„dabei vergaß ich, jude zu sein" leon modena als verfasser des werkes jüdische riten,...
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50 DANIEL KROCHMALNIK
rern und Schülern zu uns, deren Stimmen sonst unwiederbringlich verstummt wären, eine Flaschenpost gleichsam vom untergegangenen Flaggschiff der Tora von Magenza und Warmeisia. Im Zeitalter des Buchdruckes ist die Lage der Juden nach dem letzten Holocaust anders, aber auch wir befinden uns in einer Phase des Wiederaufbaus und der Wiederaufrichtung der Tora- und Raschi leuchtet uns immer noch voran.
Literatur
RAscm: Kommentar zum Pentateuch. Übersetzt von Rabbiner Dr. Selig Bamberger, Basel 1994.
RAsHI: Commentary on Psalms. Translated by Mayer 1. Gruber, Philadelphia 2008.
Avraham GROSSMANN: Rashi. Translated from the Hebrew by Joel Linsider, Oxford-Portland (OR) 2012.
Ronen REICHMANN / Hanah LISS /Daniel KROCHMALNIK (Hrsg.): Raschi und sein Erbe, Heidelberg 2007.
Elie WIESEL: Rachi. Ebauche d'un portrait, Paris 2010. English translation by Catherine Termeson, New York 2009. Deutsche Übersetzung und Annotationen von Daniel Krochmalnik in Vorbereitung.
Daniel KROCHMALNIK: Raschi zum leidenden Gottesknecht, in: Volker GALLE/ Klaus WOLF/ Ralf ROTHENBUSCH (Hrsg.): Das Wormser Passionsspiel. Versuch, die großen Bilder zu lesen, Worms 2013, 215-238.
„Dabei vergaß ich, Jude zu sein"
Leon Modena als Verfasser des Werkes Jüdische Riten, Sitten und Gebräuche
Rafael Arnold
Mit seinem Buch über „Jüdische Riten, Sitten und Gebräuche" traf der venezianische Rabbiner Leon Modena (1571-1648) offenbar den Nerv seiner Zeit. Zum ersten Mal 1637 in italienischer Sprache in Paris gedruckt, 1 erschien nur ein Jahr später unter leicht verändertem Titel eine Ausgabe in Venedig.2 Dieser folgten mehrere Auflagen3 und zahlreiche Übersetzungen ins Französische, Englische, Niederländische, Lateinische - (viel später auch ins Hebräische und schließlich ins' Deutsche).4 Dies geschah in einer Zeit, als die neu entstandene christliche Hebraistik großes Interesse am Judentum zeigte. Sir Henry Wotton, der sich seit 1604 als Botschafter des englischen Königs Jakob I. in Venedig aufhielt, soll
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Die Ausgabe erfolgte unter dem Titel: Historia de gli riti hebraici. Dove si ha' breve, e total relatione di tutta Ja vita, costumi, riti e osservanze di gl'Hebrei di questi tempi, di Leon MODENA rabi, Hebreo di Venetia, Parigi, MDCXXXII [ohne Nennung des Herausgebers]. Historia de riti hebraici. Vita & oßervanze degli Hebrei di questi tempi di Leon da MODENA rabi H[ebre]o da Venetia, gia stampata in Parigi e hora da lui corretta e riformata con licenza de Superiori, in Venetia 1638, Appresso Gio[vanni] Calleoni. So 1669, 1673, 1678, 1687, 1694 und 1714 in Venedig und anderen Druckorten Italiens. Bereits 1650 erschien eine englische Übersetzung von Edmund CHILMEAD unter dem Titel: The History of Rites, Customs, and Manner of Life of the Present Jews in London; eine weitere von Simon OCKLEY wurde dort in 1703 veröffentlicht. Die erste französische Übersetzung wurde in 1674 gedruckt (Ceremonies et coutumes qui s'observent aujourd'huy parmy !es Juifs, trad. par Richard S!MEON) sowie mehrfach wiederaufgelegt, zuletzt in 1998. Eine niederländische Übersetzung erschien zum ersten Mal in 1683 in Amsterdam (Kerk-Zeeden ende Gewoonten, Die huiden in gebruik ziyn onder de Jooden). Wenige Jahre später folgte die lateinische Übersetzung durch Johann Valentin GROSSGEBAUER (De ceremoniis et consuetudinibus hodie Judeos inter receptis, Frankfurt/M. 1693). Erst Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte eine Übertragung ins Hebräische durch Salomon RUBIN unter dem irreführenden Titel: Shulkhan Arukh (Wien 1867), der an das Werk von Joseph KARO aus dem 16. Jahrhundert denken lässt, das den gleichen Titel trägt. Und schließlich die deutsche Übersetzung: Leon MODENA, Jüdische Riten, Sitten und Gebräuche. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Rafael ARNOLD, Wiesbaden 2007.
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Modena den Anstoß zu seiner Schrift gegeben haben. 5 Dem gewachsenen Interesse am Judentum entsprang seinerzeit auch die englische Übersetzung der Heiligen Schrift, die 1611 zum ersten Mal erschien (und unter dem Namen King-James-Bibel unter Christen des englischsprachigen Raums bis heute in Gebrauch ist). Die französische Übersetzung der „Jüdischen Riten, Sitten und Gebräuche" von Richard Simon (1674) wurde später unter dem Titel „Ceremonies et coutumes qui sont aujourd'hui en usage parmi les Juifs" in dem berühmten achtbändigen Chef-d'reuvre des Protestanten Jean-Frederic Bernard („Les Ceremonies et coutumes religieuses de tous les peuples du monde", l 723ff.) wieder abgedruckt. 6 Dass diesem enzyklopädischen Werk ein großer internationaler Erfolg beschieden war, lag nicht zuletzt an den zahlreichen Kupferstichen, die das Buch illustrieren und für die der Herausgeber den aus Paris stammenden Künstler Bernard Picart (1673-1733) gewinnen konnte. Die Kupferstiche (im Falle des Modena-Textes eine doppelseitige Darstellung des Innenraumes der portugiesischen Synagoge in Amsterdam, drei ganzseitige und sechzehn halbseitige Darstellungen jüdischer Zeremonialgegenstände und Bräuche) dienten aufklärerischen Zielen und hatten wissenschaftlichen Anspruch. Auf diese Weise sollten die behandelten Religionen -und so auch das Judentum den Lesern Bernards Absicht gemäß wertfrei, objektiv und realistisch vor Augen geführt werden.
So weit die Erfolgsgeschichte der „Jüdischen Riten". Dabei hatte es anfangs keineswegs danach ausgesehen, denn zunächst waren Schwierigkeiten zu überwinden, die nicht zuletzt damit zu tun hatten, dass Modena sein Buch in italienischer Sprache verfasst hatte. Die Tatsache, dass es damit einem größeren Publikum zugänglich war als etwa eine lateinische Abhandlung, wurde von der Inquisition mit Argwohn betrachtet.
Im Frühjahr 1637 hatte Leon Modena beim Heiligen Uffizium, der Inquisitionsbehörde in Venedig, die unter anderem über Druckgenehmigungen für Bücher zu befinden hatte, ein Manuskript seiner Darstellung eingereicht. Im beiliegenden Anschreiben hatte er erklärt, dass seine Schrift ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, sondern auf Bit-
Siehe Cecil ROTH, Leone da Modena and the Christian Hebraists of his Age, in: Jewish Studies in Memory oflsrael Abrahams, New York 1927, 384--401, hier: 389.
Vgl. Rafael ARNOLD, Ceremonies des Juifs, in: 25 und ein Buch. Aus der Bibliothek der Hochschule für Jüdische Studien, hrsg von Margaretha BROOCKMANN / Monika PREUSS, Heidelberg 2004, 34-35; und allgemein Lynn HUNT/ Margaret C. JACOB/ Wijnand MJJNHARDT, The Book that changed Europe. Picart & Bernard's Religious Ceremonies ofthe World. Cambridge (Mass.)-London 2010.
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ten eines Privatmannes angefertigt worden sei, weshalb er sich beim Abfassen nicht um Dinge gekümmert habe, an denen die Inquisitionsbehörde Anstoß nehmen könnte.7 Nun aber habe er erfahren, dass der französische Hebraist Jacques Gaffarel in Paris das Buch veröffentlicht habe. Darum präsentiere er jetzt eine seine eigene Version, damit sie geprüft werde. 8 Aus seiner Autobiographie - einer der ersten, die von einem Juden in der Neuzeit verfasst wurde - ist zu erfahren, dass er von der Pariser Drucklegung überrascht war und schlimme Folgen für die jüdische Gemeinde und sich selbst befürchtete.9 Das Urteil der zuständigen lnquisitionsbehörde fiel erwartungsgemäß negativ aus: Am 14. Mai 1637 erfolgte die Entscheidung des Tribunals, dass eine Drucklegung oder handschriftliche Verbreitung des Werkes verboten sei.
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Ein Jahr nachdem Modena den abschlägigen Bescheid bekommen hatte, erschien in Venedig dann doch eine neue Ausgabe im Druck. Sie trug den Titel:
Brian PULLAN, The Jews of Europe and the Inquisition of Venice (1550-1570), Oxford 1983; ders., Gli Ebrei e l'inquisizione a Venezia dal 1550 al 1670, Roma 1985; ders., L'inquisizione e gli Ebrei a Venezia, in: Michele LUAZZATI / Albano BIONDI (Hrsg.), L'inquisizione e gli Ebrei in ltalia, Roma 1994, 251-264.
Archivio di Stato di Venezia, Sant'Uffizio, busta 94; siehe auch den Eintrag im Register des Liber Expeditorum in Santo Officio Venet., ab anno 1628: „1637, Leon Modena Rabbi Hebreo, per la stampa di certo suo libro, 28 aprile", Sant'Uffizio, busta 157 (daselbst). - Allgemein zur Zensur in Italien zur Zeit der Gegenreformation siehe William POPPER, The Censorship of Hebrew Books, New York 1899, 29-104.
Leon MODENA, Hayyeh Jehuda, fol. 25a, hrsg. von Mark R. COHEN, The Autobiography of a Seventeenth-Century Venetian Rabbi. Leon Modena's Life of Judah (trans. and ed. by Mark R. COHEN), Princeton 1988.
10 Die von Modena verfasste handschriftliche Version seines Buches wird nebst seinem Anschreiben und der Akte über den Vorgang im Staatsarchiv in Venedig verwahrt und ist Grundlage der vom Verfasser besorgten Übersetzung und Ausgabe (Anm. 4). - Der Wortlaut des Urteils ist folgender: „ne audeat [Modena] facere imprimere suprascriptum librum, nec illius copiam alicui tradere sub quovis pretextu". - Über die Inquisitionsaffäre: Cecil ROTH, Leon de Modene, ses Riti Ebraici et le Saint-Office de Venise, in: Revue des Etudes Juives 87 (1929), 83-88; Adolfo OTTOLENGHI, Origine e vicende dell'Historia de Riti Hebraici, in: La Rassegna Mensile di Israel 12 (1932), 189-193; Nino SAMAJA, Le vicende di un libro, in: Rassegna mensile di Israel 21 (1955), 73-84; Vgl. allgemein dazu Paul F. GRENDLER, The destruction of Hebrew Books in Venice, 1568, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research XLV (1978), 103-130. [Reprinted in: ders., Culture and Censorship in Late Renaissance Italy and France, London 1981, als Nr. XII mit gleicher Seitenzahl].
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Geschichte der Jüdischen Riten, Leben und Bräuche der Juden in der heutigen Zeit. Von Leon Modena, Rabbi aus Venedig. Zuvor bereits in Paris gedruckt, jetzt aber von ihm verbessert und überarbeitet. Venedig 1638. [Übers. d. Verf.) 11
Das Titelblatt, das auch eine offizielle Druckgenehmigung durch die Behörde aufweist, 12 ist mit einer Kartusche geschmückt, die ein Porträt des Verfassers enthält. Es zeigt einen älteren, bärtigen Mann. Rechts und links des Kopfes stehen die Initialen L und M Modena war zum Zeitpunkt des Erscheinens 67 Jahre alt. Er ist der erste jüdische Gelehrte, von dem ein Porträt überliefert ist. 13
Modena und sein Werk
Modena wurde am 23. April 1571 im venezianischen Ghetto vecchio geboren. Sein hebräischer Name Jehuda Aryeh lautet ins Italienische übersetzt Jehuda Leone (,Löwe') und wird manchmal Leone da Modena14, meistens jedoch Leon Modena geschrieben. Früh zeichnete sich sein rednerisches Talent ab - später wird er schreiben, dass seine Predig-
11 Eine Übersicht in tabellarischer Form über die Auslassungen und Hinzufügungen der Ausgabe 1638 gegenüber der Ausgabe Paris 1637, allerdings ohne Berücksichtigung des Manuskriptes, hat Mark R. COHEN besorgt: Leone da Moden's Riti: A Seventeenth-Century Plea for Social Toleration of Jews, in: Jewish Social Studies 34 (1972), 287-321, hier: 320-321. Ein Vergleich dieser beiden Ausgaben mit Modenas Manuskript findet sich in der deutschen Ausgabe (Anm. 4).
12 Auf der Titelseite heißt es zwar, das Buch sei mit „licentia de Superiori" gedruckt worden, allerdings lässt sich eine solche Druckerlaubnis anhand der Archivalien nicht nachweisen. Andererseits ist nicht bekannt, dass es Einsprüche oder Maßnahmen gegen die venezianische Druckausgabe gegeben hätte. Vgl. dazu Nino SAMAJA (Anm. 10), und Rafael ARNOLD, ,Neutra!' or ,natural' relator? Some remarks on Rabbi Leone da Modena's Historia de' Riti hebraici", in: Zutot (2004), 107-112.
13 Vgl. dazu R. Y. COHEN, The Portrait of the Jew and of Judaism in the Early Modem Times in Central and Western Europe. From Symbol to Reality [hebr.], in: Ziyyon 57 (1992), 275-340. Das Anfertigen von Rabbiner-Porträts in Italien in der ersten Hälfte des 17. Jhs. scheint durchaus üblich gewesen zu sein. Vgl. Hannelore KüNZL, Die jüdische Kunst zwischen Mittelalter und Modeme: das 16. bis 18. Jahrhundert, in: Michael GRAETZ (Hrsg.), Schöpferische Momente des europäischen Judentums, Heidelberg 2000, 75-96, hier: 88-89.
14 Auf Hebräisch: NJ'117.17.1 ;'1'1N ;i11;i'. Modena selbst weist in seiner Autobiographie (Anm. 9) darauf hin, dass das „da" überflüssig sei. Cecil ROTH, der über dreißig Jahre wie viele Gelehrte die Namensform „Leone da Modena" verwendet hatte bedauerte später, nicht die Kurzform „Leon Modena" benutzt zu haben. Ders„ 'The Jews in the Renaissance, Philadelphia 1959, 337. Modena schrieb seinen Vornamen, wenn er ihn in hebräischen Buchstaben wiedergab, immer als „Leon".
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ten aufgrund ihrer „wohlgefälligen Worte und klaren Sprache" berühmt seien15 -, sein Gedächtnis war phänomenal. Bereits als kleiner Junge soll er tiefgründige Exegesen von Bibelstellen gegeben haben und früh fing er an, seine Lehrmeinungen auch aufzuschreiben. Seine schillernde Gestalt faszinierte nicht nur die Menschen in seinem direkten Umkreis, sondern auch Gelehrte außerhalb des Ghettos, ja außerhalb Italiens. Nach Aufenthalten an anderen Orten Italiens ließ er sich im November des Jahres 1592 wieder in Venedig nieder, wo er eine Familie gründete. Die Schicksalsschläge, die ihn und seine Familienangehörigen in der Folgezeit trafen, lesen sich wie ein Roman.
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Modena ist bekannt als Verfasser zahlreicher Schriften in verschiedenen Literaturgattungen, die ihn als Meister der Rhetorik zeigen.
17 In seiner
Autobiographie zählt er 26 Berufe auf, die er im Laufe seines Lebens ausübte, darunter auch den des „Maestro di Capella", Kapellmeister einer Singakademie, die er im jüdischen Ghetto leitete. Ein Grund für seine vielfältigen Beschäftigungen war, dass er das Geld benötigte. Modena war nämlich, wie Moritz Steinschneider schrieb, „bekanntlich ein Spieler, und kein glücklicher, war also immer in Geldverlegenheit, oder wenigstens in Geldbedürfnis" 18. Die Spielsucht teilte er mit vielen Zeitgenossen, sie macht ihn zu einem typischen Kind seiner Zeit und seiner venezianischen Heimat. Kein Wunder also, dass er sich mit allerhand schriftstellerischer Arbeit (beispielsweise war er ein geschätzter Briefsteller und gefragter Dichter von Grabinschriften) etwas verdient hat. Zu seinen Schriften zählt auch ein Traktat, den Modena als Jugendlicher
15 In seiner Autobiographie (Anm. 9) fol. 20a [Übers. d. Verf.]. 16 Eine umfangreiche, fast enzyklopädisch zu nennende Beschreibung von Modenas
Leben verfasste Howard ADELMAN, Success and Failure in the SeventeenthCentury Ghetto of Venice. The Life and Thought of Leon Modena, Ph. D. dissertation, Brandeis University, 1985, Ann Arbor, Mich.: University Microfilms International 1990. Zuvor Nehemiah Samuel LIBOWITZ, Rabbi Jehudah Arieh Modena. A Critical Account of the Life and Literary Activity of Leon Modena, Rabbi of Venice (1571-1648) (hebr.), Wien 1896; New York [5]661 [=1901 nach christl. Kalender] und 1906.
17 In mehreren seiner Werke beschäftigte er sich mit Fragen der Rhetorik, wie beispielsweise in dem Werk Lev ha-Aryeh (,Herz des Löwen'), Venedig 1612 mit dem Auswendiglernen mit Hilfe von Orten (loci). Eine Liste seiner Werke steht bei ARNOLD 2007 (Anm. 4), 211-215.
18 Moritz STEINSCHNEIDER, Jehuda (Leon) Modena und Fior di virtu, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenshaft des Judentums 40 (1897), 324-326, hier:
324.
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noch vor seiner Bar-Mizwah verfasst hat und in dem er sich ausdrücklich gegen das Glücksspiel wendet, als ob er sich damit selbst davor habe bewahren wollen. Allerdings zwecklos, wie Max Friedländer bündig zusammenfasste: „Während er die Spielsucht in Wort und Schrift auf das Entschiedenste perhorreszierte, opferte er selbst einen großen Teil seiner Zeit und seines Vermögens der gräßlichen Leidenschaft." 19
Der Traktat ist 1596 zum ersten Mal in Venedig erschienen und trägt den Namen „Sur me-ra"' (,Lass ab vom Bösen' - nach Ps. 34,15). Wiederholte Auflagen deuten auf einen großen Erfolg des Buches.
Als Jahre später das Rabbinerkollegium von Venedig den Bann über Karten- und Würfelspiele aussprach, war es jedoch ausgerechnet Modena, der in einer hebräisch verfassten Respons nachwies, dass das Spiel nach talmudischen und rabbinischen Prinzipien durchaus gestattet sei und der Bann dagegen keine Berechtigung habe. Was auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt, lässt sich aber auch anders deuten: Modenas Freisinnigkeit lässt keinen unbegründeten Bann gelten, selbst wenn er den damit beabsichtigten Zweck guthieße. Und außerdem wollte er sicherlich betonen, dass es sich beim Glückspiel, von dem er, wie die Erfahrung ihn gelehrt hatte, nicht loskommen würde, um keinen sündhaften Verstoß gegen die Tora handelte.
Eine andere Vorliebe Modenas galt der Musik. Sein Wunsch nach einer Verbesserung der Gesangskunst zeigte sich zum ersten Mal im Jahr 1604, als er in Ferrara, wo er zwischen 1604 und 1607 tätig war, versuchte, Chormusik in den Synagogengottesdienst einzuführen. Dabei stieß er allerdings auf großen Widerstand von Seiten der orthodoxen Rabbinen. Modena reagierte darauf mit einem rabbinischen Gutachten (Responsum ), in dem er bestreitet, dass es ein halachisches Verbot bezüglich des Musizierens im sakralen Zusammenhang gebe, und sich dabei auf religionsgesetzliche Autoritäten wie Raschi (R. Schlomo ben Izchak; 11. Jh.) und RaMBaM (R. Moses ben Maimon Maimonides; 11. Jh.) stützt.20 -
Ein historischer Glücksfall sollte den Musikliebhaber Modena („an advo-
19 Siehe Max Hermann FRIEDLÄNDER, R. Leon Modena, in: Österreichische Wochenschrift 6 (1902), 87-88.
20 Leon MODENA, Sehe' elot u-t' schuvot: Ziqnei Y ehuda [,Responsen an die Älteren von Juda'] 1605. Modenas Responsen liegen inzwischen in einer Neuausgabe vor. Siehe dazu Shlomo S!MONSOHN (Hrsg.), Sche'elot u-t'schuvot. Ziqnei Yehuda, Jerusalem 1956.
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cate of Jewish music"21) mit dem ausgezeichneten und versierten Kompo
nisten Salamone Rossi Hebreo („one of the foremost masters in the Golden Age of Italian music"22
) zusammenzubringen, mit dem er gemeinsam hebräische Lieder für den liturgischen Gebrauch arrangierte, die unter dem Titel Lieder Salomos (Ha-schirim 'ascher li-schlomo) 1622/23 in Venedig
k h. 23 im Druc ersc 1enen.
Zahlreiche weitere Schriften religiösen Inhalts, rabbinische Stellungnahmen und Abhandlungen zur Kabbala folgten.
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Modena und die Kabbala
Mit Modenas Haltung zur Kabbala verhielt es sich ganz ähnlich widersprüchlich. An vielen Stellen seiner Schriften geht er mit der kabbalistischen Lehre und ihren Vertretern harsch ins Gericht, was aber keineswegs ausschließt, dass er in seinem eigenen Leben den einen oder anderen kabbalistischen Brauch ausübt. 25 Zu seiner Lebenszeit wurden in Norditalien zahlreiche kabbalistische Werke gedruckt und die Kabbala nahm insgesamt einen großen Aufschwung. Modena sah die rasch anschwellende Verbreitung mit einer gewissen Skepsis und verfasste schließlich Ende der 30er Jahre eine Schrift, die sich mit dem Thema der Kabbala auseinandersetzt. Sie ist in Form eines Briefes in hebräischer Sprache verfasst und an den Arzt und Philosophen Joseph Hamiz, einen ehemaligen Schüler Modenas, gerichtet. Von diesem Werk mit dem Titel
21 Howard Tzvi ADELMAN, Rabbis, Politics, and Music. Leon Modena and Salamone Rossi, in: Notes from Zamir (Spring 2003), 8-11, hier: 3.
22 Peter GRADENWITZ, An Early Instance of Copyright. Venice 1622, in: Music & Letters 27, No. 3 (1946), 185-186, hier: 186.
23 Dazu kürzlich erschienen: Rafael ARNOLD, Doppelter Kairos. Der Anteil Leon Modenas (1571-1648) an der Einführung der Synagogenmusik und die Wiederentdeckung von Salomone Rossis hebräischen Kompositionen, in: Populäre Kultur und Theologie (POPKULT), Bd. 10 (2013), 11-30.
24 Ein Verzeichnis sämtlicher Schriften Modenas findet sich bei ARNOLD 2007 (Anm. 4), 209-215.
25 So wünscht er sich beispielsweise in seiner Autobiographie (Anm. 9, fol. 38a), dass nach seinem Tode mehrere Männer um den Sarg herumgehen und dabei den Psalm 91 aufsagen sollten, um damit böse Dämonen abzuhalten. Das ist ein kabbalistischer Brauch. Vgl. hierzu Gershom SCHOLEM, Tradition und Neuschöpfung im Ritus der Kabbalisten, in: ders„ Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt/M.
61989,
159-207, hier: 202-203.
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Ari Nohem (,Brüllender Löwe'), das erst 1840 in Leipzig im Druck erscheinen sollte, sind verblüffenderweise 14 Manuskriptfassungen erhalten.26 Modena kritisiert darin das angebliche Alter des „Sohar", des wichtigsten Buches der Kabbala, und die angebliche Autorschaft von Rabbi Schimon bar Y ochai (Simeon bar Y ohai), des Mischnagelehrten des 2. Jahrhunderts. Modena stützt sich dabei auf eine historisch-kritische Lesart und nimmt beispielsweise Anstoß an der Erwähnung von Personen, die erst nach der vermeintlichen Zeit der Abfassung des „Sohar" gelebt haben.27 In dieser Art von Pseudoepigraphie sah Modena eine anmaßende Strategie der Kabbalisten, die dem Sohar Autorität verschaffen und ihn als Teil einer jahrhundertealten Tradition erscheinen lassen wollten. Modena identifizierte stattdessen den mittelalterlichen Gelehrten Moses de Leon als Verfasser des „Sohar". Für ihn war die Kabbala eindeutig nicht Bestandteil der mündlichen Tora; ebensowenig akzeptierte er die Gleichsetzung von Kabbala und Philosophie (chokhma). Vielmehr legte er Gewicht auf eine Unterscheidung von Kabbala, chokhma und schließlich yedia, die er für eine niedrige Stufe des Wissens hielt. Dass die Kabbalisten den berühmten mittelalterlichen Philosophen Maimonides vereinnahmten, brachte Modena zur Weißglut, hatte er selbst ihn, den Rationalisten, der die aristotelische Philosophie mit der Offenbarungsreligion hatte versöhnen wollen, doch zu seinem „Hausphilosophen" gewählt.
Nicht zuletzt kommt Modena auch auf die Beliebtheit der Kabbala unter christlichen Gelehrten zu sprechen und ist besorgt über Fälle von Konversion, bei denen die Kabbala eine Rolle gespielt hatte. Dass Johannes Reuchlin und Pico della Mirandola die Kabbala für christliche Zwecke verwendeten, störte Modena ebenfalls.
Es wird jedoch auch deutlich, dass Modena trotz dieser und anderer Vorbehalte den Inhalt des „Sohar" gar nicht angreift. Im Gegenteil er zollt dem Verfasser großen Respekt.
26 Nicht alle tragen den Titel Ari Nohem (,Brüllender Löwe'), sondern einige den eines anderen Werks von MODENA, nämlich Sha'agat A1jeh (,Gebrüll des Löwen'). Siehe dazu Anm. 61.
27 Yaacob DWECK weist darauf hin, dass Modena indes an den im Text verwendeten spanischen und mittelalterlichen Termini der Philosophie keinen Anstoß nimmt. Dabei hätten sie seine Argumentation sehr gut stützen können. Genauso wenig erwähnt Modena das Thema der Vokalisierung des Bibeltextes. Vgl. ders., The Scandal ofKabbalah. Leon Modena, Jewish Mysticism, Early Modem Venice, Princeton 2011, hier: 92.
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Ein Mann mit doppeltem Antlitz
Die Zwiespältigkeit in Modenas Charakter blieb auch einem seiner größten Verehrer, Abraham Geiger, nicht verborgen, weshalb dieser bei seiner Charakterisierung des Rabbiners zum Bild des Januskopfes griff und ihn „ein[en] Mann mit doppeltem Antlitz" nannte.
28 Cecil Roth, dem
besten Kenner des italienischen Judentums im 20. Jahrhundert, galt Modena gerade aufgrund seiner Liberalität und Unvoreingenommenheit, aber auch wegen seiner Uneindeutigkeit und Skepsis als der „erste moderne Rabbiner"29, womit er ihm eine außerordentlich prominente Rolle im jüdischen Geistesleben einräumte.
Mangelt es Modena also manchmal an Konsequenz, so treten an anderer Stelle sein Humor und seine Spottlust in Erscheinung, die etwa durchblitzen, wenn er abergläubische Bräuche und Ammenmärchen
30 als Un
sinn entlarvt, wie die kabbalistische Annahme, dass der Leichnam eines Menschen nach seinem Tod drei Tage lang gemartert würde, wofür die entwichene Seele eigens in diesen zurückkehrte - was, wie Modena unterstreicht, „nur von Leuten mit weniger als mittelmäßigem Verstand geglaubt" (178)31 werde.32 Ähnlich äußert er sich bezüglich des verbreiteten Brauchs, im Zimmer einer Wöchnerin bestimmte beschriebene Zettel anzubringen, mittels deren böse Geister wie Lilith, die eifersüchtige erste Frau Adams, abgewehrt werden sollen. Wer diese Vorkehrungen
28 Abraham GEIGER, Leon da Modena, Rabbiner zu Venedig (1571-1648), und seine Einstellung zur Kabbalah, zum Thalmud und zum Christenthume, Breslau 1856, 6. Auf dem klaren, strahlenden Bild eines Rationalisten lagen nach Geigers Auffassung auch Schatten, zu denen vor allem Modenas Spielsucht und sein sporadisch sichtbar werdender Aberglaube zählten.
29 Cecil ROTH (Anm. 5), 384. 30 Modena verschweigt abergläubische Handlungen nicht einfach, sondern themati
siert sie sehr wohl. Einerseits waren sie informierten christlichen Lesern bekannt und ihre Nichterwähnung wäre daher aufgefallen, andererseits könnte es aber auch sein, dass er diesen Phänomenen nicht so viel Bedeutung zumaß wie andere. Man hat den Eindruck, dass Modena stärker daran gelegen war, die bunte Vielfalt darzustellen, also ein vollständiges Bild zu geben, als der Gefahr möglicher Kritik christlicherseits vorzubeugen. Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass Aberglaube und Magie in den Augen der Rabbinen eine schwere Sünde darstellen.
31 Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf die Ausgabe von ARNOLD 2007 (Anm. 4).
32 Diese Passage ist nur in der Ausgabe Paris 1637 (und in der englischen Übersetzung von 1650) abgedruckt; fehlt aber im Manuskript und in der Ausgabe Venedig 1638.
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nicht treffen wolle, schreibt Modena, brauche dies auch nicht zu tun, da es dafür weder einen vernünftigen Grund noch eine Vorschrift in der Tora gebe und es außerdem sowieso dumm und nutzlos sei (162).33
- Diese beiden Beispiele zeigen Modena als einen pragmatischen Intellektuellen. 34
Als Verfasser einer Beschreibung der jüdischen Religionsfiten und -bräuche, von der bereits die Rede war, ist Modena bestrebt, dieselbige möglichst objektiv darzustellen35
: „als einfacher, unparteiischer Berichterstatter (relatore)" (50)36
. Zu diesem Zweck gibt Modena vor, den Erzähler vom realen Autor zu trennen. Wohl auch deshalb mag er sich entschieden haben, von den Juden in der dritten Person Plural („sie") zu sprechen und nicht „wir" zu sagen. Dem Vorwurf der Parteilichkeit, den seine Gegner äußern könnten, weil er Jude sei,37 kommt er damit zuvor und beteuert, dass ihn andere, nämlich christliche Gelehrte, in diesem Punkt beruhigt hätten, da sie keinen Zweifel an seiner Aufrichtigkeit hätten (49-50). 38
Um ganz sicher zu gehen, behauptet er sogar, beim Schreiben vergessen zu haben, Jude zu sein: ,,Nello scriver, in verita, ehe mi sono scordato
33 „ ... impero chi non vuol farlo lascia di metterli, ehe cio non solo non ha fondamento alcuno di precetto, ma piu tosto vanita" (Ausgabe 1638, 101).
34 Von den jüdischen Intellektuellen seiner Epoche, die man vielleicht mit ihm vergleichen könnte, wäre Ovadia Sfomo zu nennen. Vgl. Y ehuda F ALK, Rabbi 'Ovadya Sfomo - Humanist Exegete (hebr.), in: Sefer NEIGER, Ma'amarim be l)eker ha-tanakh le-zekher David Neiger z"l, Jerusalem 1959, 277-302; Saverio CAMPANINI, Un intelletuale Ebreo de! Rinascimento. 'Ovadya Sfomo a Bologna e i suoi Rapporti con i Christiani", in: Maria Giuseppina MUZZARELLI (Hrsg.), Verso l'Epilogo di una Convivenza: Gli Ebrei a Venezia nel XVI Secolo, Firenze 1996, 109-113.
35 Vgl. dazu auch Mark R. COHEN (Anm. 11 ).
36 Modena beteuert dies im Vorwort. Im Manuskript steht „naturale relatore" (,natürlicher Berichterstatter'), im Sinne von ,unvoreingenommen, unparteiisch'. In allen Druckausgaben steht „neutrale". Vgl. ARNOLD, ,Neutra!' or ,natural' relator? (Anm. 12). In anderem Zusammenhang, wo Modena zwischen „natürlichem" (tiv 'i) und künstlichem (melakhuti) Gedächtnis unterscheidet, gibt er dem natürlichen den Vorzug, denn „alles, was natürlich ist, kann nicht schaden". Siehe MODENA, Lev ha-Aryeh (Anm. 17) „Tor 1", Kap. 10) [Übers. d. Verf.].
37 „[ ... ] sospetto, per uscir da un Hebreo de! quale si dubitarebbe c 'havesse celato, o mutato quello ehe non gli fasse parso bene, ehe si fasse risaputo come staua a punto" (Manuskript, fol. 2r).
38 „[„.] ehe non saria stato riuocato in dubbio da niuno d'hauer parlato sinceramente" (Manuskript, fol. 2r).
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d'esser Hebreo"39. Dass es sich dabei um einen rhetorischen Kunstgriff
handelt, muss nicht betont werden, 40 und auch nicht, dass Leon Modena in Wirklichkeit zu keinem Zeitpunkt sein Ziel, den Lesern ein positives Bild vom Judentum zu vermitteln, aus den Augen verloren hat.
41 Der
Vorwurf, er habe Dinge, die Anstoß hätten erregen können, ganz bewusst verschwiegen, wurde dem Autor dann allerdings doch gemacht
42 - nicht
völlig zu unrecht, wie an späterer Stelle gezeigt werden wird.
Modena beteuert indes, keineswegs überreden, sondern nur beschreiben zu wollen43
; in diesem Sinne solle sein Werk keine Werbeschrift sein. Der leiseste Verdacht, der Autor könne mit seiner Schrift versuchen, Proselyten zu gewinnen, hätte ihm auch umgehend große Schwierigkeiten vonseiten der Inquisitionsbehörde eingebracht.
Es hatte zuvor schon Kompendien gegeben, in denen die religionsgesetzlichen Vorschriften, wie sie in der Tora, den Fünf Büchern Moses, festgelegt sind, systematisiert dargeboten wurden, doch waren diese von Juden für Juden geschrieben und dienten der Unterweisung im eigenen Glauben, wie z.B. der „Führer der Verwirrten" von Maimonides (1135-1204), Jakob ben Aschers (ca. 1240-1340) „Arba Turim" oder Josef Karos (1488-1575) Buch „Schulchan Aruch" (,Der gedeckte Tisch'). Gegen Ende des 16. Jahrhunderts waren in Venedig zudem zwei so genannte Minhagim-Bücher 44 gedruckt worden, in denen jüdische Bräuche (minhagim) dargestellt und erläutert wurden.
39 „Nello scriver, in verita, ehe mi sono scordato d'esser Hebreo" (Manuskript, fol. 2v). Dem englischen Übersetzer CHILMEAD unterlief in seiner Ausgabe, die 1650 in London erschien, ausgerechnet an dieser entscheidenden Stelle ein Übersetzungsfehler: „And, in my Writing [ ... ] remembring my seif tobe a Jew" (The Authors Preface). Ob er dies bewusst tat, weil er einem Juden nicht zutraute, vom eigenen Judentum absehen zu können, lässt sich nicht entscheiden.
40 Nathalie Z. DAVIS, Ruhm und Geheimnis. Leone da Modenas Leben Jehudas als frühneuzeitliche Autobiographie, in: dies., Lebensgänge, Berlin 1998, 53.
41 Vgl. COHEN, Leone da Modena's Riti (Anm. 11). 42 Vgl. SAMAJA, Le vicende di un libro (Anm. 10), 83. 43 „Ferche ho inteso di riferire, e non di persuadere" (Manuskript, fol. 2v). An ande
rer Stelle erwähnt er jedoch durchaus die Überlegung, „ihnen [i.e. den Christen] dabei behilflich zu sein, ihre bessere (nivlJar) Naturbeschaffenheit wiederzuerlangen" - allerdings tut er dies auf Hebräisch (MODENA, Midbar Yehuda, fol. 83a) [Übers. d. Verf.].
44 Die Drucke erschienen im Jahr 1589 und 1593. Sie waren in jiddischer Sprache verfasst und zudem in hebräischen Buchstaben gedruckt, zielten also eindeutig auf
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Wer sich hingegen als Christ über die jüdische Religion, ihre Zeremonien und Bräuche informieren wollte, verfügte über keine zuverlässigen Darstellungen aus erster Hand. Manches wusste man vom Hörensagen, Gerüchte kursierten, und dann gab es noch Bücher, die von Christen geschrieben waren und versprachen, genaue Auskunft über das Judentum und die Juden zu geben.45 Oftmals handelte es sich dabei indes um tendenziöse Schriften, deren Verfassern nicht so sehr an der Wahrheit gelegen war, sondern denen es mehr darum ging, das Jüdische mit einer Atmosphäre von Düsternis, Gräuel und Geheimnistuerei zu umgeben. An unrühmlich prominenter Stelle steht hier die antijüdische Polemik, die Heinrich Buxtorf im Jahr 1603 unter dem Titel „Synagoga Judaica, das ist Jüdenschul" in Basel publizierte.46 Modena erwähnte Buxtorfs Buch ausdrücklich in einem Brie:t47 und an einer Stelle seiner „Jüdischen Riten, Sitten und Gebräuche", wo er von verzerrenden und verlogenen Darstellungen des Judentums durch verschiedene Autoren spricht, heißt es:
„Einige Leute [und damit dürfte auch Buxtorf gemeint sein] haben gesagt, die Juden würden jeden Tag schwören, einen Christen drei Mal zu täuschen {und zu betrügen}, aber das ist eine {ausgesprochene} Lüge {verbreitet, um sie noch verhasster zu machen, als sie ohnehin schon sind} und soll nur der Verleumdung dienen." (102)48
ein jüdisches Publikum. Vgl. dazu Naomi FEUCHTWANGER-SARING, How Italian are the Minhagim of 1593? A Chapter in the History ofYiddish Printing in Italy, in: Michael GRAETZ (Hrsg.), Schöpferische Momente des europäischen Judentums, Heidelberg 2000, 177-205.
45 Es gibt zahlreiche solcher Darstellungen des jüdischen Brauchtums, etwa sechzig lassen sich bibliographisch ermitteln. Unter den späteren Titel dieser Art findet sich auch das Entdeckte Judenthum des notorischen Antisemiten Andreas EISENMENGER (1654-1704).
46 BUXTORFs einziges Werk, das in deutscher Sprache gedruckt wurde, erschien 1603 in Basel. Im Titel verspricht es „Aufklärung" über Sitten und Gebräuche „wie sie bei jhnen [sc. den Juden] offentlich und heimlich im Brauche: Auss jhren eigenen Buecheren und Schrifften so den Christenmehrteils unbekannt und verborgen sind".
47 Dieser Brief an den Theologen Vicenzo Noghera in Bologna ist von Cecil Roth veröffentlicht worden. ROTH, Leone da Modena (Anm. 5), 392.
48 Auch in einem weiteren - in hebräischer Sprache verfassten - Brief aus dem Jahr 1640 bekräftigt Modena, er habe mit dem Buch der Verhöhnung der Juden durch Christen ein Ende setzen wollen. Siehe dazu Ludwig BLAU, Leo Modenas Briefe und Schriftstücke, in: Jahresbericht der Landes-Rabbinerschule in Budapest 28 (1905), 93-95. Der Brief, der die Nr. 193 trägt, ist auf den Seiten 178-179 abgedruckt.
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Den verbreiteten Polemiken gegen das Judentum standen freilich auch jüdische Schriften, die sich gegen das Christentum richteten, gegenüber, darunter übrigens auch eine von Modena selbst mit dem Titel „Magen ve-Herev" (zu deutsch ,Schild und Schwert'). Dazu ist jedoch anzumerken, dass ein wesentlicher Unterschied darin besteht, dass die jüdischen Schriften nicht nur geringer an Zahl und Wirkung waren, sondern dass sie mehrheitlich und nachweisbar erst auf erfolgte Angriffe von christlicher Seite reagierten.49
Modenas Buch „Jüdische Riten, Sitten und Gebräuche" ist in diesem Sinne ein apologetisches Werk, das für religiöse und soziale Toleranz wirbt. 50 Es aber ausschließlich im Zusammenhang mit den erwähnten polemischen Werken zu betrachten, würde bedeuten, dem individuellen Charakter des Buches nicht gerecht zu werden. 51 Denn darin zeigt sich eine ganz neue Geisteshaltung, die auf ein vemunftbegabtes Publikum zielt und auf eine sich gerade herausbildende Form der Öffentlichkeit, wie sie durch einzelne aufgeklärt denkende Personen bereits verkörpert wurde. Zugleich bekämpft Modena die verbreitete antijüdische Haltung, die zum einen aus Unkenntnis herrührte, die zum anderen aber von Mutwilligen ideologisch instrumentalisiert wurde, mit den Mitteln der Aufklärung.
49 Vgl. dazu Hanne TRAUTMANN-KROMAN, Shield and Sword. Jewish Polemics against Christianity and the Christians in France and Spain from 1100-1500, Tübingen 1993.
50 In diesem Zusammenhang sei die lateinisch verfasste Apologetik des David de POM!S erwähnt, die fünfzig Jahre zuvor ebenfalls in Venedig erschienen war und die Bedeutung jüdischer Ärzte hervorhebt: ders., De Medico Hebraeo Enarratio Apologica, Venetiis (Variscus) 1588; sowie auch Simone LUZZATTO, Discorso circa il stato de gl'Hebrei, et in particolar dimoranti nell'inclita citta di Venetia, Venezia 1638, das fast gleichzeitig mit Modenas Buch erschien und bei dem es sich ebenfalls um eine Apologie der Juden handelt, die sich aber vor allem auf den öko-nomischen Nutzen der Juden für die Republik Venedig beruft.
51 Von den unterschiedlichen Deutungen seien hier nur drei exemplarisch angeführt: Abraham GEIGER sieht Modenaals Vorboten des Reformjudentums (vgl. Anm. 28), dazu prädestinierte ihn nicht zuletzt sein Engagement für synagogale Musik; CüHEN (Anm. 11) versteht die „Jüdischen Riten, Sitten und Bräuche" als ein Plädoyer für soziale Toleranz; Jacques Le BRUN nennt es eines der ersten ethnologischen Werke über das Judentum im 17. Jahrhundert, das im Kontext zeitgenössischer Reise- und Völkerbeschreibungen zu sehen sei, die in der Folge der geographischen Entdeckungen im 16. und 17. Jahrhundert auf breites Publikumsinteresse stießen. Jacques Le BRUN / Guy G. STROUMSA, Les Juifs presentes aux chretiens. Textes de Leon de Modene et de Richard Simon, Paris 1998, XIV.
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Während sich die Inquisition in Italien seit dem 16. Jahrhundert durch zwangsgetaufte Juden aus Spanien und Portugal, die teils zum Judentum zurückkehrten, teils eine unbestimmte religiöse Identität vorzogen, herausgefordert sah, und während die Parteigänger der Gegenreformation, die überall Häresie witterten, seit dem Tridentinischen Konzil die Grenzen zwischen Orthodoxie und Heterodoxie schärfer zogen, mehrten sich zur gleichen Zeit die persönlichen Kontakte zwischen Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen, speziell zwischen Juden und Christen. Das jüdische Ghetto in Venedig war inzwischen für viele Besucher zu einem regelrechten touristischen Must-see geworden.52 Sir Henry Wotton, der eingangs erwähnt wurde, sei hier stellvertretend für die vielfältigen Kontakte, die auch Modena mit christlichen Herren und Gelehrten hatte, genannt. Dass Modena seiner Bitte entsprach und als Jude eine Beschreibung jüdischer Sitten anfertigte, die sich ausdrücklich an Nichtjuden richtete und dazu in ihrer Umgangssprache verfasst war, ist geradezu sensationell.
Aufbau und Inhalt des Werks Jüdische Riten, Sitten und Bräuche
Gemäß der Fünfteilung der Tora hat Leon Modena sein Werk, wie er im Vorwort erklärt, in fünf Teile gegliedert. Die Anordnung der Kapitel folgt nicht immer einem logischen Plan, sondern geschieht teilweise assoziativ. Was den Inhalt des Buches betrifft, so deckt es sehr viele Aspekte jüdischen Lebens ab.
Das erste Kapitel gliedert Modena nochmals in drei Teile: An erster Stelle stehen die biblischen Vorschriften (precetti della Legge scritta), gefolgt von der mündlichen Tora (!egge a bocca), wobei es sich um Erklän:ngen und Auslegu~~en. de~ Ra~biner handelt, ~nd schließlich folgen die Bräuche (vsanze) , die sich im Laufe der Zeit und von Ort zu Ort
52 Vgl. Benjamin RAVID, Christian Travellers in the Ghetto ofVenice. Some Preliminary Observations, in: Stanley (Shlomo) NASH (Hrsg.), Between History and Literature. Studies in Honor of Isaac Barzilay, Tel Aviv 1997, 111-150; Thomas CORYATE, Observations ofVenice, Teilausgabe von Crudities, erschienen in 1611. [Glasgow 1905; Facs., London: Scolar Pr., 1978]; Thomas CORYATE, Beschreibung von Venedig 1608, hrsg. und übersetzt von Birgit HEINTZ und Rudolf WUNDERLICH, Heidelberg 1988.
53 Hebr. minhagim (vgl. Anm. 44 und 54).
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bisweilen stark geändert haben.54 Die weiteren Kapitel des ersten Teils behandeln den jüdischen Alltag, Kleidung, rituelle Waschungen, Erziehung, Gebete und Almosen für die Armen. Im zweiten Teil geht es um die Sprachen, die rabbinische Ausbildung und um Speisevorschriften. Der dritte Teil behandelt den Schabbat und die Feiertage im Jahreslauf. Im vierten Teil erörtert Modenau. a. Fragen des Ehestandes. Der letzte Teil thematisiert die Konversion zum Judentum, die Karäer, Wahrsagerei und Magie, Krankheit, Tod und Begräbnis sowie die dreizehn Glaubensartikel.
Bei der Begründung ritueller Handlungen und Traditionen bezieht sich Modena fast ausschließlich auf Bibelstellen, um die Gemeinsamkeiten zwischen Christen und Juden zu betonen. Dies resultiert aus Modenas apologetischer Absicht, das Judentum als Schrift- oder Buchreligion darzustellen und nicht etwa als auf den Hirngespinsten der Rabbiner basierend, wie Buxtorf es dargestellt hatte. Dabei verschweigt Modena die mündliche Lehre und den Talmud zwar nicht vollständig, aber er drängt das rabbinische Judentum sehr in den Hintergrund, sicher auch deshalb, weil er selbst Vorbehalte gegen manche Entscheidung oder Meinung der Rabbiner hatte, wie beispielsweise im Falle des Banns gegen das Glücksspiel.55 Die Entstehungsgeschichte und den Inhalt des Talmuds stellt er im 2. Kapitel des zweiten Teils kurz dar. Die Tatsache, dass Modena nicht wörtlich aus dem Talmud zitiert, lässt sich mit dem Talmudverbot
56
54 „[ ... ] alcune cose, in diuersi tempi, e luoghi diuersamente poste in vso, o di nuouo introdotte, e pero detti Minhagim, vsanze [ ... ] in cio ehe s 'apartiene a questa terza parte de gl 'vsi solamente si troua varieta, e non poca" (Manuskript, fol. 3r).
55 Vgl. dazu Abraham GEIGER, Leon da Modena (Anm. 28). Kritische Stimmen zum Talmud finden sich aber auch bei anderen zeitgenössischen jüdischen Gelehrten, so z.B. im Vorwort von Immanuel ABOAFs Nomologia, die 1625 vollendet wurde.
56 Im 13. Jahrhundert waren zum ersten Mal Anklagen laut geworden, der Talmud enthalte anti-christliches Gedankengut. Vgl. J. ROSENTHAL, The Talmud on Trial. The Disputation at Paris in the Year 1240, in: Jewish Quarterly Review 47, 58-76, 145-169. Unter Papst Julius III. kulminierte der Argwohn gegen den Talmud und die ihm unterstellte Christenfeindschaft in der Anordnung seiner Zerstörung. In Rom fand auf dem Campo dei Fiori am 9. September 1553 eine Bücherverbrennung statt. David KAUFMANN schreibt dazu: „Die Ahnung war begründet, daß dieses fressende Feuer in Rom nicht Halt machen werde". Ders., Die Verbrennung der talmudischen Literatur in der Republik Venedig, in: Jewish Quarterly Review XIII (1900), 533-538, hier: 533. Und in der Tat breitete sich diese Vemichtungswut auch in andere Städte Italiens aus. Am 21. Oktober 1553 - nur drei Tage nach dem Beschluss des Rates der Zehn, der die Konfiszierung und Verbrennung des Talmud anordnete - loderten auch in Venedig auf der Piazza di San Marco die Scheiterhaufen. Laut Schätzungen, wurden mehrere Tausend Bücher verbrannt. Vgl. dazu Paul
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erklären, das die katholische Kirche wiederholt verhängt hatte, was Modena ausdrücklich erwähnt:
„Dieser Talmud wurde von einigen Päpsten verboten, von anderen wieder erlaubt; aber heutzutage bleibt er verboten, und in ganz Italien sieht man ihn nicht, noch wird er gelesen." (98)
Aus diesem Grund, so betont Modena, würden die Juden nur Paraphrasen des Talmuds benutzen (93). Möglicherweise leugnete Modena die Existenz von Talmudexemplaren aus Vorsicht vor erneuter Konfiszierung, da er um die willkürliche und wankende Haltung der Päpste in dieser Sache wusste. Jedenfalls unterstreicht seine Feststellung die prekäre Lage, in der sich das Talmudstudium und die damit verbundene Weitergabe der religiösen Tradition seit Mitte des 16. Jahrhunderts befand.
Modenas Verhältnis zu den talmudischen Schriften ist aber wiederum nicht ohne Widersprüche. Abraham Geiger, der zu den größten Verteidigern Modenas gehört, wies auf viele Stellen in Modenas Werk hin, an denen dieser mal offen, mal verdeckt Kritik an den Talmudisten übt. 57 In Modenas Darstellung der „Riten, Sitten und Bräuche" fehlt es an solcher Kritik ebenfalls nicht. 58 Freilich ist es vollkommen übertrieben zu be-
F. GRENDLER, La distruzione di libri ebraici a Venezia nel 1568, in: Umberto FORTIS (Hrsg.), Venezia ebraica. Atti delle prime giornate di studio sull'ebraismo veneziano (Venezia 1976-1980), Roma 1982, 99-127, hier: 103, (siehe auch Anm. 10). Im Zusammenhang mit den veneziansichen Talmudverbrennungen im Jahr 1553 schreibt KAUFMANN: „Die Strafandrohungen waren so furchtbar, dass man bei dem in Venedig gezüchteten und in diesem Falle noch besonders herangelockten Denunciantenwesen fast mit Sicherheit auf eine gründliche Austilgung des talmudischen Schrifthums im Venezianischen schließen kann." Ders., Die Verbrennung (Anm. 56), 535. Wenig bekannt ist, dass im Jahr 1568 eine weitere Talmudverbrennung folgte. In seinem Buch Emek habacha berichtet der Zeitgenosse Joseph HACOHEN, es werde behauptet, „daß der Talmud den Messias der Christen diffamiere und daß der Papst seine Verbreitung nicht dulden dürfe". Joseph HA-COHEN, Emek habacha [,Tränental'; Manuskript aus dem 16. Jhdt.]. Aus dem Hebräischen ins Deutsche übertragen von M. WIENER, Leipzig [1558-1575] 1858, 89. Im Jahr 1601 fand auf Befehle Clemens VII. wiederum eine Verbrennung hebräischer Bücher statt.
57 GEIGER, Leon da Modena (Anm. 28).
58 So schildert Modena, dass in den Jeschiwot, den rabbinischen Schulen, eine große Unordnung herrsche, man schreie durcheinander, wofür er den behandelten Gegenstand selbst verantwortlich macht. An anderer Stelle vertritt er die Ansicht, dass die Vorschriften der Heiligen Schrift vollkommen ausreichen würden, die Rabbinen aber noch andere Anordnungen hinzugefügt hätten. In den Jüdischen Riten, Sitten und Bräuche erhebt Modena mehrfach den Vorwurf, dass sich die Schriften der Rabbiner wiederholten.
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haupten, Modena hätte die Weisen des Talmuds gehasst, wie dies der italienische Kabbalist Samuel David Luzzatto Ende des 19. Jahrhunderts tat.59 Lässt man die sachliche Unrichtigkeit dieses Urteils einmal außer Acht, die sich anhand von Modenas Schrift Magen ve-+innah (,Schild und Tartsche')60
, in der er die mündliche Lehre verteidigt, leicht aufweisen ließe, so ist diese Äußerung aber doch nicht ohne Interesse, da man an ihr ablesen kann, wie unterschiedlich Modenas oszillierendes Verhältnis zum talmudischen Judentum bewertet wurde und wie umstritten er als Persönlichkeit war und ist. Ausdruck seiner Widersprüchlichkeit ist auch das Werk Bechinat ha-Kabbala, das sich aus zwei Teilen zusammensetzt: im ersten Teil (Kol Sachal; ,Stimme eines Toren') wird ein jüdischer Gesetzeskodex präsentiert, der ausschließlich auf die biblische Gesetzgebung zurückgeht; im zweiten Teil (Scha 'agat Arje; ,Gebrüll des Löwen') erfolgt dann seine vollständige Widerlegung.
61
So verdeckt Modenas Kritik am rabbinischen Judentum auch ist - und viel offener hätte er auch gar nicht werden dürfen, ohne fürchten zu müssen, den Feinden des Judentums in die Hand zu spielen-, so zeigt sich doch gerade hier ein sehr komplexes Verhalten, bei dem der Blick nicht ausschließlich nach außen auf das christliche Publikum gerichtet ist, sondern auch nach innen, wo ebenfalls mit Widerständen zu rechnen war.
62
Modenas Werk musste also einem doppelten Anspruch genügen.
59 „Er hasste die Weisen der Mischna und des Talmuds mehr als die Karäer. Er war in stärkerem Maße reformiert als Geiger. Und das vor 220 Jahren! Und in Italien!, in: R. Moi'se Hayyim LUZZATTO, Le Philosophe et Je cabaliste: exposition d'un debat, Paris 1991, 36 [Übers. d. Verf.].
60 Siehe GEIGER, Leon da Modena (Anm. 28), und seine Ausgabe dieses Werkes Maamar magen ve-:;:innah, Breslau 1856.
61 Die beiden Schriften wurden von Isaac Reggio in 1852 unter dem Titel Bechinat haKabbala in Gorizia in Druck gegeben. Die Autorschaft Modenas wurde seither mehrfach bestritten, von der neuesten Forschung jedoch wieder bestätigt. Vgl. dazu Talya FISCHMAN, Shaking the Pillars of Exile. ,Vice of a Fool', an Early Modern Jewish Critique ofRabbinic Culture, Stanford 1997; Vgl. auch Anm. 26.
62 In anderem Zusammenhang hob Geiger Modenas Technik der nur halb verdeckten Kritik („stille Andeutung für den Verständigen") hervor, die ihr Ziel seines Erachtens keineswegs verfehlte: „er scheint mit einer gewissen Vorliebe die [talmudischen] Stellen aufzunehmen, welche sich lächerlich ausnehmen und die Thalmudisten gerade nicht im hellsten Liebte erscheinen lassen [„.]. Seine Erklärungen aber, wo er sie giebt, so vorsichtig und so ehrerbietig sie abgefaßt sein mußten, auch sie geben zuweilen leise Winke, die er einem Empfänglichen hinreichend hielt und über die er nicht hinausgehen durfte". GEIGER, Leon da Modena (Anm. 28), 18.
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Die Anpassungen der Druckfassung von 1638
Bei der 1638 in Venedig gedruckten Version handelt es sich um eine purgierte Ausgabe.63 Modena war durch das Druckverbot des Sant' Uffizio ja gewarnt gewesen, wobei er schon bei der handschriftlichen Fassung seines Textes vorausahnend Änderungen vorgenommen hatte. Fälle, in denen sich Autoren einer Selbstzensur unterwarfen, waren vor dem Hintergrund der Inquisition besonders zahlreich.64 Entgegen seinem Versprechen im Vorwort zur Druckfassung hatte Modena in dieser einiges ausgelassen, anderes verändert.65 Es konnte nicht ausbleiben, dass ihm diese Manipulationen, die bei christlichen „Fachleuten" Verdacht wecken mussten, vorgehalten wurden. Sie mutmaßten, dass er noch mehr für das Judentum Nachteiliges entfernt habe.66
Von den auffälligsten Streichungen und Hinzufügungen seien nur zwei herausgegriffen: Die Passage zur Seelenwanderung oder Metempsychose, die in der Pariser Ausgabe enthalten ist, und die 13 Glaubensartikel, die Maimonides im 12. Jahrhundert formuliert hatte, entfernte Modena in der venezianischen Ausgabe aus Rücksicht auf die Inquisition. 67 Bezeichnenderweise macht er aber zumindest im letzten Fall auf die Leer-
63 „C'est une religion 'epuree' que Modena [ ... ] veut defendre et illustrer." Le BRUN I STROUMSA, Les Juifs presentes aux chretiens (Anm. 51), XXVII.
64 M. CARMILL Y-WEINBERGER, External and Interna! Censorship of Hebrew Books, in: Jewish Book Annual 28 (1970-1971), 9-16.
65 In seiner auf Hebräisch verfassten Autobiographie gestand er im Nachhinein allerdings freimütig, das ein oder andere weggelassen oder hinzugefügt zu haben „wie es mein Zweck mit sich brachte". Leon MODENA, Hayyeh Jehuda, fol. 25b (Anm. 9) [Übers. d. Verf.].
66 Darunter Doktor Paolo MEDICI, ein Neophyt aus Livomo, der 1736 in Florenz eine Polemik unter dem Titel Riti e Costumi degli Ebrei confutati, veröffentlichte, in der er Modena vorwarf, Unschickliches und Anstößiges ausgelassen zu haben, während manches von dem, was Modena positiv erwähnt, so Medici, nichts anderes als Aberglaube sei. Wörtlich schrieb er: „[Modenas] librettino [ ... ] Riti degli Ebrei, nel quale tace maliziosamente buona parte delle ceremonie, ehe pratica l'Ebraismo, per isfuggire Io scomo, e Ja confusione, ehe alla Nazione Giudaica avvenir ne potrebbe, essendo letti da Uomini, di senno forniti, e di ragione. Alcuni Ii narra e vero, ma gl'inorpella mostrando, ehe sia cosa laudevole molto, quello, ehe in verita altro non e, ehe mera superstizione." Zitat nach SAMAJA, Le vicende di un libro (Anm. 10), 83.
67 Marco FERRO, der Modenas Manuskript für die Inquisition zu prüfen hatte, nennt diese beiden Punkte ausdrücklich: „Ideo in liber iste in ultimo capitolo unum de articoly hebraici, cui referet Domino humanarsi non posse. [ ... ]in capitolo penultimo transmigratione Pythagorica [ ... ] esse abolendi arbitror". Vgl. Anm. 8; auch vgl. dazu COHEN, Leone da Modena's Riti (Anm. 11), 257.
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stelle aufmerksam, indem er die Auferstehung der Toten als einen der 13 Glaubensartikel bezeichnete ( 190-192); diese folgen dann zwar nicht, aber für zensurgewohnte Leser war das ein deutliches Signal und spornte geradezu an, sich das Fehlende aus anderer Quelle zu beschaffen. Weiterhin wird in der Ausgabe 1638 ausgespart, was man tun muss, um zum Judentum überzutreten, und nur die Konversion von Sklaven wird beiläufig erwähnt.
Modena lässt in seiner Überarbeitung nicht nur einzelne Dinge aus, neben den bereits erwähnten etwa auch abergläubische Handlungen,
68 son
dern übergeht ihm unangenehme Aspekte oder behandelt sie nur beiläufig, wie z. B. die verschiedenen jüdischen Sekten der Karäer, Sadduzäer usw. Dabei stießen gerade die Karäer beim christlichen Publikum auf großes Interesse, weil ihre strikte Berufung auf den buchstäblichen Sinn der Heiligen Schrift und die Ablehnung rabbinischer Doktrin an die Bewegung des Protestantismus erinnerten. Der Franzose Richard Simon, dessen Übersetzung vielfach nachgedruckt und später, wie eingangs erwähnt, in Bernards „Les Ceremonies et coutumes religieuses" aufgenommen werden sollte, erweiterte bezeichnenderweise das entsprechende Kapitel noch um zahlreiche Bemerkungen.
69
Modena lässt in seiner kurzen Erwähnung der Karäer - vielleicht aus .Rücksicht auf die Inquisition - keinen Zweifel daran, dass sie von den übrigen Juden strikt abgelehnt würden, und unterstreicht, dass sie in der Gegenwart keine Rolle mehr spielten. Mit der Beschränkung auf die Gegenwart, die das Titelblatt der Druckausgaben ausdrücklich zum Programm erhebt,70 wendet er sich zugleich gegen das Stereotyp des „Ewigen Juden". Hierdurch trägt Modenas Darstellung auch einer Fortentwicklung Rechnung, die die Möglichkeit zukünftiger Veränderungen oder - um es mit den Worten Christian Wilhelms von Dohm zu sagen -
68 Wie im Falle des Brauchs, zuerst den linken und dann den rechten Strumpf bzw. Schuh anzuziehen, der zwar in der Pariser Ausgabe 1637 und im Manuskript erwähnt wird, aber in der venezianischen Ausgabe 1638 gestrichen wurde.
69 Es ist sicher kein Zufall, dass auch J. F. BERNHARD in seinem Werk Ceremonies et coutumes religieuses de tous !es peuples du monde, das 1723 in den Niederlanden veröffentlicht wurde, Simons Übersetzung mitsamt seiner Exkurse wiedergab. Vgl. dazu Rafael ARNOLD, Ceremonies des Juifs (Anm. 6), 34-35.
70 Sowohl auf dem Titelblatt der Ausgabe von 1637 als auch von 1638 steht: „ ... gl'Hebrei di questi tempi".
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eine „Verbesserung der Juden"71 mit einschloss. Und gleichzeitig unterstreicht er damit nochmals seinen Appell an die Leser, ihr einmal gemachtes Bild von „dem Juden" zu revidieren und es sowohl den individuellen als auch jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten gemäß zu verändern.
Zu den Anpassungen zählen aber nicht nur das Weglassen oder Marginalisieren bestimmter Themen, sondern auch Ergänzungen. So fügte Modena in die venezianische Buchausgabe ein ganzes Kapitel zur Gerichtsbarkeit (Zweiter Teil, Kapitel ohne Nummerierung) und zur Ehrfurcht gegenüber Eltern, Lehrern und älteren Menschen (Vierter Teil, Kapitel 11) ein.
Das jüdische Leben im Ghetto
Dass sich die jüdischen Gebräuche von Land zu Land, oftmals von einer Gemeinde zur anderen unterscheiden 72
, erwähnt Modena in verschiedenen Zusammenhängen. Da er selbst die meiste Zeit seines Lebens in der Lagunenstadt gelebt hat, bildet das venezianische Ghetto den wichtigsten Referenzpunkt in seiner Beschreibung. 73 An der Seite italienischer Juden lebten in Venedig seit dem ausgehenden Mittelalter aschkenasische Juden, die Modena Tedeschi nennt, und eine dritte Gruppe, die sehr summarisch als Leuantini bezeichnet wird (90), womit er aber neben den Juden, die aus der Levante kamen, auch die sephardischen Juden meint, die nach ihrer Vertreibung aus Spanien und Portugal im Jahr 1492 bzw. 149711498 nach Italien und ins östliche Mittelmeergebiet geflohen waren. 74
71 Auf Anregung Moses Mendelsohns veröffentlichte der preußische Diplomat und politische Schriftsteller Christian Wilhelm VON DOHM 1781 die für die Spätaufklärung bedeutenden Programmschrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Mit der Propagierung der aufklärerischen Losung, im Juden den Menschen zu sehen, trug Dohm erheblich zum Abbau antijüdischer Vorurteile bei.
72 „Questa e la piu commune vsanza, ancor ehe le consuetudini secondo li luoghi, e paesi siano in alcune cose diuerse." (Manuskript, fol. 23r); „Questa e l'vsanza de! piu de 'luoghi, ancora ehe pur vi sia in alcuni qualche diuersita di poca cosa" (fol. 29v); „[„.] in alcuni luoghi usano [ ... ] altri non lofanno" (fol. 29v).
73 Es sticht ins Auge, dass dieser für die Entstehungsgeschichte des Buches bedeutsamer Umstand in der wissenschaftlichen Literatur über Modena kaum angesprochen wird, obwohl Modena selbst die Vielfalt (diversita delle nationi) ausdrücklich betont.
74 „[ ... ] intendendo con Leuantini, non solo tutto il Leuante di qua, ma Barbereschi, Moraiti, Greci, e quelli ehe son detti Spagnuoli [ ... ] e con Thedeschi, Boemi, Maraui, Pollachi, Russi, & altri" (fol. 3r/3v).
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Diese alle bildeten die Gemeinschaft der venezianischen Juden, die in den offiziellen Dokumenten als universita degli Ebrei bezeichnet werden und seit 1516 in einem ihnen zugewiesenen Bezirk der Stadt leben mussten, der den Namen Ghetto trug.
Modena fokussiert den Blick auf diesen venezianischen Mikrokosmos. Von der Vielsprachigkeit des Ghettos, wo neben Italienisch, Jiddisch, Spanisch und Portugiesisch auch Türkisch und Arabisch zu hören war, berichtet er ebenso wie von den abnehmenden Hebräischkenntnissen seiner Bewohner. Selbst Unterschiede der Musik in den verschiedenen Synagogen lässt Modena nicht unerwähnt.
Von den Bewohnern und ihren religiösen Bräuchen gibt er ein sehr differenziertes Bild. So liest man beispielsweise, dass der volkstümliche Brauch der Kapparot (,Sühnungen')75 ausschließlich von den aschkenasischen Juden ausgeübt werde, während die levantinischen und italienischen Juden ihn aufgegeben hätten, weil er keine Begründung im Religionsgesetz habe und in seinen eigenen Augen ohnehin nichts als Aber-
1 b . 76
g au e sei.
Das Bild, das er von den sephardischen und italienischen Juden malt, zeigt diese als „moderne" Menschen, die mit abergläubischen Handlungen aufräumen, sobald sie sie durchschaut haben. Ohne dass er es besonders erwähnen würde, scheint er die aschkenasischen Juden in dieser Hinsicht weniger positiv wahrzunehmen. Im Zusammenhang mit dem Verbot, Wein zu trinken, der mit Nichtjuden in Berührung gekommen ist, schreibt er, dass dieses nicht für die italienischen Juden gelte. Auch das allgemeine Bilderverbot werde von den italienischen Juden weniger streng befolgt als anderswo. An diesen herausgegriffenen Beispielen wird deutlich, dass Leon Modenas Darstellung vor allem pro domo, d. h. zugunsten der italienischen oder sephardischen Juden, geschrieben ist. Dass er dabei den einzelnen und die individuelle Handlungsweise hervorhebt, passt zu seinem Bemühen, die Fremdwahrnehmung der Juden
75 Modena meint hier den volkstümlichen Brauch, am Vorabend von Yom haKippurim die Sünden symbolisch auf einen Hahn oder eine Henne zu übertragen. Das Tier wird dann dreimal um den Kopf geschwungen und dabei eine Formel gesprochen, die das stellvertretende Sterben des Tieres nennt. Im Anschluss daran wird üblicherweise das Tier oder sein Gegenwert in Geld an die Armen verteilt.
76 Weitere Beispiele beziehen sich auf den Tausch der Ringe bei der Eheschließung, das brisante Thema der Polygamie, die unterschiedlichen Hebräischkenntnisse, die Namensgebung neugeborener Mädchen und anderes mehr.
72 RAFAEL ARNOLD
als einer homogenen Gruppe nicht weiter hinzunehmen, sondern dazu beizutragen, dass sie als heterogen wahrgenommen werden, als eine Gruppe von unterschiedlichen Individuen und Gruppierungen - aber nicht als Kollektiv.
Das Verhältnis von Juden und Christen
Auffällig sind die zahlreichen Bemerkungen in Modenas Darstellung, die ganz offensichtlich auf ein christliches Lesepublikum zielen, u. a. die besondere Hervorhebung des Verhaltens der Juden gegenüber Nichtjuden: Niemanden dürfen sie täuschen oder betrügen, schreibt er, und präzisiert in der Ausgabe 163 8: egal ob es sich um einen Juden handelte oder nicht (sia chi si voglia, o Hebreo, o non Hebreo). Im Gegenteil gelte das Betrügen eines Nichtjuden, nach erklärter Ansicht der Rabbiner, sogar als schwerere Sünde als das Betrügen eines Juden.77 Dasselbe gilt für die Unterstützung Notleidender, die ebenfalls unabhängig von der Konfession zu geschehen habe, 78 und dies nicht etwa, weil es opportun wäre, sondern weil ein solches Handeln universeller Menschlichkeit entspringe (103; come cosa propria della pieta humana indifferentemente; fol. lür). Außerdem werde bei der Begrüßung nichtjüdischer Herren - entgegen jüdischer Sitte - sogar die Kopfbedeckung abgenommen, um höhergestellten Herrschaften Reverenz zu erweisen. 79 Diese Stellen sind ganz eindeutig eine Reaktion auf gegenteilige Behauptungen, wie sie in den antijüdischen Schriften seinerzeit verbreitet wurden, und sollen die Möglichkeit einer Koexistenz von Juden und Christen unterstreichen - ohne Nachteile für die Christen.
Modena räumt ein, dass der Charakter der ursprünglich gesetzestreuen Juden sich verändert habe. Um dies zu erklären, geht Modena auch kurz auf die Geschichte des zerstreuten Volkes Israel ein, das seiner Meinung
77 ,,Anzi molti Rabbini hanno seritto, & in partieolar ne ha fatto raeeolta a longo Rabeno Baehij nel lib[ ro] Cad aehemah, lettera Ghimel Ghezela, doue diee, ehe e molto piu graue peeeato, il fraudare vno non Hebreo, ehe vn Hebreo, respetto allo seandalo ehe si da" (fol. 14v).
78 ,,Hanno aneo tanto per opera pia il dare elemosina, e souuenir ogni misero, benehe non sia Hebreo; in partieolar a quelli della Citta, e luoghi doue habitano" (Ausgabe 1638, 33). Es ist offensichtlich, welche Wirkung solche Sätze bei christlichen Lesern hervorrufen sollten.
79 „[ ... ] ma essendo tra Christiani, doue si eostuma per riuerir i maggiori, lo /anno aneh 'essi [sc. die Juden] (fol. Sr).
„DABEI VERGAB ICH, JUDE ZU SEIN" 73
nach wie kein anderes großen Schicksalsschlägen ausgesetzt war. Unter den oftmals bedrückenden Umständen habe es sich, möglicherweise - aber eben gezwungenermaßen - verändert, wie sich im Zusammenhang mit Geldverleih und Wucher zeige: Die wenigen Ausnahmefälle, in denen das Wuchern gestatteten sei, bezögen sich, so beeilt sich Modena zu betonen, keinesfalls auf die Christen, von denen die Juden gut behandelt würden:
„ganz sicher nicht diejenigen, bei denen sie heutzutage aufgenommen sind und wohnen dürfen, und mit Barmherzigkeit von den Fürsten und vom Volk behandelt werden, besonders unter Christen" (103)
Auch diese Passage wurde extra in die Ausgabe 1638 eingefügt. Dabei entsprechen die noch mehrfach betonte Nächstenliebe und Güte der Christen und die guten nachbarschaftlichen Verhältnisse keineswegs durchweg der tatsächlichen Situation. Schließlich duldeten christliche Länder wie Frankreich, England, Spanien und Portugal zu Modenas Lebzeiten gar keine Juden. Italien zählte zu den wenigen Ländern, in denen Juden in relativ großer Freiheit leben konnten. Modenas Aussagen beruhten indes ganz sicher nicht auf Unkenntnis, denn er stand mit vielen Zeitgenossen überall in Europa in Briefkontakt und war sehr gut informiert. Sie dienten dem eindeutigen Ziel, den Behörden in Venedig zu schmeicheln.
Modena ist daran gelegen, ein möglichst verträgliches Bild seines Volkes zu vermitteln. So schreibt er, dass es unter den Juden nur wenige Reiche gebe, aber die Gemeinden dennoch selbsttätig für ihre Armen und Bedürftigen aufkommen könnten und also nicht auf Hilfe der christlichen Umgebung angewiesen seien. Auch dieser Passage merkt man an, dass sie sich direkt an die Venezianer richtet und sie in ihrer berühmtberüchtigten Sorge, diese Duldung könnte sie etwas kosten, beruhigen sollte. Bis heute stehen die Venezianer im Ruf, Geizhälse zu sein.
An mehreren Stellen kommt Modena außerdem auf die Freigebigkeit der Juden zu sprechen, die bei jeder Gelegenheit Almosen sammeln, um damit Bedürftigen zu helfen. 80 Ebenso vergisst er nicht, die wohltätigen jüdischen Bruderschaften zu nennen.81 Und schließlich erwähnt er, dass Krankenbesuche und das Wachen am Bett von Sterbenden
82 einen ganz
80 Unter anderem fol. 7r, 8v, 9v, lOr, 20r, 2lv, 28v, 29r. 81 Vgl. Reinhold MEULLER, Charitable Institutions, the Jewish Community and Vene
tian Society, in: Studi Veneziani 14 (1974), 62-74. 82 „[ ... ] hanno per opera grandemente pia il visitar gl'infermi, e porgerli ogni aiuto
possibile, seeondo il suo bisogno (fol. 29r); hanno per opera buona il ritrouarsi presente all'vseir l'anima" (fol. 29r).
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besonderen Stellenwert haben. Zu diesem Thema verfasste er ein separates Werk mit dem Titel Tzori la-Nefesh u-Marpe la- 'Etzem (,Balsam der Seele und Heilung den Knochen'), das 1619 zum ersten Mal in Venedig gedruckt worden ist. 83
Das Bild, das Modena von den Juden vermittelt, ist das eines pietätvollen und barmherzigen Volkes. Dabei handelt es sich gewiss um keine reine Zustandsbeschreibung des jüdischen Lebens. Das Leben der Ghettobewohner dürfte nicht durchgängig so sittlich vollkommen gewesen sein. Es liegt sicherlich auch viel Beschönigendes in Modenas Beschreibung.
Bei der Beschreibung der ethischen und moralischen Prinzipien, die das Leben der Juden bestimmen, zeigt Modena eine große Spannbreite, die von absoluter Einbindung in ein System von Pflichten bis zur freien Willensentscheidung des Individuums reicht und sehr viele Abstufungen bereithält. Immer kommt es Modena darauf an, dass bei allen Geboten und Vorschriften noch Platz für Entscheidungen, die der Einzelne selbst treffen darf, sei: So könne man sich schon mal über die Verbote der Rabbiner, wie beispielsweise dasjenige, Fisch und Fleisch nicht zusammen
h. 84 zu essen, mwegsetzen.
Modena gebraucht eine Vielzahl von Indefinitpronomen, wie einige, wenige, viele, die einen ... die anderen oder unpersönliche Ausdrücke wie man als sprachliche Mittel, um die Schattierungen und Feinabtönungen aufzuzeigen. Zudem bewegt er sich im ganzen Spektrum modaler Ausdrucksmöglichkeiten, von Müssen und Dürfen und Können bis hin zu deren Negation (Nicht-Müssen, Nicht-Dürfen, Nicht-Können), um die Dimensionen von Untersagung und Verbot, Gebot und Empfehlung auszuloten. Diese Vielfältigkeit stellt Modena dem Bild gegenüber, das Judenfeinde von den Juden zeichneten, dem Bild von einem Volk, das den biblischen Gesetzen
83
Modena hat mit diesem Werk eine eigene Tradition begründet. Ausführlich dazu Elliot HOROWITZ, Speaking of the Death. The Emergence of the Eulogy Among Italian Jewry of the Sixteenth Century, in: David B. RUDEMAN, Preachers of the Italian Ghetto, Berkeley 1992, 129-162; Avriel BAR-LEVAV, Ritualisation of Life and Death in the Early Modem Period, in: Leo BAECK Institute Yearbook 47 (2002), 69-82; ders., Leon Modena and the Invention of the Jewish Death Tradition, in: Robert BONFIL (Hrsg.), The Lion shall roar. Leon Modena and His World (= Italia. Studi e ricerche sulla storia, Ja cultura e Ja letteratura degli ebrei d'Itaia, Conference Supplement Series, 1), Jerusalem 2003, 85-101.
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,,Haueuano raccordato li Rabbini, ehe non si mangiasse pesce, e carne, insieme, per esser nociui alla sanita; ma hoggidi pare, ehe non molto se ne guardino." (fol. 16r).
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und willkürlichen, starren Regeln der Rabbinen unterworfen ist. Darum betont er immer wieder, dass die Gemeinschaft der Juden kein monolithischer Block ist, und verwehrt sich gegenjede Pauschalisierung.
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Wenn es vorkommt, dass ein Jude sich des Betruges oder sonst einer Straftat schuldig macht, schreibt Modena, so handele es sich um individuelle Schuld (101; diffetto di quel particolare), wobei sich der Missetäter keinesfalls auf irgendeine Autorität berufen könne, die ihm dies erlaube.
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Die vielfältigen Facetten sind zugleich Ausdruck von Modenas persönlichem Wunsch, wie die Lebensführung geartet sein sollte. Er ist der Meinung, dass die individuelle Entscheidungsmacht sich stärker nach dem gesunden Menschenverstand richten und sich von den Vorschriften der Rabbiner unabhängiger machen sollte. Seine Darstellung eines sich selbst regulierenden Gemeinwesens frommer, aber vernunftgeleiteter Mitglieder überschreitet unmerklich die Grenze des Deskriptiven und trägt idealisierte Züge. Der „neutrale Berichterstatter" wird hier - bewusst oder unbewusst? - zum Utopisten.
Modenas Bild von den Juden ist folglich auf der einen Seite ein Selbstbild, auf der anderen Seite ein Reflex auf Fremdbilder, insbesondere auf karikierende Darstellungen in antijüdischen Schriften, und nicht zuletzt auch ein Wunschbild. Man muss diese Facetten berücksichtigen, will man das Vorgehen Modenas richtig verstehen.
Ganz sicher ist es Leon Modena mit seiner Schrift gelungen, das Bild, das sich Christen von den Juden und vom Judentum machten, maßgeblich um neue Aspekte zu erweitern, 87 vergleichbar den Gemälden eines Rembrandt, der zeitgleich in Amsterdam Juden mit individuellen Zügen und als wirkliche Menschen malte und damit das Bild der Juden in der abendländischen Kunst änderte.88
85 Cohen bezeichnet diesen Aspekt zu Recht als besonders kennzeichnend für die „social polemic", um die es Modena seiner Meinung nach ging. COHEN, Leone da Modena's Riti (Anm. 11), 289.
86 „Onde se si troua tra essi, chi inganna, efrauda, e dif.fetto di quel particolare, ehe e di mala qualita, ma non ehe lo facci essendole ne dalla sua Legge, ne da Rabini in alcun modo permesso" (Ausgabe 1638, S. 44).
87 Vgl. Shmuel ETTINGER, The Beginnings of the Change in the Attitude of European Society towards the Jews, in: Scripta Hierosolymitana 7 (1961), 193-219.
88 Zu Rembrandts zahlreichen Darstellungen von Juden vgl. Steven NADLER, Rembrandt's Jews, Chicago, 2003.
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Modenas Wirken und seine Nachwirkung
Es lässt sich behaupten, dass Modena eine Form der Aufklärung avant la lettre betrieb. Er wurde von der Überzeugung getragen, dass Vorurteile nur abgebaut werden können, wenn man sich gegenseitig wahrnimmt und besser kennenlernt. Zu diesem Zweck stellte er die Grundfesten des Judentums, seine Riten sowie die örtlichen Gebräuche, verständlich und anschaulich einem breiten Publikum dar. Um die Transparenz zu erreichen, die er zum Ziel hatte, verfasste Modena sein Buch in italienischer Sprache und nicht etwa auf Latein, und dies, obwohl er sich, wie er in seiner Autobiographie schreibt, der Gefahren solchen Handelns durchaus bewusst war.
89 Eine der Gefahren bestand darin, dass ein das Offenlegen
dem Gegner neue Angriffsflächen bieten konnte. Gerade deshalb wurde aus jüdischen Kreisen immer wieder Kritik an Modenas Vorgehen erhoben, wie beispielsweise von Heinrich Graetz, dem großen Historiker des 19. Jahrhunderts.
90 Graetz konnte an Modenas Buch nichts Gutes finden.
So schreibt er: „Leon Modena hat mit dieser von Christen gierig gelesenen Schrift, gewissermaßen wie Harn, die Blöße seines Vaters aufgedeckt [Gen. 9,22], das innere Heiligtum der Juden schaulustigen und spottsüchtigen Augen enthüllend preisgeben." Außerdem nannte er ihn einen „maulwurfartige[ n] Wühler" und wählte damit das Bild von einem im Untergrund tätigen Schädling, der unsichtbar bleibt, wie Modena es manches Mal vorgezogen habe, sich nicht als Autor zu erkennen zu geben, sondern lieber Pseudonyme wählte. Graetz sah den Grund hierfür in der Tatsache, dass Modena sich geschämt habe, Jude zu sein. Außerdem unterstellte er ihm, dass er seine „Jüdischen Riten und Bräuche" aus Gewinnsucht veröffentlicht habe. All diese Einwände lassen sich leicht entkräften, allen voran das Argument, Modena böte „schaulustigen und spottsüchtigen Augen" etwas. Dabei ist doch in der vorliegenden Darstellung deutlich erkennbar geworden, wie umsichtig und geschickt der venezianische Rabbiner vorgeht - ganz zu schweigen von seiner Popularität, die auch Christen in die Synagoge zog, um seine Predigten zu hören. Modenas Argumentation ist zudem auf Erfahrungen zurückzuführen, die er im Rahmen seiner vielfältigen Tätigkeiten auch im Kontakt mit den
89 Dort schreibt Modena: „Sie [die christl. Behörden] werden sagen, , Wie frech sind sie, [Abhandlungen] in der Umgangssprache zu drucken, worin sie die Christen nicht nur über ihre Gesetze iriformieren, sondern auch über Dinge, die gegen unsere Religion und unseren <!_tauben verstoßen." MODENA, Hayyeh Jehuda / Manuskript, fol. 25a (Anm. 9), [Ubers. d. Verf.].
90 Heinrich GRAETZ, Geschichte der Juden, Band 10, Leipzig 1897, 136-138, hier: 137.
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Inquisitionsbehörden gemacht hatte. Viele seiner Strategien resultieren aus der gespannten Atmosphäre, die zur Zeit der Gegenreformation zwischen den Religionen herrschte und die von kritischen Autoren äußerste Vor- und Rücksicht verlangte. Graetz ignoriert diese Zeitumstände und sein hartes Urteil lässt sich bestenfalls verstehen, wenn man darin eine Attacke auf Modenas vielleicht größten Bewunderer Abraham Geiger sieht, den Begründer des liberalen Judentums. Was aber dem liberalen Judentum recht war, konnte dem orthodoxen Judentum nicht billig sein. -In der widersprüchlichen Rezeption Modenas spiegelt sich wiederum das vielfältige Gesicht des Judentums, von dessen Facetten sein Buch ja ein eindrückliches Bild gibt. Seine Darstellung ist aber nicht zuletzt auch von einer großen Freude am Erzählen geprägt, die indes stets vom rationalen Pathos einer subtilen Überzeugungskunst getragen wird und für einen humanen Umgang der Konfessionen miteinander wirbt. Modena war, daran gibt es keinen Zweifel, ein lebenskluger und sehr pragmatischer Rabbiner, dessen Leben gerade auch wegen aller Tragik und Unbill bis heute nichts an Faszination verloren hat, und dessen Schriften das jüdische Denken im 16./17. Jahrhundert in Italien sichtbar, greifbar und nachvollziehbar machen.