie Kritische Justiz, Kritische Kriminologie, Kritische Medizin und Kritische Psychologie als fachwissenschaftliche Aus-arbeitungen. Zum historisch-kritisch grundlegenden Artikel Kultur gesellen sich neben den Praxisfeldern Kulturarbeit, Kulturpolitik und Kulturrevolution die Problemfelder kulturelle Nachhaltigkeit, Kulturimperialismus, kulturel les Kapital und Kulturindustrie, dazu die kulturelle Wende mit kulturellem Materialismus sowie Kulturhistorische Schule, Kulturstudien/Cultural Studies als konkrete Richtungen bzw. Tendenzen. Die kulturellen Felder der Lebens-weise/Lebensbedingungen, der Lebensführung und des Lernens runden diesen Komplex ab. Um den umfassenden Artikel Kunst, kontrapunktisch begleitet durch Kunstwerk, Kunstverhältnisse, Kunstmarkt und Kunst der Außenseiter, gruppieren sich die ästhetisch-historischen Artikel Kulinarisches, Landschaft, Lehrstück, Lessing-Legende.

II.

Der hundertdreißigste Todestag von Karl Marx, der 14. März 2013, ist zugleich der dreißigste Geburtstag dieses Wörterbuchs. Ein Projekt, das bereits eine Generation dauert, wird vom Vergehen nicht verschont. Der Tod lichtet zunehmend die Reihen der Gründergeneration. Zuletzt hat das InkriT-Kurato-rium den Verlust von Ernst Engelberg, Hans G Helms, Hans Werner Henze, Eric Hobsbawm, Günter Mayer, Carlos Monsiváis, Adolfo Sánchez Vázquez, Dieter Schlenstedt, Helmut Steiner und Erich Wulff zu beklagen. Einige davon hatten Stichwörter zur Bearbeitung übernommen. Die Redaktion vermisst Thomas Marxhausen. Von den für die kommenden Bände vorgesehenen Autoren starben Georg Bollenbeck, Parvis Khalatbari und Dieter Wittich.

Das Überleben des Projekts hängt davon ab, dass eine jüngere Generation mit dem nötigen theoretischen Gepäck einzieht. Fürs Erste haben sich die Herausgeber noch einmal aus der Gründergeneration Verstärkung in Gestalt des Historikers Wolfgang Küttler geholt, der bereits seit Band 4 (1999) im Wissenschaftlichen Beirat und seit Band 5 (2001) in der Wörterbuchwerkstatt mitgewirkt hat. Aus der jüngeren Generation hat Oliver Walkenhorst die Verantwortung eines weiteren Editionsassistenten übernommen. Dafür, dass all dies fi nanziell möglich war und weiterhin ist, danken wir den Fellows des Ber liner Instituts für kritische Theorie, den Sponsoren der einzelnen Bände und den institutionellen Förderern, allen voran der Rosa-Luxemburg- Stiftung.

Nichts von alledem aber wäre möglich ohne das, was auf englisch »militant work« genannt wird, die Mitarbeit all derjenigen, die auf vielfältige Weise –‘ schrei bend, votierend, redigierend, mit den Autoren ringend, übersetzend, korrigierend, Quellen beschaffend oder prüfend, fremdsprachliche Äquivalente klärend, die InkriT-Tagungen zur Diskussion der Artikelentwürfe organisie-rend – Hand ans gemeinsame Werk gelegt haben und dies als ihren Beitrag zu weltverändernder Praxis begreifen.

Esslingen/N, 3. November 2012 Wolfgang Fritz Haug

HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 8/ I © INKRIT 2012

B!"#!$%&'()!*: J.A%+$#!, C.B&*+,*#, I.M*--, Die revolutionären Aktionen der russischen Arbeiter und Bau-ern. Die Kommune von Kronstadt, 2. A., Berlin/W 1974; J.A.A."'&/0.$1, »Lenins Analyse der Krise des Jahres 1921«, in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftl. Beiträge, Berlin/DDR 1984, 595-609; O.A+1*!#*&, Die Rätebewegung in Russland (1905-1921), Leiden 1958; ders., »Einleitung«, in: Kool/Oberländer 1967, 5-80; P. A2&!3), Kronstadt 1921, Princeton 1970; A.B*&4.'+, Die Kronstadt-Rebellion (1922), Berlin/W 1990; H.B$34, »Das Menetekel: Kronstadt 1921. Wetterleuchten des ›kommunistischen‹ Ein-Partei-Systems«, in: Pankower Vorträge 161, Berlin 2011, 5-20; C.B&*+,*#, »Cronstadt: Proletarischer Ausläufer der russischen Revolution«, in: Agnoli/Brendel/Mett 1974, XIX-XXXII; J.B0%'5*1, »Eine merkwürdige Position. Kritische Bemerkungen zu dem Beitrag von J. Ambarzumow ›Lenins Analyse der Krise des Jahres 1921‹«, in: Sowjetwissenschaft. Gesell-schaftswissenschaftl. Beiträge, Berlin/DDR 1985, 199-209; M.A.E#!/'&$2, »E67e o pri7inach kron6tadtskogo vosstanija v marte 1921 goda« (Noch einmal über die Ursachen des Kronstädter Aufstandes im März 1921), in: Ote!estvennaja istorija (Vaterländische Geschichte), Moskau 2004, H. 1, 165-74; I.F*-83)*&, »Von Kronstadt bis Danzig. Arbeiterdemokratie im ›real existierenden Sozialismus‹«, in: Demokratie und Sozialismus. Poli-tische und literarische Beiträge, Köln 1980, H. 16, 22-33; K.G!*-!+%*&, Die Kommune von Kronstadt, Berlin 2011; P.G$8/-$+9, »Der Kronstädter Aufstand«, in: ders. (Hg.), Aufstände unter dem Roten Stern, Bergisch Glad-bach 1982, 13-42; K.-H.G&:;*, »Kriegskommunismus und Alternativen 1921. Demokratie in der Partei und im Staat Sowjetrusslands«, in: Pankower Vorträge 161, Ber-lin 2011, 21-41; E.J'&<04, Kron"tadt v russkoj revoljucii, New York 1923; F.K$$#, E.O"*&#:+,*& (Hg.), Arbei-terdemokratie oder Parteidiktatur. Dokumente der Welt-revolution, Bd. 2, eingel. v. O.Anweiler, Olten-Freiburg/Br 1967; Kron"tadtskaja tragedija 1921 goda. Dokumenty, 2 Bde., Moskau 1999; I.M*--, »Die Kommune von Kron-stadt« (1938), in: Agnoli u.a. 1974, 9-92; V.P.N'0.$2, A.A.K$8'4$284!5, Kron"tadt 1921. Dokumenty o soby-tijach v Kron"tadte vesnoj 1921 goda, Moskau 1997; Ju.A.=<*-!+$2, »Kron6tadtskij mjate> 1921 goda v sovets-koj istori eskoj nauke« (Die Kronstädter Meuterei des Jahres 1921 in der sowjetischen Geschichtswissenschaft), in: Problemy istorii SSSR, Moskau 1973, 105-17; ders., »Vvedenie« (Einführung), in: Kron"tadtskaja tragedija, 1999, 5-27; S.N.S*.'+$2, »Likvidacija antisovetskogo kron6tadtskogo mjate>a 1921 goda« (Die Liquidierung der antisowjetischen Kronstädter Meuterei 1921), in: Voprosy istorii (Fragen der Geschichte), Moskau 1971, H. 3, 23 -39; ders., Likvidacija antisovetskogo kron"tadtskogo mjate#a 1921 goda, Moskau 1973; Sovetskaja istori!eskaja $nciklopedia (Sowjetische Historische Enzyklopädie), Bd. 8, Moskau 1965; Sovetskaja voennaja $nciklopedia (Sowjetische Militärenzyklopädie), Bd. 4, Moskau 1977; L.T&$-/4!, »Das Zetergeschrei um Kronstadt« (15.Januar 1938), in: New International, April 1938 (www); V$#!+, Der Aufstand von Kronstadt, a.d. frz. Orig. v. W.H.Leube, neu hgg. u. bearb. v. J.Knobloch, Münster 1999; M.W*)+*&, »›Ein Kronstadt in großem Ausmaß ist uns sicher …‹ Die russischen Kommunisten und die Frage der Bauernverbände«, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 3. Jg., 1999, H. 1, 237-55; K.?'4$2@<!4$2, Razgrom kron"tadtskogo konterrevoljucionnogo mjate#a

v 1921 godu (Die Zerschlagung der Kronstädter konterre-volutionären Meuterei 1921), Leningrad 1941.

L0-/-D!*-*& B*)&*+,-

! Anarchismus, Anarchosyndikalismus, Arbeiterklasse, Arbeiterselbstverwaltung, Arbeiterstaat/Arbeiter- und Bauernstaat, Aufstand, Bolschewisierung, Bürgerkrieg, Demokratie/Diktatur des Proletariats, Gewalt, Glasnost, Hegemonie, innerparteiliche Demokratie, Klassenherr-schaft, Kommune, Kommunismus, Kommunistenverfol-gung, Konterrevolution, Kräfteverhältnis, Krieg, Kriegs-kommunismus, Krise, Macht, Neue Ökonomische Politik, Oktoberrevolution, Pariser Kommune, Parteien, Partei neuen Typs, Perestrojka, Räte/Rätesystem, Rätekom-munismus, Revolution, Sowjet, Sowjetische Gesellschaft, Sowjetkritik, Sozialismus, sozialistischer Rechtsstaat, Staat, staatsmonopolistischer Sozialismus, Zwang

Kubanische RevolutionA: ! " !#$!%!&"' ( )!* – E: Cuban Revolution.F: Révolution cubaine. – R: Kubinskaja revoljucija.S: Revolución cubana. – C: gubageming

Im ›sozialistischen Lager‹ galt das revolutionäre Kuba einst als »Leuchtturm des Sozialismus auf dem ame-rikanischen Kontinent« (H$+*34*& 1974, 291). Die KR, deren Wirkung über weltanschauliche und poli-tische Schranken hinweg reichte, faszinierte die Linke weltweit. Der von ihr ausgehende humanistische Impuls, ihre Solidarität mit progressiven Bewegungen und Staaten in aller Welt, nicht zuletzt ihr jahrzehn-telanger Widerstand gegen den US-Goliath verviel-fachten ihre Strahlkraft. Zugleich werfen Bürokratie, Repression und fehlende Freiheiten ihre Schatten.

Der Verlauf der KR zeigt Möglichkeiten und Gren-zen emanzipatorischer Politik einer Staat geworde-nen revolutionären Bewegung im Zeitalter des Kalten Krieges und der ihm folgenden neoliberalen Globali-sierung. Zu vielen Grundfragen marxistisch inspirier-ter Politik bot sie praktische Lösungen an, so durch eine kulturelle Revolution, die bisherige Formen von Klassen-, Geschlechter- und Rassenungleichheit zu überwinden suchte. Die von ihr aufgeworfenen Fragen samt der Antworten und widersprüchlichen Ergebnisse verlangen eine historisch-kritische Auf-arbeitung.

Angetreten mit dem Anspruch, aus einer diktato-risch regierten, unterentwickelten und US-abhän-gigen Karibikinsel eine freie, würdige und gerechte Gesellschaft zu machen, hat die KR eine Reihe von Errungenschaften aufzuweisen. So ermöglichte sie den Aufbau des ersten Sozialstaats in Lateinamerika, der sich auch nach dem Zusammenbruch des europä-

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i schen Staatssozialismus des 20. Jh. trotz schwerster Einschnitte und durch Marktreformen gewachsener Widersprüche weiter entwickelt hat und, sollte der 2008 begonnene Reformprozess erfolgreich sein, als Brücke zum »Sozialismus des 21. Jh.« in Lateiname-rika gesehen werden kann.

Im Gefolge der Reformen, die durch den Zusammen-bruch des Sowjetsozialismus erzwungenen wurden, ist auch die Führung der KR mit dem Widerspruch konfrontiert, einerseits Verwertungsbedingungen fürs Kapital zu schaffen, Marktmechanismen und Privatproduktion in begrenztem Maße zu ermögli-chen, und andererseits ein hohes Maß an Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit zu erhalten. Im Gegen-satz zu China etwa sieht sich Kuba allerdings mit der folgenreichen Last der umfassenden, wenn auch nur noch selektiv praktizierten Blockadepolitik der USA konfrontiert, mit der nach wie vor das Regierungsziel eines Systemwandels auf Kuba verfolgt wird.

1. Wann endet die ›Revolution‹? Mit dem Sieg der Guerilla und der Flucht des Diktators am 1. Januar 1959? Mit der Ausrufung des sozialistischen Charak-ters und der Orientierung auf den Aufbau des Kom-munismus seit Mai 1961? Mit dem Ende der bewaff-neten Auseinandersetzungen auf der Insel 1966? Mit der neuen sozialistischen Verfassung 1976? Mit dem Zusammenbruch des europäischen Staatssozialismus 1989? Existiert auf Kuba eine ›postrevolutionäre‹ Gesellschaft und, wenn ja, seit wann? Handelt es sich um eine »unvollendete« Revolution, wie Verlautba-rungen der Regierung bis heute behaupten, oder um eine »permanente«, die nicht zur Ruhe kommt? Die Antworten sind als Ausdruck der jeweils dominie-renden Tendenzen der Zeit umstritten. Sie hängen nicht zuletzt vom Revolutionsverständnis ab.

Grob lässt sich zwischen folgenden Phasen und Merkmalen unterscheiden: 1. der politische und mili-tärische Kampf gegen die Diktatur (1953-58), 2. die reformerisch-antiimperialistische Phase (1959-61), 3. der »kubanische Entwicklungsweg« (1961-69): In-dustrialisierung, Guerilla-Unterstützung (in Afrika bis 1989), »revolutionäre Offensive« (1968) 4. die Institutionalisierung eines kubanischen Sozial is mus-modells in sowjetischen Formen (1970-86): RGW-Mitglied (1972), sozialistische Verfassung (1976), 5. »Rektifi kation« (1986-91): Entbürokratisierung, Re-Mobilisierung, Distanz zu Perestroika, ›Re-Lateinamerikanisierung‹ und schließlich, nach dem Wegfall des Sowjetsozialismus, 6. die offi ziell euphe-mistisch als »Spezialperiode in Friedenszeiten« (ab 1990) bezeichnete Phase der »Neuen Ökonomischen Politik« mit Reform- und Antireformansätzen. Seit dem Rücktritt Fidel C'8-&$8 2006 und dem formalen Amtsantritt seines Bruders Raúl 2008 zeichnet sich

eine offi ziell als »Aktualisierung und Perfektionierung des Sozialismus« bezeichnete Phase ab, die geprägt ist von stärkerer Marktorientierung, Privatinitiative und einer Neudefi nition von Staat und Partei.

2. Das Phänomen, wie eine Gruppe junger Rebellen sich an die Spitze eines Umgestaltungsprozesses set-zen konnte, der 1961 als »marxistisch-leninistisch« deklariert wurde und dabei nach regierungsunab-hängigen Umfragen aktiven Rückhalt von mehr als 80% der Bevölkerung genoss (vgl. F'%*+ 1969, 108), ist nur ansatzweise geklärt. »Der Anteil ist bis heute zwar gefallen, erreicht aber im Konfl iktfall […] noch ca. 70 Prozent« (Z*084* 2012, 33). Der Fall der Dik-tatur 1958/59 und die Initiierung eines derart nach-haltigen revolutionären Prozesses verlangen nach einer hegemonietheoretischen Analyse, die noch weitgehend aussteht (vgl. K'(3!' 2008).

2.1 Die Ursprünge der KR reichen ins 19. Jh. zurück. Die Gruppe um Fidel C'8-&$, die 1953 ihren Aufstand gegen B'-!8-' begann, verstand sich als »Jahrhundertgeneration« (generación centenaria) in der Tradition des 1853 geborenen Schriftstellers und Politikers José M'&-A, der 1895 im Kampf für Kubas Unabhängigkeit starb und zum ›Nationalhel-den‹ erhoben wurde. Neben Puerto Rico und den Philippinen war Kuba Spaniens letzte Kolonie. Auf die enger werdenden Verfl echtungen mit den USA, die bereits um 1850 Spanien als Haupthandelspart-ner abgelöst hatten, und um den Einfl uss auf die seit dem Niedergang durch die Haitianische Revolution reichste Kolonie zu bewahren, reagierte die Kolonial-macht mit unzureichenden Reformen und verstärkter militärischer Präsenz. Aber auch mit der Verlegung von 200 000 Soldaten auf die Insel – dem bis dahin größten transatlantischen Militärmanöver – konnten die Unabhängigkeitsbewegungen nicht unterdrückt werden. Der 1895 begonnene Kampf endete nach erheblichen Verwüstungen und dem Verlust von etwa einem Drittel der Bevölkerung 1898 mit dem Rückzug Spaniens. Da jedoch wenige Wochen zuvor die USA in ihrer ersten Überseeinvasion eingeschrit-ten waren, wurde der postkoloniale Status der Insel schließlich in Paris ohne Beisein kubanischer Reprä-sentanten geregelt.

2.2 Nach dreijähriger us-amerikanischer Besatzung wurde am 20. Mai 1902 die Republik ausgerufen, Kuba aber durch einen Verfassungszusatz unter Vor-mundschaft der USA gestellt und diesen zudem das Recht zugesprochen, Stützpunkte (u.a. Guantánamo) zu unterhalten und militärisch zu intervenieren, wenn ›Eigentum‹ oder ›individuelle Freiheit‹ gefährdet schienen. Man spricht deshalb für die Zeit bis 1959 auf der Insel zumeist von »Neokolonie« oder »medi-atisierter Republik«. Die ökonomische Struktur blieb

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bis zur KR im Wesentlichen auf eine Monokultur (Zucker) und auf die Abhängigkeit von den USA konzentriert. 1926 waren 60% des Landbesitzes in amerikanischer Hand, 1958 machten US-Investiti-onen 90% des Gesamtvolumens aus. Diese »ties of singular intimacy« (PB&*/ 1990, xix) mit den USA ermöglichten Kuba jedoch auch eine partielle Moder-nisierung v.a. im Bank-, Kommunikations- und Ver-kehrssektor. So war am Vorabend der Revolution die TV- und Autodichte im Großraum Havanna höher als in Frankreich. Was manchen Kritikern der KR als goldenes Zeitalter erscheint, basierte jedoch auf ext-remer Ungleichheit. Vor diesem Hintergrund führte die Weltwirtschaftskrise 1933-34 zu einer sozialen Revolution, die zwar scheiterte, aber dennoch in der »zweiten Republik« (1933-59) eine andauernde soziale und politische Mobilisierung zur Folge hatte.

Im Zuge dieser Entwicklung, in der sich das Partei-enspektrum zugunsten bürgerlich-nationalistischer und linker Kräfte veränderte, gewann auch die kom-munistische Partei Kubas (mit diversen Namensän-derungen bis zur Neukonstituierung 1965 als KPK/PCC) zunächst an Einfl uss. International begüns-tigt durch die Volksfrontpolitik der Komintern und später das Zustandekommen der Anti-Hitler-Koalition im Zweiten Weltkrieg, beteiligte sie sich an der Regierungspolitik der 1930er Jahre, war Teil der Verfassunggebenden Versammlung und wirkte sogar während der ersten Amtszeit des gewählten Präsidenten Fulgencio B'-!8-' (1940-44) in dessen Regierung mit. Ergebnis dieser Veränderungen war die fortschrittliche Verfassung von 1940. Viele der sozialen Rechte, die die KR nach 1959 einlöste, so das auf kostenlose Bildung und Gesundheit, ebenso wie die Abschaffung des Großgrundbesitzes durch eine Landreform waren hier bereits verankert. Die angekündigten Reformen blieben jedoch aus oder wurden nur halbherzig in Angriff genommen.

Vor allem die Situation auf dem Land war weiter-hin von Unterentwicklung und Armut geprägt, wie sich einem Weltbankbericht von 1950 entnehmen lässt, dessen Diagnose und teilweise auch Reform-vorschläge den Forderungen, die C'8-&$ bei sei-nem gescheiterten Aufstandsversuch 1953 stellte, z.T. erstaunlich ähnlich sind. Zwar trug die durch die zwei Weltkriege verursachte hohe Zuckernach-frage zu einem wirtschaftlichen Boom bei, jedoch behinderte dieser unter den bestehenden Herrschafts- und Besitzverhältnissen eher Reformen und soziale Diversifi zierung. Zugleich führten die hohe Land-konzentration – 47% des Landes lagen in Händen von 1,5% der Bevölkerung (vgl. IBRD 1951, 88) –, die ungleiche Reichtumsverteilung und die starke wirtschaftliche Abhängigkeit von den USA zu Klien-telismus, Korruption und Verarmung.

Mit dem Beginn des Kalten Krieges verschlechterte sich das innenpolitische Klima; 1951 wurde die KP verboten. Auch der Selbstmord des populären links-nationalen Politikers Eduardo C)!"'8 – eines der Mentoren Fidel C'8-&$8 1951, der u.a. als Radiospre-cher gegen Korruption gekämpft hatte – symbolisierte den Niedergang des alten Regimes (vgl. D$.A+%0*/ 1978, 114). Das Versagen des Parteiensystems der Republik führte schließlich zum Putsch von B'-!8-' im März 1952 und zur Errichtung der Diktatur.

2.3 Nur sechzehn Monate später begann mit dem Aufstandsversuch vom 26. Juli 1953, dem opferreich gescheiterten Sturm auf die Moncada-Kaserne, der der Bewegung um Fidel C'8-&$ (Movimiento 26 de Julio / M-26) ihren Namen gab, die fi nale Krise des alten Systems. Vom Regime inhaftiert und verurteilt, wurde Castro 1955 freigelassen, ging nach Mexiko ins Exil und organisierte von da aus eine neue Expedi-tion. Mit der Landung der Granma am 25. November 1956 begann ein zunächst wenig aussichtsreich schei-nender, verlustreicher Guerrillakrieg, der schließlich 1958/59 zur Flucht B'-!8-'8 und zum Sieg der Revo-lution führte.

Diese Ereignisse geben dem Revolutionsmythos Anlass, einseitig die heroischen Taten der Kerngruppe des bewaffneten Widerstands um Fidel und Raúl C'8-&$ sowie C)* G0*2'&' zu betonen. Dagegen heben neuere Studien (vgl. S1*!% 2002, F'&"*& 2006) andere Faktoren hervor, die entscheidend dazu bei-trugen, dass dieser Erfolg des zunächst nur auf eine entlegene Gebirgsregion beschränkten bewaffneten Kampfes möglich wurde: den Arbeiter-Widerstand, die aktive und passive Opposition gegen B'-!8-' in der nationalistischen Mittelklasse wie in brei-ten Schichten der Bevölkerung auf dem Lande und schließlich den durch Lobbyarbeit kubanischer Emi-granten erreichten Waffenboykott der US-Regierung im Sommer 1958.

Dem Zweck der Herstellung eines möglichst brei-ten Bündnisses entsprechend war das Programm der Bewegung moderat. Im Wesentlichen wollte man ein Ende der Korruption und Repression, die auch die Wirtschaft lähmten. Eine weitere Forderung war die Umsetzung der fortschrittlichen Aspekte der Verfas-sung von 1940, eine umfassende Sozialreform sowie freie Wahlen. Die Führungsfrage war nicht abschlie-ßend geklärt; Fidel C'8-&$ selbst hatte bis Mitte Februar 1959 kein formales Regierungsamt inne, genoss aber enormes Prestige.

Die illegale KP verfügte laut US-Geheimdienst Ende der 1950er Jahre über etwa 10 000 Mitglieder und etwa doppelt so viele Sympathisanten (vgl. S.!-) 1962, 35), ihre Wählerstimmen waren kurz vor ihrer Kriminalisierung 1948 auf 150 000 angestiegen. Sie hatte aber den Aufstand von 1953 noch als Putsch-

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versuch verurteilt und war auch danach nur zöger-lich in der Opposition als Partei aktiv geworden, so dass ihr strategischer Einfl uss auf die revolutionäre Bewegung zunächst gering blieb. Aufgrund ihrer Organisationserfahrungen, der Vielzahl geschulter Mitglieder und ihrer Disziplin, aber auch wegen ihrer politischen Beziehungen zur Sozialistischen Staa-tengemeinschaft (SSG) gewann sie v.a. nach 1961, in der Periode sich verschärfender innerer und äußerer Konfl ikte, starken Einfl uss (vgl. H0"*&.'+/S1**/9 1968, 152).

Insgesamt lässt sich die Allianzpolitik des M-26 während des Kampfes gegen die Diktatur als Ver-such werten, bereits vor dem »Regierungsantritt« zur politischen Hegemonie zu gelangen. Sie wirkte einheitsstiftend, weil sie die vage Unzufriedenheit unter der Bevölkerung angesichts des Versagens der traditionellen Parteien am kohärentesten zum Aus-druck brachte. Dazu gehörte eine geschickte Propa-gandaarbeit: In den Städten wirkten oppositionelle Künstler, Lehrer und Intellektuelle, die nach 1959 an der Ausarbeitung eines neuen hegemonialen Projekts mitwirkten. In den militärisch befreiten Gebieten baute die Guerilla eine Infrastruktur auf (Schulen, ärztliche Versorgung, Radio u.a.) und vergrößerte so das Ansehen der Bewegung.

3. Die KR konnte nach 1959 zunächst insofern als »ideologiefrei« bezeichnet werden (S'&-&* 1961, 149), als sie ohne sozialistisches Programm und ohne kommunistische Führung zustande gekommen war. Die sozialen Reformen verschafften ihrer Legitima-tion eine breite Basis, provozierten aber auch die Feindschaft der kubanischen Oberschicht und der USA. Der bewaffnete Widerstand im Landesinne-ren (»anticastristischer Guerillakrieg« 1959-66) und die Sanktionen der US-Regierung führten zur Radi-kalisierung des Regierungskurses, der nun auf den sozialistischen Entwicklungsweg festgelegt wurde, und in diesem Zusammenhang auch zur Stärkung des Einfl usses der Sowjetunion von außen und der kom-munistischen Partei im Innern. Einerseits schweißten die feindseligen Aktivitäten die Anhänger der KR zusammen, andererseits veränderte sich deren Basis im Zuge der nun einsetzenden stärkeren Polarisie-rung. Viele Gegner der gesellschaftlichen Umgestal-tungen, zunächst v.a. Teile der weißen Oberschicht, emigrierten. Bis zum Ende des 20. Jh. verließ etwa ein Zehntel der Bevölkerung die Insel.

3.1 Die kubanische Wirtschaft verzeichnete bereits vor 1959 Wachstumsraten, auch wenn die Einkom-men sehr ungleich verteilt waren. Als Zeichen ihrer Sympathie zahlten 1959 in einer »Ehrlichkeitskampa-gne« viele Großunternehmen Steuern freiwillig nach, und dank einer außergewöhnlich guten Zuckerernte

verfügte die Regierung über einen Haushalt, mit dem sie eine Vielzahl populärer Maßnahmen einleiten konnte. Es war dies der hegemoniale Moment der KR. Alles schien möglich, Enthusiasmus herrschte vor, spontane Mobilisierungen von unten unterstütz-ten die Regierung, selbst konservative Intellektuelle verteidigten die KR gegen Angriffe von außen.

Die ersten Maßnahmen zielten auf die Befreiung vom Einfl uss der aus- und inländischen Großbour-geoisie. Die Agrarreform im Mai 1959, die nur die Großgrundbesitzer v.a aus den USA betraf, fand breite Unterstützung. Etwa 100 000 bislang in pre-kären Verhältnissen lebende Landarbeiter erhielten Land. Zuvor waren allerdings die ›Initiativen von unten‹, also Landbesetzungen auf eigene Faust, ver-boten worden. Hatten Teile der US-Regierung die Landreform zunächst positiv beurteilt, vermochte eine massive Lobbyarbeit betroffener Großgrund-besitzer und die Warnung des CIA vor kommunisti-schem Einfl uss die Regierung umzustimmen. Am 13. Januar 1960 berichtete der Nationale Sicherheitsrat (NSC) der USA Präsident Dwight D. E!8*+)$1*&, dass »Pläne zum Sturz der Castro-Regierung im Gange« seien (vgl. S3)$0#-/ 2009, 116). Wenige Tage nach dem Scheitern der Schweinebuchtinvasion im April 1961 wurde dem NSC ein Bericht vorgelegt, der als »Hauptgefahr das Beispiel und den Anreiz« identifi zierte, »den eine funktionierende kommunis-tische Revolution bedeuten« würde (172). Die SU war sich dieser Bedeutung zumal im »Hinterhof« der USA bewusst und stellte großzügige Kredite bereit.

Washington änderte die Strategie: Die KR sollte nun indirekt, auf dem Weg über Isolation und Sabotage, beseitigt werden. Im November 1961 genehmigte der demokratische Präsident John F. K*++*,9 das Geheimprogramm Operation Mongoose, mit dem mittels der Bombardierung von Kraftwerken, Auto-bahnen und Eisenbahnen eine »allgemeine Unord-nung« geschaffen werden sollte (Robert K*++*,9, zit.n. Schoultz 2009, 175). »Hunger, Verzweifl ung und der Sturz der Regierung« waren nach Unter-staatssekretär Lester D. M'##$&9 das erklärte Ziel (ebd.). Auf diese »Politik des staatlich geförderten Terrorismus« (D$.A+%0*/ 2000, 311) reagierte die kubanische Regierung mit Militarisierung, Hierar-chisierung der politischen Entscheidungen, Ausbau und Organisierung von Milizen (Volksbewaffnung) und einer Annäherung an die SU. Diese belagerungs-artigen Bedingungen in den Geburtsjahren der KR gilt es zu berücksichtigen, will man die Genealogie der revolutionären Institutionen und Mentalitäten verstehen.

Terror- und Sabotageakte, die vielfach aus Schu-len, Kaufhäusern und Kirchen heraus vorbereitet und ausgeführt wurden, führten zum Verbot vieler

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privater Assoziationen und parallel zur Errichtung neuer »revolutionärer« Organisationen, v.a. der Nach- barschaftskomitees. Ihre Funktion oszilliert bis in die Gegenwart zwischen Versorgungs- und Über-wachungsinstanz; indem sie etwa auf die Einhaltung von Schul- und Impfpfl ichten achten, gehören sie zur kapillaren Struktur des aus der KR entstandenen für-sorgenden Staates.

3.2 Mit dem Sieg über die Invasion in der Schwei-nebucht, in Kuba aufgrund der maßgeblichen Rolle der US-Regierung als »erste Niederlage des Impe-rialismus in Lateinamerika« gefeiert (G$"!*&+$ R*2$#03!$+'&!$ 1961), begann zugleich die sozia-listische Phase des kubanischen Entwicklungsweges. Der Ausbau des Bildungs- und Gesundheitsbereichs, die Schaffung landwirtschaftlich-kooperativer Ein-richtungen und die Förderung der industriellen Ent-wicklung, angesichts der US-Blockade eine gewaltige Herausforderung, hatten Priorität.

Die ›Kubakrise‹ im Oktober 1962 brachte die Welt an den Rand eines Atomkriegs. Aus kubanischer Sicht zeigte sie die Grenzen sowjetischen Engage-ments auf, weil Nikita C)&083)-83)$1 bereits nach wenigen Wochen die stationierten Sprengköpfe ohne Konsultation mit C'8-&$ oder eine schriftliche Nicht-Angriffserklärung der US-Regierung abziehen ließ. Zwar war man sich nach dieser Erfahrung der Abhängigkeit von Waffenlieferungen aus dem Aus-land bewusst und stellte während der Existenz der SSG öffentlich die Grundlagen dieser Beziehungen nie in Frage. Die Bedingungen dieser unumgänglichen Entwicklungszusammenarbeit waren aber ein weite-res Konfl iktfeld zwischen Moskau und Havanna.

Handelsbeziehungen, Kreditbedingungen und Technologietransfer halfen der KR, die enormen Ver-luste durch die US-Politik aufzufangen. Dass jedoch vieles hinter den kubanischen Erwartungen zurück blieb, war immer wieder Gegenstand zahlreicher Verhandlungen. Ernesto G0*2'&' nahm als Indus-trialisierungsminister kein Blatt vor den Mund und nannte die sozialistischen Staaten Europas wegen ihrer eigennützigen Kreditpolitik »Komplizen des Imperialismus« (1965/2009, 102). Auch wegen die-ser furchtlosen Kritik gewann die KR eine herausra-gende Stellung innerhalb der sich vom Kolonialismus befreienden Länder und nicht paktgebundenen Staa-ten, die einen Weg jenseits vom Imperialismus und Sowjetsozialismus suchten.

»Das kubanische Misstrauen gegenüber den SSG-Staaten […] seit dem abrupten Ende der Raketen-krise« (S3)0#-/ 2005, 72) veranlasste die Führung der KR zu einer Rekordproduktion und Ausweitung der Zucker-Exporte, um damit den wirtschaftlichen Handlungsspielraum zu vergrößern, doch gelang dies nur bedingt. Spannungen ergaben sich zudem

aus kontroversen politischen Einschätzungen und daraus erwachsenden Aufgaben. Kurz nach dem Tod G0*2'&'8 (1967) und inmitten der »Weltrevolution 1968« (W'##*&8-*!+ 2003, 100) bzw. der »weltweiten kulturellen Revolution« (H$"8"'1. 1994, 320) der Entkolonialisierung signalisierte Havanna die fort-dauernde Unterstützung von Befreiungsbewegungen weltweit. Fidel C'8-&$, für den es »nichts Antimar-xistischeres als die Versteinerung von Ideen« geben konnte, war sich der Tragweite der damals im Auf-wind befi ndlichen Theologie der Befreiung und ihrer Differenzen zum Sowjetkommunismus bewusst: »Wenn wir nun Kleriker sehen, die zu Revolutionä-ren werden, werden wir dann resignieren, wenn wir Bereiche des Marxismus sehen, die sich in kirchliche Kräfte verwandeln?« (13.1.1968)

3.3 Da sich der eigene kubanische Entwicklungsweg ökonomisch nicht durchhalten ließ, verstärkte sich ab 1970 wieder der sowjetische Einfl uss. Kuba wurde in die sozialistische internationale Arbeitsteilung ein-gegliedert (1972 RGW-Mitglied), in der ihm die tra-ditionelle Rolle des Rohstoffl ieferanten zukam (v.a. Zucker, Nickel, Tabak, Rum, Zitrusfrüchte). Dies hatte insgesamt eine Angleichung an das politisch-administrativen Modell zur Folge, weshalb vielfach von einer ›Sowjetisierung‹ gesprochen und behauptet wird, die wirtschaftliche Abhängigkeit habe Kuba zu einem weiteren ›Satellitenstaat‹ gemacht. Eine empi-rische Studie zu Ausmaß und Methoden sowjetischer Einfl ussnahme in Kuba gibt es nicht. Als Beispiele werden oft die Zustimmung zur sowjetischen Inva-sion in Prag 1968 sowie der in Afghanistan 1980 genannt. Doch ließen sich zahlreiche Gegenbeispiele nennen, die die Subordinierungsthese widerlegen. So widersetzte sich Kuba der »Doktrin der friedlichen Koexistenz«, indem es zahlreiche bewaffnete Befrei-ungsbewegungen v.a. in Afrika und Lateinamerika unterstützte: Ohne Zustimmung Moskaus wurden 1975 tausende kubanischer Soldaten nach Angola und in andere afrikanische Länder geschickt; meh-rere tausend Mitglieder von Befreiungsbewegungen aus der ganzen Welt wurden in Kuba ausgebildet oder fanden dort Zufl ucht (vgl. D$.A+%0*/ 1989, 113-47). Die Entsendung zehntausender kubanischer Studierender und Arbeitskräfte in die SSG sowie die Präsenz sowjetischer Berater und Facharbeiter in Kuba bewertet Christine H'-/49 als »wechselseitige Einfl ussnahme« (2012, 14).

3.4 Durch die Entkoppelung der KR von der SSG im Zuge des 1986 begonnenen ›Korrektionsprozes-ses‹ (Rectifi cación) – die kubanische Antwort auf die Krise des sozialistischen Lagers – kam es zu massiven Schwierigkeiten, aber es erschlossen sich auch neue Handlungsspielräume. Die Führung der KR kam zu ähnlichen Diagnosen wie die sowjetische, zog jedoch

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andere Konsequenzen: Entbürokratisierung, Ver-schlankung von Institutionen, Mobilisierung von unten, Verstärkung der ideologischen Arbeit, Appell an den ›Opferwillen‹. Der hohen Auslandsverschul-dung, die mehrmals neu verhandelt wurde, letztlich in der Zahlungsunfähigkeit ab 1986 endete und Kuba den Zugang zum Kreditmarkt versperrte (vgl. PB&*/ V!##'+0*2' 2004, 80f), war indes so nicht beizukom-men. Durch den Wegfall der sowjetischen Vorzugs-preise und Subventionen war Kuba zunächst wieder auf sich selbst gestellt.

3.5 Kuba war seit 1990 zu einer »Neuen Ökonomi-schen Politik« gezwungen, die verstärkt auf Privatin-itiative, Auslandsinvestitionen und –überweisungen (neue Rolle der Exilgemeinde) setzte sowie v.a. den Tourismus förderte. 1992 erlaubte eine weitere Ver-fassungsänderung Joint Ventures mit internationalem Kapital, ein Jahr später wurde der Dollar legalisiert. Die Zuckerproduktion ist durch den Wegfall der sowjetischen Hilfen eingebrochen und auf Grund des Verfalls des Weltmarktpreises auf weniger als 10% des BIP geschrumpft, 2002 wurde die Hälfte aller Zuckerfabriken geschlossen. Unter Raúl C'8--&$ wird versucht, die Produktion mit Hilfe Brasi-liens punktuell zu modernisieren.

Seit dem Zusammenbruch des europäischen Staats-sozialismus und seines Produktions- und Handels-systems kämpft der Sozialismus auf Kuba ums Über-leben: »Sozialismus oder Tod«, lautete die offi zielle Formel. Sie vermag allerdings die Komplexität des seit dem Umbruch von 1989/91 aufgetretenen Hegemo-nieproblems kaum abzubilden. Um die von den USA durch zwei verschärfende Embargo-Gesetze (1992 und 1996) noch vergrößerte Gefahr des Zusammen-bruchs abzuwenden, wurden zunächst Zugeständ-nisse an den Privatsektor (1993-95) gemacht, dann teilweise wieder zurückgenommen (1996) und seit 2008 wieder erweitert.

Zwar kontrolliert in letzter Instanz immer noch die Partei den Zugang zu den lukrativen Sektoren der Wirtschaft. Aber angesichts des Funktionsver-lusts des staatlichen Sektors und seiner Unfähigkeit, eine glaubwürdige Lebensperspektive zu entwickeln, nahm die Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu. Die »objektiv-mögliche Grundlage« der Hegemonie schwand (H'0% 2004, 15). Zugleich entstand durch die Legalisierung von Auslandsüberweisungen und Kleinstunternehmen eine von Partei und Staat unab-hängige Quelle von Einkommen und Prestige. Ent-lastend wirkte auch, dass die KR seit langem zu einem gewichtigen Exporteur von ›Humankapital‹ gewor-den war (v.a. Gesundheit und Bildung, aber auch Sport und Sicherheit). Diese Ebene des direkten Aus-tauschs und der Beratung gewinnt nun auch für neue Formen der Zusammenarbeit von Linksregierungen

in Lateinamerika und allgemeiner als Form einer von der neoliberalen Globalisierung sich absetzenden Süd-Süd-Kooperation zentrale Bedeutung; das Mus-ter hierfür entstand in Angola und im Austausch mit der SSG (vgl. Hatzky 2012). Die Einkünfte mehrerer zehntausend Mediziner und Lehrer im Ausland sind zu Beginn des 21. Jh. die Grundlage für einen Groß-teil der Einnahmen der Regierung (vgl. M*8'-L'%$/V!,'#-A#*5'+,&$ 2010, 692f). Gleichzeitig verzö-gert der »Petro sozialismus« notwendige Struktur-veränderungen, weil zunächst dringend notwendige Importe, Reparaturen und Schuldendienste erledigt wurden, anstatt längerfristige Investitionen zu täti-gen. In einigen Bereichen wurde jedoch mit struk-turellen Reformen begonnen: 2008 wurde beispiels-weise die prekäre Lebensmittelversorgung Anlass für Ansätze einer Landreform und nachhaltige, lokale Produktion, die sich von der importabhängigen, großfl ächigen Intensivwirtschaft der ›Grünen Revo-lution‹ weg bewegt (vgl. R$88*- u.a. 2012). Zu einem weiteren Standbein wird die Offshore-Erdölförde-rung, mit chinesisch-venezolanisch-kanadischem und spanischem Kapital und Know-how. Geschätzte Vorkommen von 10-20 Mrd Barrel (etwa gleich viel wie in den USA) könnten zu einer Überprüfung der us-amerikanischen Blockadehaltung und somit zu einem gänzlich neuen Szenario führen.

4. Eine Besonderheit der KR besteht in der Konti-nuität der Führung. Der comandante en jefe, Fidel C'8-&$ R0/, hat knapp fünf Jahrzehnte den Verlauf der KR entscheidend geprägt. Dieser »bewaffnete Prophet« oder »Intellektuelle in Guerillauniform« (Z*084* 2012, 10) war bestens geeignet, um den ›Bedarf‹ nach der als »außeralltäglich […] geltenden Qualität einer Führungspersönlichkeit« (W*"*&, WuG, 140) zu befriedigen. Die Verheißung einer neuen Ära wurde von der Gruppe um C'8-&$ am glaubwürdigsten vertreten. Als nur 31-jähriger Revo-lutionsführer repräsentierte er zugleich eine neue Generation, die nach der Flucht der alten Regierung das Heft in die Hand nahm. Eine Reihe besonderer Umstände ließen Castros Fähigkeiten tatsächlich als »außeralltäglich« erscheinen. Er überlebte sowohl den Angriff auf die Militärkaserne 1953 wie die Lan-dung auf der Insel 1956, bei der die Mehrzahl seiner Genossen getötet wurde. Mehrmals wurde er von der B'-!8-'-Regierung für tot erklärt. Eine Repor-tage aus Kuba 1957 in der New York Times, er sei am Leben, erregte daher weltweites Aufsehen. Auch dass er später zahlreichen Attentatsversuchen entging, ist keine Legende; sie werden inzwischen von den USA auch offi ziell eingeräumt (z.B. CIA 2011, 277). Viele Biografi en erwähnen C'8-&$8 frühe Schulung

als Redner. In dem von ihm besuchten Jesuitenkolleg

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musste er klassische Reden der Antike auswendig lernen. Schon als Student stand er in engem Kon-takt mit führenden Intellektuellen seiner Zeit. Cas-tros legendäre, oft stundenlange Reden, gehalten vor Hunderttausenden von Menschen, werden z.T. als »dialogisch« (G$+/C#*/ 1974, 159) und »plebiszi-tär« beschrieben (170). Kuba hatte zudem eines der weltweit dichtesten Radio- und TV-Netze, was die Entfaltung charismatischer Führung begünstigte (18). C'8-&$8 Medium blieb stets das gesprochene Wort. Erst nach seinem durch Krankheit erzwungenen Rücktritt 2006 begann er zu schreiben, wobei er sich auf die Außenpolitik und allgemeine Fragen der glo-balen Entwicklung beschränkte.

5. Hinsichtlich des Verhältnisses von revolutionärer Umgestaltung und Demokratie schien es anfangs so, als habe sich die KR Rosa L0D*."0&%8 im Blick auf die Oktoberrevolution geäußerte Warnung zuei-gen gemacht, sich nicht von der Demokratie als den »lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts« (GW 4, 360) auszuschließen. Die wäh-rend des Kampfes gegen die Diktatur maßgebliche Forderung nach freien Wahlen wurde jedoch bald als nachrangig eingeordnet. Sämtliche Parteien bis auf die KP wurden wegen ihrer Kollaboration mit der Diktatur verboten, der Kongress aufgelöst. Auch in Kuba setzte sich das Prinzip der führenden Rolle der kommunistischen Partei durch; dafür wurde 1965 auf Beschluss von oben durch den Zusammenschluss der alten KP und verschiedener anderer Vorgängerorga-nisationen die Kommunistische Partei Kubas (PCC) gegründet.

Bis zur Verabschiedung einer neuen Verfassung 1976 und der Einrichtung parlamentarischer Struk-turen auf allen Ebenen wurde die Landespolitik von einem Ministerrat bestimmt, der 1959 an die Macht kam. Wahlen fanden innerhalb der Massenorgani-sationen und lokalen Verwaltungsorgane statt, die wiederum Einfl uss auf die Formulierung der Politik hatten (vgl. Z*084* 2012, 125f). C'8-&$ sah sie als »genuinen Ausdruck des Willens der großen Mehr-heit der Bevölkerung« (zit.n. Lockwood 1967, 149). Wie L*+!+ (LW 28, 240) war auch C'8-&$ der Mei-nung, dass es keine »reine Demokratie«, sondern nur eine »Klassendemokratie« geben könne. Das kuba-nische System sei deshalb in den ersten Jahren der KR auch ein »Klassensystem im Übergang« gewesen (Castro 1965, 148).

Haroldo D!##' stellt für eine erste Phase zwar hoff-nungsvolle Ansätze zu einer Sozialisierung der Macht mit »konsultativ-mobilisatorischem Charakter« fest (1996, 20), der jedoch seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und der darauf folgenden Integration in den RGW verblasst sei. Wo Teilhabe möglich ist,

bleibe sie streng reglementiert. Die Beziehung zwi-schen Führung und Bevölkerung sei zwar von jeher dynamisch, jedoch auch »paternalistisch« gewesen (21). Auch die US-Sozialisten Leo H0"*&.'+ und Paul S1**/9, die zu Beginn der KR als Berater fun-gierten, sahen v.a. C'8-&$8 Rolle als »Interpret der Bedürfnisse der Bevölkerung« als problematisch an (1968, 220). Sie kritisierten insb. den Bürokratismus und das Hin- und Herschieben von Kadern. Hans Magnus E+/*+8"*&%*&, der 1969 ein Jahr auf Kuba lebte, kam zu dem Schluss, die politische Macht liege »ausschließlich in den Händen von einer verschwin-dend kleinen Zahl von Personen, die sich um Fidel scharen, und für die keinerlei Parteidisziplin maßge-bend ist« (1969, 215).

Mit der Einführung des Poder Popular, der »Volks-macht«, 1974-76 sind von der Nachbarschaftsebene bis zum Nationalparlament formaldemokratische Strukturen geschaffen worden. Die Kandidaten, die ihre Anliegen in öffentlicher Diskussion vorstellen, müssen nicht der Partei angehören. Sie sind »rechen-schaftspfl ichtig und abwählbar« (R$.'+ 1999, 159). Seit der Verfassungsreform von 1992 lassen sich die Parlamentarier auch auf höchster Ebene direkt wäh-len. Allerdings werden sie von einer Kommission aufgestellt, in der die Partei das Sagen hat. In der sozialistischen Verfassung von 1976 ist die Rolle der PCC als »höchste führende Kraft der Gesellschaft und des Staates« festgeschrieben, die den »Aufbau des Sozialismus […] organisiert und dirigiert« (Kap. I, Art. 6).

Bemühungen der politischen Führung im Vorfeld des IV. Parteitags 1991 (und des VI. Parteitags 2011) um innerparteiliche Demokratisierung blieben zwar Stückwerk und das Einparteiensystem wurde nicht angetastet, doch wurden unterschiedliche Meinun-gen diskutiert, wenn auch nicht veröffentlicht. Es wurden geheime Wahlen eingeführt, in denen 50% der Kader von der Basis abgewählt wurden. Die Mit-gliedschaft der Partei stieg in den Folgejahren um fast 20% auf 780 000. Das sind ca. 7% der Bevölkerung, doch lassen sich über die Parteizugehörigkeit keine Schlüsse auf die tatsächliche Zustimmung zur offi -ziellen Politik ziehen, wie Javier C$&&'#*8 betont. Da die Partei in der seit 1992 bestehenden mixed eco-nomy über den berufl ichen Zugang zum Devisensek-tor entscheidet, stellen viele auch aus diesem Grund ein Aufnahmegesuch (2004, 50f).

6. Die Beziehungen der KR zur sozialistischen Staa-tenwelt waren spannungsreich. Die »Systemzwänge« des Kalten Kriegs, die zwischen »globalem Kapitalis-mus« unter Führung der USA und »globalem Sozia-lismus« unter Führung der UdSSR kaum Spielräume ließen, prägten nicht nur die KR, sondern jedes

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alternative Gesellschaftsprojekt in dieser Epoche. Trotz der Kooperationsmöglichkeiten mit anderen sozialistischen Staaten war Kuba schon wegen seiner geopolitischen Lage in besonderem Maße mit den Widersprüchen des ›Sozialismus in einem Land‹ kon-frontiert.

Seit dem Sieg des kubanischen Guerillakampfes forderte ein Teil der kubanischen Führung, andere Befreiungsbewegungen in Lateinamerika wie in Asien (insb. Vietnam) und Afrika aktiv zu unter-stützen. Ein solcher ›Revolutionsexport‹ schien unabdingbar, um die Isolation zu vermeiden, die seit 1962 mit dem Ausschluss aus der Organisation Amerikanischer Staaten drohte. Daher appellierte C'8-&$ an »die Pfl icht eines Revolutionärs, die Revolution zu machen« (4.2.1962). Dies war weder in den 1960er Jahren noch später einfach illusionär: in mehreren Ländern des Kontinents entstanden einfl ussreiche Befreiungsbewegungen (v.a. in Vene-zuela seit 1960); in Chile wurde 1970 ein sozialisti-scher Präsident gewählt; in Nicaragua erreichten die Sandinisten 1979 gewaltsam ein Ende der Diktatur; in mehreren zentralamerikanischen Staaten war es nur aufgrund massiver Militärhilfe der USA möglich, einen Umschwung zu verhindern; in ganz Südame-rika waren blutige Militärdiktaturen notwendig, um emanzipatorische Bewegungen zu unterdrücken. Anfang des 21. Jh. sollten fast alle diese Länder von der Linken regiert werden.

Ernesto ›Che‹ G0*2'&' legte 1965 seine Ämter nie-der, um seinen Schlachtruf »Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam« in die Tat umzusetzen (1967). Die antiimperialistische Bewegung, die auf eine »selbst-bestimmte Entwicklung« in den Gebieten der ehe-maligen Kolonien zielte, sollte damit zugleich der sozialistischen Weltrevolution zum Sieg verhelfen. Als politische Kraft waren hierbei nicht notwendig kommunistische Parteien gefragt, die sich entweder in Abhängigkeit von der SU der »Doktrin der fried-lichen Koexistenz« unterwarfen, oder, wie die ›euro-kommunistischen‹ Parteien, sich zunehmend von internationalistischen Orientierungen und radikalen Veränderungen abwandten, sondern oftmals ländliche Bewegungen, einzelne Intellektuelle, auch christliche Basisgemeinden und bewaffnete Gruppen – die Gue-rillas: in den 1960er Jahren durch die Unterstützung eher klandestiner Bewegungen in Lateinamerika, ab den 1970er Jahren auch mit massivem militärischem Aufwand, v.a. in Angola, wo zwischen 1975 und 1991 etwa 400 000 kubanische Soldaten im Einsatz waren (vgl. H'-/49 2012, 13). Das Scheitern des ›Revolu-tionsexports‹ und die Veränderungen der Weltlage nach 1989/91 machten eine Umstellung der Außen-politik und andere Wege der Kooperation mit linken Bewegungen notwendig. Das geschieht zum einen

auf dem Wege sozialer und kultureller Unterstüt-zung und Zusammenarbeit, v.a. durch personelle und materielle Hilfe im Schul- und Gesundheitswesen, die einen Teil der Errungenschaften der KR in vie-len Ländern besonders für arme Menschen erfahrbar werden lässt. Die Machteroberung linker Gruppen wie in Nicaragua und seit 1999 in Venezuela wie auch die Bildung von Linksregierungen in vielen Ländern Südamerikas ermöglichten zum anderen einen modus cooperandi mit diesen Staaten.

Am Scheitern von G0*2'&'8 Strategie des Revo-lutionsexports und an den dennoch weitreichenden internationalen Wirkungen der KR v.a. in Lateiname-rika und Afrika »zeigte sich die universelle Potenz der Bewegung, die ›heroische Illusion‹, die jeder wirklichen Revolution innewohnt« (Z*084* 2004, 171), und zugleich der Zwiespalt zwischen Illusion und Realität, der erst am Ergebnis erkennbar wird.

7. Die kulturelle Revolution innerhalb der KR wurde ein wesentliches Element aktiven Konsenses, der zur Sicherung ihres langfristigen Überlebens beitrug, war aber zugleich auch von Widersprüchen zwischen Anspruch und Wirklichkeit gekennzeichnet. Die Her-ausforderung, wie nach den Höhepunkten der Revo-lution die Mühen der Ebene zu bewältigen wären, beschäftigte alle Revolutionstheoretiker. Das betrifft den Kulturbereich im engeren Sinne, aber auch die Frage, wie die »ungeheure Macht der Gewohnheit« zu überwinden sei (L*+!+, LW 29, 411), also die Ver-änderung der Alltagskultur im weiteren Sinne.

7.1 Wie dieses Problem in den Vorstellungen der Akteure der KR in ihrer ersten Periode aufgefasst wurde, zeigt sich in radikaler Weise an dem Bild des »neuen Menschen« (hombre nuevo), das G0*2'&' in seiner programmatischen Schrift »Der Mensch und der Sozialismus in Kuba« entwirft, und an den von ihm daraus gezogenen praktischen Schlussfol-gerungen. Er geht davon aus, dass sich die KR noch nicht in dem von M'&D in Gotha als Merkmal des Sozialismus beschriebenen »reinen Übergang«, son-dern »inmitten gewaltiger Klassenkämpfe und fort-lebender Elemente des Kapitalismus« befi nde. Da in der neuen Gesellschaft Arbeit keine »schmerzliche Notwendigkeit« mehr sei und »materielle Anreize […] im Sozialismus absterben« würden, stünden sie der Bewusstseinsentwicklung der Menschen schon in der Revolution entgegen (1965/2009, 7f). Denn wo die »Überreste einer individualisierenden Bildung« und »warenförmige Beziehungen« noch akut sind (12), bestehe die Gefahr, den Sozialismus mit kapi-talistischen Mitteln aufbauen zu wollen und sich auf »das materielle Interesse als Motivation« zu stützen (13). Dagegen sollten die Mobilisierungen, mit denen man jeweils auf eine spezifi sche Ausnahmesituation

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reagiert hatte (Kampf gegen die Diktatur, gegen den Analphabetismus, die Gefahr einer Invasion von außen), »permanent« werden, weil nur so eine beson-dere »Opferbereitschaft« sich entwickeln lasse (7).

G0*2'&' sucht nach einer adäquaten Form der Institutionalisierung der KR. Ihn treibt die »Furcht« um, »dass jegliche Formalisierung uns von den Massen und den Individuen entfernt« und dadurch das eigentliche Ziel, der Mensch, »befreit von sei-ner Entfremdung«, aus den Augen gerät (18). Diese Gefahr werde vergrößert durch eine »Scholastik, die die Entwicklung der marxistischen Philosophie […] und ihrer Politischen Ökonomie verhindert« habe. In Bezug auf die Entwicklung der Technologie und des neuen Menschen sei man noch »in den Windeln« (20). In seinen postum veröffentlichten ausführlichen Kritischen Notizen zur Politischen Ökonomie kriti-siert er die sowjetischen Handbücher und ruft zum Studium der Fehler beim Aufbau des Sozialismus auf (vgl. 2006, 29-33).

G0*2'&' ist sich somit der Risiken und Fehler der Revolution wohl bewusst. Aber er sieht den Weg zu deren Vermeidung nicht in einer behutsamen Gestal-tung des Übergangs, sondern in andauernder revo-lutionärer Mobilisierung, um eigene Rückständigkeit zu überwinden und sich gegen innere wie äußere Feinde zu behaupten. Entsprechend radikal antwor-tet er in einem Interview auf den Vorwurf, die Regie-rung bediene sich undemokratischer, ja ›stalinistischer Methoden‹: »Every revolution […] inevitably has its share of Stalinism, simply because every revolution faces capitalist encirclement. In a very quick succes-sion, we have been taught the meaning of economic blockade, subversion, sabotage, and psychological warfare.« (Zit.n. Karol 1970, 46f)

Wie Carollee B*+%*#8,$&; feststellt, war mit die-sem Konzept die »Absorption der Zivilgesellschaft durch den Staat« (1994, 5) als eines der entscheiden-den Probleme der KR nicht zu lösen. Unterentwick-lung und Konterrevolution hätten zwar einen ent-scheidenden Einfl uss, könnten aber nicht »per se die Scheidung von Demokratie und Sozialismus« erklä-ren (3). Der Versuch, der Revolution im Inneren und nach außen mit dem Konzept revolutionärer Mobi-lisierung in Permanenz ihren Schwung zu bewah-ren, scheiterte auf beiden Ebenen an den praktischen Erfordernissen des Umbruchs und der Umgestaltung der Gesellschaft.

7.2 Unter ähnlichen Bedingungen der Rückständig-keit hatte L*+!+ die alte sozialdemokratische Einsicht eingeschärft, dass eine neue »geschichtliche Epoche« nicht erreicht werden kann »ohne allgemeine Ele-mentarbildung […], ohne die Bevölkerung in ausrei-chendem Grade daran gewöhnt zu haben, Bücher zu gebrauchen, und ohne die materielle Grundlage dafür«

(LW 33, 456). In ähnlicher Absicht verkündete C'8--&$ 1960 vor den Vereinten Nationen, Kuba werde binnen eines Jahres das »erste Land Lateinamerikas« sein, »das keinen Analphabeten mehr hat« (25.9.1960). In der Tat wurde der Analphabetismus innerhalb eines Jahres von 24% auf 4% gesenkt (UNESCO 1970, 32); knapp 300 000 Kundige hatten fast einer Million Mit-bürgern das Lesen und Schreiben beigebracht. Diese Erfahrung, die direkt jeden fünften und indirekt alle betraf, war der Beginn einer »Transformation der politischen Kultur in Kuba« (F'%*+ 1969, 2). Erst-mals wurde allen die politische Partizipation ermög-licht, und die Lehrmaterialien machten Schuljugend und Lehrkräfte mit den Fragen der KR vertraut. Seit-her hat sich ein kostenloses Schulwesen entwickelt, das trotz aller materiellen Probleme den kubanischen Schulkindern eine herausragende Ausbildung ermög-licht (vgl. C'&+$9 2007).

7.3 Die Besonderheit der kubanischen Kulturre-volution liege darin, so Fredric J'.*8$+, dass die Rechte der Frauen und Minderheiten »als Teil des sozialistischen Aufbaus begriffen und sie in der Kul-tur (Film und Literatur), im Alltagsleben und in der Politik aktiv verfolgt« wurden (2007, 380). Zwar ist die KR dieses Problem anfänglich offensiv angegan-gen (Aufhebung von rassischer Segregation etc.), doch wurden die Ideale bald schon mit der Wirklichkeit verwechselt, kritische Debatten tabuisiert und unab-hängige Assoziationen aufgelöst (vgl. ,* #' F0*+-* 2001, 279). Die »Zweite Deklaration von Havanna« behauptete bereits im Februar 1962, dass Diskrimi-nierung aufgrund von Geschlecht oder Rasse ein Ende gesetzt worden sei (C'8-&$, 4.2.1962).

Zwar ist es der KR innerhalb von nur zwei Jahr-zehnten gelungen, die Lebenserwartung der afro-kubanischen und der ›weißen‹ Bevölkerung nahezu anzugleichen (70er Jahre), während in den USA zur selben Zeit ein Unterschied von sechs Jahren bestand (vgl. Meerman 2001, 1472). Auch bei Bildung und Gesundheit wurde nahezu Gleichheit erreicht. Trotz-dem reproduzierte sich der Rassismus v.a. im Pri-vatbereich, zuletzt auch gefördert durch wachsende Ungleichheit in Folge der Reformen seit 1992, von denen die afro-kubanische Bevölkerung am stärksten betroffen ist. Doch gibt es, im Unterschied zur frühe-ren Tabuisierung, nun auch öffentliche Diskussionen über neue Formen des Rassismus (vgl. C$#*3-!2$ ,* A0-$&*8 2011).

7.4 Der kubanische Frauenverband FMC, der 1960 aus 920 verschiedenen Organisationen hervorging, begleitete zunächst v.a. die massive Eingliederung von Frauen in die Lohnarbeit. Auf ihrem Höhepunkt habe die KR »substanzielle Vorteile für Frauen« geboten, resümieren Lois S.!-) und Alfred P',0#' (1996, 182), denn die Förderung der Berufstätigkeit

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von Frauen und der Gleichberechtigung ermöglichte ihnen eine vergleichsweise hohe Mobilität und soziale Sicherheit. Jede Kubanerin hatte kostenlosen Zugang zu Scheidung, Abtreibung und Verhütung. Zugleich kritisieren sie den Alleinvertretungsanspruch des FMC, die Verhinderung autonomer Bewegungen und den fehlenden Einfl uss von Frauen im Zentrum der Macht.

Unabhängig von den Errungenschaften wurden traditionelle Geschlechterordnungen reproduziert. Elizabeth S. M'&-A+*/ berichtet für das Jahr 1967, dass Frauen morgens an der Waffe, nachmittags am Kosmetiktisch ausgebildet wurden (1969, 178). Die Politik des FMC hing zumeist einem traditionellen Familienmodell an und vermied die Infragestellung der überkommenen Geschlechterrollen; Patriarcha-lismus und Macho-Verhalten sind bis heute gang und gäbe. Das Zentrum für Sexualerziehung (CENESEX) widmet sich seit 1989 der Erneuerung der Geschlech-terrollen. Ohne sie sei »ein moderner Sozialismus nicht denkbar«, so Mariela C'8-&$, Tochter des Prä-sidenten Raúl C'8-&$ und langjährige Direktorin des Zentrums (2011).

7.5 Die Entwicklung von Kunst und Literatur wurde zunächst dadurch begünstigt, dass Kuba in der Tradition der »Transkulturation« (Fernando O&-!/ 1940), d.h. der Vermischung unterschiedli-cher Kulturen stand und die sowjetische Festlegung auf eine bestimmte künstlerische Richtung strikt abgelehnt wurde. Gefordert wurde aber Parteinahme für die Revolution. Wenige Wochen nach der US-geförderten Invasion 1961 wandte sich C'8-&$ an die Intellektuellen mit den Worten, dass »innerhalb der Revolution alles, gegen die Revolution nichts« möglich sei (30.6.1961). Gegenüber Jean-Paul S'&--&* und Simone de B*'02$!& brachte er bei deren Besuch 1960 die Auffassung zum Ausdruck, es sei die »Pfl icht aller, zu kämpfen, jeder mit seinen Waf-fen«. Dazu sollten auch Literatur und Kunst bereit sein (Carteles, 10.4.60, 14). Trotzdem war »kein aus-schließlich instrumentelles Verhältnis zwischen Poli-tik und Kunst vorherrschend« (S3)0#-/ 2005, 70). Es würden »keine Künstler benötigt, um politische Direktiven zu verbreiten«, so der afro-kubanische Poet Nicolás G0!##B+. Er berief sich auf L*+!+, als er 1962 einem DDR-Diplomaten erklärte: »Es ist ein großer Fehler, die bedeutende Rolle der bürger-lichen Kunst in der Geburt und Entwicklung der sozialistischen Kultur zu verneinen.« (zit.n. ebd.) Eine pragmatische Antwort auf die Frage der Zensur formulierte C'8-&$ 1965 angesichts der materiellen Engpässe, die den Kulturinstitutionen wenig Spiel-raum lassen: »Ein Gegner des Sozialismus kann bei uns nicht veröffentlichen« (zit.n. Lockwood 1967, 114). Das gilt noch immer, und damit sind zugleich

die Grenzen des Spielraums markiert, die je nach Situation verengt oder erweitert werden können.

8. Nach 50 Jahren KR, am Lebensabend ihrer histori-schen Führungsfi guren, behauptet sich das Staats- und Regierungssystem noch immer als »sozialistisch« (R. C'8-&$, 16.4.2011), wenn auch die wirtschaftlichen Reformen seit dem Zusammenbruch des Staatssozia-lismus die Widersprüche enorm verschärft und den »Reformbedarf, um die Krise zu managen«, erhöht haben (E8(!+' 2012, 261). Mit einer »Aktualisie-rung und Perfektionierung des Wirtschaftsmodells« nahm der VI. Parteitag der PCC 2011 eine Neude-fi nition in Angriff. Hauptziel ist Effi zienzsteigerung und Minderung der externen Abhängigkeit, v.a. im Lebensmittel- und Energiebereich. Verkleinerung des Staatssektors, Öffnung der Privatproduktion und des Genossenschaftssektors, Schaffung eines Dienst-leistungssektors, größere Rolle des Marktes bei Bei-behaltung zentraler Planungsmechanismen sowie mehr Rechtssicherheit – mit diesen Maßnahmen versucht man den Spagat zwischen Plan und Markt. Die Gefahr des Hegemonieverlusts wurde erkannt und zu mehr Dialog und Selbstkritik aufgerufen. Es gelte, den »Hurra-Formalismus zu beerdigen« sowie »veraltete und sinnentleerte Strukturen, Rituale und Mentalitäten« aufzubrechen (R. C'8-&$, 16.4.2011). Die katholische Kirche, die mächtigste staatsunab-hängige Institution, wurde im Gegensatz zu anderen spätsozialistischen Szenarien Dialogpartner in der Erneuerung, auch wenn sie selbst eine andere Agenda verfolgt.

Auf dem VI. Parteitag sprach Raúl C'8-&$ von der Notwendigkeit eines »nationalen Konsenses« auf der Basis eines »transparenten und ehrlichen Dia-logs […] über jegliches Thema« (ebd.). Widerspruch und Diskrepanz sollen als produktiv anerkannt, nicht aus Angst vor dem Feind unterbunden werden. Ver-suchsweise wurden in zwei Provinzen legislative und administrative Funktionen erstmals getrennt. Diese Beschlüsse des Parteitags beruhen auf einem langen, wenn auch formalisierten Diskussionsprozess in der Bevölkerung. Sie sind ein Indiz dafür, dass die Vor-schläge des portugiesischen Soziologen Boaventura ,* S$08' S'+-$8 beachtet werden. Er hat zu einem »transformativen Konstitutionalismus« und der Wandlung der PCC von einer Avantgarde- in eine »Nachhut«-Partei geraten (2009, 49f). Kuba habe für ein radikales Demokratiemodell günstige Vorausset-zungen, da die »kapitalistischen Verhältnisse nicht dominieren« (52).

Die Linksregierungen Lateinamerikas zu Beginn des 21. Jh. und die Hegemoniekrise der USA trugen mit dazu bei, dass sich die KR von ihrer »Spezialpe-riode« (C'8-&$, 28.1.1990) ansatzweise erholen und

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die folgenden Krisen zu einer Erneuerung nutzen konnte. Kuba wurde Teil der unabhängig von den USA gegründeten regionalen Organisationen wie UNASUR, ALBA etc. und vermochte weitreichende Wirtschaftsverträge mit lateinamerikanischen und europäischen Staaten sowie Kanada und China abzu-schließen, die v.a. Rohstoffe wie Erdöl und Nickel sowie Tourismus und Biotechnologie betreffen. Die Isolation ist überwunden. Beim Amerikanischen Gipfeltreffen 2012 wurde beschlossen, keine weitere kontinentale Konferenz mehr ohne Kuba abzuhal-ten; seit 1992 verurteilt die Vollversammlung der UN jährlich das völkerrechtswidrige Embargo der USA mit nur zwei Gegenstimmen. Würde endlich auch die US-Regierung die Realität anerkennen und ihre Beziehungen normalisieren, könnten sich neue Ent-wicklungschancen und -risiken für einen Sozialismus des 21. Jh. ergeben.

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R'!+*& S3)0#-/, M!3)'*# Z*084*

! Blockfreiheit, Bürokratie, Charisma/charismatische Führung, Entkolonisierung, Fokustheorie, Gewohnheit, Grüne Revolution, Guerilla, Guevarismus, Haitianische Revolution, Hegemonie, Imperialismus, Kolonialismus, Konterrevolution, Kulturrevolution, Neue Ökonomische Politik, Perestrojka, Petrosozialismus, Revolution, Sozia-lismus, Sozialismus in einem Land, sozialistische Markt-wirtschaft, Theologie der Befreiung, Übergang, Über-gangsgesellschaften, Zivilgesellschaft

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S!"#$%&'!(' )*+ T(",-.+/ 8 / I

Krisentheorien (T$*0.1 S.-,*%12")Kritik I (W*,34.+4 F'"!5 H.64)Kritik II (P(!(' J($,()Kritik III (W*,34.+4 F'"!5 H.64) Kritik IV (F'"44. H.64)Kritik V (W*,34.+4 K7!!,(')Kritik VI (T$*0.1 W(-(')Kritik der politischen Ökonomie (W*,34.+4 F'"!5 H.64)Kritische Justiz (J*.#$"0 P('(,1)Kritische Kriminologie I (A,(11.+/'* B.'.!!.)Kritische Kriminologie II (G(',"+/. S0.61/C$'"1!*3 O$0)Kritische Medizin (H.4(+ K7$+)Kritische Psychologie (M*'61 M.'2.'/)Kritischer Rationalismus (S(-.1!".+* G$"16)Kritische Theorie I (G('$.'/ S#$%(88(+$961(')Kritische Theorie II (F'"44. H.64)Kronstädter Aufstand (L6!5-D"(!(' B($'(+/!)Kubanische Revolution (R."+(' S#$6,!5/M"#$.(, Z(612()Kulinarisches I (P(!(' J($,()Kulinarisches II (R"#$.'/ G(-$.'/!)Kultur I (W*,34.+4 F'"!5 H.64)Kultur II (D"(!'"#$ M7$,-('4)Kulturarbeit (D"(!$(' D($0)Kulturelle Nachhaltigkeit (L.'"11. K'."+('/P(!(' H("+!(,)kultureller Materialismus I (H. G61!.) K,.61)kultureller Materialismus II (I+4* L.644.1)kulturelles Kapital (T*-".1 K'&,,)kulturelle Wende (J*1(8$ F'.##$".)Kulturhistorische Schule (A++. S!(!1(+2*/C$'"1!".+ W",,()Kulturimperialismus (E,"1.-(!$ T"00)Kulturindustrie (D*64,.1 K(,,+(')Kulturpolitik (D"(!(' K'.0(')Kulturrevolution (F'(/'"# J.0(1*+)Kulturstudien (Cultural Studies) (M.'2* A086:./J6$. K*")"1!*)Kunst (T$*0.1 M(!1#$(')Kunst der Außenseiter (U,'"#$ M(#2,(')Künstliche Intelligenz (C$'"1!*3 O$0)Kunstmarkt (N*'-('! S#$+("/(')Kunstverhältnisse (P(!(' H. F("1!)Kunstwerk (O!!* K.', W('#20("1!(')Kurtisane (C,(0(+!"+( S2*'8",)Kurzarbeit (K.', G(*'4 Z"++)Kybertariat (M.'"* C.+/(".1)Lacanismus I (T*)( S*",.+/)Lacanismus II (F'.+2 J.-,*+2.)Lachen (P(!(' J($,()Laizität (É!"(++( B.,"-.')

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Lamarckismus (R("+$.'/ M*#(0/V*,0(' S#$1'"2/O,")(' W.,0(+$*'3!)Landlosenbewegung (I3.-(, L*1'("'*/A+/'(.3 N*)4)Landnahme (K,.13 D&''()Landschaft (B'1+* F,"(',)Langer Marsch (W*,5'.6 A/*,7$")Lange Wellen der Konjunktur (J.++"3 K*673*7*1,*3)Lassalleanismus (M*+!3(''.! G.,#('.+/W*,5'.6 A/*,7$")Latifundismus I (T$(*/*' B('26.++)Latifundismus II (U'3 M8,,('-P,.+!(+-('2)lebendige Arbeit (E+'"91( D133(,)Lebensführung I (C$'"3!".+ W",,()Lebensführung II (F.-".+ K(33,)Lebensführung III (C$'"3!".+ W",,()Lebensführung IV (W*,5'.6 A/*,7$")Lebensweise, Lebensbedingungen I (F.-"* F'*3"+")Lebensweise, Lebensbedingungen II (P(!(' J($,()Lebensweise, Lebensbedingungen III (C$'"3!".+ W",,()Lebensweise, Lebensbedingungen IV (A++(!!( S#$+.-(,)Legaler Marxismus (V(3. O"!!"+(+/W*,52.+2 K8!!,(')Legalität/Legitimität (H('6.++ K,(++(')Legitimationskrise (F'.+0 D(77()Lehrbuchmarxismus (R1(/" G'.5)Lehrstück (R*-('! C*$(+)Leiharbeit (O,")(' N.#$!%(4)Leistung I (H('6.++ K*#4-./W*,52.+2 M(+:/S!(7$.+ V*3%"+0(,)Leistung II (F'"22. H.12)Leitfaden (W*,52.+2 F'"!: H.12)Leitung I (N./"+( M8,,(')Leitung II (W*,5'.6 A/*,7$")Lernen I (B('+.'/ S#$+(1%,4)Lernen II (L*'(+: H1#0/F'"22. H.12)Lesbenbewegung I (S.'.$ S#$1,6.+)Lesbenbewegung II (T1#0(' P.6(,,. F.',(4)Lesbenbewegung III (C$'"3!".+( L("/"+2(')lesende Arbeiter (P(!(' J($,()Lessing-Legende (W*,52.+2 B(1!"+)Leviathan (B.3 W"(,(+2.)Liberalismus I (J.++. T$*673*+)Liberalismus II (P.*,* E'#*,.+")Lib-Lab (J&'+ W(2+(')Liebe I (W*,52.+2 F'"!: H.12)Liebe II (F'"22. H.12)Liebe III (T*+ V(('0.67)Liebe IV (F'"22. H.12)Lila (C,.1/". K.'*,4" mit M(,.+"( S!"!:)Linie Luxemburg-Gramsci (F'"22. H.12)