1864 und das ende des gesamtstaates (2011)

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201 1864 und das Ende des Gesamtstaates Überlegungen zur Bedeutung struktureller und ideolo- gischer Transformationsprozesse im späten dänisch- deutschen Gesamtstaat 1848–1864 Jan Schlürmann E s herrscht heute weitgehende Einigkeit darüber, dass erst die Niederlage von 1864, die von den Veranstaltern als »Trauma« bezeichnet wird, den modernen dänischen Nationalstaat überhaupt ermöglichte. In der nationalen Geschichtsschreibung Deutschlands findet 1864 zumeist immer noch seinen knapp bemessenen Platz vor 1866 und 1870/71 in der Reihe der Kriege, mit denen Bismarck, an- geblich von langer Hand geplant, das zweite deutsche Kaiserreich schmiedete. Das Hauptinteresse gilt in beiden Fällen dem, was 1864 seinen Anfang nahm. Kaum einer fragt hingegen, was 1864 zu Ende ging. Dabei ist der dänische Gesamtstaat ein lohnendes Forschungs- objekt, vor allem, weil er außerhalb der engeren dänischen, deut- schen und norwegischen Geschichtsschreibung bisher kaum zur Kenntnis genommen wurde. Als das kleinste der europäischen Viel- völkerreiche steht er im Schatten der Habsburger Monarchie und des Russischen Reiches, für den Gesamtstaat – helstaten – hat sich nicht einmal ein fester englischer Begriff eingebürgert, ein verläss- liches Zeichen dafür, dass ihn die internationale Forschung bisher kaum zur Kenntnis genommen hat. Angesichts der seit Jahrzehnten anhaltenden Konjunktur der Debatte über »nation and nation building« verwundert das, denn es sind gerade diese um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zerbrechenden Vielvölkerstaaten, die neben den sogenannten integ-

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1864 und das Ende des GesamtstaatesÜberlegungen zur Bedeutung struktureller und ideolo-gischer Transformationsprozesse im späten dänisch-deutschen Gesamtstaat 1848–1864

Jan Schlürmann

Es herrscht heute weitgehende Einigkeit darüber, dass erst die Niederlage von 1864, die von den Veranstaltern als »Trauma«

bezeichnet wird, den modernen dänischen Nationalstaat überhaupt ermöglichte. In der nationalen Geschichtsschreibung Deutschlands findet 1864 zumeist immer noch seinen knapp bemessenen Platz vor 1866 und 1870/71 in der Reihe der Kriege, mit denen Bismarck, an-geblich von langer Hand geplant, das zweite deutsche Kaiserreich schmiedete. Das Hauptinteresse gilt in beiden Fällen dem, was 1864 seinen Anfang nahm. Kaum einer fragt hingegen, was 1864 zu Ende ging. Dabei ist der dänische Gesamtstaat ein lohnendes Forschungs-objekt, vor allem, weil er außerhalb der engeren dänischen, deut-schen und norwegischen Geschichtsschreibung bisher kaum zur Kenntnis genommen wurde. Als das kleinste der europäischen Viel-völkerreiche steht er im Schatten der Habsburger Monarchie und des Russischen Reiches, für den Gesamtstaat – helstaten – hat sich nicht einmal ein fester englischer Begriff eingebürgert, ein verläss-liches Zeichen dafür, dass ihn die internationale Forschung bisher kaum zur Kenntnis genommen hat.

Angesichts der seit Jahrzehnten anhaltenden Konjunktur der Debatte über »nation and nation building« verwundert das, denn es sind gerade diese um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zerbrechenden Vielvölkerstaaten, die neben den sogenannten integ-

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rativen Modellen »Preußen-Deutschland« und »Italien« Fallbeispie-le für moderne Nationalstaatsbildung durch Desintegration und Separation abgeben.1 Der Zerfall des Gesamtstaates vollzog sich freilich langsamer als jener Österreich-Ungarns oder Russlands, und deshalb womöglich weniger augenfällig, denn zwischen der Abtretung Norwegens 1814, dem ersten Schritt des Gesamtstaates auf dem Weg von der Mittelmacht zum Kleinstaat, und der Abtren-nung Schleswigs, Holsteins und Lauenburgs 1864 vergingen noch einmal 50 Jahre. In territorialer und ethnisch-kultureller Hinsicht war er selbst nach diesem Umbruchsjahr noch mehr als ein »dä-

1 Die Forschungsliteratur zum Thema ist äußerst umfangreich; einen neueren Überblick darüber gibt Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Natio-nalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Neue Politische Li-teratur 1995, S. 190–236. – Zu den wenigen Ausnahmen, die sich des dänischen Gesamtstaates hinsichtlich der Fragestellung der »nation building«-Debatte angenommen haben gehören vor allem dänische Historiker: Bjørn, Claus: Modern Denmark: A Synthesis of Converging Developments, in: Scand. J. History 25 (2001), No. 1, 119–130. Frandsen, Steen Bo: 1848 in Dänemark. Die Durchsetzung der Demokratie und das Zerbrechen des Gesamtstaates, in: Eu-ropa 1848. Revolution und Reform, hrsg. von Dieter Dowe, Heinz-Gerhard Haupt u. Dieter Langewiesche, Bonn: 1998, S. 389–419. Østergaard, Uffe: Na-tion-Building Danish Style, in: Nordic Paths to National Identity in the Ni-neteenth Century, ed. by Øystein Sørensen (= KULTs skriftserie nr. 22), Oslo: 1994, S. 37–54. Ders.: The Danish Path to Modernity, in: Thesis Eleven, no. 77 (2004), S. 25–43. – Dabei muss kritisch angemerkt werden, dass bisher die Arbeiten überwiegen, die jeweils den Gesamtstaat in einen engeren dänischen, norwegischen oder schleswig-holsteinisch-(deutschen) Rahmen stellen und es daher versäumen, den dänischen Gesamtstaat in seiner Zeit auch als Ganzes zu erfassen; die retrospektive Betrachtung, meist noch auf Grundlage der je-weiligen nationalen Geschichtsschreibung verstellt dabei den Blick auf Trans-formationsprozesse im Gesamtstaat, die abseits der nationalen Problematik Bedeutung für den Zerfallsprozess bis 1864 besaßen. – Zu den wenigen Aus-nahmen in internationaler Hinsicht gehört die Arbeit von Hroch, Miroslav: Social Preconditions of National Revival in Europe. A Comparative Analysis of the Social Composition of Patriotic Groups among the Smaller European Nations, Cambridge: 1985, die u. a. den Schleswiger Grenzraum betrachtet.

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nischer Nationalstaat«:2 Weiterhin zählten Isländer, Færinger, Inuit und ein bunter westindischer Menschenschlag zum Königreich. In dieser Hinsicht ist der Gesamtstaat bis heute noch in Resten exis-tent und bleibt es bis zu dem Zeitpunkt an dem Grønland und die Færøer ihr Band mit Kopenhagen lösen. Aber dieses topographi-sche Nachwirken des Gesamtstaates ändert nichts daran, dass sei-ne Geschichte im kollektiven Bewusstsein der Dänen, Norweger, Isländer und Deutschen weitgehend vergessen ist. Insbesondere den Hauptkontrahenten seiner Spätphase, den »Dänen« und »Deut-schen«, ist es bis heute weitgehend unmöglich, die Gesamtstaatszeit in ihren zeitgenössischen, vornationalen, kulturellen Kategorien von »deutsch« und »dänisch« zu verstehen. Hier hat das Jahr 1864 und die Folgezeit mit dem preußisch-deutschen »Blut und Eisen« und dem dänischen »Gewinnen im Innern, was nach außen verloren ging« ganze Arbeit geleistet, so dass der Gesamtstaat einer verzerrten, im nationalen Rückspiegel geschriebene Geschichtsdeutung unterliegt. Das erfordert meines Erachtens noch verstärkte Anstrengungen dä-nischer, norwegischer und schleswig-holsteinischer Forscher, die ge-meinsame Geschichte auch gemeinsam zu dechiffrieren.

Im folgenden soll nicht »der lange Schatten von 1864« im Blick-punkt stehen. Vielmehr geht es darum, den Blick auf einige Ent-wicklungen der späten Gesamtstaatszeit bis 1864 zu richten, um gesellschaftliche Risse auszuloten, die bereits vor diesem Schick-salsjahr den Gesamtstaat durchzogen. Ausgangspunkt dafür ist eine Betrachtung des Gesamtstaates als das, was er bis 1864 war: eine Einheit in Vielfalt, ein Königreich und drei Herzogtümer, verbun-den durch vier staatstragende Institutionen, nämlich das Königs-haus, das Militär, die Verwaltung und die Kirche.

2 Zur Wahrnehmung des »dänischen Imperiums« in einem zeitlich weit gefas-sten Kontext vgl. Bregnsbo, Michael, Villads Jensen, Kurt: Det danske impe-rium. Storhed og fald, København: 2004.

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Der Historiker Vagn Skovgaard-Petersen leitete seinen auf deutsch erschienenen Aufsatz über die »Wandlungen der Nationalgefühle in Dänemark nach der Niederlage von 1864« mit einer Schilderung aus dem Roman »Tine« von Herman Bang ein.3 Er schildert eine bunte Abendgesellschaft: Ein Verpächter, ein Postmeister und ein Baron sitzen beim L’hombrespiel in einem Försterhof auf Alsen zusammen, es ist die Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1864. Das Tischgespräch kreist um die militärische Lage des dänischen Gesamtstaates, der am Dannewerk den heranrückenden deutschen Feind erwartet. Der Baron ergreift das Wort: »Krieg, meine Freunde, ist eine Prüfung, aber eine Prüfung (…), die das Selbstwertgefühl stärkt; Krieg ist eine Prüfung, aber eine Prüfung, die den Willen härtet; der Krieg ist des Volkes reinigendes Element«.  – »Ja!«, ruft ihm daraufhin die Runde entgegen: »Wir sollten sie niedermachen!« – Doch dann geschieht das Unfassbare, die Nachricht von der kampflosen Räu-mung der Dannewerk-Stellung erreicht die Herrenrunde: »Aber das ist unmöglich  – das Heer  – das Heer. (…) Des Nachts hat man Dänemark verraten!«4

Bang führt hier die national aufgeheizte Stimmung in Teilen der dänischen Gesamtstaatsgesellschaft vor, die in Teilen des national umkämpften Herzogtums Schleswig nach 1850 besonders ausge-prägt war.

Literarischer Szenenwechsel: Eine Meile südlich von Glücksburg liegt nach der Erzählung »Unwiederbringlich« von Theodor Fonta-ne das Schlösschen Holkenäs;5 man schreibt das Jahr 1859. Fontane führt dem Leser den Grafen Holk, aus altem schleswig-holstein-3 Skovgaard Petersen, Vagn: Wandlungen der Nationalgefühle in Dänemark

nach der Niederlage von 1864, in: Demokratische Geschichte V (1990), S. 89–94.

4 Bang, Herman: Tine, København (Lademann), o. J., S. 74 u. 79 [Übers. J. S.].5 Als Vorbild diente Fontane vermutlich die Landspitze Holnis/Holnæs am Aus-

gang der Flensburger Innenförde, die allerdings tatsächlich nordöstlich des Schlosses Glücksburg liegt.

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dänischen Gesamtstaatsadel stammend, im Gespräch mit seinem Schwager Alfred vor. Alfred zitiert einen jüngst erschienenen Zei-tungsartikel, der im Kern besagt, »daß es mit Dänemark vorbei sei, wenn es sich in der Sprachenfrage nicht handeln lasse.« – Holk lachte. »Mit Dänemark vorbei? Nein, Herr Preuß, soweit sind wir noch nicht. (…) Wer sieht überhaupt in die Zukunft? Nicht du, nicht ich. Aber schließlich, alles ist Wahrscheinlichkeitsrechnung, und zu dem Unwahrscheinlichsten von der Welt gehört eine Gefahr von Berlin oder Potsdam her. Die Tage der Potsdamer Wachtparade sind vorüber.«6

Beide hier zitierten Autoren, Bang und Fontane, verstanden sich als Chronisten der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie führen uns ausschnitthaft Teile der Gesellschaft des späten dänischen Gesamt-staates am Vorabend bzw. unmittelbar nach Ausbruch des Krieges von 1864 vor. Beide Romane entstanden übrigens fast zur selben Zeit: »Tine« erschien 1889, »Unwiederbringlich« 1891. In beiden Werken wird vor dem historischen Hintergrund des zerfallenden Gesamt-staates das Thema der unglücklichen und unerfüllten Liebe erzählt, beide Protagonistinnen, Tine Bølge und Gräfin Holk, ertränken sich am Ende des Romans – Untergang und Katastrophenszenarien begleiten die Erzählungen, bei Fontane ist es der Brand von Schloss Frederiksborg, bei Bang die militärische Niederlage bei Düppel.

Weitere Gemeinsamkeiten stechen ins Auge. Sowohl Bang als auch Fontane wählten das ländliche, aus Sicht der Hauptstadt Ko-penhagen periphere Milieu des kulturellen Mischgebietes Schles-wig als Schauplatz ihrer Erzählung,7 dazu Protagonisten der alten 6 Fontane, Theodor: Unwiederbringlich (= Sämtliche Werke, Bd. V), München:

1959, S. 22.7 Der Frage nach dem innergesamtstaatlichen Zentrum-Peripherie-Verhältniß

widmete sich bisher vor allem Steen Bo Frandsen: Historisk Essay: Men gives der pa Provindser i Danmark? En undersøgelse af den regionale dimension i den danske stat i midten af 1800-tallet, in: Historie, ny rk., bd. 19 (1991), S. 129–153. Ders.: Jylland og Danmark. Kolonisering, opdagelse eller ligeberettigt

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staatstragenden Schichten: Beamte, Geistliche, Adlige. Zwar ver-schlägt es den Grafen Holk zeitweilig auch in die Hauptstadt der Monarchie, doch das verstärkt nur den Eindruck, dass Holkenäs in Schleswig und Kopenhagen zwei getrennte Welten sind. Die Gräfin warnt ihren Mann mit eindrücklichen Worten: »In Kopenhagen ist alles von dieser Welt, alles Genuß und Sinnendienst und Rausch, und das gibt keine Kraft. Sage selbst, ist das noch ein Hof, ein Kö-nigtum da drüben? Das Königtum, solange es das bleibt, was es sein soll, hat etwas Zwingendes, dem das Herz freudig Folge leistet und dem zu Liebe man Blut und Leib und Leben daran gibt. Aber einen König – hier nimmt die Gräfin Frederik VII. aufs Korn – der nur groß ist in Ehescheidungen und sich um Vorstadtpossen und Danziger Goldwasser mehr kümmert, als um Land und Recht, der hat keine Kraft und gibt keine Kraft und wird denen unterliegen, die diese Kraft haben.«8

Man mag unterstellen, dass Fontanes Roman mit fiktiven Perso-nen auf einem ebenso fiktiven Schloss angesiedelt, eine Geschichte von Liebe, Verrat und Schuld erzählen will. Er tut dies aber, wie im Übrigen auch sein Kollege Bang, mit dem Anspruch, den gesell-schaftlichen Zustand und die gesellschaftlichen Brüche der Zeit wi-derzuspiegeln. Ein erster grundlegender Bruch lag 1864 bereits sech-zehn Jahre zurück: der dreijährige Bürgerkrieg von 1848 bis 1850. In diesem Bürgerkrieg ging es vorrangig nicht um die Zugehörigkeit des Herzogtums Schleswig, wie bis heute im Allgemeinen zu lesen ist. Diese auch als »Sprachenfrage« bezeichnete nationale Ausein-

sameksistens? In: Dansk Identitet?, hrsg. von Uffe Østergård (= Kulturstu-dier 19), Århus: 1992, S. 103–130. Ders.: Vestkystens opdagelse som landskab og badested. Føhr i første halvdel af 1800-tallet, in: Den Jyske Historiker 65 (1993), S. 25–48. Ders.: Opdagelsen af Jylland. Den regionale dimension i Dan-markshistorien 1814–64, Århus: 1996. Ders.: Holsten i Helstaten. Hertugdøm-met inden for og uden for det danske monraki i første halvdel af 1800-tallet, København: 2008.

8 Fontane, S. 25–26.

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andersetzung und die von den Augustenburgern in den vierziger Jahren aufgegriffene Erbfolgefrage ordnen sich in einen fundamen-talen gesellschaftlichen Wandlungsprozess ein. Vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wandelte sich die gesamtstaatliche Gesellschaft und mit ihr die politische Kultur grundlegend. Um 1790 hatte eine im europäischen Vergleich weitreichende Pressefrei-heit im Verein mit einer expandierenden Presselandschaft eine neue politische Öffentlichkeit entstehen lassen.9 Diese war allerdings im Wesentlichen auf die Hauptstadt Kopenhagen beschränkt, disku-tiert wurde aber auch in zahlreichen Lesegesellschaften und Klubs in den größeren Provinzstädten und natürlich in Altona, das von der Nähe der publizistischen Metropole Hamburg profitierte.10 Thor-kild Kjærgaard schätzte in diesem Zusammenhang, dass um 1800 rund 100 000 Menschen, das entspricht 10 % der über 15-jährigen

9 Zur Geschichte der politischen Öffentlichkeit und ihrer Rahmenbedingungen im dänisch-norwegischen Gesamtstaat ist noch immer das wichtigste Werk: Holm, Edvard: Den offentlige Mening og Statsmagten i den dansk-norske Stat i Slutningen af det 18. Aarhundrede (1784–1799), Kjøbenhavn: 1888. – Vgl. un-ter den Spezialstudien auch Kruse, Lars: Die Französische Revolution im Spie-gel der Kopenhagener Zeitschriftenpresse 1789–1799. Eigen- und Fremdbild in der Pressefreiheitszeit (= Rostocker Studien zur Regionalgeschichte 8), Ro-stock: 2004. Cöppicus-Wex, Bärbel: Die dänisch-deutsche Presse 1789–1848. Presselandschaft zwischen Ancien Régime und Revolution (= Studien zur Regionalgeschichte Bd. 16), Bielefeld: 2001. Möllney, Ulrike: Norddeutsche Presse um 1800. Zeitschriften und Zeitungen in Flensburg, Braunschweig, Hannover und Schaumburg-Lippe im Zeitalter der Französischen Revolution (= Studien zur Regionalgeschichte Bd. 8), Bielefeld: 1996.

10 Clemmensen, Niels: Associationer og foreningsdannelse i Danmark 1780–1880. Periodisering og forskningsoversigt, Øvre Ervik: 1987. Kopitzsch, Fran-klin: Lesegesellschaften und Aufklärung in Schleswig-Holstein, in: ZSHG 108 (1983), S. 141–170. Monrad, Jørgen H.: Den københavnske klub 1770–1820, Århus: 1978.

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Einwohner des Gesamtstaates, durch die Publizistik erreicht wur-den. 80 Jahre zuvor, um 1720, betrug dieser Wert nur etwa 1,5 %.11

Es war diese mit Hinblick auf die Gesamtbevölkerung immer noch kleine Gruppe von Zeitungslesenden, Artikel schreibenden, sich in Gesellschaften organisierenden Intellektuellen, die in jenen Jahren Einfluss auf die Politik erhielt. Jens Arup Seip prägte da-für den Begriff »opinionsstyrt enevelde«, des meinungsgesteuerten Absolutismus.12 Diese Zeit war nicht frei von gesellschaftlichen Konflikten, wie die lange Auseinandersetzung um die Reformen der rechtlichen Stellung der Landbevölkerung zeigte. Hier gelang-te man 1788 für das Königreich und 1804 für die Herzogtümer zu Erfolgen, die allerdings maßgeblich von Kommissionen erarbeitet wurden, in denen hohe Staatsbeamte und der Landadel – im eige-nen Interesse – über die »Bauernbefreiung« entschieden.13

Eine entscheidende Erweiterung der politischen Öffentlichkeit brachte – um im Bild der Tagung zu bleiben – das Trauma von 1801: die Bombardierung Kopenhagens und der Krieg von 1807 bis 1813. Auch wenn an dessen Ende der Verlust Norwegens und – schlim-

11 Kjærgaard, Thorkild: The Rise of Press and Public Opinion in Eighteenth-century Denmark-Norway, in: Scand. J. History 14 (1989), S. 215–230.

12 Arup Seip, Jens: Teorien om det opinionsstyrte enevelde, in: NoHT 38 (1957/58), S. 397–463.

13 Clemmensen, Niels: Bønderne og landboreformerne 1750–1810, København: 1988. Degn, Christian: Die Stellungnahmen schleswig-holsteinischer Guts-besitzer zur Bauernbefreiung, in: Staatsdienst und Menschlichkeit. Studien zur Adelskultur des späteren 18. Jahrhunderts in Schleswig-Holstein und Dä-nemark, hrsg. von Christian Degn u. Dieter Lohmeier, Neumünster: 1980, S. 77–87. Eysell, Maria: Wohlfahrt und Etatismus. Studien zum dänischen Absolutismus und zur Bauernbefreiung 1787/88 (= Skandinavistische Studi-en; Bd. 11), Neumünster: 1979.  – Hansgaard, Torben: Landboreformerne i Danmark i det 18. Aarhundrede. Problemer og synspunkter, København: 1981. Hvidtfeld, Johan: Kampen om ophævelsen af livegenskabet i Slesvig og Hol-sten 1795–1805 (= Skrifter, udg. af Historisk Samfund for Sønderjylland nr. 29), Åbenrå: 1963.

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mer noch – der Staatsbankrott standen, so hatte sich der Krieg als wirksames Mittel erwiesen, der Gesamtstaatgesellschaft jenseits al-ler sozialen Schranken eine neue kollektive Identität zu verleihen. Hatte das Indigenatsrecht von 1776 noch von den »Dänen, Norwe-gern und Holsteinern« gesprochen, so hatte man doch den Briten und den 1813 einfallenden Schweden, Russen, Hannoveranern und Preußen als »Dänen« getrotzt. Dieser Gesamtstaatspatriotismus, der bereits Elemente der Romantik und insbesondere Elemente der nor-dischen Mythologie in sich aufgenommen hatte,14 entfaltete jedoch langfristig kaum integrative Kräfte. Der 1815 eingeleitete politische Stillstand im Verein mit einbrechenden Wirtschaftskrisen und der Gängelung der vormals so regen publizistischen Debatte brachte den »Geist von 1801«, wenn es einen solchen denn gegeben hatte, zum Erkalten. Männer wie Rahbek, Bruun und Heiberg hatten sich bis 1799 noch für weitreichende politische Veränderungen ausge-sprochen, die gegen den Absolutismus zielten.15 1815 gab es im Ge-samtstaat keine ähnlich scharfe politische Opposition mehr.

Von unerwarteter Seite kamen plötzlich Forderungen nach einer konstitutionellen Beschränkung der königlichen Macht. Die schles-wig-holsteinische Ritterschaft forderte vermeintlich altes Recht ein,

14 Vgl. dazu Lyngby, Thomas: Den sentimentale patriotisme. Slaget på Reden og H. C. Knudsens patriotiske handlinger, København: 2001. Ders.: Dansk patriotisme i franske gevandter. Laurids Engelstoft og de franske normer for fædrelandskærlighed i helstaten, in: Danmark og Napoleon, hrsg. von Eric Lerdrup Bourgoius u. Niels Høffding. o. O.: 2007, S. 117–135.

15 Immer noch grundlegend zur Analyse dieser politischen Debatte und ihrer Akteure ist Holm: Den offentlige Mening og Statsmagten. – Zu den Genann-ten vgl. auch Rahbek, K[nud] L[yne]: Erinnerungen aus meinem Leben von K. L. Rahbek. Aus dem dänischen Original ausgezogen und ins Deutsche über-tragen von L. Kruse, Leipzig: 1829–1830, 2 Bde. Henningsen, Peter: Skarp lud til skurvede hoveder. Peter Andreas Heibergs kamp mod opblæsthed, hykleri og råddenskab i oplysningstidens Danmark, in: Oprørere. Skæbnefortællin-ger om danmarkshistoriens tolv største rebeller, hrsg. Von Morten Petersen, København: 2006, S. 151–190.

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führte aber auch die Bundesakte mit der Zusicherung einer land-ständischen Verfassung an.16 Zugleich muss das erste Aufkommen der nationalen deutschen Einheitsidee an der Kieler Universität er-wähnt werden, das allerdings noch sehr wenig Widerhall fand. Ent-scheidend ist, dass beide Vorstöße von einer verhältnismäßig klei-nen gesellschaftlichen Gruppe getragen wurden, der Ritterschaft und einigen Akademikern aus Kiel. Anders als noch 30 Jahre zuvor, gab es auch keine gesamtstaatsweite Debatte um diese frühen Ver-fassungspläne, denn diese zielten ja bewusst auf die politische Privi-legierung nur eines Teils der Gesamtstaatsgesellschaft.

Im Königreich blieb es dagegen scheinbar ruhig, die Presse na-mentlich in Gestalt der »Danske Staatstidende«, wie die Berlingske Tidende bis 1831 hieß, war ein gezähmtes Sprachrohr des absolutis-tischen Systems.17 Nichts deutete auf Veränderungen hin. Tatsäch-

16 Dies geschah maßgeblich mit Hilfe der Arbeit des Kieler Professors Fried-rich Christoph Dahlmann, der als Sekretär der Ritterschaft mit der histo-rischen Unterlegung der ständischen Verfassungsforderung beauftragt war. Mit seinem Wechsel an die Universität Göttingen 1829 verlor die Bewegung entscheidend an Stoßkraft (Bleek, Wilhelm/Bendikowski, Tillmann/Busjan, Béatrice: Gute Politik. Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860). Von der Aktualität der politischen Herausforderung, hrsg. vom Stadtgeschichtlichen Museum der Hansestadt Wismar, Wismar: 2007. Kähler, Otto: Dahlmann und die schleswig-holsteinische Ritterschaft nach dem Wiener Kongreß, in: Aus Schleswig-Holsteins Geschichte und Gegenwart. Eine Aufsatzsammlung als Festschrift für Volquart Pauls, Neumünster: 1950, S. 161–172). Dahlmann legte seine Verfassungsvorstellungen vor allem in den zwischen 1815 und 1821 erscheinenden »Kieler Blättern« dar (Vogel, Klaus A.: Der Kreis um die Kieler Blätter (1815–1821). Politische Positionen einer frühen liberalen Gruppierung in Schleswig-Holstein (= Kieler Schriften zur politischen Wissenschaft, Bd. 3), Frankfurt am Main: 1989.

17 Jørgensen, Harald: Trykkefrihedsspørgsmaalet i Danmark 1799–1848. Et bi-drag til en karakteristik af den danske enevælde i Frederik VI’s og Christian VIII’s tid, København: 1944, Neudruck 1978, S. 90. Vogel-Jørgensen, Torkild: Berlingske Tidende gennem to hundrede Aar. 1749–1949, København: 1949, 3 Bde.

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lich aber hatte sich fast unbemerkt von der Hauptstadt und den Herzogtümern in der Provinz, auf Fünen, Falster und in Jütland, unter der Landbevölkerung eine religiöse Oppositionsbewegung ge-bildet. – Dieser Begriff erfasst sicher nicht alle Facetten dessen, was als »Erweckungsbewegung« bezeichnet wird und mit ihren Wur-zeln ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Wichtig ist es jedoch darauf hinzuweisen, dass die Versammlungskultur der Gemeinden, ihre kritische Haltung gegenüber der staatskirchlichen Autorität und schließlich ihr egalitärer Ansatz wichtige Grundlagen dafür legten, dass bis 1830 im Königreich und Teilen Schleswigs ein selbstbewuss-tes Bauerntum entstand, das belesen, im Disputieren erprobt und ideologisch gefestigt war.18 Mit Grundtvig und später mit Tscher-ning und Lehmann erhielt dieses in Ansätzen politisierte Landvolk charismatische Führungspersönlichkeiten.

Eine derartige Politisierung ländlicher Schichten fand in den Herzogtümern nur bedingt statt. Eine Ausnahme davon bildete die dänisch-schleswigsche Bewegung um Laurids Skau, Peter Christi-an Koch und Peter Hjort Lorenzen, die Zulauf aus der bäuerlichen Bevölkerung erhielt. Hier spielte es eine entscheidende Rolle, dass der in Schleswig seit etwa 1830 hervortretende Nationalitäten- oder Sprachenkonflikt entlang sozialer Fronten verlief. Die Verfechter

18 Zur Entwicklung der ländlichen Bewegung – auch mit Hinsicht auf städtische Pendants – vgl. Wåhlin, Vagn: The Growth of Burgeois and Popular Move-ments in Denmark ca. 1830–1870, in: Scand. J. History 5 (1980), S. 151–183. Kri-tisch gegenüber dieser Entwicklung äußerte sich Korsgaard, Ove: Kampen om folket. Et dannelsesperspektiv på dansk historie gennem 500 år, København: 2004 (auch gekürzt auf Engl. The Struggle for the People. Five Hundred Years of Danish History in Short, Copenhagen: 2008). Korsgaard verweist – wie im Übrigen bereits Wåhlin (1980)  – auf die verhältnismäßig geringe politische Relevanz der bäuerlichen Bewegung. Im Vergleich zur Entwicklung in den Herzogtümern, auf die im vorliegenden Aufsatz abgehoben wird, kann man gleichwohl ein Entwicklungsgefälle im Politisierungs- und Organisationsgrad der ländlichen Schichten nicht von der Hand weisen.

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des »Schleswigholsteinismus« waren in erster Linie Beamte, Ad-vokaten sowie einige Geistliche, ihre lokalen Schwerpunkte waren mit Ausnahme von Flensburg die Städte der nordschleswigschen Ostseeküste.19 Diese Bewegung setzte sich aus einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Gruppierungen zusammen. Dem eigentlichen li-beralen Kern, der in der Hauptsache aus Akademikern der Kieler Universität bestand, stand die Hauspartei der Augustenburger ge-genüber, die ein weitgehend unabhängiges Schleswig-Holstein nicht etwa deshalb forderte, weil sie in diesem eine liberale Verfassung verwirklicht sehen wollte, sondern weil sie schlicht auf ein eigenes souveränes Herzogtum unter ihrer Führung hoffte. Zwischen allen Stühlen saßen diejenigen höheren Beamten, Militärs und adligen Großgrundbesitzer – stellvertretend für sie ist Graf Holk zu nen-nen – an denen die Entwicklung der Jahrzehnte nach den Napole-onischen Kriegen im Grunde vorbeigegangen war. Sie lebten noch immer einen übernationalen, königstreuen Gesamtstaatspatriotis-mus und hielten wenig bis gar nichts von einer Verfassung, wie sie die Liberalen in Dänemark und den Herzogtümern gleichermaßen forderten.

Die nachstehende Grafik erstellte Hans Schulz Hansen auf Grundlage seiner Studien zur dänisch-schleswigschen und schles-wig-holstein-deutschen Bewegung und ihrer Sozialstruktur zur Mitte des 19. Jahrhunderts.

19 Zu sozialen Aspekten des Nationalitätenkonflikts in Schleswig/Sønderjylland vgl. Schultz Hansen, Hans: Den danske bevægelse i Sønderjylland ca. 1838–50. National bevægelse, social forankring og modernisering, in: Historie, ny rk., bd. 18 (1989), S. 353–395 sowie Ders.: De vedblev at tale dansk. Den danske bevægelse i Sønderjylland ca. 1838–1920: Modernisering, sociale grupper og national mobilisering, in: Vandkunsten 7/8 (1992), S. 43–62.

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Schematische Erfassung der sozialen und ideologischen Struktur der nationalen Bewegung im Herzogtum Schleswig zur Mitte des 19. Jahrhunderts

Schleswig-holsteinisch-deutsch Schleswig-dänisch

Geographische Basis

Ökonomische Zentren, Gegenden mit ausgeprägter Marktintegration und sozialer Differenzierung

Semi-periphere Gegenden mit geringer Marktintegra-tion und sozialer Egalität

Führung Akademiker, Gutsbesitzer Wenige Akademiker, wohl-habende Kleinbauern

Organisatoren Bildungsbürgertum, Kaufleute, Handwerker, wohlhabende Kleinbauern, Besitzbürgertum

Kleinbauern, Handwerker, Kleingewerbetreibende

Anhänger wie oben städtische und ländliche Arbeiterschichten

Gegner Die absolutistische Königsmacht, die »Massen«

Gutsbesitzer, Beamte, Advokaten

Ideologie und Mentalität

Nationalliberal, teilweise konservativ, staatstreu

Soziale und linksliberale Orientierung

Kultur Elitenkultur/Hochkultur Gegenkultur auf volkstümli-cher/volksnaher Basis

(Aus Hans Schultz Hansen: De vedblev at tale dansk. Den danske bevægelse i Sønderjylland ca. 1838–1920: Mo-dernisering, sociale grupper og national mobilisering, in: Vandkunsten 7/8 (1992),S. 60)

Hinsichtlich der Verfassungsfrage standen sich dänische wie deut-sche Liberale im Gesamtstaat lange Zeit recht nahe. Die in den dreißiger Jahren gewährten Provinzialständeversammlungen sahen sie als unzureichend an. Dieses gemeinsame Ziel einer liberalen Verfassung für den Gesamtstaat hätte nun eigentlich die liberalen Kräfte einigen können, stattdessen aber wurden sie in den vierziger Jahren zu erbitterten Feinden. Wie rasch dieser Bruch mit dem li-

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beralen Partner vollzogen wurde, zeigt der Schriftverkehr zwischen dem Haderslebener Peter Hjort Lorenzen und dem Kieler Theodor Olshausen.20 Noch 1831 korrespondierten beide regelmäßig mitein-ander und Lorenzen hatte keine Probleme damit, Olshausen bei sei-ner Schrift mit dem Titel »Schleswigholstein. Eine Sammlung von Vorarbeiten für künftige Schleswigholsteinische Landtage« mit sei-nen Kenntnissen über die Zollgesetzgebung zu unterstützen. Kaum zehn Jahre später war der Kontakt abgebrochen; Lorenzen schrieb nun ausschließlich auf Dänisch, eine bewusste politische Entschei-dung, denn diese Sprache hatte er erst mühsam lernen müssen. Für ihn war die Verwirklichung einer liberalen Verfassung nur noch im Rahmen eines dänischen Nationalstaates denkbar, der das Herzog-tum Schleswig selbstverständlich mit umfasste. Olshausen lehnte sich nach einem kleinen »neuholsteinischen« Intermezzo an die schleswig-holsteinisch-deutsche Bewegung an. Hier stand Olshau-sen am äußeren linken Rand eines Spektrums, zu dem sich auch die Augustenburger zählten, deren Haltung in der Verfassungsfrage Lichtjahre von derjenigen Olshausens entfernt war. Was aber war der Grund dafür, dass der eine seine Muttersprache und seine alten Freundschaften vergaß, der andere mit Leuten paktierte, die seinen politischen Überzeugungen zutiefst entgegengesetzt waren?

Hier muss nun der entscheidende Begriff des »Nationalismus« fallen, der das Verhältnis zwischen deutschen und dänischen Ge-samtstaatsuntertanen im 19. Jahrhundert entscheidend beeinflusste und ohne Zweifel zur Entzweiung und zum Zerfall des Gesamtstaa-tes bis 1864 führte. Viele Forscher betonen die aggressive Seite dieser Ideologie, die Tatsache, dass kaum ein Nationalstaat ohne Krieg

20 Die Briefe Olshausens befinden sich im Privatarchiv von P. H. Lorenzen (Rigsarkivet København, 05902 Lorenzen, Peter Hiort, 1827–1845) und wur-den auch ediert (Møldrup, Anna-Luise (Hrsg.): Breve fra Th. Olshausen til P. Hjort Lorenzen, 1831–1839, in: Dansk Magazin 7. rk. bd. 1 (1936), S. 352–391).

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und Blutvergießen ins Leben trat.21 Das sind zutreffende Beobach-tungen und im Falle des Gesamtstaates waren es ja tatsächlich zwei Kriege, die »nötig« waren, um einen dänischen und mit Verzöge-rung auch einen deutschen Nationalstaat entstehen zu lassen.

Der moderne Nationalismus beinhaltet aber auch eine sozial-integrative Seite. Sie war dazu geeignet, alte soziale Schranken auf-zuweichen und damit Ungleichheiten zu beseitigen. Es wurde be-reits darauf hingewiesen, dass im Gesamtstaat strukturelle Gefälle bestanden, die in den Herzogtümern mit einem verhältnismäßig starken adligen Großgrundbesitzertum in vieler Hinsicht stärker ausgeprägt waren, als im Königreich.22 Dort waren durch die po-litische Entmachtung des Adels durch die »lex regia«,23 durch die

21 Diese aggressive Seite des Nationalismus betont vor allem Dieter Langewie-sche (vgl. Ders.: Was heißt »Erfindung der Nation«? In: Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat? Europa in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Mathias Beer, Tübingen: 2004, S. 19–40).

22 Zur Struktur des dänischen, deutschen und norwegischen Gesamtstaatsadels vgl. Prange, Knud: »Den gamle danske adel« og dens »godskab«. Nogle meto-diske synspunkter og en kritisk vurdering, in: Historie, ny rk., bd. 6 (1963), S. 1–14. Studien zum schleswig-holstein-deutschen Adel und insbesondere zum sogenannten »Familienkreis« liegen zahlreich vor (Rumohr, Henning von: Zur Struktur des schleswig-holsteinischen Adels, in: Staatsdienst und Menschlich-keit. Studien zur Adelskultur des späten 18. Jahrhunderts in Schleswig-Holstein und Dänemark, hrsg. von Christian Degn u. Dieter Lohmeier, Neumünster: 1980, S. 23–56. Degn, Christian: Der Bernstorff-Reventlow-Schimmelmann-sche Familienkreis in der Reformpolitik des dänischen Gesamtstaates, in: Familienkundliches Jahrbuch für Schleswig-Holstein 18 (1979), S. 9–24. Be-sonders aufschlussreich ist auch Dieter Lohmeier: Der Edelmann als Bürger. Über die Verbürgerlichung der Adelskultur im dänischen Gesamtstaats, in: Staatsdienst und Menschlichkeit. Studien zur Adelskultur des späten 18. Jahr-hunderts in Schleswig-Holstein und Dänemark, hrsg. von Christian Degn u. Dieter Lohmeier, Neumünster: 1980, S. 127–150).

23 Brandt, Peter: Von der Adelsmonarchie zur Königlichen »Eingewalt«. Der Umbau der Ständegesellschaft in der Vorbereitungs- und Frühphase des däni-schen Absolutismus, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 33–72.

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konsequenten Reformen von 1788 und durch die Politisierung von Teilen der ländlichen Schichten erste Grundsteine für die spätere dänische Demokratie bereits gelegt.

Demokratie bedarf immer einer klaren Definition des »demos«, der an ihr partizipierenden Gruppe. Die nationale Idee kam diesem Bedürfnis entgegen, obwohl die »Nation« wiederum eine Größe war und ist, die selten präzise definiert werden kann. Sprache, Kultur, Religion, Ethnos – alle diese Kriterien werden selbst in sehr homoge-nen Staaten nie deckungsgleich sein, der reine Nationalstaat ist eine Fiktion. Die Verwirklichung einer liberalen Verfassung schien um 1840 auf Dauer nur mehr im Rahmen eines dänischen Nationalstaa-tes möglich und die meisten Liberalen in den Herzogtümern dach-ten ebenso, nur dass ihnen ein deutscher Einheitsstaat vorschwebte, der ihnen 1848/49 für kurze Zeit zum Greifen nah erschien. Das Ende dieses ersten Krieges, der zugleich den entscheidenden Bruch innerhalb des Gesamtstaates und seiner Bevölkerung markiert, war unbefriedigend für alle. Im Königreich galt das Junigrundgesetz von 1849, eine für ihre Zeit sehr fortschrittliche Verfassung. In den Herzogtümern durfte am Status quo ante nicht gerüttelt werden, hier gab es lediglich die Provinzialständeversammlungen, die kaum politische Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten boten. Zugleich hatte der Krieg auf beiden Seiten die nationale Idee populär ge-macht. Damit war das Ende des Gesamtstaates besiegelt. Da ein letzter verspäteter Vorstoß für eine Gesamtstaatsverfassung 1848 ge-scheitert war, existierte seit 1849 für einen Teil des Gesamtstaates faktisch eine nationalstaatliche dänische Verfassung, an welche die nationalliberalen Kreise das Herzogtum Schleswig anzuschließen hofften, was ihnen der Vertrag von London jedoch verbot.

Die Schleswig-Holsteiner waren in der wenig beneidenswerten Lage, alle Hoffnung in die preußisch-deutsche Einigungsbewegung legen zu müssen. Diese versprach zwar die politische Gemeinschaft mit Angehörigen der gleichen Nationalität; eine liberale Verfassung

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wie das Junigrundgesetz rückte aber angesichts der Zustände in Preußen und Österreich in weite Ferne.

Abgehängt von den modernen Wünschen nach Verfassung und Nationalstaat schließlich waren die Anhänger des alten Gesamtstaa-tes. Sie gab es noch, doch sie waren insgesamt nicht zahlreich, aber durchaus noch einflussreich; sie bekleideten hohe Ämter in der ge-samtstaatlichen Verwaltung, und namentlich Angehörige des alten schleswig-holsteinisch-dänischen Adels unterbreiteten bis zuletzt Vorschläge zum verfassungsmäßigen Umbau des Gesamtstaates.24 Sie klammerten sich mit aller Hoffnung an ein Überleben des däni-schen Gesamtstaates und sahen mit Schaudern auf die Entwicklung der letzten Jahrzehnte zurück. Fontanes Gräfin Holk drückte das so aus: »Ich habe kein Interesse für Kriegsgeschichten, es sieht sich alles so ähnlich, und immer bricht wer auf den Tod verwundet zusam-men, und lässt sterbend irgendein Etwas leben, das abwechselnd Polen oder Frankreich oder meinetwegen Schleswig-Holstein heißt. Aber es ist immer dasselbe. Dieser moderne Götze der Nationalität ist nun ’mal nicht das Idol, vor dem ich bete.«25

So ist das Jahr 1864 in der Rückschau auf die Entwicklungen im Gesamtstaat weniger ein Trauma, als das Ende vieler Träume. Die dänischen Nationalliberalen verloren, was sie sich sehnlichst wünschten: den Nationalstaat unter Einschluss aller Dänen. Die deutschen, »Schleswig-Holsteiner« wurden deutsche Preußen, die ersehnte Autonomie und eine liberale Verfassung erhielten sie nicht. Und für die wenigen Anhänger des alten Systems, die altgedienten Militärs, Hofbeamten, Staatsbeamten und Adligen – kurz für alle Grafen Holks – endete der Traum vom dänisch-deutschen Gesamt-staat unwiederbringlich.

24 Vgl. dazu die Entwürfe in Petersen, Niels (Hrsg.): Betænkninger fra Christian VIII’s tid om styrelsen af det danske monarki, København: 1969.

25 Fontane, S. 19.

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Mit einiger Mühe habe ich abschließend ein Zitat bei Fontane gefunden, das ich zugegebenermaßen aus dem Zusammenhang gerissen habe: »Laß uns den Untergang hier abwarten. Freilich, es wird schon kalt, und du könntest uns wohl die Mäntel holen.«26

26 Fontane, S. 222.