„dabei vergaß ich, jude zu sein" leon modena als verfasser des werkes jüdische riten,...

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50 DANIEL KROCHMALNIK rern und Schülern zu uns, deren Stimmen sonst unwiederbringlich ver- stummt wären, eine Flaschenpost gleichsam vom untergegangenen Flaggschiff der Tora von Magenza und Warmeisia. Im Zeitalter des Buchdruckes ist die Lage der Juden nach dem letzten Holocaust anders, aber auch wir befinden uns in einer Phase des Wiederaufbaus und der Wiederaufrichtung der Tora- und Raschi leuchtet uns immer noch voran. Literatur RAscm: Kommentar zum Pentateuch. Übersetzt von Rabbiner Dr. Selig Bamberger, Basel 1994. RAsHI: Commentary on Psalms. Translated by Mayer 1. Gruber, Phila- delphia 2008. Avraham GROSSMANN: Rashi. Translated from the Hebrew by Joel Lin- sider, Oxford-Portland (OR) 2012. Ronen REICHMANN / Hanah LISS /Daniel KROCHMALNIK (Hrsg.): Raschi und sein Erbe, Heidelberg 2007. Elie WIESEL: Rachi. Ebauche d'un portrait, Paris 2010. English transla- tion by Catherine Termeson, New York 2009. Deutsche Übersetzung und Annotationen von Daniel Krochmalnik in Vorbereitung. Daniel KROCHMALNIK: Raschi zum leidenden Gottesknecht, in: Volker GALLE/ Klaus WOLF/ Ralf ROTHENBUSCH (Hrsg.): Das Wormser Passi- onsspiel. Versuch, die großen Bilder zu lesen, Worms 2013, 215-238. „Dabei vergaß ich, Jude zu sein" Leon Modena als Verfasser des Werkes Jüdische Riten, Sitten und Gebräuche Rafael Arnold Mit seinem Buch über „Jüdische Riten, Sitten und Gebräuche" traf der venezianische Rabbiner Leon Modena (1571-1648) offenbar den Nerv seiner Zeit. Zum ersten Mal 1637 in italienischer Sprache in Paris ge- druckt, 1 erschien nur ein Jahr später unter leicht verändertem Titel eine Ausgabe in Venedig. 2 Dieser folgten mehrere Auflagen 3 und zahlreiche Übersetzungen ins Französische, Englische, Niederländische, Lateinische - (viel später auch ins Hebräische und schließlich ins' Deutsche). 4 Dies geschah in einer Zeit, als die neu entstandene christliche Hebraistik gro- ßes Interesse am Judentum zeigte. Sir Henry Wotton, der sich seit 1604 als Botschafter des englischen Königs Jakob I. in Venedig aufhielt, soll 4 Die Ausgabe erfolgte unter dem Titel: Historia de gli riti hebraici. Dove si ha' bre- ve, e total relatione di tutta Ja vita, costumi, riti e osservanze di gl'Hebrei di questi tempi, di Leon MODENA rabi, Hebreo di Venetia, Parigi, MDCXXXII [ohne Nen- nung des Herausgebers]. Historia de riti hebraici. Vita & oßervanze degli Hebrei di questi tempi di Leon da MODENA rabi H[ebre]o da Venetia, gia stampata in Parigi e hora da lui corretta e ri- formata con licenza de Superiori, in Venetia 1638, Appresso Gio[vanni] Calleoni. So 1669, 1673, 1678, 1687, 1694 und 1714 in Venedig und anderen Druckorten Italiens. Bereits 1650 erschien eine englische Übersetzung von Edmund CHILMEAD unter dem Titel: The History of Rites, Customs, and Manner of Life of the Present Jews in London; eine weitere von Simon OCKLEY wurde dort in 1703 veröffentlicht. Die erste französische Übersetzung wurde in 1674 gedruckt (Ceremonies et coutumes qui s'observent aujourd'huy parmy !es Juifs, trad. par Richard S!MEON) sowie mehrfach wiederaufgelegt, zuletzt in 1998. Eine niederländische Übersetzung er- schien zum ersten Mal in 1683 in Amsterdam (Kerk-Zeeden ende Gewoonten, Die huiden in gebruik ziyn onder de Jooden). Wenige Jahre später folgte die lateinische Übersetzung durch Johann Valentin GROSSGEBAUER (De ceremoniis et consuetudi- nibus hodie Judeos inter receptis, Frankfurt/M. 1693). Erst Ende des 19. Jahrhun- derts erfolgte eine Übertragung ins Hebräische durch Salomon RUBIN unter dem irre- führenden Titel: Shulkhan Arukh (Wien 1867), der an das Werk von Joseph KARO aus dem 16. Jahrhundert denken lässt, das den gleichen Titel trägt. Und schließlich die deutsche Übersetzung: Leon MODENA, Jüdische Riten, Sitten und Gebräuche. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Rafael ARNOLD, Wiesbaden 2007.

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50 DANIEL KROCHMALNIK

rern und Schülern zu uns, deren Stimmen sonst unwiederbringlich ver­stummt wären, eine Flaschenpost gleichsam vom untergegangenen Flaggschiff der Tora von Magenza und Warmeisia. Im Zeitalter des Buchdruckes ist die Lage der Juden nach dem letzten Holocaust anders, aber auch wir befinden uns in einer Phase des Wiederaufbaus und der Wiederaufrichtung der Tora- und Raschi leuchtet uns immer noch voran.

Literatur

RAscm: Kommentar zum Pentateuch. Übersetzt von Rabbiner Dr. Selig Bamberger, Basel 1994.

RAsHI: Commentary on Psalms. Translated by Mayer 1. Gruber, Phila­delphia 2008.

Avraham GROSSMANN: Rashi. Translated from the Hebrew by Joel Lin­sider, Oxford-Portland (OR) 2012.

Ronen REICHMANN / Hanah LISS /Daniel KROCHMALNIK (Hrsg.): Raschi und sein Erbe, Heidelberg 2007.

Elie WIESEL: Rachi. Ebauche d'un portrait, Paris 2010. English transla­tion by Catherine Termeson, New York 2009. Deutsche Übersetzung und Annotationen von Daniel Krochmalnik in Vorbereitung.

Daniel KROCHMALNIK: Raschi zum leidenden Gottesknecht, in: Volker GALLE/ Klaus WOLF/ Ralf ROTHENBUSCH (Hrsg.): Das Wormser Passi­onsspiel. Versuch, die großen Bilder zu lesen, Worms 2013, 215-238.

„Dabei vergaß ich, Jude zu sein"

Leon Modena als Verfasser des Werkes Jüdische Riten, Sitten und Gebräuche

Rafael Arnold

Mit seinem Buch über „Jüdische Riten, Sitten und Gebräuche" traf der venezianische Rabbiner Leon Modena (1571-1648) offenbar den Nerv seiner Zeit. Zum ersten Mal 1637 in italienischer Sprache in Paris ge­druckt, 1 erschien nur ein Jahr später unter leicht verändertem Titel eine Ausgabe in Venedig.2 Dieser folgten mehrere Auflagen3 und zahlreiche Übersetzungen ins Französische, Englische, Niederländische, Lateinische - (viel später auch ins Hebräische und schließlich ins' Deutsche).4 Dies geschah in einer Zeit, als die neu entstandene christliche Hebraistik gro­ßes Interesse am Judentum zeigte. Sir Henry Wotton, der sich seit 1604 als Botschafter des englischen Königs Jakob I. in Venedig aufhielt, soll

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Die Ausgabe erfolgte unter dem Titel: Historia de gli riti hebraici. Dove si ha' bre­ve, e total relatione di tutta Ja vita, costumi, riti e osservanze di gl'Hebrei di questi tempi, di Leon MODENA rabi, Hebreo di Venetia, Parigi, MDCXXXII [ohne Nen­nung des Herausgebers]. Historia de riti hebraici. Vita & oßervanze degli Hebrei di questi tempi di Leon da MODENA rabi H[ebre]o da Venetia, gia stampata in Parigi e hora da lui corretta e ri­formata con licenza de Superiori, in Venetia 1638, Appresso Gio[vanni] Calleoni. So 1669, 1673, 1678, 1687, 1694 und 1714 in Venedig und anderen Druckorten Italiens. Bereits 1650 erschien eine englische Übersetzung von Edmund CHILMEAD unter dem Titel: The History of Rites, Customs, and Manner of Life of the Present Jews in London; eine weitere von Simon OCKLEY wurde dort in 1703 veröffentlicht. Die erste französische Übersetzung wurde in 1674 gedruckt (Ceremonies et coutumes qui s'observent aujourd'huy parmy !es Juifs, trad. par Richard S!MEON) sowie mehrfach wiederaufgelegt, zuletzt in 1998. Eine niederländische Übersetzung er­schien zum ersten Mal in 1683 in Amsterdam (Kerk-Zeeden ende Gewoonten, Die huiden in gebruik ziyn onder de Jooden). Wenige Jahre später folgte die lateinische Übersetzung durch Johann Valentin GROSSGEBAUER (De ceremoniis et consuetudi­nibus hodie Judeos inter receptis, Frankfurt/M. 1693). Erst Ende des 19. Jahrhun­derts erfolgte eine Übertragung ins Hebräische durch Salomon RUBIN unter dem irre­führenden Titel: Shulkhan Arukh (Wien 1867), der an das Werk von Joseph KARO aus dem 16. Jahrhundert denken lässt, das den gleichen Titel trägt. Und schließlich die deutsche Übersetzung: Leon MODENA, Jüdische Riten, Sitten und Gebräuche. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Rafael ARNOLD, Wiesbaden 2007.

52 RAFAEL ARNOLD

Modena den Anstoß zu seiner Schrift gegeben haben. 5 Dem gewachsenen Interesse am Judentum entsprang seinerzeit auch die englische Überset­zung der Heiligen Schrift, die 1611 zum ersten Mal erschien (und unter dem Namen King-James-Bibel unter Christen des englischsprachigen Raums bis heute in Gebrauch ist). Die französische Übersetzung der „Jü­dischen Riten, Sitten und Gebräuche" von Richard Simon (1674) wurde später unter dem Titel „Ceremonies et coutumes qui sont aujourd'hui en usage parmi les Juifs" in dem berühmten achtbändigen Chef-d'reuvre des Protestanten Jean-Frederic Bernard („Les Ceremonies et coutumes religi­euses de tous les peuples du monde", l 723ff.) wieder abgedruckt. 6 Dass diesem enzyklopädischen Werk ein großer internationaler Erfolg be­schieden war, lag nicht zuletzt an den zahlreichen Kupferstichen, die das Buch illustrieren und für die der Herausgeber den aus Paris stammenden Künstler Bernard Picart (1673-1733) gewinnen konnte. Die Kupferstiche (im Falle des Modena-Textes eine doppelseitige Darstellung des Innen­raumes der portugiesischen Synagoge in Amsterdam, drei ganzseitige und sechzehn halbseitige Darstellungen jüdischer Zeremonialgegenstän­de und Bräuche) dienten aufklärerischen Zielen und hatten wissenschaft­lichen Anspruch. Auf diese Weise sollten die behandelten Religionen -und so auch das Judentum den Lesern Bernards Absicht gemäß wertfrei, objektiv und realistisch vor Augen geführt werden.

So weit die Erfolgsgeschichte der „Jüdischen Riten". Dabei hatte es an­fangs keineswegs danach ausgesehen, denn zunächst waren Schwierig­keiten zu überwinden, die nicht zuletzt damit zu tun hatten, dass Modena sein Buch in italienischer Sprache verfasst hatte. Die Tatsache, dass es damit einem größeren Publikum zugänglich war als etwa eine lateinische Abhandlung, wurde von der Inquisition mit Argwohn betrachtet.

Im Frühjahr 1637 hatte Leon Modena beim Heiligen Uffizium, der Inqui­sitionsbehörde in Venedig, die unter anderem über Druckgenehmigungen für Bücher zu befinden hatte, ein Manuskript seiner Darstellung einge­reicht. Im beiliegenden Anschreiben hatte er erklärt, dass seine Schrift ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, sondern auf Bit-

Siehe Cecil ROTH, Leone da Modena and the Christian Hebraists of his Age, in: Jewish Studies in Memory oflsrael Abrahams, New York 1927, 384--401, hier: 389.

Vgl. Rafael ARNOLD, Ceremonies des Juifs, in: 25 und ein Buch. Aus der Biblio­thek der Hochschule für Jüdische Studien, hrsg von Margaretha BROOCKMANN / Monika PREUSS, Heidelberg 2004, 34-35; und allgemein Lynn HUNT/ Margaret C. JACOB/ Wijnand MJJNHARDT, The Book that changed Europe. Picart & Bernard's Religious Ceremonies ofthe World. Cambridge (Mass.)-London 2010.

„DABEI VERGAB ICH, JUDE ZU SEIN" 53

ten eines Privatmannes angefertigt worden sei, weshalb er sich beim Ab­fassen nicht um Dinge gekümmert habe, an denen die Inquisitionsbehör­de Anstoß nehmen könnte.7 Nun aber habe er erfahren, dass der französi­sche Hebraist Jacques Gaffarel in Paris das Buch veröffentlicht habe. Darum präsentiere er jetzt eine seine eigene Version, damit sie geprüft werde. 8 Aus seiner Autobiographie - einer der ersten, die von einem Ju­den in der Neuzeit verfasst wurde - ist zu erfahren, dass er von der Pari­ser Drucklegung überrascht war und schlimme Folgen für die jüdische Gemeinde und sich selbst befürchtete.9 Das Urteil der zuständigen lnqui­sitionsbehörde fiel erwartungsgemäß negativ aus: Am 14. Mai 1637 er­folgte die Entscheidung des Tribunals, dass eine Drucklegung oder hand­schriftliche Verbreitung des Werkes verboten sei.

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Ein Jahr nachdem Modena den abschlägigen Bescheid bekommen hatte, erschien in Venedig dann doch eine neue Ausgabe im Druck. Sie trug den Titel:

Brian PULLAN, The Jews of Europe and the Inquisition of Venice (1550-1570), Oxford 1983; ders., Gli Ebrei e l'inquisizione a Venezia dal 1550 al 1670, Roma 1985; ders., L'inquisizione e gli Ebrei a Venezia, in: Michele LUAZZATI / Albano BIONDI (Hrsg.), L'inquisizione e gli Ebrei in ltalia, Roma 1994, 251-264.

Archivio di Stato di Venezia, Sant'Uffizio, busta 94; siehe auch den Eintrag im Register des Liber Expeditorum in Santo Officio Venet., ab anno 1628: „1637, Leon Modena Rabbi Hebreo, per la stampa di certo suo libro, 28 aprile", Sant'Uffizio, busta 157 (daselbst). - Allgemein zur Zensur in Italien zur Zeit der Gegenreformation siehe William POPPER, The Censorship of Hebrew Books, New York 1899, 29-104.

Leon MODENA, Hayyeh Jehuda, fol. 25a, hrsg. von Mark R. COHEN, The Autobiog­raphy of a Seventeenth-Century Venetian Rabbi. Leon Modena's Life of Judah (trans. and ed. by Mark R. COHEN), Princeton 1988.

10 Die von Modena verfasste handschriftliche Version seines Buches wird nebst sei­nem Anschreiben und der Akte über den Vorgang im Staatsarchiv in Venedig ver­wahrt und ist Grundlage der vom Verfasser besorgten Übersetzung und Ausgabe (Anm. 4). - Der Wortlaut des Urteils ist folgender: „ne audeat [Modena] facere im­primere suprascriptum librum, nec illius copiam alicui tradere sub quovis pretextu". - Über die Inquisitionsaffäre: Cecil ROTH, Leon de Modene, ses Riti Ebraici et le Saint-Office de Venise, in: Revue des Etudes Juives 87 (1929), 83-88; Adolfo OT­TOLENGHI, Origine e vicende dell'Historia de Riti Hebraici, in: La Rassegna Mensi­le di Israel 12 (1932), 189-193; Nino SAMAJA, Le vicende di un libro, in: Rassegna mensile di Israel 21 (1955), 73-84; Vgl. allgemein dazu Paul F. GRENDLER, The destruction of Hebrew Books in Venice, 1568, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research XLV (1978), 103-130. [Reprinted in: ders., Culture and Censorship in Late Renaissance Italy and France, London 1981, als Nr. XII mit gleicher Seitenzahl].

54 RAFAEL ARNOLD

Geschichte der Jüdischen Riten, Leben und Bräuche der Juden in der heutigen Zeit. Von Leon Modena, Rabbi aus Venedig. Zuvor bereits in Paris gedruckt, jetzt aber von ihm verbessert und überarbeitet. Venedig 1638. [Übers. d. Verf.) 11

Das Titelblatt, das auch eine offizielle Druckgenehmigung durch die Be­hörde aufweist, 12 ist mit einer Kartusche geschmückt, die ein Porträt des Verfassers enthält. Es zeigt einen älteren, bärtigen Mann. Rechts und links des Kopfes stehen die Initialen L und M Modena war zum Zeit­punkt des Erscheinens 67 Jahre alt. Er ist der erste jüdische Gelehrte, von dem ein Porträt überliefert ist. 13

Modena und sein Werk

Modena wurde am 23. April 1571 im venezianischen Ghetto vecchio geboren. Sein hebräischer Name Jehuda Aryeh lautet ins Italienische übersetzt Jehuda Leone (,Löwe') und wird manchmal Leone da Mode­na14, meistens jedoch Leon Modena geschrieben. Früh zeichnete sich sein rednerisches Talent ab - später wird er schreiben, dass seine Predig-

11 Eine Übersicht in tabellarischer Form über die Auslassungen und Hinzufügungen der Ausgabe 1638 gegenüber der Ausgabe Paris 1637, allerdings ohne Berücksich­tigung des Manuskriptes, hat Mark R. COHEN besorgt: Leone da Moden's Riti: A Seventeenth-Century Plea for Social Toleration of Jews, in: Jewish Social Studies 34 (1972), 287-321, hier: 320-321. Ein Vergleich dieser beiden Ausgaben mit Mo­denas Manuskript findet sich in der deutschen Ausgabe (Anm. 4).

12 Auf der Titelseite heißt es zwar, das Buch sei mit „licentia de Superiori" gedruckt worden, allerdings lässt sich eine solche Druckerlaubnis anhand der Archivalien nicht nachweisen. Andererseits ist nicht bekannt, dass es Einsprüche oder Maß­nahmen gegen die venezianische Druckausgabe gegeben hätte. Vgl. dazu Nino SA­MAJA (Anm. 10), und Rafael ARNOLD, ,Neutra!' or ,natural' relator? Some remarks on Rabbi Leone da Modena's Historia de' Riti hebraici", in: Zutot (2004), 107-112.

13 Vgl. dazu R. Y. COHEN, The Portrait of the Jew and of Judaism in the Early Mod­em Times in Central and Western Europe. From Symbol to Reality [hebr.], in: Ziyyon 57 (1992), 275-340. Das Anfertigen von Rabbiner-Porträts in Italien in der ersten Hälfte des 17. Jhs. scheint durchaus üblich gewesen zu sein. Vgl. Hannelore KüNZL, Die jüdische Kunst zwischen Mittelalter und Modeme: das 16. bis 18. Jahrhundert, in: Michael GRAETZ (Hrsg.), Schöpferische Momente des europäi­schen Judentums, Heidelberg 2000, 75-96, hier: 88-89.

14 Auf Hebräisch: NJ'117.17.1 ;'1'1N ;i11;i'. Modena selbst weist in seiner Autobiographie (Anm. 9) darauf hin, dass das „da" überflüssig sei. Cecil ROTH, der über dreißig Jahre wie viele Gelehrte die Namensform „Leone da Modena" verwendet hatte be­dauerte später, nicht die Kurzform „Leon Modena" benutzt zu haben. Ders„ 'The Jews in the Renaissance, Philadelphia 1959, 337. Modena schrieb seinen Vorna­men, wenn er ihn in hebräischen Buchstaben wiedergab, immer als „Leon".

„DABEI VERGAß ICH, JUDE ZU SEIN" 55

ten aufgrund ihrer „wohlgefälligen Worte und klaren Sprache" berühmt seien15 -, sein Gedächtnis war phänomenal. Bereits als kleiner Junge soll er tiefgründige Exegesen von Bibelstellen gegeben haben und früh fing er an, seine Lehrmeinungen auch aufzuschreiben. Seine schillernde Ge­stalt faszinierte nicht nur die Menschen in seinem direkten Umkreis, son­dern auch Gelehrte außerhalb des Ghettos, ja außerhalb Italiens. Nach Aufenthalten an anderen Orten Italiens ließ er sich im November des Jahres 1592 wieder in Venedig nieder, wo er eine Familie gründete. Die Schicksalsschläge, die ihn und seine Familienangehörigen in der Folge­zeit trafen, lesen sich wie ein Roman.

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Modena ist bekannt als Verfasser zahlreicher Schriften in verschiedenen Literaturgattungen, die ihn als Meister der Rhetorik zeigen.

17 In seiner

Autobiographie zählt er 26 Berufe auf, die er im Laufe seines Lebens ausübte, darunter auch den des „Maestro di Capella", Kapellmeister einer Singakademie, die er im jüdischen Ghetto leitete. Ein Grund für seine vielfältigen Beschäftigungen war, dass er das Geld benötigte. Modena war nämlich, wie Moritz Steinschneider schrieb, „bekanntlich ein Spie­ler, und kein glücklicher, war also immer in Geldverlegenheit, oder we­nigstens in Geldbedürfnis" 18. Die Spielsucht teilte er mit vielen Zeitge­nossen, sie macht ihn zu einem typischen Kind seiner Zeit und seiner venezianischen Heimat. Kein Wunder also, dass er sich mit allerhand schriftstellerischer Arbeit (beispielsweise war er ein geschätzter Brief­steller und gefragter Dichter von Grabinschriften) etwas verdient hat. Zu seinen Schriften zählt auch ein Traktat, den Modena als Jugendlicher

15 In seiner Autobiographie (Anm. 9) fol. 20a [Übers. d. Verf.]. 16 Eine umfangreiche, fast enzyklopädisch zu nennende Beschreibung von Modenas

Leben verfasste Howard ADELMAN, Success and Failure in the Seventeenth­Century Ghetto of Venice. The Life and Thought of Leon Modena, Ph. D. disserta­tion, Brandeis University, 1985, Ann Arbor, Mich.: University Microfilms Interna­tional 1990. Zuvor Nehemiah Samuel LIBOWITZ, Rabbi Jehudah Arieh Modena. A Critical Account of the Life and Literary Activity of Leon Modena, Rabbi of Ven­ice (1571-1648) (hebr.), Wien 1896; New York [5]661 [=1901 nach christl. Kalen­der] und 1906.

17 In mehreren seiner Werke beschäftigte er sich mit Fragen der Rhetorik, wie bei­spielsweise in dem Werk Lev ha-Aryeh (,Herz des Löwen'), Venedig 1612 mit dem Auswendiglernen mit Hilfe von Orten (loci). Eine Liste seiner Werke steht bei ARNOLD 2007 (Anm. 4), 211-215.

18 Moritz STEINSCHNEIDER, Jehuda (Leon) Modena und Fior di virtu, in: Monats­schrift für Geschichte und Wissenshaft des Judentums 40 (1897), 324-326, hier:

324.

56 RAFAEL ARNOLD

noch vor seiner Bar-Mizwah verfasst hat und in dem er sich ausdrücklich gegen das Glücksspiel wendet, als ob er sich damit selbst davor habe bewahren wollen. Allerdings zwecklos, wie Max Friedländer bündig zu­sammenfasste: „Während er die Spielsucht in Wort und Schrift auf das Entschiedenste perhorreszierte, opferte er selbst einen großen Teil seiner Zeit und seines Vermögens der gräßlichen Leidenschaft." 19

Der Traktat ist 1596 zum ersten Mal in Venedig erschienen und trägt den Namen „Sur me-ra"' (,Lass ab vom Bösen' - nach Ps. 34,15). Wieder­holte Auflagen deuten auf einen großen Erfolg des Buches.

Als Jahre später das Rabbinerkollegium von Venedig den Bann über Kar­ten- und Würfelspiele aussprach, war es jedoch ausgerechnet Modena, der in einer hebräisch verfassten Respons nachwies, dass das Spiel nach talmudischen und rabbinischen Prinzipien durchaus gestattet sei und der Bann dagegen keine Berechtigung habe. Was auf den ersten Blick wider­sprüchlich wirkt, lässt sich aber auch anders deuten: Modenas Freisin­nigkeit lässt keinen unbegründeten Bann gelten, selbst wenn er den damit beabsichtigten Zweck guthieße. Und außerdem wollte er sicherlich beto­nen, dass es sich beim Glückspiel, von dem er, wie die Erfahrung ihn gelehrt hatte, nicht loskommen würde, um keinen sündhaften Verstoß gegen die Tora handelte.

Eine andere Vorliebe Modenas galt der Musik. Sein Wunsch nach einer Verbesserung der Gesangskunst zeigte sich zum ersten Mal im Jahr 1604, als er in Ferrara, wo er zwischen 1604 und 1607 tätig war, versuch­te, Chormusik in den Synagogengottesdienst einzuführen. Dabei stieß er allerdings auf großen Widerstand von Seiten der orthodoxen Rabbinen. Modena reagierte darauf mit einem rabbinischen Gutachten (Respon­sum ), in dem er bestreitet, dass es ein halachisches Verbot bezüglich des Musizierens im sakralen Zusammenhang gebe, und sich dabei auf religi­onsgesetzliche Autoritäten wie Raschi (R. Schlomo ben Izchak; 11. Jh.) und RaMBaM (R. Moses ben Maimon Maimonides; 11. Jh.) stützt.20 -

Ein historischer Glücksfall sollte den Musikliebhaber Modena („an advo-

19 Siehe Max Hermann FRIEDLÄNDER, R. Leon Modena, in: Österreichische Wochen­schrift 6 (1902), 87-88.

20 Leon MODENA, Sehe' elot u-t' schuvot: Ziqnei Y ehuda [,Responsen an die Älteren von Juda'] 1605. Modenas Responsen liegen inzwischen in einer Neuausgabe vor. Siehe dazu Shlomo S!MONSOHN (Hrsg.), Sche'elot u-t'schuvot. Ziqnei Yehuda, Je­rusalem 1956.

„DABEI VERGAB ICH, JUDE ZU SEIN" 57

cate of Jewish music"21) mit dem ausgezeichneten und versierten Kompo­

nisten Salamone Rossi Hebreo („one of the foremost masters in the Golden Age of Italian music"22

) zusammenzubringen, mit dem er gemeinsam heb­räische Lieder für den liturgischen Gebrauch arrangierte, die unter dem Titel Lieder Salomos (Ha-schirim 'ascher li-schlomo) 1622/23 in Venedig

k h. 23 im Druc ersc 1enen.

Zahlreiche weitere Schriften religiösen Inhalts, rabbinische Stellungnah­men und Abhandlungen zur Kabbala folgten.

24

Modena und die Kabbala

Mit Modenas Haltung zur Kabbala verhielt es sich ganz ähnlich wider­sprüchlich. An vielen Stellen seiner Schriften geht er mit der kabbalisti­schen Lehre und ihren Vertretern harsch ins Gericht, was aber keines­wegs ausschließt, dass er in seinem eigenen Leben den einen oder ande­ren kabbalistischen Brauch ausübt. 25 Zu seiner Lebenszeit wurden in Norditalien zahlreiche kabbalistische Werke gedruckt und die Kabbala nahm insgesamt einen großen Aufschwung. Modena sah die rasch an­schwellende Verbreitung mit einer gewissen Skepsis und verfasste schließlich Ende der 30er Jahre eine Schrift, die sich mit dem Thema der Kabbala auseinandersetzt. Sie ist in Form eines Briefes in hebräischer Sprache verfasst und an den Arzt und Philosophen Joseph Hamiz, einen ehemaligen Schüler Modenas, gerichtet. Von diesem Werk mit dem Titel

21 Howard Tzvi ADELMAN, Rabbis, Politics, and Music. Leon Modena and Salamone Rossi, in: Notes from Zamir (Spring 2003), 8-11, hier: 3.

22 Peter GRADENWITZ, An Early Instance of Copyright. Venice 1622, in: Music & Letters 27, No. 3 (1946), 185-186, hier: 186.

23 Dazu kürzlich erschienen: Rafael ARNOLD, Doppelter Kairos. Der Anteil Leon Modenas (1571-1648) an der Einführung der Synagogenmusik und die Wiederent­deckung von Salomone Rossis hebräischen Kompositionen, in: Populäre Kultur und Theologie (POPKULT), Bd. 10 (2013), 11-30.

24 Ein Verzeichnis sämtlicher Schriften Modenas findet sich bei ARNOLD 2007 (Anm. 4), 209-215.

25 So wünscht er sich beispielsweise in seiner Autobiographie (Anm. 9, fol. 38a), dass nach seinem Tode mehrere Männer um den Sarg herumgehen und dabei den Psalm 91 aufsagen sollten, um damit böse Dämonen abzuhalten. Das ist ein kabbalisti­scher Brauch. Vgl. hierzu Gershom SCHOLEM, Tradition und Neuschöpfung im Ri­tus der Kabbalisten, in: ders„ Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt/M.

61989,

159-207, hier: 202-203.

58 RAFAEL ARNOLD

Ari Nohem (,Brüllender Löwe'), das erst 1840 in Leipzig im Druck er­scheinen sollte, sind verblüffenderweise 14 Manuskriptfassungen erhal­ten.26 Modena kritisiert darin das angebliche Alter des „Sohar", des wich­tigsten Buches der Kabbala, und die angebliche Autorschaft von Rabbi Schimon bar Y ochai (Simeon bar Y ohai), des Mischnagelehrten des 2. Jahrhunderts. Modena stützt sich dabei auf eine historisch-kritische Lesart und nimmt beispielsweise Anstoß an der Erwähnung von Perso­nen, die erst nach der vermeintlichen Zeit der Abfassung des „Sohar" gelebt haben.27 In dieser Art von Pseudoepigraphie sah Modena eine an­maßende Strategie der Kabbalisten, die dem Sohar Autorität verschaffen und ihn als Teil einer jahrhundertealten Tradition erscheinen lassen woll­ten. Modena identifizierte stattdessen den mittelalterlichen Gelehrten Moses de Leon als Verfasser des „Sohar". Für ihn war die Kabbala ein­deutig nicht Bestandteil der mündlichen Tora; ebensowenig akzeptierte er die Gleichsetzung von Kabbala und Philosophie (chokhma). Vielmehr legte er Gewicht auf eine Unterscheidung von Kabbala, chokhma und schließlich yedia, die er für eine niedrige Stufe des Wissens hielt. Dass die Kabbalisten den berühmten mittelalterlichen Philosophen Maimonides vereinnahmten, brachte Modena zur Weißglut, hatte er selbst ihn, den Ra­tionalisten, der die aristotelische Philosophie mit der Offenbarungsreligion hatte versöhnen wollen, doch zu seinem „Hausphilosophen" gewählt.

Nicht zuletzt kommt Modena auch auf die Beliebtheit der Kabbala unter christlichen Gelehrten zu sprechen und ist besorgt über Fälle von Kon­version, bei denen die Kabbala eine Rolle gespielt hatte. Dass Johannes Reuchlin und Pico della Mirandola die Kabbala für christliche Zwecke verwendeten, störte Modena ebenfalls.

Es wird jedoch auch deutlich, dass Modena trotz dieser und anderer Vor­behalte den Inhalt des „Sohar" gar nicht angreift. Im Gegenteil er zollt dem Verfasser großen Respekt.

26 Nicht alle tragen den Titel Ari Nohem (,Brüllender Löwe'), sondern einige den eines anderen Werks von MODENA, nämlich Sha'agat A1jeh (,Gebrüll des Löwen'). Siehe dazu Anm. 61.

27 Yaacob DWECK weist darauf hin, dass Modena indes an den im Text verwendeten spanischen und mittelalterlichen Termini der Philosophie keinen Anstoß nimmt. Dabei hätten sie seine Argumentation sehr gut stützen können. Genauso wenig er­wähnt Modena das Thema der Vokalisierung des Bibeltextes. Vgl. ders., The Scan­dal ofKabbalah. Leon Modena, Jewish Mysticism, Early Modem Venice, Princeton 2011, hier: 92.

„DABEI VERGAB ICH, JUDE ZU SEIN" 59

Ein Mann mit doppeltem Antlitz

Die Zwiespältigkeit in Modenas Charakter blieb auch einem seiner größ­ten Verehrer, Abraham Geiger, nicht verborgen, weshalb dieser bei sei­ner Charakterisierung des Rabbiners zum Bild des Januskopfes griff und ihn „ein[en] Mann mit doppeltem Antlitz" nannte.

28 Cecil Roth, dem

besten Kenner des italienischen Judentums im 20. Jahrhundert, galt Mo­dena gerade aufgrund seiner Liberalität und Unvoreingenommenheit, aber auch wegen seiner Uneindeutigkeit und Skepsis als der „erste mo­derne Rabbiner"29, womit er ihm eine außerordentlich prominente Rolle im jüdischen Geistesleben einräumte.

Mangelt es Modena also manchmal an Konsequenz, so treten an anderer Stelle sein Humor und seine Spottlust in Erscheinung, die etwa durch­blitzen, wenn er abergläubische Bräuche und Ammenmärchen

30 als Un­

sinn entlarvt, wie die kabbalistische Annahme, dass der Leichnam eines Menschen nach seinem Tod drei Tage lang gemartert würde, wofür die entwichene Seele eigens in diesen zurückkehrte - was, wie Modena un­terstreicht, „nur von Leuten mit weniger als mittelmäßigem Verstand geglaubt" (178)31 werde.32 Ähnlich äußert er sich bezüglich des verbrei­teten Brauchs, im Zimmer einer Wöchnerin bestimmte beschriebene Zet­tel anzubringen, mittels deren böse Geister wie Lilith, die eifersüchtige erste Frau Adams, abgewehrt werden sollen. Wer diese Vorkehrungen

28 Abraham GEIGER, Leon da Modena, Rabbiner zu Venedig (1571-1648), und seine Einstellung zur Kabbalah, zum Thalmud und zum Christenthume, Breslau 1856, 6. Auf dem klaren, strahlenden Bild eines Rationalisten lagen nach Geigers Auffas­sung auch Schatten, zu denen vor allem Modenas Spielsucht und sein sporadisch sichtbar werdender Aberglaube zählten.

29 Cecil ROTH (Anm. 5), 384. 30 Modena verschweigt abergläubische Handlungen nicht einfach, sondern themati­

siert sie sehr wohl. Einerseits waren sie informierten christlichen Lesern bekannt und ihre Nichterwähnung wäre daher aufgefallen, andererseits könnte es aber auch sein, dass er diesen Phänomenen nicht so viel Bedeutung zumaß wie andere. Man hat den Eindruck, dass Modena stärker daran gelegen war, die bunte Vielfalt darzu­stellen, also ein vollständiges Bild zu geben, als der Gefahr möglicher Kritik christ­licherseits vorzubeugen. Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass Aberglaube und Magie in den Augen der Rabbinen eine schwere Sünde darstellen.

31 Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf die Ausgabe von ARNOLD 2007 (Anm. 4).

32 Diese Passage ist nur in der Ausgabe Paris 1637 (und in der englischen Überset­zung von 1650) abgedruckt; fehlt aber im Manuskript und in der Ausgabe Venedig 1638.

60 RAFAEL ARNOLD

nicht treffen wolle, schreibt Modena, brauche dies auch nicht zu tun, da es dafür weder einen vernünftigen Grund noch eine Vorschrift in der Tora gebe und es außerdem sowieso dumm und nutzlos sei (162).33

- Diese beiden Beispiele zeigen Modena als einen pragmatischen Intellektuellen. 34

Als Verfasser einer Beschreibung der jüdischen Religionsfiten und -bräu­che, von der bereits die Rede war, ist Modena bestrebt, dieselbige mög­lichst objektiv darzustellen35

: „als einfacher, unparteiischer Berichterstat­ter (relatore)" (50)36

. Zu diesem Zweck gibt Modena vor, den Erzähler vom realen Autor zu trennen. Wohl auch deshalb mag er sich entschieden haben, von den Juden in der dritten Person Plural („sie") zu sprechen und nicht „wir" zu sagen. Dem Vorwurf der Parteilichkeit, den seine Gegner äußern könnten, weil er Jude sei,37 kommt er damit zuvor und beteuert, dass ihn andere, nämlich christliche Gelehrte, in diesem Punkt beruhigt hätten, da sie keinen Zweifel an seiner Aufrichtigkeit hätten (49-50). 38

Um ganz sicher zu gehen, behauptet er sogar, beim Schreiben vergessen zu haben, Jude zu sein: ,,Nello scriver, in verita, ehe mi sono scordato

33 „ ... impero chi non vuol farlo lascia di metterli, ehe cio non solo non ha fonda­mento alcuno di precetto, ma piu tosto vanita" (Ausgabe 1638, 101).

34 Von den jüdischen Intellektuellen seiner Epoche, die man vielleicht mit ihm ver­gleichen könnte, wäre Ovadia Sfomo zu nennen. Vgl. Y ehuda F ALK, Rabbi 'Ovadya Sfomo - Humanist Exegete (hebr.), in: Sefer NEIGER, Ma'amarim be l)eker ha-tanakh le-zekher David Neiger z"l, Jerusalem 1959, 277-302; Saverio CAMPANINI, Un intelletuale Ebreo de! Rinascimento. 'Ovadya Sfomo a Bologna e i suoi Rapporti con i Christiani", in: Maria Giuseppina MUZZARELLI (Hrsg.), Verso l'Epilogo di una Convivenza: Gli Ebrei a Venezia nel XVI Secolo, Firenze 1996, 109-113.

35 Vgl. dazu auch Mark R. COHEN (Anm. 11 ).

36 Modena beteuert dies im Vorwort. Im Manuskript steht „naturale relatore" (,natür­licher Berichterstatter'), im Sinne von ,unvoreingenommen, unparteiisch'. In allen Druckausgaben steht „neutrale". Vgl. ARNOLD, ,Neutra!' or ,natural' relator? (Anm. 12). In anderem Zusammenhang, wo Modena zwischen „natürlichem" (tiv 'i) und künstlichem (melakhuti) Gedächtnis unterscheidet, gibt er dem natürlichen den Vorzug, denn „alles, was natürlich ist, kann nicht schaden". Siehe MODENA, Lev ha-Aryeh (Anm. 17) „Tor 1", Kap. 10) [Übers. d. Verf.].

37 „[ ... ] sospetto, per uscir da un Hebreo de! quale si dubitarebbe c 'havesse celato, o mutato quello ehe non gli fasse parso bene, ehe si fasse risaputo come staua a pun­to" (Manuskript, fol. 2r).

38 „[„.] ehe non saria stato riuocato in dubbio da niuno d'hauer parlato sinceramen­te" (Manuskript, fol. 2r).

„DABEI VERGAB ICH, JUDE ZU SEIN" 61

d'esser Hebreo"39. Dass es sich dabei um einen rhetorischen Kunstgriff

handelt, muss nicht betont werden, 40 und auch nicht, dass Leon Modena in Wirklichkeit zu keinem Zeitpunkt sein Ziel, den Lesern ein positives Bild vom Judentum zu vermitteln, aus den Augen verloren hat.

41 Der

Vorwurf, er habe Dinge, die Anstoß hätten erregen können, ganz bewusst verschwiegen, wurde dem Autor dann allerdings doch gemacht

42 - nicht

völlig zu unrecht, wie an späterer Stelle gezeigt werden wird.

Modena beteuert indes, keineswegs überreden, sondern nur beschreiben zu wollen43

; in diesem Sinne solle sein Werk keine Werbeschrift sein. Der leiseste Verdacht, der Autor könne mit seiner Schrift versuchen, Pro­selyten zu gewinnen, hätte ihm auch umgehend große Schwierigkeiten vonseiten der Inquisitionsbehörde eingebracht.

Es hatte zuvor schon Kompendien gegeben, in denen die religionsgesetz­lichen Vorschriften, wie sie in der Tora, den Fünf Büchern Moses, fest­gelegt sind, systematisiert dargeboten wurden, doch waren diese von Juden für Juden geschrieben und dienten der Unterweisung im eigenen Glauben, wie z.B. der „Führer der Verwirrten" von Maimonides (1135-1204), Jakob ben Aschers (ca. 1240-1340) „Arba Turim" oder Josef Ka­ros (1488-1575) Buch „Schulchan Aruch" (,Der gedeckte Tisch'). Ge­gen Ende des 16. Jahrhunderts waren in Venedig zudem zwei so genann­te Minhagim-Bücher 44 gedruckt worden, in denen jüdische Bräuche (minhagim) dargestellt und erläutert wurden.

39 „Nello scriver, in verita, ehe mi sono scordato d'esser Hebreo" (Manuskript, fol. 2v). Dem englischen Übersetzer CHILMEAD unterlief in seiner Ausgabe, die 1650 in London erschien, ausgerechnet an dieser entscheidenden Stelle ein Übersetzungs­fehler: „And, in my Writing [ ... ] remembring my seif tobe a Jew" (The Authors Preface). Ob er dies bewusst tat, weil er einem Juden nicht zutraute, vom eigenen Judentum absehen zu können, lässt sich nicht entscheiden.

40 Nathalie Z. DAVIS, Ruhm und Geheimnis. Leone da Modenas Leben Jehudas als frühneuzeitliche Autobiographie, in: dies., Lebensgänge, Berlin 1998, 53.

41 Vgl. COHEN, Leone da Modena's Riti (Anm. 11). 42 Vgl. SAMAJA, Le vicende di un libro (Anm. 10), 83. 43 „Ferche ho inteso di riferire, e non di persuadere" (Manuskript, fol. 2v). An ande­

rer Stelle erwähnt er jedoch durchaus die Überlegung, „ihnen [i.e. den Christen] da­bei behilflich zu sein, ihre bessere (nivlJar) Naturbeschaffenheit wiederzuerlangen" - allerdings tut er dies auf Hebräisch (MODENA, Midbar Yehuda, fol. 83a) [Übers. d. Verf.].

44 Die Drucke erschienen im Jahr 1589 und 1593. Sie waren in jiddischer Sprache verfasst und zudem in hebräischen Buchstaben gedruckt, zielten also eindeutig auf

62 RAFAEL ARNOLD

Wer sich hingegen als Christ über die jüdische Religion, ihre Zeremonien und Bräuche informieren wollte, verfügte über keine zuverlässigen Dar­stellungen aus erster Hand. Manches wusste man vom Hörensagen, Ge­rüchte kursierten, und dann gab es noch Bücher, die von Christen ge­schrieben waren und versprachen, genaue Auskunft über das Judentum und die Juden zu geben.45 Oftmals handelte es sich dabei indes um ten­denziöse Schriften, deren Verfassern nicht so sehr an der Wahrheit gele­gen war, sondern denen es mehr darum ging, das Jüdische mit einer At­mosphäre von Düsternis, Gräuel und Geheimnistuerei zu umgeben. An unrühmlich prominenter Stelle steht hier die antijüdische Polemik, die Heinrich Buxtorf im Jahr 1603 unter dem Titel „Synagoga Judaica, das ist Jüdenschul" in Basel publizierte.46 Modena erwähnte Buxtorfs Buch ausdrücklich in einem Brie:t47 und an einer Stelle seiner „Jüdischen Riten, Sitten und Gebräuche", wo er von verzerrenden und verlogenen Darstel­lungen des Judentums durch verschiedene Autoren spricht, heißt es:

„Einige Leute [und damit dürfte auch Buxtorf gemeint sein] haben gesagt, die Juden würden jeden Tag schwören, einen Christen drei Mal zu täuschen {und zu betrügen}, aber das ist eine {ausgesprochene} Lüge {verbreitet, um sie noch verhasster zu machen, als sie ohnehin schon sind} und soll nur der Verleumdung dienen." (102)48

ein jüdisches Publikum. Vgl. dazu Naomi FEUCHTWANGER-SARING, How Italian are the Minhagim of 1593? A Chapter in the History ofYiddish Printing in Italy, in: Michael GRAETZ (Hrsg.), Schöpferische Momente des europäischen Judentums, Heidelberg 2000, 177-205.

45 Es gibt zahlreiche solcher Darstellungen des jüdischen Brauchtums, etwa sechzig lassen sich bibliographisch ermitteln. Unter den späteren Titel dieser Art findet sich auch das Entdeckte Judenthum des notorischen Antisemiten Andreas EISENMENGER (1654-1704).

46 BUXTORFs einziges Werk, das in deutscher Sprache gedruckt wurde, erschien 1603 in Basel. Im Titel verspricht es „Aufklärung" über Sitten und Gebräuche „wie sie bei jhnen [sc. den Juden] offentlich und heimlich im Brauche: Auss jhren eigenen Buecheren und Schrifften so den Christenmehrteils unbekannt und verborgen sind".

47 Dieser Brief an den Theologen Vicenzo Noghera in Bologna ist von Cecil Roth veröffentlicht worden. ROTH, Leone da Modena (Anm. 5), 392.

48 Auch in einem weiteren - in hebräischer Sprache verfassten - Brief aus dem Jahr 1640 bekräftigt Modena, er habe mit dem Buch der Verhöhnung der Juden durch Christen ein Ende setzen wollen. Siehe dazu Ludwig BLAU, Leo Modenas Briefe und Schriftstücke, in: Jahresbericht der Landes-Rabbinerschule in Budapest 28 (1905), 93-95. Der Brief, der die Nr. 193 trägt, ist auf den Seiten 178-179 abge­druckt.

„DABEI VERGAB ICH, JUDE ZU SEIN" 63

Den verbreiteten Polemiken gegen das Judentum standen freilich auch jüdische Schriften, die sich gegen das Christentum richteten, gegenüber, darunter übrigens auch eine von Modena selbst mit dem Titel „Magen ve-Herev" (zu deutsch ,Schild und Schwert'). Dazu ist jedoch anzumer­ken, dass ein wesentlicher Unterschied darin besteht, dass die jüdischen Schriften nicht nur geringer an Zahl und Wirkung waren, sondern dass sie mehrheitlich und nachweisbar erst auf erfolgte Angriffe von christli­cher Seite reagierten.49

Modenas Buch „Jüdische Riten, Sitten und Gebräuche" ist in diesem Sinne ein apologetisches Werk, das für religiöse und soziale Toleranz wirbt. 50 Es aber ausschließlich im Zusammenhang mit den erwähnten polemischen Werken zu betrachten, würde bedeuten, dem individuellen Charakter des Buches nicht gerecht zu werden. 51 Denn darin zeigt sich eine ganz neue Geisteshaltung, die auf ein vemunftbegabtes Publikum zielt und auf eine sich gerade herausbildende Form der Öffentlichkeit, wie sie durch einzelne aufgeklärt denkende Personen bereits verkörpert wurde. Zugleich bekämpft Modena die verbreitete antijüdische Haltung, die zum einen aus Unkenntnis herrührte, die zum anderen aber von Mutwilligen ideologisch instrumentalisiert wurde, mit den Mitteln der Aufklärung.

49 Vgl. dazu Hanne TRAUTMANN-KROMAN, Shield and Sword. Jewish Polemics against Christianity and the Christians in France and Spain from 1100-1500, Tü­bingen 1993.

50 In diesem Zusammenhang sei die lateinisch verfasste Apologetik des David de POM!S erwähnt, die fünfzig Jahre zuvor ebenfalls in Venedig erschienen war und die Bedeutung jüdischer Ärzte hervorhebt: ders., De Medico Hebraeo Enarratio Apologica, Venetiis (Variscus) 1588; sowie auch Simone LUZZATTO, Discorso cir­ca il stato de gl'Hebrei, et in particolar dimoranti nell'inclita citta di Venetia, Vene­zia 1638, das fast gleichzeitig mit Modenas Buch erschien und bei dem es sich ebenfalls um eine Apologie der Juden handelt, die sich aber vor allem auf den öko-nomischen Nutzen der Juden für die Republik Venedig beruft.

51 Von den unterschiedlichen Deutungen seien hier nur drei exemplarisch angeführt: Abraham GEIGER sieht Modenaals Vorboten des Reformjudentums (vgl. Anm. 28), dazu prädestinierte ihn nicht zuletzt sein Engagement für synagogale Musik; Cü­HEN (Anm. 11) versteht die „Jüdischen Riten, Sitten und Bräuche" als ein Plädoyer für soziale Toleranz; Jacques Le BRUN nennt es eines der ersten ethnologischen Werke über das Judentum im 17. Jahrhundert, das im Kontext zeitgenössischer Rei­se- und Völkerbeschreibungen zu sehen sei, die in der Folge der geographischen Entdeckungen im 16. und 17. Jahrhundert auf breites Publikumsinteresse stießen. Jacques Le BRUN / Guy G. STROUMSA, Les Juifs presentes aux chretiens. Textes de Leon de Modene et de Richard Simon, Paris 1998, XIV.

64 RAFAEL ARNOLD

Während sich die Inquisition in Italien seit dem 16. Jahrhundert durch zwangsgetaufte Juden aus Spanien und Portugal, die teils zum Judentum zurückkehrten, teils eine unbestimmte religiöse Identität vorzogen, her­ausgefordert sah, und während die Parteigänger der Gegenreformation, die überall Häresie witterten, seit dem Tridentinischen Konzil die Gren­zen zwischen Orthodoxie und Heterodoxie schärfer zogen, mehrten sich zur gleichen Zeit die persönlichen Kontakte zwischen Menschen unter­schiedlicher Glaubensrichtungen, speziell zwischen Juden und Christen. Das jüdische Ghetto in Venedig war inzwischen für viele Besucher zu einem regelrechten touristischen Must-see geworden.52 Sir Henry Wot­ton, der eingangs erwähnt wurde, sei hier stellvertretend für die vielfälti­gen Kontakte, die auch Modena mit christlichen Herren und Gelehrten hatte, genannt. Dass Modena seiner Bitte entsprach und als Jude eine Beschreibung jüdischer Sitten anfertigte, die sich ausdrücklich an Nicht­juden richtete und dazu in ihrer Umgangssprache verfasst war, ist gera­dezu sensationell.

Aufbau und Inhalt des Werks Jüdische Riten, Sitten und Bräuche

Gemäß der Fünfteilung der Tora hat Leon Modena sein Werk, wie er im Vorwort erklärt, in fünf Teile gegliedert. Die Anordnung der Kapitel folgt nicht immer einem logischen Plan, sondern geschieht teilweise as­soziativ. Was den Inhalt des Buches betrifft, so deckt es sehr viele As­pekte jüdischen Lebens ab.

Das erste Kapitel gliedert Modena nochmals in drei Teile: An erster Stel­le stehen die biblischen Vorschriften (precetti della Legge scritta), ge­folgt von der mündlichen Tora (!egge a bocca), wobei es sich um Erklä­n:ngen und Auslegu~~en. de~ Ra~biner handelt, ~nd schließlich folgen die Bräuche (vsanze) , die sich im Laufe der Zeit und von Ort zu Ort

52 Vgl. Benjamin RAVID, Christian Travellers in the Ghetto ofVenice. Some Prelimi­nary Observations, in: Stanley (Shlomo) NASH (Hrsg.), Between History and Lit­erature. Studies in Honor of Isaac Barzilay, Tel Aviv 1997, 111-150; Thomas CORYATE, Observations ofVenice, Teilausgabe von Crudities, erschienen in 1611. [Glasgow 1905; Facs., London: Scolar Pr., 1978]; Thomas CORYATE, Beschreibung von Venedig 1608, hrsg. und übersetzt von Birgit HEINTZ und Rudolf WUNDER­LICH, Heidelberg 1988.

53 Hebr. minhagim (vgl. Anm. 44 und 54).

„DABEI VERGAB ICH, JUDE ZU SEIN" 65

bisweilen stark geändert haben.54 Die weiteren Kapitel des ersten Teils behandeln den jüdischen Alltag, Kleidung, rituelle Waschungen, Erzie­hung, Gebete und Almosen für die Armen. Im zweiten Teil geht es um die Sprachen, die rabbinische Ausbildung und um Speisevorschriften. Der dritte Teil behandelt den Schabbat und die Feiertage im Jahreslauf. Im vierten Teil erörtert Modenau. a. Fragen des Ehestandes. Der letzte Teil thematisiert die Konversion zum Judentum, die Karäer, Wahrsagerei und Magie, Krankheit, Tod und Begräbnis sowie die dreizehn Glaubensartikel.

Bei der Begründung ritueller Handlungen und Traditionen bezieht sich Modena fast ausschließlich auf Bibelstellen, um die Gemeinsamkeiten zwischen Christen und Juden zu betonen. Dies resultiert aus Modenas apologetischer Absicht, das Judentum als Schrift- oder Buchreligion dar­zustellen und nicht etwa als auf den Hirngespinsten der Rabbiner basie­rend, wie Buxtorf es dargestellt hatte. Dabei verschweigt Modena die mündliche Lehre und den Talmud zwar nicht vollständig, aber er drängt das rabbinische Judentum sehr in den Hintergrund, sicher auch deshalb, weil er selbst Vorbehalte gegen manche Entscheidung oder Meinung der Rabbiner hatte, wie beispielsweise im Falle des Banns gegen das Glücks­spiel.55 Die Entstehungsgeschichte und den Inhalt des Talmuds stellt er im 2. Kapitel des zweiten Teils kurz dar. Die Tatsache, dass Modena nicht wörtlich aus dem Talmud zitiert, lässt sich mit dem Talmudverbot

56

54 „[ ... ] alcune cose, in diuersi tempi, e luoghi diuersamente poste in vso, o di nuouo introdotte, e pero detti Minhagim, vsanze [ ... ] in cio ehe s 'apartiene a questa terza parte de gl 'vsi solamente si troua varieta, e non poca" (Manuskript, fol. 3r).

55 Vgl. dazu Abraham GEIGER, Leon da Modena (Anm. 28). Kritische Stimmen zum Talmud finden sich aber auch bei anderen zeitgenössischen jüdischen Gelehrten, so z.B. im Vorwort von Immanuel ABOAFs Nomologia, die 1625 vollendet wurde.

56 Im 13. Jahrhundert waren zum ersten Mal Anklagen laut geworden, der Talmud enthalte anti-christliches Gedankengut. Vgl. J. ROSENTHAL, The Talmud on Trial. The Disputation at Paris in the Year 1240, in: Jewish Quarterly Review 47, 58-76, 145-169. Unter Papst Julius III. kulminierte der Argwohn gegen den Talmud und die ihm unterstellte Christenfeindschaft in der Anordnung seiner Zerstörung. In Rom fand auf dem Campo dei Fiori am 9. September 1553 eine Bücherverbrennung statt. David KAUFMANN schreibt dazu: „Die Ahnung war begründet, daß dieses fressende Feuer in Rom nicht Halt machen werde". Ders., Die Verbrennung der talmudischen Literatur in der Republik Venedig, in: Jewish Quarterly Review XIII (1900), 533-538, hier: 533. Und in der Tat breitete sich diese Vemichtungswut auch in andere Städte Italiens aus. Am 21. Oktober 1553 - nur drei Tage nach dem Beschluss des Rates der Zehn, der die Konfiszierung und Verbrennung des Talmud anordnete - loderten auch in Venedig auf der Piazza di San Marco die Scheiterhau­fen. Laut Schätzungen, wurden mehrere Tausend Bücher verbrannt. Vgl. dazu Paul

66 RAFAEL ARNOLD

erklären, das die katholische Kirche wiederholt verhängt hatte, was Mo­dena ausdrücklich erwähnt:

„Dieser Talmud wurde von einigen Päpsten verboten, von anderen wieder er­laubt; aber heutzutage bleibt er verboten, und in ganz Italien sieht man ihn nicht, noch wird er gelesen." (98)

Aus diesem Grund, so betont Modena, würden die Juden nur Paraphrasen des Talmuds benutzen (93). Möglicherweise leugnete Modena die Exis­tenz von Talmudexemplaren aus Vorsicht vor erneuter Konfiszierung, da er um die willkürliche und wankende Haltung der Päpste in dieser Sache wusste. Jedenfalls unterstreicht seine Feststellung die prekäre Lage, in der sich das Talmudstudium und die damit verbundene Weitergabe der religiösen Tradition seit Mitte des 16. Jahrhunderts befand.

Modenas Verhältnis zu den talmudischen Schriften ist aber wiederum nicht ohne Widersprüche. Abraham Geiger, der zu den größten Verteidi­gern Modenas gehört, wies auf viele Stellen in Modenas Werk hin, an denen dieser mal offen, mal verdeckt Kritik an den Talmudisten übt. 57 In Modenas Darstellung der „Riten, Sitten und Bräuche" fehlt es an solcher Kritik ebenfalls nicht. 58 Freilich ist es vollkommen übertrieben zu be-

F. GRENDLER, La distruzione di libri ebraici a Venezia nel 1568, in: Umberto FOR­TIS (Hrsg.), Venezia ebraica. Atti delle prime giornate di studio sull'ebraismo vene­ziano (Venezia 1976-1980), Roma 1982, 99-127, hier: 103, (siehe auch Anm. 10). Im Zusammenhang mit den veneziansichen Talmudverbrennungen im Jahr 1553 schreibt KAUFMANN: „Die Strafandrohungen waren so furchtbar, dass man bei dem in Venedig gezüchteten und in diesem Falle noch besonders herangelockten Denunciantenwesen fast mit Sicherheit auf eine gründliche Austilgung des talmudi­schen Schrifthums im Venezianischen schließen kann." Ders., Die Verbrennung (Anm. 56), 535. Wenig bekannt ist, dass im Jahr 1568 eine weitere Talmudverbren­nung folgte. In seinem Buch Emek habacha berichtet der Zeitgenosse Joseph HA­COHEN, es werde behauptet, „daß der Talmud den Messias der Christen diffamiere und daß der Papst seine Verbreitung nicht dulden dürfe". Joseph HA-COHEN, Emek habacha [,Tränental'; Manuskript aus dem 16. Jhdt.]. Aus dem Hebräischen ins Deut­sche übertragen von M. WIENER, Leipzig [1558-1575] 1858, 89. Im Jahr 1601 fand auf Befehle Clemens VII. wiederum eine Verbrennung hebräischer Bücher statt.

57 GEIGER, Leon da Modena (Anm. 28).

58 So schildert Modena, dass in den Jeschiwot, den rabbinischen Schulen, eine große Unordnung herrsche, man schreie durcheinander, wofür er den behandelten Gegen­stand selbst verantwortlich macht. An anderer Stelle vertritt er die Ansicht, dass die Vorschriften der Heiligen Schrift vollkommen ausreichen würden, die Rabbinen aber noch andere Anordnungen hinzugefügt hätten. In den Jüdischen Riten, Sitten und Bräuche erhebt Modena mehrfach den Vorwurf, dass sich die Schriften der Rabbiner wiederholten.

„DABEI VERGAB ICH, JUDE ZU SEIN" 67

haupten, Modena hätte die Weisen des Talmuds gehasst, wie dies der italienische Kabbalist Samuel David Luzzatto Ende des 19. Jahrhunderts tat.59 Lässt man die sachliche Unrichtigkeit dieses Urteils einmal außer Acht, die sich anhand von Modenas Schrift Magen ve-+innah (,Schild und Tartsche')60

, in der er die mündliche Lehre verteidigt, leicht aufwei­sen ließe, so ist diese Äußerung aber doch nicht ohne Interesse, da man an ihr ablesen kann, wie unterschiedlich Modenas oszillierendes Verhält­nis zum talmudischen Judentum bewertet wurde und wie umstritten er als Persönlichkeit war und ist. Ausdruck seiner Widersprüchlichkeit ist auch das Werk Bechinat ha-Kabbala, das sich aus zwei Teilen zusammensetzt: im ersten Teil (Kol Sachal; ,Stimme eines Toren') wird ein jüdischer Gesetzeskodex präsentiert, der ausschließlich auf die biblische Gesetzge­bung zurückgeht; im zweiten Teil (Scha 'agat Arje; ,Gebrüll des Löwen') erfolgt dann seine vollständige Widerlegung.

61

So verdeckt Modenas Kritik am rabbinischen Judentum auch ist - und viel offener hätte er auch gar nicht werden dürfen, ohne fürchten zu müs­sen, den Feinden des Judentums in die Hand zu spielen-, so zeigt sich doch gerade hier ein sehr komplexes Verhalten, bei dem der Blick nicht ausschließlich nach außen auf das christliche Publikum gerichtet ist, son­dern auch nach innen, wo ebenfalls mit Widerständen zu rechnen war.

62

Modenas Werk musste also einem doppelten Anspruch genügen.

59 „Er hasste die Weisen der Mischna und des Talmuds mehr als die Karäer. Er war in stärkerem Maße reformiert als Geiger. Und das vor 220 Jahren! Und in Italien!, in: R. Moi'se Hayyim LUZZATTO, Le Philosophe et Je cabaliste: exposition d'un debat, Paris 1991, 36 [Übers. d. Verf.].

60 Siehe GEIGER, Leon da Modena (Anm. 28), und seine Ausgabe dieses Werkes Maamar magen ve-:;:innah, Breslau 1856.

61 Die beiden Schriften wurden von Isaac Reggio in 1852 unter dem Titel Bechinat ha­Kabbala in Gorizia in Druck gegeben. Die Autorschaft Modenas wurde seither mehrfach bestritten, von der neuesten Forschung jedoch wieder bestätigt. Vgl. dazu Talya FISCHMAN, Shaking the Pillars of Exile. ,Vice of a Fool', an Early Modern Jewish Critique ofRabbinic Culture, Stanford 1997; Vgl. auch Anm. 26.

62 In anderem Zusammenhang hob Geiger Modenas Technik der nur halb verdeckten Kritik („stille Andeutung für den Verständigen") hervor, die ihr Ziel seines Erach­tens keineswegs verfehlte: „er scheint mit einer gewissen Vorliebe die [talmudi­schen] Stellen aufzunehmen, welche sich lächerlich ausnehmen und die Thalmudis­ten gerade nicht im hellsten Liebte erscheinen lassen [„.]. Seine Erklärungen aber, wo er sie giebt, so vorsichtig und so ehrerbietig sie abgefaßt sein mußten, auch sie geben zuweilen leise Winke, die er einem Empfänglichen hinreichend hielt und über die er nicht hinausgehen durfte". GEIGER, Leon da Modena (Anm. 28), 18.

68 RAFAEL ARNOLD

Die Anpassungen der Druckfassung von 1638

Bei der 1638 in Venedig gedruckten Version handelt es sich um eine purgierte Ausgabe.63 Modena war durch das Druckverbot des Sant' Uffi­zio ja gewarnt gewesen, wobei er schon bei der handschriftlichen Fas­sung seines Textes vorausahnend Änderungen vorgenommen hatte. Fälle, in denen sich Autoren einer Selbstzensur unterwarfen, waren vor dem Hintergrund der Inquisition besonders zahlreich.64 Entgegen seinem Ver­sprechen im Vorwort zur Druckfassung hatte Modena in dieser einiges ausgelassen, anderes verändert.65 Es konnte nicht ausbleiben, dass ihm diese Manipulationen, die bei christlichen „Fachleuten" Verdacht wecken mussten, vorgehalten wurden. Sie mutmaßten, dass er noch mehr für das Judentum Nachteiliges entfernt habe.66

Von den auffälligsten Streichungen und Hinzufügungen seien nur zwei herausgegriffen: Die Passage zur Seelenwanderung oder Metempsycho­se, die in der Pariser Ausgabe enthalten ist, und die 13 Glaubensartikel, die Maimonides im 12. Jahrhundert formuliert hatte, entfernte Modena in der venezianischen Ausgabe aus Rücksicht auf die Inquisition. 67 Be­zeichnenderweise macht er aber zumindest im letzten Fall auf die Leer-

63 „C'est une religion 'epuree' que Modena [ ... ] veut defendre et illustrer." Le BRUN I STROUMSA, Les Juifs presentes aux chretiens (Anm. 51), XXVII.

64 M. CARMILL Y-WEINBERGER, External and Interna! Censorship of Hebrew Books, in: Jewish Book Annual 28 (1970-1971), 9-16.

65 In seiner auf Hebräisch verfassten Autobiographie gestand er im Nachhinein aller­dings freimütig, das ein oder andere weggelassen oder hinzugefügt zu haben „wie es mein Zweck mit sich brachte". Leon MODENA, Hayyeh Jehuda, fol. 25b (Anm. 9) [Übers. d. Verf.].

66 Darunter Doktor Paolo MEDICI, ein Neophyt aus Livomo, der 1736 in Florenz eine Polemik unter dem Titel Riti e Costumi degli Ebrei confutati, veröffentlichte, in der er Modena vorwarf, Unschickliches und Anstößiges ausgelassen zu haben, während manches von dem, was Modena positiv erwähnt, so Medici, nichts anderes als Aber­glaube sei. Wörtlich schrieb er: „[Modenas] librettino [ ... ] Riti degli Ebrei, nel quale tace maliziosamente buona parte delle ceremonie, ehe pratica l'Ebraismo, per isfuggi­re Io scomo, e Ja confusione, ehe alla Nazione Giudaica avvenir ne potrebbe, essendo letti da Uomini, di senno forniti, e di ragione. Alcuni Ii narra e vero, ma gl'inorpella mostrando, ehe sia cosa laudevole molto, quello, ehe in verita altro non e, ehe mera superstizione." Zitat nach SAMAJA, Le vicende di un libro (Anm. 10), 83.

67 Marco FERRO, der Modenas Manuskript für die Inquisition zu prüfen hatte, nennt diese beiden Punkte ausdrücklich: „Ideo in liber iste in ultimo capitolo unum de ar­ticoly hebraici, cui referet Domino humanarsi non posse. [ ... ]in capitolo penultimo transmigratione Pythagorica [ ... ] esse abolendi arbitror". Vgl. Anm. 8; auch vgl. dazu COHEN, Leone da Modena's Riti (Anm. 11), 257.

„DABEI VERGAß ICH, JUDE ZU SEIN" 69

stelle aufmerksam, indem er die Auferstehung der Toten als einen der 13 Glaubensartikel bezeichnete ( 190-192); diese folgen dann zwar nicht, aber für zensurgewohnte Leser war das ein deutliches Signal und spornte geradezu an, sich das Fehlende aus anderer Quelle zu beschaffen. Wei­terhin wird in der Ausgabe 1638 ausgespart, was man tun muss, um zum Judentum überzutreten, und nur die Konversion von Sklaven wird beiläu­fig erwähnt.

Modena lässt in seiner Überarbeitung nicht nur einzelne Dinge aus, ne­ben den bereits erwähnten etwa auch abergläubische Handlungen,

68 son­

dern übergeht ihm unangenehme Aspekte oder behandelt sie nur beiläu­fig, wie z. B. die verschiedenen jüdischen Sekten der Karäer, Sadduzäer usw. Dabei stießen gerade die Karäer beim christlichen Publikum auf großes Interesse, weil ihre strikte Berufung auf den buchstäblichen Sinn der Heiligen Schrift und die Ablehnung rabbinischer Doktrin an die Be­wegung des Protestantismus erinnerten. Der Franzose Richard Simon, dessen Übersetzung vielfach nachgedruckt und später, wie eingangs er­wähnt, in Bernards „Les Ceremonies et coutumes religieuses" aufge­nommen werden sollte, erweiterte bezeichnenderweise das entsprechende Kapitel noch um zahlreiche Bemerkungen.

69

Modena lässt in seiner kurzen Erwähnung der Karäer - vielleicht aus .Rücksicht auf die Inquisition - keinen Zweifel daran, dass sie von den übrigen Juden strikt abgelehnt würden, und unterstreicht, dass sie in der Gegenwart keine Rolle mehr spielten. Mit der Beschränkung auf die Ge­genwart, die das Titelblatt der Druckausgaben ausdrücklich zum Pro­gramm erhebt,70 wendet er sich zugleich gegen das Stereotyp des „Ewi­gen Juden". Hierdurch trägt Modenas Darstellung auch einer Fortent­wicklung Rechnung, die die Möglichkeit zukünftiger Veränderungen oder - um es mit den Worten Christian Wilhelms von Dohm zu sagen -

68 Wie im Falle des Brauchs, zuerst den linken und dann den rechten Strumpf bzw. Schuh anzuziehen, der zwar in der Pariser Ausgabe 1637 und im Manuskript er­wähnt wird, aber in der venezianischen Ausgabe 1638 gestrichen wurde.

69 Es ist sicher kein Zufall, dass auch J. F. BERNHARD in seinem Werk Ceremonies et coutumes religieuses de tous !es peuples du monde, das 1723 in den Niederlanden veröffentlicht wurde, Simons Übersetzung mitsamt seiner Exkurse wiedergab. Vgl. dazu Rafael ARNOLD, Ceremonies des Juifs (Anm. 6), 34-35.

70 Sowohl auf dem Titelblatt der Ausgabe von 1637 als auch von 1638 steht: „ ... gl'Hebrei di questi tempi".

70 RAFAEL ARNOLD

eine „Verbesserung der Juden"71 mit einschloss. Und gleichzeitig unter­streicht er damit nochmals seinen Appell an die Leser, ihr einmal gemach­tes Bild von „dem Juden" zu revidieren und es sowohl den individuellen als auch jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten gemäß zu verändern.

Zu den Anpassungen zählen aber nicht nur das Weglassen oder Margina­lisieren bestimmter Themen, sondern auch Ergänzungen. So fügte Mode­na in die venezianische Buchausgabe ein ganzes Kapitel zur Gerichtsbar­keit (Zweiter Teil, Kapitel ohne Nummerierung) und zur Ehrfurcht gegen­über Eltern, Lehrern und älteren Menschen (Vierter Teil, Kapitel 11) ein.

Das jüdische Leben im Ghetto

Dass sich die jüdischen Gebräuche von Land zu Land, oftmals von einer Gemeinde zur anderen unterscheiden 72

, erwähnt Modena in verschiede­nen Zusammenhängen. Da er selbst die meiste Zeit seines Lebens in der Lagunenstadt gelebt hat, bildet das venezianische Ghetto den wichtigsten Referenzpunkt in seiner Beschreibung. 73 An der Seite italienischer Juden lebten in Venedig seit dem ausgehenden Mittelalter aschkenasische Juden, die Modena Tedeschi nennt, und eine dritte Gruppe, die sehr summarisch als Leuantini bezeichnet wird (90), womit er aber neben den Juden, die aus der Levante kamen, auch die sephardischen Juden meint, die nach ihrer Vertreibung aus Spanien und Portugal im Jahr 1492 bzw. 149711498 nach Italien und ins östliche Mittelmeergebiet geflohen waren. 74

71 Auf Anregung Moses Mendelsohns veröffentlichte der preußische Diplomat und politische Schriftsteller Christian Wilhelm VON DOHM 1781 die für die Spätaufklä­rung bedeutenden Programmschrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Mit der Propagierung der aufklärerischen Losung, im Juden den Menschen zu se­hen, trug Dohm erheblich zum Abbau antijüdischer Vorurteile bei.

72 „Questa e la piu commune vsanza, ancor ehe le consuetudini secondo li luoghi, e paesi siano in alcune cose diuerse." (Manuskript, fol. 23r); „Questa e l'vsanza de! piu de 'luoghi, ancora ehe pur vi sia in alcuni qualche diuersita di poca cosa" (fol. 29v); „[„.] in alcuni luoghi usano [ ... ] altri non lofanno" (fol. 29v).

73 Es sticht ins Auge, dass dieser für die Entstehungsgeschichte des Buches bedeutsamer Umstand in der wissenschaftlichen Literatur über Modena kaum angesprochen wird, obwohl Modena selbst die Vielfalt (diversita delle nationi) ausdrücklich betont.

74 „[ ... ] intendendo con Leuantini, non solo tutto il Leuante di qua, ma Barbereschi, Moraiti, Greci, e quelli ehe son detti Spagnuoli [ ... ] e con Thedeschi, Boemi, Ma­raui, Pollachi, Russi, & altri" (fol. 3r/3v).

„DABEI VERGAß ICH, JUDE ZU SEIN" 71

Diese alle bildeten die Gemeinschaft der venezianischen Juden, die in den offiziellen Dokumenten als universita degli Ebrei bezeichnet werden und seit 1516 in einem ihnen zugewiesenen Bezirk der Stadt leben muss­ten, der den Namen Ghetto trug.

Modena fokussiert den Blick auf diesen venezianischen Mikrokosmos. Von der Vielsprachigkeit des Ghettos, wo neben Italienisch, Jiddisch, Spanisch und Portugiesisch auch Türkisch und Arabisch zu hören war, berichtet er ebenso wie von den abnehmenden Hebräischkenntnissen seiner Bewohner. Selbst Unterschiede der Musik in den verschiedenen Synagogen lässt Modena nicht unerwähnt.

Von den Bewohnern und ihren religiösen Bräuchen gibt er ein sehr diffe­renziertes Bild. So liest man beispielsweise, dass der volkstümliche Brauch der Kapparot (,Sühnungen')75 ausschließlich von den aschken­asischen Juden ausgeübt werde, während die levantinischen und italieni­schen Juden ihn aufgegeben hätten, weil er keine Begründung im Religi­onsgesetz habe und in seinen eigenen Augen ohnehin nichts als Aber-

1 b . 76

g au e sei.

Das Bild, das er von den sephardischen und italienischen Juden malt, zeigt diese als „moderne" Menschen, die mit abergläubischen Handlun­gen aufräumen, sobald sie sie durchschaut haben. Ohne dass er es beson­ders erwähnen würde, scheint er die aschkenasischen Juden in dieser Hinsicht weniger positiv wahrzunehmen. Im Zusammenhang mit dem Verbot, Wein zu trinken, der mit Nichtjuden in Berührung gekommen ist, schreibt er, dass dieses nicht für die italienischen Juden gelte. Auch das allgemeine Bilderverbot werde von den italienischen Juden weniger streng befolgt als anderswo. An diesen herausgegriffenen Beispielen wird deutlich, dass Leon Modenas Darstellung vor allem pro domo, d. h. zugunsten der italienischen oder sephardischen Juden, geschrieben ist. Dass er dabei den einzelnen und die individuelle Handlungsweise her­vorhebt, passt zu seinem Bemühen, die Fremdwahrnehmung der Juden

75 Modena meint hier den volkstümlichen Brauch, am Vorabend von Yom ha­Kippurim die Sünden symbolisch auf einen Hahn oder eine Henne zu übertragen. Das Tier wird dann dreimal um den Kopf geschwungen und dabei eine Formel ge­sprochen, die das stellvertretende Sterben des Tieres nennt. Im Anschluss daran wird üblicherweise das Tier oder sein Gegenwert in Geld an die Armen verteilt.

76 Weitere Beispiele beziehen sich auf den Tausch der Ringe bei der Eheschließung, das brisante Thema der Polygamie, die unterschiedlichen Hebräischkenntnisse, die Namensgebung neugeborener Mädchen und anderes mehr.

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als einer homogenen Gruppe nicht weiter hinzunehmen, sondern dazu beizutragen, dass sie als heterogen wahrgenommen werden, als eine Gruppe von unterschiedlichen Individuen und Gruppierungen - aber nicht als Kollektiv.

Das Verhältnis von Juden und Christen

Auffällig sind die zahlreichen Bemerkungen in Modenas Darstellung, die ganz offensichtlich auf ein christliches Lesepublikum zielen, u. a. die besondere Hervorhebung des Verhaltens der Juden gegenüber Nichtju­den: Niemanden dürfen sie täuschen oder betrügen, schreibt er, und prä­zisiert in der Ausgabe 163 8: egal ob es sich um einen Juden handelte oder nicht (sia chi si voglia, o Hebreo, o non Hebreo). Im Gegenteil gelte das Betrügen eines Nichtjuden, nach erklärter Ansicht der Rabbiner, so­gar als schwerere Sünde als das Betrügen eines Juden.77 Dasselbe gilt für die Unterstützung Notleidender, die ebenfalls unabhängig von der Kon­fession zu geschehen habe, 78 und dies nicht etwa, weil es opportun wäre, sondern weil ein solches Handeln universeller Menschlichkeit entspringe (103; come cosa propria della pieta humana indifferentemente; fol. lür). Außerdem werde bei der Begrüßung nichtjüdischer Herren - entgegen jüdischer Sitte - sogar die Kopfbedeckung abgenommen, um höherge­stellten Herrschaften Reverenz zu erweisen. 79 Diese Stellen sind ganz eindeutig eine Reaktion auf gegenteilige Behauptungen, wie sie in den antijüdischen Schriften seinerzeit verbreitet wurden, und sollen die Mög­lichkeit einer Koexistenz von Juden und Christen unterstreichen - ohne Nachteile für die Christen.

Modena räumt ein, dass der Charakter der ursprünglich gesetzestreuen Juden sich verändert habe. Um dies zu erklären, geht Modena auch kurz auf die Geschichte des zerstreuten Volkes Israel ein, das seiner Meinung

77 ,,Anzi molti Rabbini hanno seritto, & in partieolar ne ha fatto raeeolta a longo Rabeno Baehij nel lib[ ro] Cad aehemah, lettera Ghimel Ghezela, doue diee, ehe e molto piu graue peeeato, il fraudare vno non Hebreo, ehe vn Hebreo, respetto allo seandalo ehe si da" (fol. 14v).

78 ,,Hanno aneo tanto per opera pia il dare elemosina, e souuenir ogni misero, benehe non sia Hebreo; in partieolar a quelli della Citta, e luoghi doue habitano" (Ausga­be 1638, 33). Es ist offensichtlich, welche Wirkung solche Sätze bei christlichen Lesern hervorrufen sollten.

79 „[ ... ] ma essendo tra Christiani, doue si eostuma per riuerir i maggiori, lo /anno aneh 'essi [sc. die Juden] (fol. Sr).

„DABEI VERGAB ICH, JUDE ZU SEIN" 73

nach wie kein anderes großen Schicksalsschlägen ausgesetzt war. Unter den oftmals bedrückenden Umständen habe es sich, möglicherweise - aber eben gezwungenermaßen - verändert, wie sich im Zusammenhang mit Geldverleih und Wucher zeige: Die wenigen Ausnahmefälle, in denen das Wuchern gestatteten sei, bezögen sich, so beeilt sich Modena zu betonen, keinesfalls auf die Christen, von denen die Juden gut behandelt würden:

„ganz sicher nicht diejenigen, bei denen sie heutzutage aufgenommen sind und wohnen dürfen, und mit Barmherzigkeit von den Fürsten und vom Volk behan­delt werden, besonders unter Christen" (103)

Auch diese Passage wurde extra in die Ausgabe 1638 eingefügt. Dabei entsprechen die noch mehrfach betonte Nächstenliebe und Güte der Chris­ten und die guten nachbarschaftlichen Verhältnisse keineswegs durchweg der tatsächlichen Situation. Schließlich duldeten christliche Länder wie Frankreich, England, Spanien und Portugal zu Modenas Lebzeiten gar keine Juden. Italien zählte zu den wenigen Ländern, in denen Juden in relativ großer Freiheit leben konnten. Modenas Aussagen beruhten indes ganz sicher nicht auf Unkenntnis, denn er stand mit vielen Zeitgenossen überall in Europa in Briefkontakt und war sehr gut informiert. Sie dienten dem eindeutigen Ziel, den Behörden in Venedig zu schmeicheln.

Modena ist daran gelegen, ein möglichst verträgliches Bild seines Volkes zu vermitteln. So schreibt er, dass es unter den Juden nur wenige Reiche gebe, aber die Gemeinden dennoch selbsttätig für ihre Armen und Be­dürftigen aufkommen könnten und also nicht auf Hilfe der christlichen Umgebung angewiesen seien. Auch dieser Passage merkt man an, dass sie sich direkt an die Venezianer richtet und sie in ihrer berühmt­berüchtigten Sorge, diese Duldung könnte sie etwas kosten, beruhigen sollte. Bis heute stehen die Venezianer im Ruf, Geizhälse zu sein.

An mehreren Stellen kommt Modena außerdem auf die Freigebigkeit der Juden zu sprechen, die bei jeder Gelegenheit Almosen sammeln, um da­mit Bedürftigen zu helfen. 80 Ebenso vergisst er nicht, die wohltätigen jüdischen Bruderschaften zu nennen.81 Und schließlich erwähnt er, dass Krankenbesuche und das Wachen am Bett von Sterbenden

82 einen ganz

80 Unter anderem fol. 7r, 8v, 9v, lOr, 20r, 2lv, 28v, 29r. 81 Vgl. Reinhold MEULLER, Charitable Institutions, the Jewish Community and Vene­

tian Society, in: Studi Veneziani 14 (1974), 62-74. 82 „[ ... ] hanno per opera grandemente pia il visitar gl'infermi, e porgerli ogni aiuto

possibile, seeondo il suo bisogno (fol. 29r); hanno per opera buona il ritrouarsi presente all'vseir l'anima" (fol. 29r).

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besonderen Stellenwert haben. Zu diesem Thema verfasste er ein separa­tes Werk mit dem Titel Tzori la-Nefesh u-Marpe la- 'Etzem (,Balsam der Seele und Heilung den Knochen'), das 1619 zum ersten Mal in Venedig gedruckt worden ist. 83

Das Bild, das Modena von den Juden vermittelt, ist das eines pietätvollen und barmherzigen Volkes. Dabei handelt es sich gewiss um keine reine Zustandsbeschreibung des jüdischen Lebens. Das Leben der Ghettobe­wohner dürfte nicht durchgängig so sittlich vollkommen gewesen sein. Es liegt sicherlich auch viel Beschönigendes in Modenas Beschreibung.

Bei der Beschreibung der ethischen und moralischen Prinzipien, die das Leben der Juden bestimmen, zeigt Modena eine große Spannbreite, die von absoluter Einbindung in ein System von Pflichten bis zur freien Wil­lensentscheidung des Individuums reicht und sehr viele Abstufungen bereithält. Immer kommt es Modena darauf an, dass bei allen Geboten und Vorschriften noch Platz für Entscheidungen, die der Einzelne selbst treffen darf, sei: So könne man sich schon mal über die Verbote der Rab­biner, wie beispielsweise dasjenige, Fisch und Fleisch nicht zusammen

h. 84 zu essen, mwegsetzen.

Modena gebraucht eine Vielzahl von Indefinitpronomen, wie einige, weni­ge, viele, die einen ... die anderen oder unpersönliche Ausdrücke wie man als sprachliche Mittel, um die Schattierungen und Feinabtönungen aufzu­zeigen. Zudem bewegt er sich im ganzen Spektrum modaler Ausdrucks­möglichkeiten, von Müssen und Dürfen und Können bis hin zu deren Ne­gation (Nicht-Müssen, Nicht-Dürfen, Nicht-Können), um die Dimensionen von Untersagung und Verbot, Gebot und Empfehlung auszuloten. Diese Vielfältigkeit stellt Modena dem Bild gegenüber, das Judenfeinde von den Juden zeichneten, dem Bild von einem Volk, das den biblischen Gesetzen

83

Modena hat mit diesem Werk eine eigene Tradition begründet. Ausführlich dazu Elliot HOROWITZ, Speaking of the Death. The Emergence of the Eulogy Among Italian Jewry of the Sixteenth Century, in: David B. RUDEMAN, Preachers of the Italian Ghetto, Berkeley 1992, 129-162; Avriel BAR-LEVAV, Ritualisation of Life and Death in the Early Modem Period, in: Leo BAECK Institute Yearbook 47 (2002), 69-82; ders., Leon Modena and the Invention of the Jewish Death Tradi­tion, in: Robert BONFIL (Hrsg.), The Lion shall roar. Leon Modena and His World (= Italia. Studi e ricerche sulla storia, Ja cultura e Ja letteratura degli ebrei d'Itaia, Conference Supplement Series, 1), Jerusalem 2003, 85-101.

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,,Haueuano raccordato li Rabbini, ehe non si mangiasse pesce, e carne, insieme, per esser nociui alla sanita; ma hoggidi pare, ehe non molto se ne guardino." (fol. 16r).

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und willkürlichen, starren Regeln der Rabbinen unterworfen ist. Darum betont er immer wieder, dass die Gemeinschaft der Juden kein monolithi­scher Block ist, und verwehrt sich gegenjede Pauschalisierung.

85

Wenn es vorkommt, dass ein Jude sich des Betruges oder sonst einer Straf­tat schuldig macht, schreibt Modena, so handele es sich um individuelle Schuld (101; diffetto di quel particolare), wobei sich der Missetäter kei­nesfalls auf irgendeine Autorität berufen könne, die ihm dies erlaube.

86

Die vielfältigen Facetten sind zugleich Ausdruck von Modenas persönli­chem Wunsch, wie die Lebensführung geartet sein sollte. Er ist der Mei­nung, dass die individuelle Entscheidungsmacht sich stärker nach dem gesunden Menschenverstand richten und sich von den Vorschriften der Rabbiner unabhängiger machen sollte. Seine Darstellung eines sich selbst regulierenden Gemeinwesens frommer, aber vernunftgeleiteter Mitglie­der überschreitet unmerklich die Grenze des Deskriptiven und trägt idea­lisierte Züge. Der „neutrale Berichterstatter" wird hier - bewusst oder unbewusst? - zum Utopisten.

Modenas Bild von den Juden ist folglich auf der einen Seite ein Selbst­bild, auf der anderen Seite ein Reflex auf Fremdbilder, insbesondere auf karikierende Darstellungen in antijüdischen Schriften, und nicht zuletzt auch ein Wunschbild. Man muss diese Facetten berücksichtigen, will man das Vorgehen Modenas richtig verstehen.

Ganz sicher ist es Leon Modena mit seiner Schrift gelungen, das Bild, das sich Christen von den Juden und vom Judentum machten, maßgeb­lich um neue Aspekte zu erweitern, 87 vergleichbar den Gemälden eines Rembrandt, der zeitgleich in Amsterdam Juden mit individuellen Zügen und als wirkliche Menschen malte und damit das Bild der Juden in der abendländischen Kunst änderte.88

85 Cohen bezeichnet diesen Aspekt zu Recht als besonders kennzeichnend für die „social polemic", um die es Modena seiner Meinung nach ging. COHEN, Leone da Modena's Riti (Anm. 11), 289.

86 „Onde se si troua tra essi, chi inganna, efrauda, e dif.fetto di quel particolare, ehe e di mala qualita, ma non ehe lo facci essendole ne dalla sua Legge, ne da Rabini in alcun modo permesso" (Ausgabe 1638, S. 44).

87 Vgl. Shmuel ETTINGER, The Beginnings of the Change in the Attitude of European Society towards the Jews, in: Scripta Hierosolymitana 7 (1961), 193-219.

88 Zu Rembrandts zahlreichen Darstellungen von Juden vgl. Steven NADLER, Remb­randt's Jews, Chicago, 2003.

76 RAFAEL ARNOLD

Modenas Wirken und seine Nachwirkung

Es lässt sich behaupten, dass Modena eine Form der Aufklärung avant la lettre betrieb. Er wurde von der Überzeugung getragen, dass Vorurteile nur abgebaut werden können, wenn man sich gegenseitig wahrnimmt und besser kennenlernt. Zu diesem Zweck stellte er die Grundfesten des Ju­dentums, seine Riten sowie die örtlichen Gebräuche, verständlich und anschaulich einem breiten Publikum dar. Um die Transparenz zu errei­chen, die er zum Ziel hatte, verfasste Modena sein Buch in italienischer Sprache und nicht etwa auf Latein, und dies, obwohl er sich, wie er in seiner Autobiographie schreibt, der Gefahren solchen Handelns durchaus bewusst war.

89 Eine der Gefahren bestand darin, dass ein das Offenlegen

dem Gegner neue Angriffsflächen bieten konnte. Gerade deshalb wurde aus jüdischen Kreisen immer wieder Kritik an Modenas Vorgehen erho­ben, wie beispielsweise von Heinrich Graetz, dem großen Historiker des 19. Jahrhunderts.

90 Graetz konnte an Modenas Buch nichts Gutes finden.

So schreibt er: „Leon Modena hat mit dieser von Christen gierig gelese­nen Schrift, gewissermaßen wie Harn, die Blöße seines Vaters aufge­deckt [Gen. 9,22], das innere Heiligtum der Juden schaulustigen und spottsüchtigen Augen enthüllend preisgeben." Außerdem nannte er ihn einen „maulwurfartige[ n] Wühler" und wählte damit das Bild von einem im Untergrund tätigen Schädling, der unsichtbar bleibt, wie Modena es manches Mal vorgezogen habe, sich nicht als Autor zu erkennen zu ge­ben, sondern lieber Pseudonyme wählte. Graetz sah den Grund hierfür in der Tatsache, dass Modena sich geschämt habe, Jude zu sein. Außerdem unterstellte er ihm, dass er seine „Jüdischen Riten und Bräuche" aus Ge­winnsucht veröffentlicht habe. All diese Einwände lassen sich leicht ent­kräften, allen voran das Argument, Modena böte „schaulustigen und spottsüchtigen Augen" etwas. Dabei ist doch in der vorliegenden Darstel­lung deutlich erkennbar geworden, wie umsichtig und geschickt der ve­nezianische Rabbiner vorgeht - ganz zu schweigen von seiner Populari­tät, die auch Christen in die Synagoge zog, um seine Predigten zu hören. Modenas Argumentation ist zudem auf Erfahrungen zurückzuführen, die er im Rahmen seiner vielfältigen Tätigkeiten auch im Kontakt mit den

89 Dort schreibt Modena: „Sie [die christl. Behörden] werden sagen, , Wie frech sind sie, [Abhandlungen] in der Umgangssprache zu drucken, worin sie die Christen nicht nur über ihre Gesetze iriformieren, sondern auch über Dinge, die gegen unse­re Religion und unseren <!_tauben verstoßen." MODENA, Hayyeh Jehuda / Manu­skript, fol. 25a (Anm. 9), [Ubers. d. Verf.].

90 Heinrich GRAETZ, Geschichte der Juden, Band 10, Leipzig 1897, 136-138, hier: 137.

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Inquisitionsbehörden gemacht hatte. Viele seiner Strategien resultieren aus der gespannten Atmosphäre, die zur Zeit der Gegenreformation zwi­schen den Religionen herrschte und die von kritischen Autoren äußerste Vor- und Rücksicht verlangte. Graetz ignoriert diese Zeitumstände und sein hartes Urteil lässt sich bestenfalls verstehen, wenn man darin eine Attacke auf Modenas vielleicht größten Bewunderer Abraham Geiger sieht, den Begründer des liberalen Judentums. Was aber dem liberalen Judentum recht war, konnte dem orthodoxen Judentum nicht billig sein. -In der widersprüchlichen Rezeption Modenas spiegelt sich wiederum das vielfältige Gesicht des Judentums, von dessen Facetten sein Buch ja ein eindrückliches Bild gibt. Seine Darstellung ist aber nicht zuletzt auch von einer großen Freude am Erzählen geprägt, die indes stets vom rationalen Pathos einer subtilen Überzeugungskunst getragen wird und für einen humanen Umgang der Konfessionen miteinander wirbt. Modena war, daran gibt es keinen Zweifel, ein lebenskluger und sehr pragmatischer Rabbiner, dessen Leben gerade auch wegen aller Tragik und Unbill bis heute nichts an Faszination verloren hat, und dessen Schriften das jüdi­sche Denken im 16./17. Jahrhundert in Italien sichtbar, greifbar und nachvollziehbar machen.