dietrich bonhoeffer - 9783579071480

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GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS

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Charles Marsh blickt hinter die Verklärung Dietrich Bonhoeffers. Sein intimes und überraschendes Porträt erzählt von einem verletzlichen und witzigen, erfolgsverwöhnten und zweifelnden, entschlossenen und doch immer wieder zaudernden Mann auf dem Weg zu sich selbst. Fesselnd und unterhaltsam erzählt.

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GÜTERSLOHERVERLAGSHAUS

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Dietrich Bonhoeffer EinE BiografiE

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Karin Schreiber

gütErslohEr VErlagshaus

DEr VErklärtE frEmDE

CharlEs marsh

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Bildnachweis:S. 10, 12, 21, 43, 51, 60, 95, 101, 146, 152, 160, 185, 192, 205, 242, 270, 289, 335, 350, 362, 374, 439: Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenS. 19, 90, 189, 248, 291, 331, 339, 342, 392, 394, 413, 482: bpk / Staatsbibliothek zu Berlin S. 156: Schomburg Center, NYPL S. 142, 179: Library of CongressS. 158: The Museum of the City of New York, Art Ressource, NYS. 176, 177, 349: Dietrich Bonhoeffer Manuscript Collection, Burke Library Archives, Columbia University Libraries, at Union Theological Seminary, New YorkS. 180: Mississippi Departement of Archives and HistoryS. 206: bpk / Friedrich SeidenstückerS. 367, 485: Freundlicherweise vom Autor zur Verfügung gestellt.

Titel der Originalausgabe: Strange Glory. A Life of Dietrich Bonhoeffer© 2014 by Charles Marsh; published by Alfred A. Knopf, a devision of Random House LLC, New York, and in Canada by Random House ofCanada Limited, Penguin Random House companics

1. Auflage der deutschsprachigen Ausgabe 2015Copyright © 2015 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Das Gütersloher Verlagshaus, Verlagsgruppe Random House GmbH, weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Coverfoto: Dietrich Bonhoeffer, August 1932, © Gütersloher Verlagshaus, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenDruck und Einband: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in GermanyISBN 978-3-579-07148-0

www.gtvh.de

Verlagsgruppe Random House FSC® N001967Das für dieses Buch verwendete FSC®-zertifizierte Papier Munken Premium Cream liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.

inhalt

kapitEl 1

1906-1923kinD DEr EwigkEit 9

kapitEl 2

1923-1924»italiEn ErsChöpft siCh niE« 32

kapitEl 3

1924-1928uniVErsität unD stuDium 57

kapitEl 4

1928-1929mit mataDorEngruss 84

kapitEl 5

1929-1930»Von traDition BEmoost« 119

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kapitEl 6

1930-1931»iCh haBE in nEgErkirChEn Das EVangElium prEDigEn hörEn« 136

kapitEl 7

1931-1933untEr DEm Zwang DEr gnaDE 183

kapitEl 8

1933thEologisChE sturmtruppEn auf DEm VormarsCh 210

kapitEl 9

1933-1935: lonDonrufEr in DEr wüstE 247

kapitEl 10

1935-1937EinE nEuE art mönChtum 287

kapitEl 11

1938-1940iCh muss Ein gast unD frEmDling sEin 333

kapitEl 12

1940-1941wEihnaChtEn untEr trümmErn 366

kapitEl 13

1941-1943DEn wahnsinnigEn tötEn 391

kapitEl 14

1943-1945»höChstEs fEst auf DEm wEgE Zur frEihEit« 428

Dank 487

anmErkungEn 493

litEraturVErZEiChnis 557

namEnrEgistEr 582

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kapitEl 6

1930 – 1931»iCh haBE in nEgErkirChEn Das EVangElium prEDigEn hörEn«

Am 6. September 1930 ging Dietrich Bonhoeffer in Bremerhaven an Bord der Columbus und begann seine Reise nach Amerika. Wieder unterwegs fühlte er, wie der Druck der vorangegangenen Monate von ihm abfiel, als die Außenweser und der Horizont der deutschen Bucht sich vor ihm öffneten.

»Das Schiff ist ganz ruhig«, schrieb er seiner Großmutter Julie Bon-hoeffer. Vermutlich war das nichts Besonderes bei diesem 32.000-Ton-nen-Dampfschiff, Deutschlands größtem und schnellstem Eigenbau nach dem Ersten Weltkrieg. »Der Tag war wunderschön ... Bis jetzt war es ... wie auf dem Wannsee, völlig unbewegt«.

In der ersten Nacht beobachtete Bonhoeffer, wie die fernen Lichter der belgischen Küste im Osten glitzerten und der Vollmond die Mee-resoberfläche in silbernes Licht tauchte. »Von unserem Deck sieht man ungefähr zwölf oder mehr Meter tief herunter auf das Wasser, in das das Schiff eine tiefe Furche zeichnet«, schrieb er seiner Großmutter weiter. »Meine Kabine scheint nicht ungünstig. Sie liegt tief im Bauch des Schiffes. Meinen Reisegefährten habe ich noch nicht zu Gesicht bekommen. Aus seinen abgelegten Utensilien versuche ich mir bisher ein Bild von ihm zu machen. Der Hut, der Spazierstock und ein Ro-man von Seymour läßt mich auf einen gebildeten jungen Amerikaner schließen. Hoffentlich wird es nicht zuletzt ein alter deutscher Pro-let.«1 Wohl eine unnötige Befürchtung, konnten sich doch nur wenige »Proleten« eine Kabine auf dem luxuriösen Schiff leisten.

Die Menschen, mit denen Bonhoeffer auf dieser neuntägigen Rei-se zusammenkam, hatten einen ähnlichen gesellschaftlichen Hinter-grund wie er. Er verbrachte geruhsame Tage an Bord und genoss die

zahlreichen Annehmlichkeiten des Schiffs. Mit Aristid von Grosse, einem »Chemiker und Atomwissenschaftler«, der seinen Bruder Karl-Friedrich von Berufs wegen kannte und der nicht aufhören konnte, die Ähnlichkeit der beiden Brüder zu erwähnen, pflegte er einen regen Austausch.2 Zudem lernte Bonhoeffer die attraktive Louise Schaefer Ern und ihren Sohn Richard kennen, die auf dem Heimweg von der Schweiz nach Connecticut waren. Ihre Tochter war in der Schweiz geblieben, um »wegen Meningitis homöopathisch behandelt zu wer-den«3. Als Bonhoeffers geheimnisvoller Kabinennachbar entpuppte sich ein gewisser Edmund De Long Lucas, Dekan eines presbyteriani-schen Colleges in Lahore im heutigen Pakistan. Dieser reiste zu einem kurzen Heimaturlaub in die Vereinigten Staaten.4 Lucas schenkte Bon-hoeffer ein von ihm selbst verfasstes Buch mit dem Titel: The Economic Life of a Punjab Village und erzählte von seiner Zeit auf dem Subkon-tinent.

Die Columbus hatte 1924 ihre Jungfernfahrt von Bremerhaven nach New York absolviert. Sie war nicht nur das größte und schnellste Pas-sagierschiff, das in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg gebaut worden war, sondern auch das am luxuriösesten ausgestattete. Eine vorzügliche Küche bot exzellente Speisen. Ein nach außen gelegener Ballsaal für abendliche Tanzvergnügen wurde von einem Dutzend Kristallleuchtern erhellt und war mit Arbeiten des deutschen Künst-lers Emil Rudolf Weiss geschmückt. Massive Doppelpfeiler mit Bron-zebüsten klassischer Dichter standen in einer Bibliothek mit einge-bauten Bücherregalen aus Zedernholz und bequemen Ledersesseln. Bonhoeffer konnte seine Mahlzeiten in einem der vier Speisesäle ein-nehmen, im Pool an Deck schwimmen oder auf der Aussichtsplattform ein Nickerchen in der Sonne machen. Aus seinen Briefen und Notizen spricht der aus seinen Berichten von unterwegs gewohnte Ton: blu-mig und voller Erwartung. Die Seereise sei »tadellos« und »fabelhaft schön«. Er wüsste nicht, »wo man anfangen soll mit Erzählen«5.

Am 15. September 1930 tauchte die Silhouette von New York am westlichen Horizont auf, ein großartiges Panorama, bestimmt vom fast fertiggestellten Empire State Building mit seinen 102 Stockwerken.

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Bonhoeffer hatte nie zuvor eine derart riesige und imposante Stadt ge-sehen. Er wurde am Chelsea Hafen von seiner Tante Irma und seinem Onkel Harold Boericke, Verwandten mütterlicherseits, abgeholt, die ihn für einen fünftägigen Besuch in ihr komfortables Haus in Drexel Hill in Philadelphia mitnahmen. Sein Vetter Ray und seine Kusinen Betty und Binkie widmeten ihm ihre ganze Aufmerksamkeit, seine Tante und sein Onkel behandelten ihn wie königlichen Besuch. Man verbrachte die Vormittage in den Clubs der Stadt, machte Ausflüge in Museen und Parks, spielte abends Brettspiele. »Man glaubt hier kaum, dass man soweit von Europa weg ist, es ist doch vieles sehr ähnlich«, befand Bonhoeffer. Nur das Golfspielen war unter Deutschen seiner Herkunft nicht sehr verbreitet. Bonhoeffer verbrachte einen ganzen Tag damit, es zu lernen. Die Boerickes unterhielten Bonhoeffer mit Geschichten über ihr neues Leben in Amerika. Sie hatten ihren Ber-liner Witz noch nicht verloren. Als er abreiste, musste er versprechen, wiederzukommen.6

In der dritten Septemberwoche bezog Bonhoeffer ein Zimmer im Studentenwohnheim an der Ecke 121. Straße und Broadway. Er staun-te über die George Washington Brücke, die über dem Hudson in der Sonne glitzerte. Sie war kurz vor der Fertigstellung und die Bauarbeiter waren rund um die Uhr mit dem Gitterwerk aus Pfeilern und Kabeln beschäftigt. Es gab viele solcher Wunder in der Stadt. Das über 300 Meter hohe Chrysler Building mit seinen Wasserspeiern aus Stahl und der über 50 Meter langen, im Art Déco gehaltenen Spitze war erst im Mai fertig geworden. Bonhoeffer spürte, dass ein spannendes Jahr vor ihm lag.

1930 war das Union Theological Seminary das stolze Flaggschiff der liberalen evangelischen Theologie in Nordamerika. Die Studen-ten kamen, weil sie Pfarrer werden oder ein anderes geistliches Amt übernehmen wollten. Einige wurden Professoren, aber alles stand un-ter dem Vorzeichen des Dienstes an der Menschheit. Die meisten Se-minaristen stammten aus dem Nordosten des Landes, dennoch war die Studentenschaft so vielfältig wie nie zuvor in der hundertjährigen Geschichte dieser Institution. Ihr gehörten Afroamerikaner, Asiaten

und Amerikaner asiatischer Herkunft ebenso an wie Frauen und arme Weiße aus dem ländlichen Süden.7 Henry Sloane Coffin, seit 1926 Prä-sident des Seminars, steuerte einen beständigen Kurs, indem er seine Kontakte zu traditionell wohlhabenden Familien, seine an den klassi-schen amerikanischen Eliteuniversitäten erworbene Bildung und sei-nen ansteckenden protestantischen Optimismus geschickt miteinan-der zu verbinden wusste. Früher Pfarrer der Madison Avenue Kirche, beschrieb er sich selbst als »liberal evangelisch«. Seine erste Anstellung hatte Coffin in einer Mission in der Bronx gehabt, wo er den Armen »über einem Fleischmarkt mit einem Hackklotz als Kanzel« von Hoff-nung predigte.8

Bei der Wahl der zwölf Kurse, die Bonhoeffer als Sloane-Stipendiat am Union besuchte, konzentrierte er sich auf Religionsphilosophie, Theologie und Sozialethik. Der Stoff war ihm vertraut, aber der ins-titutionelle Kontext unterschied sich von allem, was er kannte.9 Als er in seiner Bewerbung für das Stipendium schrieb, sein Ziel sei es, seine »Wissenschaftsdisziplin, die systematische Theologie, so wie sie sich unter völlig anderen allgemeinen Voraussetzungen entfaltet hat«10 bes-ser zu verstehen, hatte er nicht wissen können, dass die Theologie, wie sie hier praktiziert wurde, für ihn nicht wiederzuerkennen sein würde. Er blieb jedoch entschieden unbeeindruckt von einer religiösen Kul-tur, in der die Menschen ihre Glaubensüberzeugungen in der gleichen Weise zusammenstellten wie andere ein Auto beim Hersteller orderten – ganz nach Geschmack und Vorlieben.

Aus diesem Grund organisierte er ein Tutorium über die Philoso-phie von William James, und traf dafür alle zwei Wochen mit Euge-ne W. Lyman zusammen. Bonhoeffer hielt Lyman, der an der Theo-logischen Fakultät von Yale Examen gemacht und auch in Halle und Magdeburg studiert hatte, für »einen genuinen Vertreter rein ameri-kanischer Philosophie«11. Er besuchte auch Lymans Vorlesungen über Religionsphilosophie, der Intuition folgend, dass Pragmatismus vieles an der Form des Protestantismus in der Neuen Welt erklären konnte.12 In einem später verfassten Bericht über seinen Aufenthalt schrieb er, er

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habe »fast das gesamte philosophische Werk von William James« gele-sen ebenso wie die wichtigsten Bücher von John Dewey, Ralph Barton Perry, Bertrand Russell, Alfred North-Whitehead, George Santyana, J.B. Watson und Albert Knudson, zusammen mit der »behavioristi-schen Literatur«. Aber, so Bonhoeffer, bei James, vor allem in seinen Werken The Will to Believe und Varieties of Religious Experience, habe er »den Schlüssel zur modernen theologischen Sprache und den Denk-formen des liberalen aufgeklärten Amerikaners« gefunden. Er glaubte, dass hier die intellektuelle Ursache für den Drang liege, »an schwieri-gen Problemen« vorbeizuziehen und »bei Dingen, die entweder selbst-verständlich oder aber so ohne weitere Vorarbeiten wohl garnicht zu bewältigen sind«, zu verweilen.13 Karl-Friedrich vertraute er an, dass er die »amerikanische Philosophie ziemlich gründlich kennengelernt« habe, auch wenn er »der ganzen Sache nicht viel gläubiger gegegen-überstehe als vorher ...«14. Wahrheit ist »wesentlich teleologisch, inten-tional auf das Leben«, erinnerte er sich.15

Ohne Zweifel hatte die pragmatische Haltung, wie Bonhoeffer an-erkannte, eine produktive Effizienz hervorgebracht. Die Konsequen-zen für eine ernsthafte christliche Theologie aber waren verheerend. »Die Studenten – durchschnittlich 25-30 Jahre alt – sind restlos ah-nungslos, worum es eigentlich in der Dogmatik geht. Sie kennen nicht die einfachsten Fragestellungen.« So sei man gegenüber zweitausend Jahren christlichen Gedankenguts von unbekümmerter Gleichgültig-keit. Die beliebteste Freizeitbeschäftigung der Studenten vom Union Seminar schien, sich »an liberalen, und humanistischen Redensarten« zu »berauschen«, man »belächelt die Fundamentalisten und ist ihnen im Grund nicht einmal gewachsen«16. »Man verschwatzt hier unheim-lich viel Zeit.«17 »Eine Theologie gibt es hier nicht«, schloss Bonhoeffer rundweg. Mit Erstaunen hörte er, wie Studenten – Seminaristen, die sich auf ihr Amt als Pfarrer vorbereiteten – gelegentlich fragten, »... ob man eigentlich von Christus predigen müsse ...«18. Doch Bonhoeffer vermisste die deutsche Theologie nicht. Wie sein Freund Fritz Hilde-brandt ihm mit typischer Respektlosigkeit versicherte: »Von der Berli-ner Theologie ist nicht viel Besseres ... zu berichten.« Und weiter: »Dr.

Dr. Dr. Deissmann, Rektor Magnificus, beschrieb Stunden lang unter fort-laufendem Beifall der Studenten (am Schluß waren die Emporen halb leer), die Schicksale des NT.« Und Professor (Gerhard) Schwebel »fiel ... mit einem wie Kraut und Rüben verwirrten Diskurs über Aus-sichten und Kampf der Kirche, Obrigkeit, Schule und Verdienste der Hohenzollern sowie den Geist des Glaubensgehorsams und der Zucht so völlig ab ...«19. Nur in ihrer Korrespondenz könnten er und Dietrich hoffen, »eine Oase in der Wüste« zu finden.20

Bonhoeffer war jedoch nicht so sehr verärgert über den theologi-schen Modernismus am Union Theological Seminary als vielmehr über die allgegenwärtige wie es schien eigensinnige, wenn nicht sogar selige Naivität. In »Akt und Sein« hatte er nur zurückhaltende Kritik an der liberalen Tradition geübt verglichen mit dem harten Urteil über Barths theologische Schizophrenie und überdeterminierte Sicht der göttlichen Offenbarung, in der Barths »ganz anderer« Gott rücksichts-los über seine Natur als eine sozial und historisch lokalisierte Person in Jesus hinweggehe. Das Problem mit den Studenten am Union Seminar war nicht ihre liberale Gesinnung, sondern vielmehr ihre Schlampig-keit. Im Gegensatz zur deutschen Variante – »die doch ganz zweifellos eine durchaus kräftige Erscheinung in seinen guten Vertretern war« – schien Amerikas intellektuelles Erbe des 19. Jahrhunderts »schauerlich sentimentalisiert«. Der protestantische Liberalismus, wie er am Union vertreten wurde, schien nicht mehr als ein freundliches Zwicken der »James’schen Weisheit vom endlichen Gott«, der alte Pragmatismus, nur leicht überarbeitet für fortschrittliche Männer der Kirche.21

Ein Beispiel: Während eines Referats über Martin Luthers »De servo abitrio« wurde im Seminar laut gelacht. Dass ein gebildeter Mensch die Überlegungen eines neurotischen Mönchs aus dem 16. Jahrhun-dert ernstnehmen sollte, hielten die Studenten für komisch.22 Die Studierenden hätten »... offenbar vergessen, wofür christliche Theo-logie ihrem Wesen nach steht«23, urteilte Bonhoeffer. Ein tugendhaf-ter Mensch zu sein hieße kaum mehr, als sich wie ein »good fellow«, ein guter Kamerad zu verhalten. Die Diskussionen unter Studenten klängen wie das Geblöke von »Erstsemestern«. Die Dogmatik sei »in

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völliger Unordnung«. Am Ende des Herbstsemesters am Union war Bonhoeffer »bitter enttäuscht«24. Allerdings sollte man, wenn man die Reaktionen Bonhoeffers auf die Situation am Union Theological Se-minary betrachtet, nicht vergessen, wie gereizt er auch in Berlin über studentische Arbeiten geurteilt hatte: »... und dabei soll man Gedanken produzieren und grunddumme Seminararbeiten korrigieren!«25

Es gab aber auch einzelne Menschen, die Bonhoeffer faszinierten, einer im Besonderen. In einer Fakultät mit fast vierzig Mitgliedern ver-körperte keiner die Ideale und Energien der amerikanischen Sozial-theologie klarer als der unermüdliche Reinhold Niebuhr. Bonhoeffer hatte nie zuvor jemanden wie diesen leicht erregbaren Theologen und Aktivisten getroffen, einen »Dramatiker der theologischen Ideen auf der öffentlichen Bühne«26. Das, was Bonhoeffer ahnte, betonte Nie-buhr: Die Frage, wie man in der Welt sei, d.h. wie man die gegenwärtige soziale Situation wahrnehme und auf die Notwendigkeiten und Kon-flikte darin reagiere, bedeute mehr für die Theologie als jedes Analy-

sieren von Lehrmeinungen.27

Niebuhrs Konzept vom »christ-lichen Realismus« zufolge, das er in Seminaren und Vorlesungen entwi-ckelt hatte, dürfen alle Menschen, ob gläubig oder nicht, ihre zahlreichen Verflechtungen mit den beschädig-ten und – darauf bestand er – sün-digen Strukturen der Welt niemals vergessen. Dieser Realismus setze an bei der nüchternen Akzeptanz der Tatsache, dass man »in der histori-schen Existenz den Widersprüchen nicht entkommen kann, in die die menschliche Natur verstrickt ist«28.

Niebuhrs klares Verständnis der Dy-namik von Macht und Gerechtigkeit

sprach zu denen, die nach einem Weg suchten, der über den liberalen Idealismus und viktorianischen Quietismus, über Utopismus und Re-signation hinausführte.

Bonhoeffer besuchte Niebuhrs Veranstaltungen in beiden Se-mestern. Er hatte Freude an den Inhalten, besonders an dem Thema »Ethical Viewpoints in Modern Literature«, das im Team unterrichtet wurde, aktuelle Ereignisse »auf das soziale und christliche Problem hin untersucht[e]« und ihn mit den Schriften von James Weldon Johnson, Booker T. Washington und W.E.B. Du Bois bekannt machte. Aber er fand Niebuhrs Ansichten geradezu verwirrend. Der Mann schien über alles zu sprechen außer über Gott.

Eines Tages, nach einer lebhaften Diskussion im Seminar, ging Bon-hoeffer zu Niebuhr und fragte ihn empört: »Ist das ein Seminar für Theologie oder für Politiker?«29

Niebuhr war gleichermaßen verblüfft von dem theologischen Wunderkind aus Berlin und scheute sich nicht, das auch zu sagen. Als Bonhoeffer in einer Seminararbeit behauptete, dass der »Gott der Füh-rung« nur vom »Gott der Rechtfertigung« her erkannt werden könne, antwortete Niebuhr scharf, dass dieses Konzept von Gnade zu trans-zendent sei.30 Bonhoeffer hatte in energischer lutherischer Weise ar-gumentiert, dass Gnade keine menschliche Anstrengung zuließe, um Gott zu erreichen. »Der Mensch in seiner ganzen Art« sei immer »ein Sünder« und jemand, der die »Herrlichkeit, die nur Gottes ist«, nur beleidigen könne.

Niebuhr veranlasste ihn dazu, in praktischeren Begriffen über den »Gott der Führung« in der menschlichen Realität nachzudenken. »So transzendent, wie Sie die Gnade machen«, sagte Niebuhr, »weiß ich nicht, wie Sie ihr irgendeine ethische Bedeutung zuschreiben können. Gehorsam dem Willen Gottes gegenüber kann eine religiöse Erfahrung sein, aber sie ist erst eine ethische, wenn sie sich in Handlungen nieder-schlägt, die soziale Wertschätzung erfahren.«31

Als Sohn eines evangelischen Pfarrers in einer Einwanderergemein-de im Mittleren Westen hatte sich Niebuhr voll und ganz der Social-Gospel-Bewegung hingegeben, seit er ihr das erste Mal als Student

Reinhold Niebuhr, »Dramatiker theologischer Ideen auf der öffentlichen Bühne«

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am Elmhurst College begegnet war. Der Geist dieser Bewegung hatte sich seines schmalen Körpers bemächtigt und seine durchdringenden blauen Augen mit Leben erfüllt. Niebuhr würde immer bereit sein, sich für eine gerechte Sache einzusetzen. Er hatte seine Pfarrstelle in der Innenstadt von Detroit erst zwei Jahre zuvor verlassen und brach-te eine »explosive Denkweise« in die Seminarräume. Ein Student und späterer Arbeitervertreter im Süden meinte, sie »erweiterte förmlich das Bewusstsein«32. In der kommenden Generation von progressiven Kirchenmännern verbreitete sich die Nachricht von Niebuhrs Aus-strahlung und menschlicher Größe schnell. Er war nicht nur »jung und radikal und voller Enthusiasmus«, sondern auch ehrlich »an den Pro-blemen der Menschen interessiert«, alles in allem »ein inspirierender Lehrer, Redner und Entdecker«33.

Als Bonhoeffer im Herbst 1930 nach New York kam, hatte Niebuhr bereits begonnen, viele seiner grundlegenden Ansichten zu überden-ken. In den Jahren davor, noch als Pfarrer in Detroit, waren seine Pre-digten von einer robusten Mischung aus Social Gospel, christlichem Pazifismus und der populistischen Hinwendung zu den Unterdrückten geprägt gewesen. Aber mit seinem Buch Moral Man and Immoral So-ciety, das 1932 erscheinen sollte, und in dem ein »eisiger, aggressiver und schaurig allwissender« Ton herrschte, kamen seine idealistischen Überlegungen über das Reich Gottes in Amerika an ein Ende. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass aller guter Wille und alle Anstren-gungen des Menschen niemals ausreichen würden, um einem Zeitalter ewigen Friedens den Weg zu bahnen.34 Während einzelne Menschen (der moralische Mensch) gelegentlich in der Lage sein könnten, altru-istisch und mitfühlend zu handeln, blieben Gruppen und Kollektive (die unmoralische Gesellschaft) von den Geboten der Liebe oder den Mahnungen der Vernunft unberührt.35

Besonders überzeugend war Niebuhr, wenn er »die Strukturen und das Verhalten von politischen Systemen analysierte und eine theologi-sche Deutung« von Ereignissen »als Basis für gemeinsames Handeln für ein breites Publikum« bot. Um mehr Gehör zu finden, trug er sei-ne Ideen häufig in einer Weise vor, die sein theologisches Engagement

unausgesprochen ließ. Nach seinem Verständnis war es unvermeidbar, dass der Theologe, der in die Öffentlichkeit ging, bisweilen missver-standen wurde, gerade auch in den Feinheiten der Lehre. Dennoch hat-te er beschlossen, in den Ring zu steigen, um den »christlichen Glau-ben in einem säkularen Zeitalter zu verteidigen« und dabei zugleich gemeinsame Sache mit den weltlichen Progressiven zu machen, wenn es um verantwortungsvolles Handeln ging.36 In einem autobiografi-schen Essay erklärt Niebuhr: »Ich war nie besonders kompetent, was die Feinheiten reiner Theologie betrifft. Und ich muß zugeben, daß ich bisher nicht genügend daran interessiert war, mir diese Kompetenz anzueignen.«37

Zum Ende des Jahrzehnts war Niebuhr zu solcher Berühmtheit ge-langt, dass in den fünfziger Jahren keine ernsthafte Debatte über In-nen- oder Außenpolitik seine Überlegungen des christlichen Realis-mus außer Acht lassen konnte. Sein persönliches Engagement bei der Organisation fortschrittlicher Strömungen in der sozialen Bewegun-gen und zur Rassenfrage war am stärksten in der Zeit, als Bonhoeffer sein Sloane Stipendium am Union Seminar wahrnahm. Im Sommer 1931 eilte Niebuhr mit einem anspruchsvollen Programm von Vorle-sungen von einem College für Afroamerikaner im Süden zum anderen und hielt Vorträge an Akademien, die von der American Missionary Society unterstützt wurden. Er hoffte, sagte er, stille schwarze Studen-ten für die aktivierenden Energien des religiösen Glaubens begeistern zu können. Hinsichtlich seiner Aussagen über die rassistisch motivier-te Ungleichbehandlung war Niebuhr nie klarer, auch später zu Zeiten der Bürgerrechtsbewegung nicht. In Moral Man and Immoral Society formuliert er: »Die weiße Rasse in Amerika wird dem Schwarzen keine gleichen Rechte zuerkennen, wenn sie nicht dazu gezwungen wird.« In zahlreichen Schriften, veröffentlichten und unveröffentlichten, klagt er über die Mühen, die die Teilnehmer an seinen Seminaren damit ha-ben, weiße und schwarze Arbeiter im Süden in einer Bewegung zu organisieren. Betroffen von ihrem Leid und ihrer Selbstaufopferung, verteidigte er sie oft in der Öffentlichkeit. Aber als viele dieser jungen radikalen Christen die Idee einer pragmatischen, sich nach und nach

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vollziehenden Reform aufgaben und sich einem doktrinären marxisti-schen Radikalismus zuwandten, wurde Niebuhr immer zurückhalten-der, was eine uneingeschränkte Unterstützung anging.38

Bonhoeffer sah sich Niebuhr gegenüber theologisch nie in der Schuld. Seine Sorge, dass es Niebuhrs Theologie an konfessionellem Gehalt fehlen könnte, war fundamental und wohl begründet. Und doch blieben die beiden über das nächste Jahrzehnt hinweg in Kon-takt.39 Bonhoeffer schrieb ihm oft auf Deutsch, das Niebuhr gut lesen konnte, und dieser wiederum antwortete auf Englisch. Als Bonhoeffer im Sommer 1939 vor einer schicksalsträchtigen Entscheidung stand, bot ihm Niebuhr eine Zuflucht in New York an. Unabhängig von ihrer Uneinigkeit, wenn es um die Methode ging, war Bonhoeffer doch be-geistert davon, wie Niebuhr die Berufung eines öffentlichen Theologen bestimmte und richtete seine eigene Sichtweise danach aus.40 Niebuhrs

Einfluss auf Bonhoeffer wird nach 1933 sichtbar, wenn dieser einen Glauben, der frei ist von Ethik, mit einer toten Religion vergleicht und feststellt, dass die »teure« Gnade nicht verlangt, dass man ein Heili-ger wird, ein Genie oder ein schlauer Taktiker, sondern ein ehrlicher, nüchterner und unerschrockener Realist.41 Es ist Niebuhrs Stimme, die in Bonhoeffers späterer Entscheidung mitklingt, als Mitglied des deut-schen Widerstands »von Gott zu sprechen als Mitte des Lebens und an die Kraft von Männern und Frauen zu appellieren, das heißt, an ihre Reife und Autonomie als verantwortliche Menschen«42.

Das Beispiel eines Theologen, der die soziale Ordnung mit Zivil-courage und tief empfundener Ehrlichkeit angriff, berührte Bonhoef-fer und inspirierte ihn zugleich. Niebuhr seinerseits fand Bonhoeffer sehr sympathisch, trotz seiner gebieterischen Miene und seiner Ange-wohnheit, den Stift kurz nach Beginn der Vorlesung beiseitezulegen. Niebuhr schätzte Bonhoeffers Intellekt, seine Intensität und seinen Ei-fer. Und er verstand, welche Besonderheit darin lag, dass ein deutscher Theologe mit all seinen überkommenen Vorurteilen ein Jahr in Ame-rika verbringen wollte. Niebuhr war auch zuversichtlich, dass er einen positiven Einfluss auf den ruhelosen vierundzwanzigjährigen Berliner ausüben konnte, der zwei akademische Titel sein Eigen nannte, wäh-rend Niebuhr nichts dergleichen vorzuweisen hatte.43

Auch wenn er von Natur aus sehr offen war, suchte Bonhoeffer in den ersten Wochen des Semesters vor allem die Gesellschaft der anderen europäischen Sloane-Stipendiaten Erwin Sutz, einem Theo-logiestudenten aus einem deutschsprachigen Kanton in der Schweiz, und Jean Lasserre, einem reformierten französischen Pfarrer aus Lyon. Während Sutz fließend Französisch sprach, konnte Lasserre kaum Deutsch und Bonhoeffer hatte seine Schwierigkeiten mit dem Französischen. So sprachen die drei Englisch, wenn sie zusammen waren. Sutz und Lasserre hatten, wie Bonhoeffer, ein humanistisches Gymnasium besucht und glaubten, dass die Amerikaner Zweckmä-ßigkeiten zu viel Aufmerksamkeit schenkten und den Ideen an sich zu wenig Wert beimaßen. »Wir waren Europäer, die nachdenken wollten,

Von links: Harry Ward, Reinhold Niebuhr, Professor Swift und Henry Sloane Coffin im Union Theological Seminary, New York 1931

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bevor sie handelten«, erinnert sich Lasserre, »während die Amerika-ner auf uns den Eindruck machten, als wollten sie handeln, bevor sie nachdachten«. Die intellektuelle Nähe zwischen den Dreien führte zu »häufigem und intensivem« Austausch. Diskussionen über die Fein-heiten theologischer Lehrmeinungen dauerten manchmal bis zwei Uhr morgens. Das brachte sie »eng zusammen«44. Auch das Interesse für Musik verband sie. Sutz und Bonhoeffer waren beide gute Pianis-ten und spielten oft zusammen im großen Gemeinschaftsraum, von dem aus man das Geviert des Innenhofs sah, während Lasserre gerne zuhörte.45

Aber ihre Kameradschaft war wesentlich brüchiger, als sie auf ihre amerikanischen Kommilitonen wirken musste. Bonhoeffer war ein typischer Vertreter der Deutschen seiner Generation. Der verhasste Artikel 231 im Versailler Vertrag von 1919, der die alleinige Verant-wortung für die Katastrophe des Ersten Weltkriegs den Deutschen anlastete und die Grundlage dafür lieferte, Deutschland enorme Repa-rationsleistungen und Strafmaßnahmen aufzuerlegen, hatte ein Land verbittert, das unter massiver Arbeitslosigkeit und einer galoppieren-den Inflation litt. Das Ressentiment gegen den Vertrag hatte Demokra-ten und Nationalisten »in einer Allianz des Selbstmitleids« geeint. Zu-erst umgingen Bonhoeffer, Lasserre und Sutz ihre entgegengesetzten Ansichten zum Versailler Vertrag. Aber als das Semester voranschritt, spürten sie, dass sie in einer Umgebung, die frei von Gespenstern war, über ihre Meinungsverschiedenheiten sprechen konnten, auch über die strittige Frage nach der Loyalität zur eigenen Nation.

An einem kalten, stürmischen Abend unter der Woche gingen Bon-hoeffer und Lasserre in ein Kino in Manhattan, um den Film Im Westen nichts Neues zu sehen, der im August herausgekommen war. Basierend auf dem internationalen Bestseller des deutschen Autors Erich Maria Remarque begleitet der Film eine Gruppe von Klassenkameraden – pa-triotische junge Männer, die ihr Vaterland verteidigen wollen –, wie sie sich zum Militär melden, für den Kampf ausgebildet werden und mit Überzeugung an die Front gehen. Dort erleben sie ein unvorstellbares Grauen, und alle sterben.

»Der Saal war voll«, berichtete Lasserre. »Das Publikum war ame-rikanisch, aber da der Film aus der Perspektive der deutschen Soldaten gemacht war, fühlte jeder sofort mit ihnen. Wenn französische Solda-ten auf der Leinwand erschossen wurden, lachte und applaudierte die Menge. Wenn andererseits die deutschen Soldaten verwundet und getötet wurden, gab es eine große Stille und ein Gefühl tiefen Mitlei-dens. Das war für uns beide eine ziemlich schwierige Situation, weil wir nebeneinander saßen, er, der Deutsche und ich, ein Franzose«. Bon-hoeffer schien von der Darstellung peinlich berührt. Natürlich war das Erlebnis umso verwirrender, als »die Amerikaner auf Seiten der Fran-zosen gegen die Deutschen gekämpft hatten«.

Vom »brüderlichen Standpunkt aus«, fuhr Lasserrer fort, habe es ihn tief berührt, als er sah, welche Mühe Bonhoeffer sich gab, ihn zu trösten, als der Film vorbei war.46 »Ich war sehr bewegt und auch er war bewegt, aber wegen mir«, erinnerte sich Lasserre. »Ich glaube, es war dort, dass wir beide entdeckten, dass die Gemeinschaft der Kirche viel wichtiger ist, als die Gemeinschaft der Nation.«47

Als das Ende des Herbstsemesters nahte und damit der Advent, fand Bonhoeffer es ungewöhnlich schwierig, in eine adventliche Stimmung zu kommen.48 Er hatte Weihnachten selten getrennt von seiner Fami-lie verbracht. Die Erinnerungen an vergangene Feste, die seine Mutter mit großer Sorgfalt geplant hatte, machten ihn melancholisch. Aber Heimweh war nicht der einzige Grund für seine Gefühle. Er schrieb sei-nem Freund Helmut Rößler in Berlin und gestand ihm, dass seine Hoff-nung, eine »Wolke von Zeugen« zu finden, »bitter enttäuscht worden« sei. »Man fühlt sich hier wie auf einem Aussichtsturm über die ganze Welt«, schrieb er, »und was man auch sieht, es ist das Meiste so unend-lich deprimierend.« Der »Leichtsinn«49 der großen Kirchen in Amerika war ihm von Beginn an ein Ärgernis gewesen, aber jetzt schienen sie seiner Seele einen Spiegel vorzuhalten. Die Zusammenfassungen von am Tag zuvor gehaltenen Predigten auf der Seite drei in der Montags-ausgabe der New York Times, lasen sich wie Nachrichten aus der Wüste. Die Überschriften offenbarten ein protestantisches Establishment, das um jeden Preis nach Bedeutung suchte. »Jesus verbirgt das Glaubens-

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bekenntnis«, »Pfarrer besteht auf starken Werten«, »Letztendlich zählt nur der Charakter«, »Dr. Fosdick fordert die Gemeinde auf, aus einem schlimmen Durcheinander das Beste zu machen.« »Man kann in New York über fast alles predigen hören«, sagte Bonhoeffer, »nur über eines nicht ..., nämlich das Evangelium Jesu Christi.«50

Harry Emerson Fosdick, Pfarrer der Riverside Church, einem mächtigen neogotischen Gebäude, das zusammen mit dem Seminar einen ganzen Häuserblock umfasste, regierte wie ein wohlmeinender Fürst über dieses protestantische Establishment. Bonhoeffer hatte noch nie von ihm gehört, bevor er nach Amerika kam, auch wenn ihm der Name Emerson bekannt war, weil er den gleichnamigen Trans-zendentalisten aus New England gelesen hatte, der meinte, Gott finde sich im Wohlwollen der Natur. Nach einem sonntäglichen Besuch in der Riverside Church waren für Bonhoeffer die beiden Denker für im-mer miteinander verbunden als diejenigen, die eine Art amerikanische Gottheit geschaffen hatten. Fosdick predigte »einen fortschrittsgläu-bigen ethischen und sozialen Idealismus« und: »... anstelle der Kir-che als Gemeinde der Gläubigen Christi, steht die Kirche als soziales Unternehmen«51. Seine Predigt richtete sich an weltläufige Städter, die sich in diesen angstbesetzten Zeiten unsicher fühlten. Ihnen woll-te er neue Hoffnung auf eine bessere Zukunft geben, indem er an ihr Durchhaltevermögen appellierte und der negativen Stimmung einen Glauben entgegensetzte, der voller Elan, Nutzenversprechen und Eifer war. Das waren alles noble Ziele. Aber das Evangelium Fosdicks war des Wunderbaren beraubt, es war modernisiert und amerikanisiert. »Die Predigt ist herabgewürdigt zu kirchlichen Randbemerkungen zu Zeitereignissen«, klagte Bonhoeffer.52 Letztlich suche Emerson nur die Gemeinschaft mit den übernatürlichen Schwingungen der Bäche, Teiche und Wälder. »Dahinein fällt nun wieder Weihnachten, Gott sei Dank«, schrieb Bonhoeffer im schon erwähnten Brief an Helmut Röß-ler, »sonst wäre es zum Verzweifeln«53.

Doch diese kritischen Bemerkungen machte Bonhoeffer Mona-te bevor er in die Kapelle von St. Marks’ in the Bowery spazierte, wo

er noch ganz anderes kennenlernte. Er wollte einem Karfreitagsgot-tesdienst beiwohnen, in dem der populäre Pfarrer William Norman Guthrie die sieben letzten Worte Christi in Form einer Rezitation erschloss, die von Ezra Pounds Cantos inspiriert war. Guthrie zielte auf eine »überzeugendere Offenbarung des heldenhaften Menschen-sohnes«54. Er hätte nicht weiter entfernt sein können von dem Kar-freitagsgottesdienst, den Bonhoeffer sieben Jahre zuvor im Petersdom erlebt hatte, mit seinem »großartigen Gesang« und der »außerordent-lich feierlichen Anbetung des Kreuzes«55. Nachdem Guthrie zeitweilig von seinen »bischöflichen Aufgaben« entbunden gewesen war, weil er einen Tanz für den ägyptischen Sonnengott in der Kirche hatte auf-führen lassen, forderte er das Schicksal am Karfreitag 1931 noch ein-mal heraus, indem er das Kreuz rundweg ablehnte. »... ich will keinen solchen Christus«, sagte er. Einen Christus, der geschickt worden war, um für die Sünden der Welt zu sterben? Nein, erklärte Guthrie: »Ich leugne die Versöhnung durch das Kreuz ...«56 Stattdessen bot er seiner Herde ein synkretistisches Buffet mit exotischen Naschereien: einen Brahmanen, der Hindugebete intonierte, einen Mohawk-Indianer in voller Kriegsbemalung, einen heiligen Mann des Zoroaster-Kults, der eine Feuerzeremonie abhielt, und eine barfüßige Tanzgruppe vom Bar-nard College, die eine Improvisation zur Verkündigung darbot.57

Licht ins Dunkel brachte Ende 1930 die Einladung, Weihnachten in Kuba als Gastdozent an der Deutschen Schule in Havanna zu verbrin-gen. Mit Sutz, seinem Schweizer Freund, verließ Bonhoeffer New York am 11. Dezember 1930, glücklich, die winterliche Stadt hinter sich las-sen zu können und zu erleben, wie die Landschaft immer grüner wur-de, als der Zug gen Süden rollte. Er berichtete Sabine, dass er, während sie weiße Weihnachten in Berlin genoss, »in tropischer Sonne« schwit-zen würde.58 Vom Hafen von Tampa aus nahmen die Freunde einen Regionalzug nach Key West und gingen dort für eine siebenstündige Reise über ein raues Meer an Bord der SS Governor. In vier Tagen leg-ten sie 2200 Kilometer zurück, die gleiche Entfernung wie die zwischen Berlin und Südspanien.

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kapitEl 14

1943 – 1945»höChstEs fEst auf DEm wEgE Zur frEihEit«

In seiner ersten Nacht im Gefängnis schlief Bonhoeffer schlecht. Die dünne Decke in der Zugangszelle stank und Bonhoeffer ekelte sich davor, sich damit zuzudecken trotz der Kälte der verregneten, stürmi-schen Aprilnacht. Aus der Zelle nebenan war das laute Weinen eines anderen Gefangenen zu hören.

Früh am nächsten Morgen öffnete sich quietschend eine Klappe in der Tür und eine kleine Portion Brot auf einem Blechteller kam zum Vorschein. Die Gefängniswärter sprachen die Männer als »Halunken«, »Abschaum«, »Verräter«, »Schweine« an. Es sollte vier Monate dauern, bis Bonhoeffer seinen Haftbefehl zu sehen bekam.

Irgendwann gegen Ende der ersten Woche wurde er in eine Isolati-onszelle im obersten Stock verlegt. Er durfte weder Bücher noch Zei-tungen oder Tabak haben. Er durfte keine Briefe schreiben. Erst nach achtundvierzig Stunden gab man ihm seine Bibel zurück. »Sie war durchsucht worden, ob ich Säge, Rasiermesser etc. hineingeschmug-gelt hatte.«1

Er blieb zwölf Tage in Einzelhaft. Die Zellentür öffnete sich in die-ser Zeit nur, um Essen hinein zu befördern oder den Latrineneimer zu holen. Davon abgesehen war es, als sei er gar nicht da. Die Wärter ant-worteten nicht auf seine Fragen und begegneten ihm mit Gleichgültig-keit. Auch die halbe Stunde Freizeit im Gefängnishof, die den anderen Gefangenen zugestanden wurde, war ihm versagt. Mit der Nacht kam das erstickte Schluchzen von Männern, die die Haft gebrochen hatte, seiner neuen Gemeinde.

Bonhoeffer betete für seine unsichtbaren Nachbarn, morgens und abends, und sprach still den Segen über sie. Obwohl es auf dem Gefäng-

nisgelände eine Kapelle gab, waren Gottesdienste zu jener Zeit verbo-ten.2 Nach 12 Tagen, als bekannt geworden war, das Bonhoeffer mit dem Berliner Stadtkommandanten verwandt war, besserte sich seine Haftsi-tuation spürbar. Er bekam eine geräumigere Zelle, man ging jetzt freund-lich mit ihm um. »Peinlich«, fand Bonhoeffer. Aber als er auch Füller und Papier haben durfte, schrieb er Gebete für die Rettung seiner Mit-gefangenen auf Blätter mit dem Wasserzeichen Beroer 4b normal. Diese schickte er seinen Eltern mit der Post, und die gaben sie im Gefängnis ab. Die Zeilen waren nicht »spontan« niedergeschrieben, sondern »aus langer Meditation und erfahrener Disziplin entworfen« worden.3

Mit der Dringlichkeit des Psalmisten rezitierte er Gebete aus dem Gedächtnis: »Ich bin einsam, aber du verläßt mich nicht. Ich bin ruhe-los, aber bei dir ist Frieden.« Oder: »Ich danke dir, daß du den Tag zu einem Ende gebracht hast.« Er dankte Gott für jeden neuen Tag, dafür, dass er ihm Kraft gab und ihm erlaubte, Hoffnung von seiner Familie und seinen Freunden zu empfangen. Aber Gott riss die Gefängnismau-ern nicht nieder wie die Mauer von Jericho. Auch würde kein heftiges Erdbeben seine Fundamente erschüttern und ihn befreien, wie es Paul und Silas in der Apostelgeschichte erlebt hatten. Bonhoeffer wusste das. Und so verfiel er in den ersten Wochen einer großen Hoffnungs-losigkeit. In den Jahren des Kirchenkampfes hatte er das Schweigen und die kontemplativen Disziplinen geübt. Aber in der Einzelhaft, zum Stillsein gezwungen, fühlte er die tröstende Gegenwart seines geliebten Christus nicht, sondern nur die Kälte von Beton und Eisen. Er erlebte einen überwältigenden Verlust, mit dem es weder ein Gebet noch ein Segen aufnehmen konnte.

Er kritzelte ängstliche Notizen in sein Tagebuch und dachte über extreme Maßnahmen nach: »Trennung von Menschen, von der Arbeit, von der Vergangenheit, von der Zukunft, von der Ehre, von Gott.«4 Selbstmord, unter den meisten Umständen als eine Sünde betrachtet, war zu einer akzeptablen Möglichkeit für viele Verschwörer geworden, zu einem ehrenhaften Akt des Widerstands.

Bonhoeffers Gedanken gingen auch zu seinen betagten Eltern, die verrückt vor Sorge waren. »Vor allem müßt Ihr wissen und auch wirk-

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lich glauben, daß es mir gut geht«, schrieb er ihnen am 14. April 1943 im ersten Brief, den er schreiben durfte.5 Danach konnte er ihnen und seinem Bruder Karl-Friedrich alle zehn Tage einen Brief zukommen lassen. Das Gefängnis, versicherte er ihnen tapfer, sei nichts weiter als ein »gutes seelisches Dampfbad«6. »Man kann sich auch mit trocken Brot morgens satt essen – übrigens gibt es auch allerlei Gutes! – und die Pritsche macht mir schon garnichts aus und schlafen kann man von abends 8 bis morgens um 6 Uhr reichlich. Besonders überrascht hat es mich eigentlich, daß ich vom ersten Augenblick an so gut wie nie Verlangen nach Zigaretten hatte ... ich glaube eben doch, daß eine so starke innere Umstellung, wie sie eine so überraschende Verhaftung mit sich führt, die Nötigung, sich innerlich zurecht- und abzufinden mit einer völlig neuen Situation, – das alles läßt das Körperliche völlig zurücktreten und unwesentlich werden; und das empfinde ich als eine wirkliche Bereicherung meiner Erfahrung.«7

»Hier im Gefängnishof singt morgens und auch jetzt abends eine Singdrossel ganz wunderbar«, schrieb er.8 Und in einem späteren Brief, nachdem ihm Ende April gestattet worden war, eine halbe Stunde nach draußen zu gehen, um frische Luft zu schnappen, berichtete er den El-tern von der halben Stunde »Bewegung« auf dem Gefängnishof, auf dem ja ein paar schöne Kastanien und Linden stehen.9 Er erzählte sei-nen Eltern auch, dass er wieder rauchen durfte, dass er manchmal »die augenblickliche Situation ganz« vergaß10: Dort, im Zellenblock 25, in Zelle 92, verbrachte Bonhoeffer die nächsten achtzehn Monate.

Am Sonntagmorgen konnte er hören, wie die Kirchenglocken in der Nähe die Gläubigen zum Gottesdienst riefen. Während der Luft-angriffe, als er in eine Zelle im zweiten Stock verlegt wurde, konnte er von seinem Fenster »gerade auf die Kirchtürme« sehen, was »sehr hübsch«11 war. Es rührte ihn, wenn er daran dachte, dass es immer noch Menschen gab, vorwiegend ältere, die zur Kirche gingen; dass mitten in diesem Durcheinander weiterhin gepredigt und Gottesdienst gefeiert wurde. Er vermisste vor allem die Kirchenmusik. »... manch-mal trägt mir der Wind Bruchstücke der Choräle zu«12. Bonhoeffer

wusste nichts von der Größe der Sorgen seiner Eltern, nichts davon, dass die Gestapo bei der Razzia gegen angebliche Verräter auch sei-ne Schwester Christine gefangengenommen hatte und dass sie im Po-lizeigefängnis am Kaiserdamm unter der Anklage der »Beihilfe zum Hochverrat« festgehalten wurde. Und er wusste zunächst auch nicht, dass ihr Mann, Hans von Dohnanyi, im Militärgefängnis an der Lehrter Straße in Berlin-Moabit eingekerkert war. Christine wurde zwei Wo-chen festgehalten. Dann wurde die Anklage gegen sie fallengelassen. Am 23. April setzte man sie auf freien Fuß.

Er wusste auch nicht, dass seine Mutter immer wieder ohnmächtig wurde und sich bewegte, als habe sie einen Schlaganfall erlitten. Sie war in die gleiche Dunkelheit gestürzt, die sie zweiundzwanzig Jahre zuvor nach dem Tod ihres Sohnes Walter umfangen hatte. »Es kam eben alles doch zu plötzlich«, sagte Paula.13 Bonhoeffer bat seine Eltern um Verzeihung für den Kummer, den er ihnen zweifellos bereitete.

Manchmal schrieb er mehrere Entwürfe eines Briefes für zu Hause. Er versuchte, seine Empfindungen zu kontrollieren und so zu schrei-ben, dass er die Eltern möglichst wenig beunruhigte.14 Er erzählte, dass er nach dem Ende der ersten beiden Verhörwochen viel besser behan-delt worden war und sogar wieder Zeit habe zu lesen. Zuerst hatte er es schwierig gefunden, sich auf eine Arbeit zu konzentrieren, aber in der Karwoche konnte er sich mit der Leidensgeschichte »gründlich befas-sen«15, vor allem mit Johannes 17, wo Jesus sein priesterliches Gebet spricht: »Vater, die Stunde ist da. Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrlicht ...« Er ruhte sich auch aus, wie er ihnen mitteil-te. Nach den hektischen Monaten vor seiner Festnahme war es eine Erleichterung, um acht Uhr ins Bett zu gehen und sich auf die Stille der Nacht zu freuen. »Ich träume täglich und eigentlich immer schön.«16

Bonhoeffer hatte sogar mit »einer kleinen Studie über ›Das Zeitge-fühl‹« begonnen. Die Erfahrung von Zeit war seit den Meditationen über die Ewigkeit, die er als Kind angestellt hatte, wohl nicht mehr so verwirrend gewesen. Der Essay entstünde aus »dem Bedürfnis, mir meine eigene Vergangenheit gegenwärtig zu machen in einer Situati-on, in der die Zeit so leicht ›leer‹ und ›verloren‹ erscheinen konnte«17.

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Aber das war nicht der einzige Grund. Jemand, der vor ihm in seiner Zelle gesessen hatte, hatte über die Tür gekritzelt: »In hundert Jahren ist alles vorbei.«18 Diese Inschrift hing wie eine fatalistische Stickerei über dem Raum. Obwohl Bonhoeffer, wie er seinen Eltern schrieb, der Aussage nicht ganz zustimmte, gäbe es doch eine Menge darüber zu sagen.

Die Morgende waren nach dem Frühstück von etwa sieben Uhr an dem Schreiben gewidmet. Nachmittags las er. Er konnte noch »aller-lei lernen«. Wenn er genug Schwung hatte, schrieb er noch einmal bis zum Abendessen. »Abends bin ich dann müde genug, um mich gern hinzulegen, wenn auch noch nicht zu schlafen.«19

Seine Nachrichten für Zuhause enthalten kaum eine Klage. Aber, wie in besseren Zeiten, bat er um Hilfe bei der Ausstattung seiner Zel-le, in Fragen seiner Garderobe und bei der Beschaffung der Utensilien für die Körperpflege. Die Absätze an seinen Schuhen fielen ab. Er wäre dankbar, wenn seine Eltern ihm das neuere braune Paar Schuhe schi-cken könnten oder, noch besser, die hohen schwarzen Schnürschuhe. Er bat auch um seinen bevorzugten braunen Anzug, da der, den er seit seiner Festnahme trug, nicht mehr sauber zu bekommen war. Was er noch brauchte: eine Haarbürste, Toilettensachen, einen Kleiderbügel, reichlich Streichhölzer, eine Pfeife mit Tabak mit einem Etui für beides, auch Pfeifenreiniger und deutsche Zigaretten. Und könnten sie auch noch Band 2 von Schellings Moralphilosophie und Adalbert Stifters Roman Der Nachsommer in eines der Pakete stecken? Um ihnen und sich Ruhe und Linderung zu verschaffen, schlug er vor, dass sie alle drei – Vater, Mutter und jüngster Sohn – einige der großen Kirchenlieder der Reformation auswendig lernten.

Bonhoeffer wollte seinen Eltern die schlimmsten seiner Erlebnisse ersparen, seine Berichte an Bethge aber waren vollkommen unzen-siert. Den ersten Brief an ihn konnte er jedoch erst am 18. November 1943 schicken. Da es ihm verboten war, mit irgendjemand zu korres-pondieren, mit dem er nicht verwandt war, konnte er Bethge nur dank des hilfsbereiten Unteroffiziers Knobloch, einem Angehörigen der Wachmannschaften in Tegel, schreiben, der während Bonhoeffers ge-

samter Gefangenschaft die Briefe an Bethge weiterleitete.20 Knobloch, offenbar ein Mann der Kirche, der Bonhoeffers Schriften kannte und ihn vielleicht vor Jahren predigen gehört hatte, nahm die Briefe mit nach Hause und schickte sie von seiner eigenen Adresse aus ab. Im Gegenzug schickte Bethge seine Briefe an Knobloch, der sie Bonhoef-fer ins Gefängnis brachte. »Du bist der einzige Mensch, der weiß, daß die ›acedia‹ – tristitia mit ihren bedrohlichen Folgen mir oft nachge-stellt hat«, schrieb er dem Freund. Tatsächlich kannte niemand außer Eberhard diese »Melancholie des Herzens«, die Bonhoeffer manchmal überfallen konnte.

Nachts, wenn er beim Schein einer einzelnen Kerze (ein weiterer Luxus, der ihm nach den Tagen der Einzelhaft erlaubt wurde) allein in seiner Zelle saß, erinnerte er sich an die zahllosen »abendliche Ge-spräche«, die er mit Bethge geführt hatte. »Ich stelle mir also vor, wir säßen wie in alten Zeiten nach dem Abendbrot (und der regelmäßi-gen abendlichen Arbeit!!) zusammen oben in meinem Zimmer und rauchten, schlügen gelegentlich Akkorde auf dem Klavichord an und erzählten uns, was der Tag gebracht hat.« Er würde »unendlich viel zu fragen« haben: über Bethges Militärdienst, seine Reisen, seine Seel-sorgearbeit. Über das »Verheiratetsein«21. Bethge war im September 1943 einberufen und nach einer Grundausbildung in Spandau und im polnischen Lissa im Januar 1944 im italienischen Rignano stationiert worden. Ein Standort seiner Einheit befand sich auch in Velletri, wo er die Flotte der Alliierten in der Ferne bei Nettuno und Anzio sehen und den Lärm heftigen Beschusses hören konnte.22 Seine Aufgabe als Schreiber bewahrte ihn selbst vor der Teilnahme an unmittelbaren Kampfhandlungen.23

Bonhoeffer vertraut Bethge in dem Brief, in dem er ihre gemein-samen Abende imaginierte auch an, »dass es trotz allem, was ich so geschrieben habe, hier scheußlich ist«.

Beängstigende Gedanken verfolgten ihn »bis in die Nacht«. Er wur-de nur damit fertig, indem er »unzählige Liederverse« aufsagte. Aber auch dann wachte er normalerweise mit einem Seufzer oder Keuchen auf und nicht mit einem Segenswort oder einem Lobpreis auf den Lip-

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pen. »An die physischen Entbehrungen gewöhnt man sich, ja man lebt monatelang sozusagen leiblos – fast zu sehr –, an die psychischen Be-lastungen gewöhnt man sich nicht, im Gegenteil; ich habe das Gefühl, ich werde durch das, was ich sehe und höre, um Jahre älter und die Welt wird mir oft zum Ekel und zur Last.«24

Und mancher Gedanke war sogar zu dunkel, um ihn mit Bethge zu teilen. Bonhoeffer hatte eine grüblerische Selbsterforschung be-trieben, niedergeschrieben als »Notizen I; Mai 1943« und »Notizen II, Mai 1943«. Ihre Fragmente tauchten erst nach seinem Tod auf. Diese »Notizen«, die »kleine Studie«, die er seinen Eltern gegenüber fröhlich erwähnt hatte, offenbaren die ruhelosen Gedanken einer äußerst ver-zweifelten Seele.

»Wandspruch – Zeit als Hilfe – als Qual, als Feind.Langeweile als Ausdruck der Verzweiflung.Ps 31,1ZeitWohltat der Zeit: Vergessen, VernarbenGegensatz: Die Unwiderruflichkeit.Trennung – vom Vergangenen und Zukünftigen›Der ist nicht stark, der in Not nicht fest ist‹Spr. 31 lacht des kommenden TagesMt 6 sorget nicht ...WartenLangeweile

...

Kontinuität mit der Vergangenheit und Zukunft unterbrochenUnzufriedenheit – GespanntheitUngeduldSehnsuchtLangeweileNacht – tief einsam

GleichgültigkeitBeschäftigungsdrang, Abwechslung, NeuigkeitStumpfheit Müdigkeit, schlafen – dagegen harte ›Ordnung‹

Das Phantasieren, Verzerrung der Vergangenheit und ZukunftSelbstmord, nicht aus Schuldbewußtsein, sondern weil ichimgrunde schon tot bin, Schlußstrich, Fazit.«

Diese im Telegrammstil gehaltenen Zeilen erreichten schließlich Bethge, der in ihnen zweifellos eine sie vereinende Empfindsamkeit erkannte. Aber als Bonhoeffer sie im Mai 1943 in sauberer lateinischer Schrift niederschrieb, waren sie wie so viele stille Schreie.25

In den zwei Jahren zwischen seiner Festnahme und seinem Tod hörte Bonhoeffer nie auf zu schreiben: Er verfasste Briefe, Gedichte, Gebete, einen Romanentwurf, ein kleines Drama und Geschichten, Skizzen für zukünftige Bücher und Essays, Aphorismen und Schrift-auslegungen sowie Entwürfe zu verschiedenen Themen. Zusammen-genommen geben die Briefe und Schriften aus dem Gefängnis Einblick in sein Gefühlsleben jener Tage.

Er wies den Gedanken zurück, dass er im Gefängnis litt. Das zu be-haupten, erschien ihm wie eine »Profanierung«. Die ersten Wochen waren elend gewesen, wie er seinen Eltern gegenüber nur indirekt und Bethge gegenüber offener zugab. Aber er hatte das Gefühl, sich selbst viel zu wichtig zu nehmen, wenn er behauptete zu leiden. Und er sehn-te sich auch nicht nach dem Martyrium. »Man darf diese Dinge nicht dramatisieren«, warnte Bonhoeffer. »Natürlich ist vieles scheußlich«, sagte er, »aber wo ist es das nicht?« Die Juden litten, die Familien der gefallenen Brüder litten, die geistig Behinderten, die abgeholt und ermordet worden waren, hatten gelitten, seine Eltern litten in ihrer Angst. »Nein, Leiden muß etwas ganz anderes sein, eine ganz andere Dimension haben, als was ich bisher erlebt habe.«26

Siebenhundert Männer waren im Wehrmachtsuntersuchungsge-

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fängnis in Berlin-Tegel untergebracht. Die meisten wurden monate-lang ohne das Recht auf einen Anwalt verhört. Die Wärter kannten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keinen Anstand. Selbst die Kran-ken wurden geschlagen und gequält. Männer, die Krämpfe hatten oder andere nervöse Anfälle, blieben unversorgt. Alles an diesem Ort – die randvollen Latrinen, die endlose Wiederholung derselben Fragen, die Ketten und Handschellen – schien dazu bestimmt, den Geist zu bre-chen.

Wenn es aber einen Gefangenen gab, der besondere Privilegien hat-te, dann war es Bonhoeffer. Zuerst war der Gefängnisleitung nicht klar gewesen, dass er ein protestantischer Theologe und Pfarrer und der Sohn des berühmten Psychiaters Karl Bonhoeffer war. Sie wusste auch nicht, dass dieser Pfarrer Bonhoeffer der Neffe von General Paul von Hase war, des Stadtkommandanten von Berlin. Als diese und andere Einzelheiten ans Licht kamen, sorgten die Wärter dafür, dass Bonhoef-fer zusätzliche Essensrationen, heißen Kaffee und Zigaretten bekam. Mehrmals in der Woche wurde ihm sein Essen so serviert, wie es auch die Angestellten bekamen: auf einem Porzellanteller und mit ordentli-chem Besteck. Die Beamten behandelten ihn mit »ausgesuchter Höf-lichkeit«, berichtete Bonhoeffer, »mehrere kamen sich sogar entschul-digen«, nachdem man mit ihm Anfangs ebenso rüde umgegangen war wie mit den anderen, weniger prominenten Gefangenen.27

Gelegentlich stattete der Kommandant des Gefängnisses Haupt-mann Walter Maetz Bonhoeffer einen Besuch ab und begleitete ihn auf seinem Gang im Gefängnishof. Maetz erlaubte Karl und Paula, ihrem Sohn einen »bunten Dahlienstrauß« zu bringen und Trauben aus ihrem Garten als Erinnerung daran, »wie schön die Welt in die-sen Herbsttagen sein kann«. Sein Onkel von Hase besuchte ihn einmal, sie tranken Champagner und redeten fünf Stunden lang.28 Bonhoeffer sagte seinem Vater, ihm wären die Nettigkeiten peinlich. Er lehnte die zusätzlichen Essensrationen ab, nahm den Champagner, die Zigaretten und andere Privilegien aber gerne an.

An die Wand seiner Zelle hängte er einen Druck von Dürers Apo-kalyptischen Reitern, der die Offenbarung 12,7 abbildet, den Kampf

zwischen Gut und Böse, wo St. Michael die Engel im Kampf gegen den Drachen anführt.29 Auf seinen Tisch stellte er die Blumen von seinen Eltern.

Vor dem Hintergrund der Todeslager mögen die Beschwerden ei-nes evangelischen Pfarrers, der sein Essen im Gefängnis manchmal auf Porzellan serviert bekam und vergleichsweise privilegiert lebte, trivial erscheinen. Das hatte etwas von der Empörung eines beleidig-ten Adeligen. Doch Bonhoeffer wollte auch kleine Unregelmäßigkeiten in dem, was ihm zustand, nicht ignorieren. Denn es gab eine direkte Verbindung vom Einzelnen zum Allgemeinen – von den kleinen De-mütigungen zum großen Machtmissbrauch. Das war eine Lektion, die er schon als Kind gelernt hatte und die er bis zum Ende seines Lebens nicht vergessen würde.

Und so beschwerte er sich viel und mit regelrechter Verachtung über die Zustände. Er hielt es, gerade weil er Privilegien genoss, für seine Pflicht, die kleinen und großen Sorgen aller vorzubringen. Wenn die Suppe nur ein Stückchen Speck enthielt, bemängelte er, dass die Fleischrationen nicht einer angemessenen Ernährung entsprachen. Er beklagte sich darüber, dass die Küche die Brot- und Wurstscheiben ungleich schnitt. In einem Haftbericht, den er für seinen Onkel von Hase verfasste30, betont er, dass er selbst ein Stück Wurst abwog, um zu beweisen, dass es fünfzehn Gramm wog und nicht fünfundzwanzig, wie gesetzlich vorgeschrieben. Er klagte darüber, dass die Gefängnis-ärzte und -beamte randvolle Teller mit Fleisch in Sahnesoße bekamen, wenn sie die Qualität des Gefängnisessens prüfen sollten, und dass ein Vergleich zwischen den Mahlzeiten für die Gefangenen und für das Personal »einfach verblüffend« sei. Die Mahlzeiten der Gefangenen am Sonntag und an Feiertagen seien dabei »unter aller Kritik« und be-stünden aus »einer völlig fett-, fleisch- und kartoffellosen Wasserkohl-suppe«31. An Winterabenden löschten die Wärter oft das Licht in den Zellen, verboten den Insassen aber, sich vor dem Zapfenstreich auf ihre Pritschen zu legen, und zwangen sie so, allein im Dunkeln zu stehen. Schlimmer noch war das Fehlen eines Luftschutzbunkers für das gan-

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ze Gefängnis. Es befand sich neben der riesigen Maschinenbaufabrik Borsig, die von den Briten bevorzugt angegriffen wurde. »Schauder-haft das Toben und Schreien der Gefangenen in ihren Zellen«, schrieb Bonhoeffer.32 (Er bezeichnete die Luftangriffe nie als »Bombenterror«, wie viele andere Deutsche und auch die nationalsozialistische Propa-ganda dies tat, um den Angriffen der Alliierten einen moralisch nega-tiven Stempel aufzudrücken.) Wenn der Nachthimmel von den grünen Lichtern erhellt wurde, die man »Christbäume« nannte und die, abge-worfen von sogenannten »Pfadfinder-Maschinen«, den anfliegenden Bombern der englischen Luftwaffe dazu dienten, ihre Ziele zu finden, sprach Bonhoeffer von dem Paradoxon von Zorn und Gnade. Die Sze-nerie erinnerte ihn an die Beschreibung des göttlichen Zorns als un-auslöschliches Feuer beim Propheten Amos im Alten Testament.

Seit seinen Studientagen hatte er nicht mehr so viel Zeit zum Lesen gehabt, musste er doch die meiste Zeit des Tages in seiner Zelle ver-bringen. Da er sich jetzt wieder seinen Studien zuwenden konnte, bat er um Bücher aus den Bereichen Philosophie, Naturwissenschaft, Kunst, Politiktheorie, Geschichte und Literatur. Die Gefängnisbücherei hatte nur einen begrenzten Bestand, und so las er, was immer Familie und Freunde ihm schickten. Er verschlang die Bücher, manchmal aus wis-senschaftlichem Interesse, manchmal zum Vergnügen. Neben Stifters Roman gehörten zu seinen liebsten Büchern Geist und Geld von Jere-mias Gotthelf, die Gedichte und Geschichten von Theodor Fontane und Zum Weltbild der Physik von Carl Friedrich von Weizsäcker. Er las Immanuel Kants Schriften über Anthropologie und Wilhelm Diltheys Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Re-formation, eine Studie über die Menschheit und die nach der Renais-sance und der Reformation entstandene Weltsicht. »Ich arbeite wieder etwas konzentrierter und lese mit besonderer Freude Dilthey«, schrieb Bonhoeffer seinen Eltern.33 Er las etwas über griechische Mythologie von Walter Otto, über Geschichtsphilosophie von José Ortega y Gasset und Adolf von Harnacks Geschichte der Königlich-Preußischen Aka-demie, die er »sehr schön« fand.34 Er tauchte ein in Nicolai Hartmanns

Systematische Philosophie, freudig erregt durch die Aussicht, sich meh-rere Wochen den deutschen Idealisten widmen zu können.

In einem Brief an Bethge schreibt er, dass er »etwas planlos durchei-nander gelesen« habe: eine Geschichte von Scotland Yard, eine Studie der Ursprünge der Prostitution, ein Buch von Hans Delbrück – obwohl er »seine Probleme eigentlich uninteressant« fand; Reinhold Schnei-ders Sonette – »sehr verschieden in der Güte, einige sehr gut«. Er hatte »einen riesigen englischen Roman, der von 1500 bis heute geht« gele-sen, Hugh Walpoles Herries-Romane und »das Buch für Sanitätsper-sonal, für alle Fälle«35.

Er las Dostojewskis Totenhaus, weil ihn die Notwendigkeit von Hoffnung »beschäftigte« zu einem Zeitpunkt, als er selbst die Hoffnung auf Ent-lassung verloren hatte. »Ich lese mit großem Interesse das ›Totenhaus‹«, berichtete er, »und bin beeindruckt von dem völlig moralfreien Mit-leid mit dem die Menschen außerhalb desselben sich zu seinen Insassen verhalten. Sollte diese Amoralität, die aus der Religiosität kommt, vielleicht ein wesentlicher Zug dieses Volkes sein und auch gegenwärtigere Er-eignisse verständlich ma-chen?«36 In seinem letzten Brief an sie sollte er seine Eltern bitten, H. Pestalozzis Lienhard und Gertrud und Abendstunden eines Einsied-lers, Paul Natorps Sozialpä-

Dietrich Bonhoeffer im Hof des Wehrmachts-untersuchungsgefängnisses in Berlin-Tegel

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dagogik und Plutarchs Große Männerbiografien im Gestapo-Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße 8 abzugeben, wohin er am 8. Oktober 1944 verlegt wurde, in eine fensterlose Zelle.

Bonhoeffer las so gut wie alles außer theologischer Literatur – mit einer bedeutsamen Ausnahme: Der soeben erschienene jüngst Teil von Karl Barths Kirchlicher Dogmatik versetzte ihn in Begeisterung. Er war ein Höhepunkt in Barths Werk und viele Theologen hielten ihn für so genial, dass er allein dem Autor einen Platz neben Martin Luther und Johannes Calvin im Pantheon der Reformation verschafft hätte. Denn in diesem Band stellte Barth die umstrittene Doktrin der doppelten Prädestination auf den Kopf: dass Gott einige zum Heil vorherbestimmt habe, und andere zur Hölle verdammt seien. Gottes Gnade sei unaufhaltsam, sagte Barth in Übereinstimmung mit den Kir-chenvätern, und aus diesem Grund könne letztendlich keine endliche Wirklichkeit ihre Macht zu retten leugnen oder sich ihrem Wirkungs-bereich entziehen. Die ganze Menschheit, die vergangene, die gegen-wärtige und die zukünftige, sei vom Fluch der Sünde durch den Tod und die Auferstehung Jesu Christi erlöst. Jeder sei jetzt »auserwählt«. Bonhoeffer verglich Barths Arbeit mit den römischen Kathedralen und den Symphonien Mozarts und hielt sie für rundum überzeugend. De-tailversessen und mit symphonischer Größe, hatte Barth das Wesen Gottes als Liebe im Überfluss eingefangen. Für seine Schriften im Ge-fängnis hat Bonhoeffer vieles aus diesem Band gezogen.37

In den ersten Monaten seiner Gefangenschaft fanden Bonhoeffers Vernehmungen unter der Leitung von Oberkriegsgerichtsrat Manfred Roeder statt, der auch die Anklage gegen Dohnanyi verfolgte. Hin-tergrund seines Einsatzes waren die bitteren Rivalitäten zwischen der Gestapo und der Abwehr. Die Gestapo war darum bemüht, die Un-glaubwürdigkeit der Abwehr aufzuzeigen, indem sie Dohnanyi Kor-ruption nachwies.38 Im Fall Bonhoeffer ging es Roeder vor allem da-rum, zu beweisen, dass er sich vor dem Militärdienst gedrückt hatte. Roeder sollte große Hartnäckigkeit an den Tag legen, um dieses Ziel zu erreichen.

Ende Juli 1943, vier Monate nach seiner Festnahme, wurde Bon-hoeffer endlich über die Anklagepunkte gegen ihn informiert. Die Anklageschrift, die dann im September 1944 die Vorwürfe zusam-menfasste, hielt ihm vor, sich durch Täuschung dem Militärdienst ent-zogen und anderen geholfen zu haben, es ihm gleichzutun.39 Sie listete auch zahlreiche Aktivitäten Bonhoeffers in Bezug auf die Bekennen-de Kirche auf, das »Unternehmen 7« oder andere Aktivitäten in Zu-sammenhang mit dem Widerstand wurden interessanterweise jedoch nicht erwähnt. Wenn man bedenkt, welcher Verbrechen er schließlich angeklagt wurde, erscheinen diese Anklagepunkte von 1943 unbedeu-tend. Doch er hatte mit dem ihm vorgeworfenen Verhalten gegen § 5 Abschnitt 1 Nr. 3 KSSVO, (2) § 74 RStGB verstoßen und sich, sollte ein Gericht zu der Einschätzung kommen, dass die Vorwürfe zu Recht erhoben wurden, des Verbrechens der Wehrkraftzersetzung schuldig gemacht, auf das die Todesstrafe stand. Bonhoeffer reagierte entsetzt auf die Vorwürfe, legte Widerspruch ein und versuchte gleichzeitig, sie zu entschärfen.

»... was schon die Tatsache einer Anklageerhebung wegen Zerset-zung der Wehrkraft für mich beruflich, persönlich und familiär bedeu-tet, brauche ich Ihnen nicht zu sagen«, schrieb er Roeder gereizt in einem Brief vom 2. August. »... dafür kennen Sie meine beruflichen und persönlichen Verhältnisse gut genug. Wenn das Gesetz die An-klage fordert, so muß sie geschehen, das verstehe ich. Daß ich sie nicht erwartet habe, mag auf der mir fehlenden Kenntnis des Gesetzestextes wie auch auf der Tatsache beruhen, daß ich mich dem Vorwurf der Zersetzung der Wehrkraft gegenüber schuldlos gefühlt habe und nach erneuter Prüfung dessen, was Sie mir am Freitag gesagt haben, auch immer noch fühle.«

Doch Unkenntnis der Gesetze ist keine gute Verteidigung. Bon-hoeffer aber tat bewußt naiv in den Briefen, die er Roeder schrieb, so, als hätte er den Ernst der Lage noch nicht erkannt oder glaubte, dass man ihm aufgrund seiner Popularität einen ehrlich zugegebenen Fehler verzeihen würde. Er beendete den Brief freundlich: »Darf ich schließlich noch hinzufügen, was eigentlich keines Wortes bedarf, daß

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ich mich für den Fall, daß meine Tätigkeit für die Abwehr nicht mehr als wichtig angesehen würde, sofort für jeden anderen Dienst zur Ver-fügung stelle.«40 Davon unbeeindruckt erhob Roeder am 21. Septem-ber 1944 formell Anklage.

Am 16. September 1943 wurde Kurt Wergin, ein mit Klaus Bon-hoeffer befreundeter Rechtsanwalt und Notar, als Verteidiger Bon-hoeffers bestellt. Wie Bonhoeffer seinen Eltern am 25. September schrieb, war er »richtig froh, als gestern erst die Zulassung des Anwalts und dann der Haftbefehl kam. So kommt das scheinbar ziellose War-ten doch wohl bald zum Ende.«41 Er hoffte weiterhin auf ein positives Resultat und behandelte seine schwierige Lage wie ein nebensächli-ches Geplänkel: »R. wollte mir am Anfang gar zu gern an den Kopf; nun mußte er sich mit einer höchst lächerlichen Anklage begnügen, die ihm wenig Ruhm eintragen wird.«42 Tatsächlich gab es am Ende der ersten Verhöre noch eine echte Chance, dass er »nicht verurteilt werde, sondern freikomme«43.

Als Roeder im Zusammenhang mit den parallel stattfindenden Vernehmungen Dohnanyis seine Aufmerksamkeit dem »Unterneh-men 7« zuwandte, hatte es Grund zur Sorge gegeben. Aber da es in diesem Punkt keine Beweise gegen Bonhoeffer gab, konzentrierte sich Roeder auf das einzige Thema, das Resultate versprach: Bonhoeffers UK-Stellung.44 Auch so zogen sich die Verhöre hin, und als eine Reihe von Unterlagen durch einen Luftangriff zerstört wurde, wuchs Bon-hoeffers Hoffnung auf ein gutes Ende des Ganzen. Er schrieb an seine Eltern dass sie sich »in nicht zu ferner Zeit in Freiheit wiedersehen« würden.45 Auch wenn er Weihnachten 1943 allein im Gefängnis ver-bringen musste, war er jetzt voller Hoffnung, dass er nach Neujahr mit seiner Familie, seiner Verlobten und seinem Freund im hellen Licht eines Wintermorgens wieder vereint sein würde. An seinem achtund-dreißigsten Geburtstag, dem 4. Februar 1944, mehr als einen Monat später, stellte sich Bonhoeffer in einem Brief vor, wie er und Bethge wie früher zusammen wären, was eine Flut von Erinnerungen in ihm auslöste:

»Vor 8 Jahren saßen wir abends am Kamin zusammen, Ihr hattet mir das Violinkonzert D-dur geschenkt und wir hörten es zusammen, dann mußte ich Euch etwas von Harnack und ver-gangenen Zeiten erzählen, was Euch aus irgendeinem Grunde besonders gefiel, und schließlich wurde die Schwedenreise de-finitiv beschlossen. Ein Jahr später schenktet Ihr mir die Sep-temberbibel mit einem hübschen Votum und Deinem Namen an der Spitze. Es folgten Schlönwitz und Sigurdshof und viele feierten damals mit, die nicht mehr unter uns sind. Das Singen vor der Tür, das Gebet bei der Andacht, das Du an diesen Tagen übernahmst, das Claudiusʾsche Lied, das ich Gerhard verdanke, – dies alles bleiben schöne Erinnerungen, denen die scheußliche Atmosphäre hier nichts anhaben kann. Voller Zuversicht den-ke ich daran, daß wir Deinen nächsten Geburtstag wieder zu-sammen feiern und – wer weiß? – vielleicht schon Ostern! Dann werden wir wieder zu unsrer eigentlichen Lebensaufgabe zu-rückkehren, und es wird viel und schöne Arbeit geben; und das, was wir inzwischen erlebt haben, wird nicht umsonst gewesen sein. Daß wir das Gegenwärtige aber so erleben können, wie wir es beide tun, dafür werden wir einander wohl immer dankbar bleiben. Ich weiß, daß Du heute an mich denkst, und wenn in diesen Gedanken nicht nur das Vergangene, sondern auch die Hoffnung auf eine – wenn auch veränderte, so doch gemeinsame Zukunft enthalten ist, dann bin ich sehr froh.«46

Im Gefängnis nahmen Bonhoeffers Gedanken eine neue Richtung, während er sich gleichzeitig intensiver seinen früheren Leidenschaften zuwandte wie ein gereifter Künstler, der Pinselstrich auf Pinselstrich legt.47 Er erinnerte sich an seine Studienjahre und seinen geselligen Austausch mit den Professoren Adolf von Harnack und Karl Holl. Er hatte eine nostalgische Sehnsucht nach den verschwundenen Idealen des deutschen Liberalismus. Es war zehn Jahre her, dass er an der Uni-versität gearbeitet hatte. Er fand wieder Nahrung in »großen geistes-geschichtlichen Bewegungen«48, auch wenn ihre beengenden intellek-

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tuellen Grenzen, früher eine Art Schutz, langsam vor seinem neuen Erwachen zu dem, was er die »Polyphonie des Lebens«49 nannte, zu-sammenbrachen.

Er sprach von Verlusten, vom Loslassen, von unerfüllten akademi-schen Ambitionen, von nicht erfüllten Verpflichtungen, von unbeen-deten Briefen. Manchmal war die Aufzählung kaum auszuhalten. Aber er wusste, dass er leicht als jemand hätte enden können, der sich »von Ereignissen und Fragen zerreißen« ließ.50 Und so machte er sich den Kopf frei und nahm das Unvermeidliche der Unfertigkeit mancher Dinge in seinem Leben und selbst seine Einbrüche mit entwaffnender Dankbarkeit an.

»Aber gerade das Fragment kann ja auch wieder auf eine mensch-lich nicht mehr zu leistende höhere Vollendung hinweisen ...«, tröstete Bonhoeffer sich.51 Wir können uns noch so anstrengen, die einzige Ar-beit von Bedeutung vollbringt allein die Gnade. Bonhoeffer war voller Anerkennung für die Ganzheit, die er erfahren hatte, und wandte sich den kleinen und manchmal zerbrochenen Dingen zu, nicht in Resigna-tion, sondern in Mitgefühl. »Ein Vers von Storm, den ich dieser Tage kennen lernte, gehört so ungefähr zu dieser Stimmung und geht mir immer wieder durch den Sinn wie eine Melodie, die man nicht los wird:

›Und geht es draußen noch so toll / unchristlich oder christlich / ist dochdie Welt, die schöne Welt / so gänzlich unverwüstlich‹.«52

Ein paar Herbstblumen, die er aus seinem Zellenfenster sehen konnte, ein halbstündiger Spaziergang im Gefängnishof, ein schöner Lindenbaum – kleine Herrlichkeiten genügten, um sich der transzen-denten Herrlichkeit bewusst zu werden. Er erinnerte sich an die Ge-schichte von einem Mann, »der bei dem Angsttraum, es könnte einmal eine Bombe alles zerstören«, dachte: »Es wäre schade um die Schmet-terlinge!«53 Am Ende, so Bonhoeffer, »faßt sich, jedenfalls für mich, die ›Welt‹ doch zusammen in ein paar Menschen, die man sehen und mit denen man zusammensein möchte.«54

Am 13. Januar, weniger als drei Monate vor seiner Festnahme, hat-ten Dietrich und Maria sich verlobt, das Ereignis aber aus Rücksicht auf die Trauer, die im Hause von Wedemeyer nach dem Tod von Vater und Sohn herrschte, jedoch nur im engeren Kreis der Familie bekannt gemacht. Nach Bonhoeffers Festnahme war die Neuigkeit dann aber doch bekannt geworden.55 Ihre kurze Romanze ist eine tragische Ge-schichte, oft erzählt und fast immer ausgeschmückt, wie zum Beispiel in einem Film, der in einer Szene zeigt, wie Bonhoeffer und Wedemey-er sich heimlich durch den Stacheldrahtzaun des Konzentrationslagers Flossenbürg hindurch küssen.

Bonhoeffer gefiel nicht, wie er in seinen Briefen an Wedemey-er auftrat – wie »ein Ausbund von Tugend, Musterhaftigkeit und Christlichkeit«56, wie ein Märtyrer –, doch er konnte nichts daran ändern. Er klang oft wie ein Vater, der seiner Tochter mahnende Brie-fe schreibt. Er stichelte auch, so z.B. wenn er ihre Vorliebe für Ril-ke aufs Korn nahm. Doch er verschonte sie mit seinen Ängsten, die er weiterhin ohne zu zögern Bethge offenlegte. Eberhard blieb sein »wagender und vertrauender Geist«, sein Freund, während Maria seine Frau werden sollte. Und darin lag der Konflikt. Dessen wurde er sich immer stärker bewusst. Seine einzigartige Freundschaft mit Bethge, die er jetzt mehr als je zuvor idealisierte, stellte den freudigen und befreienden Gegenpart zur Ehe dar, die, wenn immer er darüber nachgedacht hatte, gleichbedeutend war mit Pflicht, Verpflichtung, Notwendigkeit und Gesetz: eine Verbindung, die die Erbsünde her-vorgebracht hatte.

Am 28. August 1944 schrieb er ein Gedicht zu Bethges fünfunddrei-ßigstem Geburtstag. Die Verschwörung der Offiziere war gescheitert und Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Friedrich Olbricht, Werner von Haeften und Albrecht Mertz von Quirnheim waren einen Monat zuvor gemeinsam exekutiert worden. Das Gedicht hieß schlicht und einfach »Der Freund«.

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Charles Marsh

Dietrich BonhoefferDer verklärte Fremde. Eine Biografie

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 592 Seiten, 15,0 x 22,7 cm30 s/w AbbildungenISBN: 978-3-579-07148-0

Gütersloher Verlagshaus

Erscheinungstermin: März 2015

Die neue Bonhoeffer-Biografie Dietrich Bonhoeffer, das ist der große, anständige Theologe im Wider- stand gegen Hitler, einerder Heiligen des 20. Jahrhunderts! 70 Jahre nach seinem Tod scheint seine Geschichte erzählt,sein Leben begriffen zu sein. Aber: Stimmt das auch? Charles Marsh blickt hinter die VerklärungBonhoeffers und bringt in seiner kritischen Biografie dessen Fremdheit neu zur Geltung. Einintimes und überraschendes Porträt von einem verletzlichen und witzigen, erfolgsverwöhntenund zweifelnden, entschlossenen und doch immer wieder zaudernden Mann auf dem Weg zusich selbst. Fesselnd und unterhaltsam erzählt.