die tragisch-dionysische welt und ihr spiegel im werk von paul chan

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Heribert Heere Die tragisch-dionysische Welt im Spiegel von Paul Chans Werk Selig, wer dem Sturm auf dem Meer entrann und den Hafen erreichte; Selig, wer Mühsal und Leid überwand; auf verschiedene Weise übertrifft der eine den andern an Reichtum und Macht. Ferner: Zahllos sind die Menschen, zahllos ihre Hoffnungen: manche zerrinnen, manche gelingen. Wem aber Tag für Tag das Leben glücklich verläuft, den preise ich selig. Euripides, Bakchen, 902-911 Ich nenne jenen Pessimismus der Zukunft — denn er kommt! ich sehe ihn kommen! — den dionysischen Pessimismus. F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, V 370 Ich lese diesen Ausspruch des Chores in der Tragödie „Die Bakchen“ des über 80jährigen Euripides als tragisch-dionysische Metaphorik. Der Chor preist das scheinbar resignative Glück „dessen, der Mühsal und Leid überwand“ just an der Stelle, wo im Stück der als Mänade verkleidete König Pentheus sich anschickt, das Rasen und Toben der Mänaden, darunter seine Mutter, voyeuristisch zu beobachten, um dann im weiteren Verlauf von derselben in einem kannibalistischen Akt bei lebendigem Leib zerrissen zu werden. In ihrem von Dionysos ausgelösten Wahn hielt sie ihren eigenen Sohn für einen Berglöwen! 1

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Heribert Heere

Die tragisch-dionysische Welt im Spiegel von Paul Chans Werk

Selig, wer dem Sturm auf dem Meer entrann und den Hafen erreichte;Selig, wer Mühsal und Leid überwand;

auf verschiedene Weise übertrifft der eine den andern an Reichtum und Macht.Ferner: Zahllos sind die Menschen, zahllos ihre Hoffnungen:

manche zerrinnen, manche gelingen.Wem aber Tag für Tag das Leben glücklich verläuft,

den preise ich selig.

Euripides, Bakchen, 902-911

Ich nenne jenen Pessimismus der Zukunft — denn er kommt! ich sehe ihn kommen! — den dionysischen Pessimismus.

F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, V 370

Ich lese diesen Ausspruch des Chores in der Tragödie „Die Bakchen“ des über 80jährigen

Euripides als tragisch-dionysische Metaphorik. Der Chor preist das scheinbar resignative

Glück „dessen, der Mühsal und Leid überwand“ just an der Stelle, wo im Stück der als

Mänade verkleidete König Pentheus sich anschickt, das Rasen und Toben der Mänaden,

darunter seine Mutter, voyeuristisch zu beobachten, um dann im weiteren Verlauf von

derselben in einem kannibalistischen Akt bei lebendigem Leib zerrissen zu werden. In

ihrem von Dionysos ausgelösten Wahn hielt sie ihren eigenen Sohn für einen Berglöwen!

1

Mänade und Satyr, 50/30 v. Chr.

Wir haben es auf diesem römischen Relief mit einer von Aby Warburg so genannten

„Pathosformel“ zu tun: die entfesselte, ein Tympanon (Handtrommel) schlagende Mänade,

mit zurückgeworfenem Kopf und aufgelöstem Haar, die er als dionysische „Prägeformel“ –

sogar mit genetischer Verankerung – begreift:In der Region der orgiastischen Massenergriffenheit ist das Prägewerk zu suchen, das dem Gedächtnis die Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins, soweit es sich gebärdensprachlich ausdrücken lässt, in solcher Intensität einhämmert, dass diese Engramme leidenschaftlicher Erfahrung als gedächtnisbewahrtes Erbgut überleben und vorbildlich den Umriss bestimmen, den die Künstlerhand schafft, sobald Höchstwerte der Gebärdensprache durch Künstlerhand im Tageslicht der Gestaltung hervortreten wollen.1

Doch warum ist dieses Pathos tragisch? Und weiter: Warum sollte die Tragik dionysisch

sein, also mit „orgiastischer Ergriffenheit“ zu tun haben?

Ursprünglich bedeutete „tragisch“ nichts anderes als „zur Tragödie gehörend“. Der

mythische Begründer der Tragödie ist Dionysos, was heute in der Forschung insofern

bestätigt wird, als die Herleitung der Tragödie von tragos (Bock) und ode (Gesang)

inzwischen unstrittig ist. „Als Keimzelle der Tragödie wir ein durch Weinrausch evoziertes

Dionysoslied der Menge verstanden, das in einen ekstatischen Tanz einmündet, in dem um

Dionysos gescharte, bocksartige und phallische Satyrn den Chor bilden.“2 Bekanntlich

gehören zum engsten Gefolge des Dionysos die Mänaden, „rasende“ Frauen, die mitten im

Winter bis zum Gipfel des Parnass in ihrem ekstatischen Treiben gelangt sein sollen. Im

Verlauf dessen sei es zu dem sparagmos (Zerreißen lebender Tiere) mit darauffolgender

omophagie (Roh-Essen) gekommen. Nach E. R. Dodds ist die Mänade, „wie mythisch

auch gewisse Handlungen von ihr sein mögen, in Wirklichkeit keine mythische Gestalt3,

2

obwohl unsicher ist, ob dieser düstere Brauch noch zu Zeiten von Euripides (480-406 v.

C.) im Schwange war.

Als Begründer des modernen, diesmal intellektuell-philosophischen Dionysos-Kults, der in

seiner Tragweite für die Moderne kaum überschätzt werden kann, gilt Friedrich Nietzsche.

Schon in seinem Frühwerk, der „Geburt der Tragödie“ schlägt er alle Töne der Klaviatur

seines Denkens an, insbesondere den zentralen Begriff des „Tragisch-Dionysischen“. In

krassem Gegensatz zur üblichen Konnotation der Tragik mit Trauer, Niedergeschlagenheit,

Depression, Angst ist für Nietzsche die dionysische Tragik geradezu ein äußerst vitales

„großes Ja-Sagen“ zum Leben. Er unterscheidet diese vitale Tragik von einer depressiven:Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und Hülfsmittel des wachsenden oder des niedergehenden Lebens angesehen werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus. Aber es giebt zweierlei Leidende, einmal die an der Überfülle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Einsicht und Aussicht auf das Leben — und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung von Kunst und Philosophie verlangen. Die Rache am Leben selbst — die wollüstigste Art Rausch für solche Verarmte!…4

Die Kunst und die Philosophie werden von Nietzsche als bevorzugte Leistungen

angesehen, die Leiden und Schrecken des Lebens erträglich zu machen –und eben nicht

Religion und Moral. Ja, das Christentum erscheint ihm sogar als lebensfeindlich,

nihilistisch, ressentimentbeladen, „Rache am Leben selbst“ übend; also paradigmatisch für

diejenigen zu sein, „die am Leben selbst leiden“. Bekanntlich hat Nietzsche sich sein

ganzes Denkerleben am Christentum abgearbeitet und es ist hier nicht der Ort, dieses

komplexe Thema zu erörtern. Grundsätzlich muss das Christentum als Erlösungsreligion

eine dezidiert anti-tragische Grundhaltung einnehmen, denn wovon soll man denn erlöst

werden, wenn nicht von dem Leiden, den Schrecknissen und letztlich von einem

endgültigen Tod, also von allem, was als tragisch empfunden wird?

In seiner ausführlichen Untersuchung „Was bedeuten asketische Ideale“5 unterscheidet

Nietzsche zwischen der Tendenz des Berufsdenkers (Philosophen) zu einer asketischen

Lebensführung aus Gründen eines entsprechenden Arbeitsethos und der Askese als

Ideologie, die er schon am Beginn der Hochkulturen ausmacht, in diesem Fall der

indischen Vedantalehre, wobei er die Askese zwar als Selbstwiderspruch zum Leben

annimmt, aber gleichzeitig dies als Interesse des Lebens selbst bezeichnet – und zwar als

Lust am Leiden:Denn ein asketisches Leben ist ein Selbstwiderspruch: hier herrscht ein Ressentiment sondern Gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über Etwas am Leben, sondern über das Leben selbst, über dessen tiefste, stärkste, unterste Bedingungen; hier wird ein Versuch gemacht, die Kraft zu gebrauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen; hier richtet sich der Blick grün und hämisch gegen das physiologische Gedeihen selbst, in Sonderheit gegen dessen Ausdruck, die Schönheit, die Freude; während am Missrathen, Verkümmern, am Schmerz, am Unfall, am Hässlichen, an der willkürlichen Einbusse, an der Entselbstung, Selbstgeisselung, Selbstopferung ein Wohlgefallen empfunden und gesucht wird. Dies

3

ist Alles im höchsten Grade paradox: wir stehen hier vor einer Zwiespältigkeit, die sich selbst zwiespältig will, welche sich selbst in diesem Leiden genießt und in dem Maasse sogar immer selbstgewisser und triumphirender wird, als ihre eigne Voraussetzung, die physiologische Lebensfähigkeit, abnimmt. „Der Triumph gerade in der letzten Agonie“: unter diesem superlativischen Zeichen kämpfte von jeher das asketische Ideal; in diesem Räthsel von Verführung, in diesem Bilde von Entzücken und Qual erkannte es sein hellstes Licht, sein Heil, seinen endlichen Sieg. Crux, nux, lux — das gehört bei ihm in Eins.6

Die Lust als Triumph über das Leiden, die Sinnlichkeit und selbst über die Vernunft, also

die Askese, wäre eine Möglichkeit, die Tragik zu überwinden. Den Willen zur Askese

erkennt Nietzsche noch im abendländischen Primat der Vernunft und der Wissenschaft.

Auch der unbedingte Wert der Wahrheit und das asketische Ideal scheinen ihm

Bundesgenossen. Wie aber, so fragt Nietzsche, eine Alternative zum asketischen Ideal

finden, damit man endlich dem „Widerwillen gegen das Leben „ (Genealogie Moral III,

28) entkomme? Jetzt gehe es, schreibt Charles Larmore, um die „Aufklärung der

Aufklärung“. Aufgrund des unbedingten Willens zur Wahrheit, ziehe Nietzsche in der

„Fröhlichen Wissenschaft“ den Schluss „sind wir auf dem Boden der Moral“. Und gerade

weil das Leben „auf Anschein, ich meine auf Irrtum, Betrug, Verstellung, Blendung,

Selbstverblendung angelegt ist, teile diese unbedingte Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit

die asketische, lebensfeindliche Einstellung, die seines (Nietzsches) Erachtens das

Kennzeichen der Moral ausmache.7

Das asketische Ideal mit seinem Willen zur Wahrheit ist nach Nietzsche ein Kennzeichen

eines Kulturtypus, dessen Ideal der Primat der Vernunft und des Wissens ist, vermittelt

durch Logik und Dialektik. Als ersten Protagonisten dieses Kulturtyps gilt Nietzsche

Sokrates, der „angesichts dieses praktischen Pessimismus (der frühen Kulturen) das Urbild

des theoretischen Optimisten ist, der in dem bezeichneten Glauben an die Ergründlichkeit

der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntnis die Kraft einer Universalmedizin

beilegt und im Irrtum das Übel an sich begreift“. (Geburt Tragödie, Kap 15) Nietzsche

wird nicht müde, die Vorzüge dieser sokratischen Welt herauszustellen. So seien für den

sokratischen Menschen Erkenntnis von Schein und Irrtum, der Mechanismus der Begriffe,

Urteile und Schlüsse, aber auch die „erhabensten sittlichen Taten“ wie Mitleid,

Aufopferung, Heroismus sowie die „schwer zu erringende Heiterkeit und Daseinsseligkeit“

der „edelste, wahrhaft menschliche Beruf“.

Dennoch beruhe die sokratisch-wissenschaftliche Welt auch auf einem Glauben, nämlich

an den des unbedingten Willens zur Wahrheit, demgegenüber „uns keine Wahl bleibt“8. Da

aber „das Leben auf Irrtum. Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung“ angelegt

sei, beruhe der Wahrheitswille auf einem „lebensfeindlichen zerstörerischen Prinzip“9.

Nietzsche will damit ein der Wissenschaft zugrundeliegendes „moralisches“ Prinzip

4

aufdecken, das dazu führe, dass der Wissenschaftsgläubige „eine andere Welt bejaht als die

des Lebens, der Natur und der Geschichte, die an sich „unmoralisch“ seien.

Hier sei die Frage gestattet, warum eigentlich alles dem Primat des Lebens, bzw. der Welt

sklavisch untergeordnet werden müsse? Wie steht es z.B. um die Weltfremdheit, eine

Haltung, die man – nicht zu Unrecht – insbesondere Künstlern und Wissenschaftlern

unterstellt? Und ist es nicht geradezu das Vorrecht, ja sogar die Pflicht des modernen

Künstlers, neue Welten der Imagination mittels seiner Einbildungskraft zu schaffen? Wir

erinnern uns an höchstspekulative kosmologische Weltentwürfe am Beginn der Moderne,

etwa an die „weißen Feiern des kosmischen Nichts“ im Suprematismus Kasimir

Malewitschs, an die streng rechtwinklige Welt von Mondrians Neo-Plastizismus oder an

das so einflussreiche „Erhabene“ Barnett Newmans, mit dem er eine neue existentielle, an

der vorplatonischen Welt orientierte Tragik wiedergewinnen wollte.

Und versteckt sich nicht hinter einer der größten kulturellen Leistungen der bürgerlichen

Welt, der radikalen Autonomie der Kunst, eine ebenso radikale Anti-Welt, höchstens

vergleichbar mit der großen Andersheit gnostischer Weltverneinungen?

Mir scheint in diesem Zusammenhang Heideggers zentrale These hilfreich, wonach das

Kunstwerk in der „Bestreitung“ zwischen „Welt“ und „Erde“ sich entfaltet:Indem das Werk eine Welt aufstellt und die Erde herstellt, ist es eine Anstiftung dieses Streits. Aber dieses geschieht nicht, damit das Werk den Streit in einem faden Übereinkommen zugleich niederschlage und schlichte. Sondern damit der Streit ein Streit bleibe. Aufstellend eine Welt und herstellend die Erde vollbringt das Werk diesen Streit. Das Werksein des Werks besteht in der Bestreitung des Streites zwischen Welt und Erde. Weil der Streit im Einfachen der Innigkeit zu seinem Höchsten kommt, deshalb geschieht in der Bestreitung des Streites die Einheit des Werkes. Die Bestreitung des Streits ist die ständig sich übertreibende Sammlung der Bewegtheit des Werkes. In der Innigkeit des Streites hat daher die Ruhe des in sich ruhenden Werkes ihr Wesen.10

Heideggers Kunstwerk-Aufsatz, der übrigens zu den bedeutendsten Texten zur Ästhetik im

20. Jh. gehört, birgt nicht geringe Schwierigkeiten. So ist sein Weltbegriff weder

physikalisch noch rein dinghaft, aber auch nicht unbedingt kulturell codiert zu verstehen.

Das Kunstwerk stellt eine Welt auf und hält „das Offene der Welt offen“. (41) Es gibt also

einen Unterschied zwischen der Welt der Kunst und einer anderen Welt, die „weltet“, die

man mehr oder weniger hat. Die fiktive Bäuerin, die Heidegger zu den Schuhen in van

Goghs Gemälde hinzudenkt, hat eine Welt, „weil sie sich im Offenen des Seins aufhält“.

Diese Offenheit des Seins interpretiert Heidegger so weit, dass sogar die Umgebung durch

das Werk, z.B. den griechischen Tempel, „zuallererst hervorkommt“: Der Fels, die

Metalle, die Farben, der Ton, das Wort werden erst durch das Kunstwerk zu dem, was sie

sind; eine Vorstellung, die dem üblichen Verständnis schwer vermittelbar ist. Heidegger

denkt das Kunstwerk von seinen archaischen Wurzeln im Magischen und Religiösen her

und deutet diese Genealogie radikal phänomenologisch als „Werkseins des Werkes“ um.

Doch kann dies keinesfalls eine unveränderliche Eigenschaft sein, sondern ist im Werden 5

begriffen, in der „Bestreitung des Streits“. Auch der Begriff der „Erde“ ist ebenso

vieldeutig. Er oszilliert zwischen der von Heidegger unterstellten frischen Ackererde an

den Schuhen van Goghs über „das Hervorkommend-Bergende“ (43) bis hin zum „sich ins

Offene bringen als das sich Verschließende“. (44)

Demgegenüber ginge es um einen „Phänomenalismus und Perspektivismus“, um ein

Bewusstsein, dass „unsere Welt eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist“, ja, dass „der

zeichen-erfindende Mensch zugleich der immer schärfer seiner selbst bewusste Mensch“

ist.11 Doch kann damit nicht ohne weiteres auf einen irgendwie erweiterten Begriff der

Wahrheit geschlossen werden. Wenn alles Oberfläche und Zeichen ist, muss

notwendigerweise der Meister der Oberflächen, der Verstellung, der Masken, also der

Schauspieler der moderne Typus par excellence sein. Und in der Tat hat Nietzsche „das

Problem des Schauspielers am längsten beunruhigt“12. So ist für ihn – wie könnte es auch

anders sein – die Figur des Schauspielers durchaus ambivalent. Einerseits gilt sie ihm als

dekadenter anbiedernder Typus, wie etwa Richard Wagner (dessen musikalisches

Gesamtkunstwerk er noch in seinen Frühschriften begeistert gefeiert hat), andererseits sei

gerade der dionysisch-apollinische Künstler, dessen „Artistenmetaphysik“ beinahe das

Credo der „tragischen Erkenntnis“ darstellt, ein Produkt der „eingefleischten Kunst der

ewigen Versteckspielens“. Die Genealogie des Künstlers wäre der „Possenreißer,

Lügenerzähler, Hanswurst, Narr, Clown, Gil Blas. Denn in solchen Typen hat man die

Vorgeschichte des Künstlers und oft genug sogar des Genies.“13

Aus diesem heiligen Narren habe sich laut Nietzsche der „tanzende und spielende Held“ zu

entwickeln. Gilles Deleuze schreibt dazu in seinem, aus der unübersehbaren Flut der

Nietzsche-Literatur nach wie vor herausragenden Nietzsche-Buch:Desgleichen fordert Nietzsche, gegen den dramatischen Ausdruck der Tragödie, den leichtfüßigen, den tanzenden und spielenden Helden. Dionysos kommt es zu, uns leichtfüßig zu machen, uns das Tanzen zu lehren, uns den Spieltrieb einzugeben…Dionysos trägt Ariadne in den Himmel; die Kronjuwelen von Ariadne bilden Gestirne. Liegt darin das Geheimnis von Ariadne? Die aus dem Würfelwurf (Zufall, amor fati) hervorgehende Konstellation? Dionysos wirft. Er tanzt und verwandelt sich – „Polygethes“ (Hesiod) wird er geheißen: der Gott der tausend Freuden Dionysos: Gott des Werdens, des Scheins, des Lebens, der Bejahung: Und die lebende, lebendige Welt ist Willen zur Macht, Willen zur Täuschung…Leben heißt Werte abschätzen. Es gibt keine gedachte Wahrheit der Welt…, alles ist Wertschätzung, gerade und vor allem auch des Sinnlichen und des Wirklichen. Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln (zur objektivierten Täuschung) gilt hier als tiefer, ursprünglicher „metaphysischer“ als der Wille zur Wahrheit.14

6

Bezüglich der Arbeit von Paul Chan stelle ich zwei Thesen auf, die aufeinander bezogen

sind:

- Chan arbeitet mit Pathos-Formeln

- Chans Kunst stellt eine tragisch-dionysische Welt auf.

Pathosformeln bei Paul Chan

Die eingangs erwähnte Warburgsche Pathosformel, die die Gestaltung maximalen

Ergriffenseins beinhaltet, ist für Warburg eine Art „Urformel“, die er vorrangig in der

Antike und deren Nachleben bis heute, z.B. im flatternden Haar modernen

Tennisspielerinnen, aber auch bei den Ureinwohnern Mexikos zu erkennen glaubt. Die

Pathosformel muss erweitert werden zum allgemeinen Ausdruck tragischen Geschehens

bei hohem emotionalen Affekt, der vom Schrecken bis zur Lust und Ekstase reichen kann.

Im Folgenden sollen aus der Fülle der Arbeiten des Multimedia-Künstlers, Collagisten und

Theoretikers Paul Chan einige Werkkomplexe seiner gegenwärtigen umfassenden

Ausstellung im Züricher Schaulager unter dem Aspekt ihrer „Pathosformeln“

herausgegriffen werden.

Happiness

7

Mit „Happiness“ erschafft Chan eine dritte Fantasiewelt, die …an frühe Computerspiele erinnert oder an animierte Werbebanner…Zu Jay Z’s „Big Pimpin“ versammeln sich zwitterhafte Mädchenfiguren aus Dargers (amerikanischer Outsider-Künstler und Schriftsteller) Epos räderschlagend zu einem Festmahl…Doch …kündigt sich ein drohender Wendepunkt an, als am Fenster plötzlich Soldaten und Männer in Businesskleidung auftauchen…In der späteren Nach werden die Mädchen in einer dystopischen (anti-utopischen) Szenerie aufgehängt und brutal hingerichtet…Die aus einer Tastatur aus Grabsteinen bestehende Arbeit „Oh why so serious“ (Anspielung auf den Batman-Film „The dark Knight“) konfrontiert den Betrachter…mit der eigenen Existenz und zieht ihn hinein in den tobenden Kampf zwischen Gut und Böse…Der Kampf wendet sich aber erneut und die Kinder siegen am Ende doch…

(aus dem Ausstellungsheft der Züricher Schaulager-Ausstellung)

Sade for Sade’s sake

Chan gehört zu den wenigen Künstlern, die auch kunsttheoretisch arbeiten und ihre

Schriften veröffentlichen. So schreibt er in seinem Essay „Die verschlungenen Pfade der

Perversion“ über sein Projekt „Sade for Sade’s Sake“Ich kam zu dieser Einsicht (dass sexuelle Gewalt die Sexualität zerstört), weil ich zu der Zeit, als die Bilder (über Abu Ghraib) in der Presse auftauchten, in der Anfangsphase eines Projekts steckte, das später den Titel „Sade for Sade’s Sake“ erhalten sollte, natürlich nach dem Schriftsteller und Philosophen Marquis de Sade. Aber es war nicht nur die Tatsache, wie Sex und Gewalt im Abu-Ghraib-Skandal ineinander verstrickt waren, wodurch mir de Sades Werk zu prophetisch erschien. Es war auch die Art, wie de Sade stets den Krieg und andere soziale Konflikte als Rahmen für seine Geschichten sexueller Ausschweifungen verwandte – er wollte darauf hinweisen, dass das eine stets zum anderen führt.15

8

Waiting for Godot

9

Die beiden notdürftig zusammengebauten Vehikel stammen aus Chans Inszenierung

„Warten auf Godot“, die er 2007 auf einer Straßenkreuzung im zwei Jahre vorher vom

Hurrikan Katrina zerstörten New Orleans aufführte. Ich lasse auch hier den Künstler selbst

zu Worte kommen:Das Verlangen nach dem Neuen ist eine Erinnerung an das, was wert ist, erneuert zu werden. Godot in die konkrete Struktur der Landschaft von New Orleans eingebettet zu sehen, war meine Art, sich die leeren Straßen, die Trümmer und vor allem die trostlose Stille als mehr als den Ausdruck des bloßen Zusammenbruchs neu vorzustellen. Das Sehen wich dem Planen…“Becketts Warten auf Godot“ ist eine einfache Geschichte über zwei Landstreicher, die auf jemand namens Godot warten, der nie kommt. 2007 ist Godot in New Orleans allgegenwärtig, und es ist nicht schwierig, die Stadt durch das Stück zu erkennen.16

Nonprojections

In der neuesten Arbeit (2013/14) von Chan mit dem Titel „Nonprojections“ sind

Projektoren zu sehen, die nicht projizieren, Kabel, die keinen Strom führen,

Philosophennamen, die nichts bezeichnen –die sich vielleicht in einer Hundetransportbox

(im Bild hinten) wiederfinden? Trotzdem sehen wir nicht nichts, sondern etwas: So schlägt

sich Platons („Play Doh“) Ideenlehre in zwei über die Decke verbundenen Projektoren

(die aber nichts projizieren) nieder.

10

Hier geht es, wie oft in der Arbeit Chans, um eine „nicht positive Bejahung“, um einen

Ausdruck von Michel Foucault zu gebrauchen, der betonte, dass es sich bei dieser für die

Moderne eminent wichtigen Figur „nicht um eine verallgemeinerte Verneinung handelt,

sondern um eine Bejahung, die nichts bejaht“17. Diese nicht-positive Bejahung ist aber

wiederum nichts anderes als die tragisch-dionysische Erkenntnis, die nicht das Nichts

bejaht, sondern die Welt: AMOR FATI.

München, 2014

11

1 Aby Warburg, Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 2000, S. 2 Ästhetische Grundbegriffe Bd. 6, „Tragisch/Tragik“, S. 120, Stuttgart 20103 E.R. Dodds, Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970, S. 1494 Nietzsche, Nietzsche contra Wagner, Wir Antipoden5 Zur Genealogie der Moral, III6 A.a.O. 11,127 Charles Larmore, Der Wille zur Wahrheit, in: Otfried Höffe (Hrsg), F, Nietzsche – Zur Gegenalogie der Moral, e-Book, Berlin 2004, Pos. 20518 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 5. Buch, 3449 Ibid.10 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 1960, S. 46f11 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 5. Buch, 34412 Ibid. 36113 Ibid. 14 Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Frankfurt 1985, S. 19915 Paul Chan, Selected Writings, Zürich/New York 2014, S. 38716 Ibid. S. 184ff17 Michel Foucault, Vorrede zur Überschreitung, in: M.F. Dits et Ecrits I, Frankfurt 2001, S. 327