die bestimmung - veronica roth

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Die Bestimmung, ein Buch von Veronica Roth auf Deutsch TEIL 1

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  • Veronica Roth

    Die Bestimmung

    Aus dem Amerikanischen von Petra Koob-Pawis

  • cbt ist der Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House

    Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

    1. Auflage 2012 2011 by Veronica RothDie Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Divergent bei Katherine Tegen Books, an imprint of Harper Collins Childrens Books, New York 2012 fr die deutschsprachige Ausgabe cbt, MnchenAlle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlck, 30287 Garbsen.Aus dem Amerikanischen von Petra Koob-PawisUmschlagmotiv: Faction Symbol@2011 by Rhy thm and Hues Design/Jacket Art and Design by Joel TippieUmschlagkonzeption: UNO Werbeagentur Mnchenst Herstellung: AGSatz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad AiblingISBN: 978-3-641-07502-6

    www.cbt-verlag.dewww. die-bestimmung.de

  • Fr meine Mutter, die mir jenen Augenblick schenkte, in dem Beatrice erkennt,wie stark ihre Mutter ist, und sich zugleich verwundert fragt, warum ihr das solange verborgen blieb.

  • 1. Kapitel

    In unserem Haus gibt es nur einen einzigen Spiegel. Er befindet sich hinter einerSchiebetr im Flur des oberen Stockwerks. Meine Fraktion gestattet es mir,jeweils am zweiten Tag eines jeden dritten Monats davorzustehen, immer dann,wenn meine Mutter mir die Haare schneidet.

    Ich sitze auf dem Stuhl, meine Mutter steht mit der Schere hinter mir, meineHaare fallen als matter blonder Kreis um mich herum auf den Boden. Als siefertig ist, streicht sie meine Haare nach hinten und bindet sie zu einem Knoten.Ich bemerke, wie ruhig und konzentriert sie ist. Meine Mutter beherrscht dieKunst, sich selbst zu verleugnen. Von mir kann ich das nicht behaupten.

    Als sie gerade mal nicht hinsieht, wage ich einen verstohlenen Blick auf meinSpiegelbild nicht aus Eitelkeit, sondern aus Neugier. Innerhalb von dreiMonaten kann man sich ziemlich verndern. Ein schmales Gesicht, groe, rundeAugen und eine lange, dnne Nase ich sehe immer noch aus wie ein kleinesMdchen, dabei bin ich irgendwann in den letzten Monaten sechzehn geworden.Die anderen Fraktionen feiern Geburtstage, wir nicht. Das wre selbstschtig.

    Fertig, sagt Mutter, als der Knoten sitzt. Unsere Blicke treffen sich imSpiegel. Zum Wegschauen ist es zu spt, aber statt mit mir zu schimpfen,lchelt sie mein Spiegelbild an und ich antworte ihr mit einem Stirnrunzeln.Wieso tadelt sie mich nicht?

    Heute ist also der groe Tag, sagt sie.Ja.

  • Bist du aufgeregt?Ich schaue mir selbst im Spiegel in die Augen. Heute findet der Eignungstest

    statt. Er wird Klarheit schaffen, zu welcher der fnf Fraktionen ich gehre. Undmorgen, bei der Zeremonie der Bestimmung, werde ich mich bewusst fr einedieser fnf Fraktionen entscheiden. Es wird eine Entscheidung frs Leben sein.Ich werde whlen, ob ich bei meiner Familie bleibe oder ob ich sie fr immerverlasse.

    Nein, sage ich, der Test darf unsere Entscheidung schlielich nichtbeeinflussen.

    Das stimmt, erwidert meine Mutter lchelnd. Und jetzt lass unsfrhstcken.

    Danke, dass du mir die Haare geschnitten hast.Sie ksst mich auf die Wange und zieht die Schiebetr vor den Spiegel.

    Wenn sie in einer anderen Welt lebte, wrde man meine Mutter als hbschbezeichnen. Unter ihrer grauen Kleidung ist sie schlank, ihre Wangenknochensind hoch und ihre Wimpern lang, und wenn sie nachts ihr Haar offen trgt, flltes lockig ber die Schultern. Aber bei den Altruan, der Fraktion derSelbstlosen, die Entsagung geschworen hat, ist sie gezwungen, ihre Schnheitzu verstecken.

    Gemeinsam gehen wir in die Kche. An einem Morgen wie diesem, wennmein Bruder das Frhstck zubereitet, mein Vater mir beim Zeitunglesengeistesabwesend bers Haar streicht und meine Mutter beim Geschirrabrumenleise vor sich hin summt an einem Morgen wie diesem fhle ich mich ganzbesonders schuldig, dass ich vorhabe, sie im Stich zu lassen.

    Im Bus stinkt es nach Abgasen. Ich halte mich an meinem Sitz fest, trotzdemwerde ich jedes Mal, wenn wir ber unebenes Pflaster fahren, von einer Seite aufdie andere geschleudert.

    Caleb, mein lterer Bruder, steht im Gang und klammert sich an dieHaltestange an der Decke. Wir sehen uns berhaupt nicht hnlich. Er hat dasdunkle Haar und die Hakennase meines Vaters geerbt und die grnen Augen und

  • Wangengrbchen meiner Mutter. Frher sah er damit etwas seltsam aus, aberjetzt steht es ihm gut. Wenn er kein Altruan wre, wrden ihn smtlicheMdchen der Schule anhimmeln.

    Auch den Hang zur Selbstlosigkeit hat er von meiner Mutter geerbt. SeinenSitzplatz hat er freiwillig einem Candor angeboten. Der Mann trgt einenschwarzen Anzug und eine weie Krawatte wie alle Candor. Die Fraktion derFreimtigen schtzt Ehrlichkeit ber alles. Die Wahrheit ist fr sie schwarzwei,deshalb kleiden sie sich auch so.

    Die Huser rcken nher aneinander und die Straen sind nicht mehr ganz soholprig, je mehr wir uns dem Stadtzentrum nhern. Das Gebude, das frherSears Tower hie und das wir jetzt einfach Zentrale nennen, ragt als schwarzerPfeiler am Horizont aus dem Dunst empor. Die Busse fahren unter den hhergelegenen Bahngleisen hindurch. Ich bin noch nie Zug gefahren, obwohl siestndig in Betrieb sind und berall Gleise verlaufen. Einzig die Ferox fahrenZug.

    Vor fnf Jahren haben freiwillige Bauarbeiter der Altruan einige Straen neugeteert. Sie fingen in der Stadtmitte an und arbeiteten sich in die Auenbezirkevor, bis ihnen schlielich das Material ausging. Dort, wo ich wohne, sind dieWege immer noch rissig und geflickt und es ist gefhrlich, sie zu benutzen. Aberwir haben ja ohnehin kein Auto.

    Der Bus rattert und ruckelt die Strae entlang, doch die Miene meinesBruders bleibt sanft und gelassen. Der rmel seiner grauen Jacke rutscht zurck,als Caleb nach einer Stange greift, um sich festzuhalten. Unaufhrlich lsst erseinen Blick umherschweifen; er beobachtet die Menschen um uns herum,konzentriert sich ganz auf sie, um sich nicht nur mit sich selbst zu beschftigen.Einem Candor geht Aufrichtigkeit ber alles, fr einen Altruan stehtSelbstlosigkeit an erster Stelle.

    Der Bus hlt vor der Schule. Ich springe auf und zwnge mich an demCandor-Mann vorbei. Dabei stolpere ich ber seine Fe und kann mich geradenoch an Caleb festhalten. Meine weit geschnittene Hose ist viel zu lang, und

  • besonders grazis war ich noch nie.Alle Schler der Stadt sind getrennt nach Unterstufe, Mittelstufe und

    Oberstufe untergebracht. Unser Oberstufengebude ist das lteste der dreiSchulhuser. Wie alle anderen Gebude besteht es ganz aus Glas und Stahl. Vordem Eingang steht eine hohe Metallskulptur, auf der die Ferox nachSchulschluss herumklettern, wobei sie sich gegenseitig anstacheln, noch einStck hher zu steigen. Im letzten Jahr war ich dabei, wie ein Mdchenabgestrzt ist und sich das Bein gebrochen hat. Ich war diejenige, die sofortlosgelaufen ist, um eine Sanitterin zu holen.

    Heute ist also der Eignungstest, sage ich laut. Caleb ist nur ein knappesJahr lter als ich, deshalb sind wir im selben Jahrgang.

    Er nickt, whrend wir durch die Eingangstr gehen. Sofort sind meineMuskeln bis zum Zerreien gespannt. Alle Sechzehnjhrigen wirken heuteirgendwie gierig, so als wollten sie diesen Tag in sich aufsaugen.Wahrscheinlich werden wir nach der Zeremonie der Bestimmung nie wiederdurch diese Gnge laufen, denn sobald wir uns fr eine Fraktion entschiedenhaben, bernimmt diese Fraktion unsere weitere Ausbildung.

    Die Schulstunden dauern heute nur halb so lange wie sonst, sodass wir einletztes Mal alle Fcher haben, bevor nach dem Mittagessen die Tests stattfinden.Bei dem Gedanken daran beschleunigt sich mein Puls.

    Du machst dir doch keine Sorgen ber dein Ergebnis, oder?, frage ichCaleb.

    An der Weggabelung bleiben wir stehen. Caleb wird in die eine Richtunggehen, zum Mathekurs, und ich in die andere, zur Geschichte der Fraktionen.

    Er zieht eine Augenbraue hoch. Du etwa?Ich knnte ihm jetzt antworten, dass ich mich schon seit Wochen nervs

    frage, zu welcher Fraktion ich am besten passen werde zu den Altruan, denCandor, den Ken, den Amite oder den Ferox? Stattdessen lchle ich und sage:Nein, eigentlich nicht.

    Auch Caleb lchelt. Okay dann machs mal gut.

  • Nervs auf meiner Unterlippe kauend, trotte ich weiter. Meine Frage hatCaleb nicht beantwortet.

    Die Flure sind voller Menschen, aber das Licht, das durch die Fenster fllt,erzeugt den Eindruck von Weite und Raum. Es ist einer der wenigen Orte, andenen Gleichaltrige der verschiedenen Fraktionen aufeinandertreffen. Heute ist dieAtmosphre besonders energiegeladen, eine Art Jahresschluss-Hysterie liegt inder Luft.

    Ein Mdchen mit langen Lockenhaaren, das an mir vorbeigeht, ruft laut:Hey!, und winkt einem Freund zu, der in einiger Entfernung steht.Irgendjemandes Jackenrmel streift meine Wange. Dann schubst mich ein Junge,er trgt den blauen Pullover der Ken. Ich verliere das Gleichgewicht und falle derLnge nach hin.

    Aus dem Weg, Stiff , schnauzt er mich an und luft weiter.Mit rotem Gesicht stehe ich auf und klopfe mir den Staub von den Kleidern.

    Einige Schler sind stehen geblieben, aber geholfen hat mir keiner. Sie glotzenmir bis zum Ende des Gangs nach. Seit Monaten passiert das den Mitgliedernmeiner Fraktion. Genauer gesagt, seit die Ken fiese Gerchte ber die Altruanverbreiten. Gerchte, die sich auf unseren Umgang miteinander in der Schuleauswirken. Meine graue Kleidung, der schlichte Haarschnitt, ein bescheidenesAuftreten das alles soll es mir erleichtern, nicht an mich selbst zu denken.Und auch die anderen sollen nicht an mich denken. Aber genau dadurch werdeich zur Zielscheibe fr sie.

    Ich bleibe am Fenster des E-Korridors stehen und warte darauf, dass die Feroxauftauchen. Jeden Morgen mache ich das so. Exakt um 7:25 Uhr beweisen dieMitglieder dieser Fraktion ihren Mut, indem sie aus dem fahrenden Zugspringen. Mein Vater nennt die Ferox wilde Teufel. Sie haben Piercings,Tattoos und tragen Schwarz. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, den Zaun zubewachen, der unsere Stadt umgibt. Wozu dieser Zaun dient, ist mir allerdingsnicht wirklich klar.

    Eigentlich msste ich mich ber die Ferox wundern. Eigentlich msste ich

  • mich fragen, was um alles in der Welt Metallringe in der Nase mit Mut derTugend, die sie ber alles schtzen zu tun haben. Stattdessen gaffe ich sie an,sobald ich auch nur einen von ihnen sehe.

    Das pfeifende Gerusch des Zugs schwingt in mir weiter. Der Scheinwerfer ander Lok blinkt, whrend der Zug kreischend an uns vorbeirattert. Aus denletzten Waggons springt eine Horde dunkel gekleideter Jugendlicher, einigelassen sich zu Boden fallen und rollen sich ab, andere laufen stolpernd ein paarSchritte, bis sie ihr Gleichgewicht wiederfinden. Einer der Jungs legt den Armum ein Mdchen und lacht.

    Es ist kindisch, ihnen dabei zuzusehen. Entschlossen kehre ich dem Fensterden Rcken zu und drngle mich durch die wartenden Schler in denKlassenraum, wo die Geschichte der Fraktionen auf mich wartet.

  • 2. Kapitel

    Nach dem Mittagessen beginnen die Tests. Wir sitzen an langen Tischen in derCafeteria, und die Prfer rufen nacheinander zehn Namen auf, einen Namen frjedes Prfungszimmer. Ich sitze neben Caleb, mir gegenber ist Susan, unsereNachbarin.

    Susans Vater hat ein Auto, weil er quer durch die Stadt fahren muss, um zuseiner Arbeitsstelle zu gelangen. Er bringt seine Kinder, Susan und Robert,jeden Tag zur Schule und hat auch uns angeboten, uns mitzunehmen. Calebjedoch meinte, dass wir lieber etwas spter aus dem Haus gingen und ihm keineUnannehmlichkeiten bereiten wollten.

    Natrlich nicht.Die meisten Prfer sind Freiwillige der Altruan, aber in einem

    Prfungszimmer sitzt ein Ken und in einem anderen ein Ferox, um dieKandidaten unserer Fraktion zu testen. Die Regeln verbieten es, vonseinesgleichen geprft zu werden. Die Regeln verbieten es auch, sich auf denTest vorzubereiten, weshalb ich nicht genau wei, was mich erwartet.

    Mein Blick wandert von Susan zu den Tischen, an denen die Ferox sitzen.Sie lachen, unterhalten sich laut und spielen Karten. An einer anderenTischgruppe sitzen die Ken und sprechen ber Bcher und Zeitungen, wieimmer unersttlich in ihrem Wissensdurst. Gelb und rot gekleidete Amite-Mdchen sitzen auf dem Fuboden der Cafeteria, spielen ein Klatschspiel undsagen dazu Reime auf. Immer wieder brechen sie in frhliches Gelchter aus,

  • wenn eine von ihnen ausscheidet und sich in die Mitte des Kreises setzen muss.Am Tisch neben ihnen gestikulieren einige Candor. Sie scheinen lebhaft beretwas zu streiten, aber es ist wohl nichts Ernstes, denn sie lcheln dabei.

    Nur wir Altruan sitzen da und warten still. Das Bestreben unserer Fraktion istes, Miggang und Eigensucht auszumerzen. Ich bezweifle, dass alle Kenstndig nur lernen oder dass alle Candor andauernd diskutieren wollen, aber sieknnen sich ebenso wenig wie ich ber die Grundstze ihrer Fraktionenhinwegsetzen.

    Als die nchste Gruppe aufgerufen wird, ist auch Caleb dabei. Er geht zumAusgang. Ich muss ihm weder Glck wnschen, noch muss ich ihm versichern,dass er nicht aufgeregt sein soll. Er wei genau, wohin er gehrt. Ich schtze, erwusste das schon immer.

    In einer meiner frhesten Kindheitserinnerungen ist Caleb gerade mal vierJahre alt. Damals schimpfte er mit mir, weil ich auf dem Spielplatz meinHpfseil nicht einem kleinen Mdchen geben wollte, das nichts zum Spielenhatte. Inzwischen belehrt er mich nicht mehr so oft, aber seinen missbilligendenBlick von damals habe ich bis heute nicht vergessen.

    Ich habe ihm schon oft zu erklren versucht, dass ich anders bin als er eswre mir zum Beispiel nicht im Traum eingefallen, meinen Platz im Bus einemCandor anzubieten , aber er kapiert es nicht. Tu einfach, was man von direrwartet, sagt er immer. So einfach ist das fr ihn. Wenn es das fr mich auchnur wre.

    Mein Magen rebelliert. Ich kneife die Augen zu und ffne sie nicht mehr, bisCaleb zehn Minuten spter wiederkommt und sich hinsetzt.

    Mein Bruder ist kalkwei im Gesicht. Er reibt die Handflchen an denBeinen, wie ich es immer tue, wenn ich mir den Schwei abwische, und als erdamit aufhrt, bemerke ich, dass seine Finger zittern. Ich mache den Mund auf,will etwas fragen, bringe aber kein Wort heraus. Ich darf ihn nicht nach demErgebnis fragen und er darf es mir nicht sagen.

    Die nchsten Namen werden aufgerufen. Zwei Ferox, zwei Ken, zwei Amite

  • und dann: Von den Altruan: Susan Black und Beatrice Prior.Ich stehe auf, weil ich aufstehen muss, aber wenn es nach mir ginge, wrde

    ich bis in alle Ewigkeit sitzen bleiben. Ich fhle mich, als htte ich einen Ballonin der Brust, der immer grer wird und mich von innen her zerreit. Ich folgeSusan zum Ausgang. Die Leute, an denen wir vorbeigehen, knnen unswahrscheinlich nicht auseinanderhalten. Wir sind gleich gekleidet, wir tragenunsere blonden Haare auf die gleiche Weise. Der einzige Unterschied zwischenuns beiden ist vermutlich der, dass Susan wohl nicht kotzbel ist, und soweitich sehe, zittern auch ihre Hnde nicht so sehr, dass sie sich am Saum ihresOberteils festhalten muss, damit das nicht auffllt.

    Hinter der Cafeteria reihen sich zehn Rume aneinander. Ich war noch inkeinem von ihnen, sie werden nur fr die Eignungstests genutzt. Anders als diemeisten Schulrume sind die Trennwnde zwischen ihnen nicht aus Glas,sondern sie werden durch Spiegel abgetrennt. Ich sehe mich darin blass undngstlich auf eine der Tren zugehen. Susan lchelt nervs und betritt Raumfnf. Ich gehe in die Nummer sechs, wo bereits eine Ferox auf mich wartet.

    Sie blickt nicht ganz so streng wie die jungen Mdchen ihrer Fraktion, dieich bisher kennengelernt habe. Sie hat schrg stehende, dunkle Augen und trgteinen schwarzen Mnnerblazer und Jeans. Als sie sich umdreht und die Trschliet, fllt mir das Tattoo auf ihrem Nacken auf. Es ist ein schwarz-weierFalke mit rotem Auge. Wenn mein Herz nicht gerade im Hals feststeckte, wrdeich sie fragen, was der Vogel zu bedeuten hat. Irgendeine Bedeutung muss er jahaben.

    berall an den Wnden sind Spiegel. Ich kann mich von allen Seitenbetrachten meinen Rcken, meine graue Kleidung, meinen langen Hals, meineHnde mit den vorstehenden Kncheln, die immer rot hervortreten, wenn ichaufgeregt bin. Von der Zimmerdecke strahlt helles Licht und in der Mitte desRaums steht ein Liegesessel wie bei einem Zahnarzt, daneben befindet sich einApparat. Es sieht aus wie ein Ort, an dem sich schreckliche Dinge ereignenknnen.

  • Keine Sorge, sagt die Frau, es tut nicht weh.Ihr Haar ist schwarz und glatt gekmmt, aber das grelle Licht offenbart auch

    ein paar graue Strhnen.Setz dich und mach es dir bequem, sagt sie. Ich heie Tori.Unbeholfen setze ich mich auf den Stuhl und lehne mich zurck, mein Kopf

    sinkt in die Kopfsttze. Das Licht blendet mich. Tori macht sich an demApparat rechts neben mir zu schaffen. Ich versuche, mich auf sie zu konzentrierenund die Drhte und Kabel zu ignorieren.

    Was hat der Falke zu bedeuten?, platzt es aus mir heraus, als sie eineElektrode an meine Stirn klebt.

    Ist Neugier bei den Altruan nicht verboten?, erwidert sie mithochgezogenen Augenbrauen.

    Bei ihren Worten luft es mir kalt den Rcken hinunter. Meine Neugier istein Laster, ein Verrat an den Werten unserer Fraktion.

    Leise vor sich hin summend, drckt sie mir eine zweite Elektrode auf dieStirn. In manchen Gegenden der alten Welt war der Falke das Symbol derSonne, erklrt sie. Als ich mir das Tattoo machen lie, glaubte ich, wenn ichimmer die Sonne bei mir trge, wrde ich mich nie vor der Dunkelheitfrchten.

    Ich will ihr nicht noch eine Frage stellen, aber dann tue ich es doch. Hastdu Angst vor der Dunkelheit?

    Ich hatte Angst vor der Dunkelheit , verbessert sie mich. Dann klebt sieeine Elektrode an die eigene Stirn und verbindet sie mit einem Kabel.Achselzuckend sagte sie: Mittlerweile erinnert mich der Falke daran, dass ichmeine Angst davor berwunden habe.

    Sie stellt sich hinter mich. Ich klammere mich so fest an die Armlehnen, dassmeine Knchel wei anlaufen. Sie nimmt mehrere Kabel, befestigt sie zuerst anmir, dann an sich selbst und an dem Apparat. Sie reicht mir ein Flschchen miteiner klaren Flssigkeit.

    Trink, fordert sie mich auf.

  • Was ist das? Ich schlucke schwer, meine Kehle ist wie zugeschnrt. Undwas passiert dann?

    Das darf ich dir nicht sagen. Vertrau mir einfach.Ich atme tief aus, dann kippe ich den Inhalt des Flschchens in meinen

    Mund. Sofort fallen mir die Augen zu.

    Als ich die Augen wieder aufschlage, ist nur ein Moment vergangen, aber ichbin an einem anderen Ort. Ich stehe wieder in der Schulcafeteria. Ich bin allein,die vielen langen Tische sind leer. Durch die Glaswnde sehe ich, dass esschneit. Vor mir auf dem Tisch stehen zwei Krbe. In dem einen liegt ein StckKse, in dem anderen ein Messer, so lang wie mein Unterarm.

    Eine Frauenstimme hinter mir fordert mich auf: Whle.Warum?, frage ich.Whle, wiederholt sie.Ich blicke ber meine Schulter, aber da ist niemand. Ich drehe mich wieder

    um. Wozu ist das gut?Whle!, schreit sie.Als sie mich anbrllt, verschwindet schlagartig die Angst, stattdessen

    gewinnt meine Sturheit die Oberhand. Strrisch verschrnke ich die Arme vorder Brust.

    Wie du willst , sagt die Stimme.Pltzlich sind die Krbe verschwunden. Ich hre eine Tr in den Angeln

    quietschen und drehe mich zur Seite, um zu sehen, wer gekommen ist. Es istkein Wer, sondern ein Was. Ein paar Schritte von mir entfernt steht ein Hundmit einer spitzen Schnauze. Geduckt kommt er auf mich zu und fletscht dieweien Zhne. Er stt ein tiefes, bedrohliches Knurren aus, und da wird mirklar, wozu der Kse gut gewesen wre. Oder das Messer. Aber jetzt ist es zuspt.

    Ich berlege, ob ich weglaufen soll. Zwecklos, der Hund ist garantiertschneller als ich. Das Tier niederzuringen, brauche ich erst gar nicht zuversuchen. Mein Kopf drhnt. Ich muss eine Entscheidung treffen. Wenn ich

  • ber einen Tisch springe und ihn dann wie einen Schild vor mich halte Nein, ich bin zu klein, um ber die Tische zu springen, und ich bin auch nichtstark genug, um einen davon umzuwerfen.

    Der Hund knurrt, und ich spre, wie mein Kopf davon vibriert.In meinem Biologiebuch steht, dass Hunde Angst riechen knnen, weil die

    menschlichen Drsen unter Stress den gleichen Stoff absondern wie Beutetiere.Und wenn Hunde Angst riechen, greifen sie an.

    Der Hund kommt langsam nher, seine Krallen scharren auf dem Fuboden.Ich kann weder weglaufen noch kmpfen. Ich rieche den stinkenden Atem des

    Hundes und versuche, nicht daran zu denken, was er wohl gerade gefressenhaben mag. In seinen Augen ist nichts Weies, nur ein schwarzes Funkeln.

    Was wei ich sonst noch ber Hunde? Man sollte ihnen nicht in die Augenschauen, das verstehen sie als Akt der Feindseligkeit. Als Kind habe ich meinenVater angebettelt, mir einen Hund zu schenken, aber jetzt, wo ich auf die Pfotenstarre, wei ich nicht mehr, warum. Der Hund kommt knurrend nher. Wenn esein feindseliges Verhalten ist, ihm in die Augen zu schauen, was ist dann einZeichen der Unterwerfung?

    Mein Atem geht keuchend, aber gleichmig. Es graut mir davor, mich vordem Hund auf den Boden zu legen dann ist mein Gesicht auf gleicher Hhemit seinen fletschenden Zhnen , aber es ist das einzig Vernnftige. Alsostrecke ich mich lang aus und sttze mich auf die Ellenbogen. Der Hund kommtnher, ich spre seinen warmen Atem in meinem Gesicht. Meine Arme fangenan zu zittern.

    Er bellt in mein Ohr, und ich beie die Zhne zusammen, damit ich nichtlosschreie.

    Etwas Raues, Nasses berhrt meine Wange. Der Hund hat zu knurrenaufgehrt, und als ich den Kopf hebe und ihn anblicke, hechelt er. Er hat mirbers Gesicht geleckt! Verblfft richte ich mich auf und kauere mich auf dieFersen. Der Hund stellt seine Vorderpfoten auf meine Knie und schlabbert anmeinem Kinn. Zuerst zucke ich zurck, doch dann wische ich die Spucke ab

  • und lache. So eine gefhrliche Bestie bist du ja gar nicht, was?Langsam stehe ich wieder auf, um den Hund nicht zu erschrecken, aber das

    Tier scheint wie verwandelt. Ich strecke die Hand nach ihm aus, vorsichtig,damit ich sie notfalls schnell wieder zurckziehen kann. Der Hund stupst sie mitder Schnauze an. Ich bin froh, dass ich das Messer nicht genommen habe.

    Ich muss blinzeln, und als ich die Augen wieder ffne, steht ein weigekleidetes kleines Mdchen vor mir. Es breitet die Arme aus und ruft:Hndchen!

    Das Kind luft auf den Hund zu. Ich will die Kleine warnen, aber es ist schonzu spt. Der Hund macht einen Satz und dreht sich um. Er knurrt nicht mehr,sondern bellt und fletscht die Zhne und schnappt. Seine Muskeln sind bis zumuersten gespannt, gleich wird er losspringen. Ohne lange nachzudenken, werfeich mich auf den Hund und klammere mich an seinen Hals

    Ich schlage mit dem Kopf auf dem Boden auf. Der Hund ist verschwunden,ebenso das kleine Mdchen. Ich bin allein in einem vllig leerenPrfungszimmer. Langsam stehe ich auf und drehe mich im Kreis. In keinem derSpiegel kann ich mich sehen. Ich stoe die Tr auf und gehe auf den Flur, aberder Flur ist nicht mehr der Flur es ist jetzt ein Autobus, und alle Pltze sindbesetzt.

    Ich stehe im Mittelgang und halte mich an einer Stange fest. Neben mir sitztein Mann mit einer Zeitung. Sein Gesicht hinter der Zeitung kann ich nichtsehen, wohl aber seine Hnde. Sie sind vernarbt, es scheinen Brandwunden zusein, und er umklammert das Papier, als wrde er es am liebsten zerknllen.

    Kennst du diesen Kerl?, fragt er mich pltzlich. Er tippt auf das Bild aufdem Titelblatt. Die Schlagzeile lautet: Brutaler Mrder endlich gefasst!

    Ich starre auf das Wort Mrder. Es ist schon sehr lange her, seit ich diesesWort irgendwo gelesen habe, und allein vom Hinschauen gruselt es mich.

    Das Bild unter der berschrift zeigt einen jungen Mann mit Bart undunaufflligen Gesichtszgen. Mir kommt es vor, als wrde ich ihn kennen, ichwei nur nicht, woher. Aber irgendwie bin ich mir sicher, dass es keine gute

  • Idee wre, dies dem Mann mitzuteilen.Also?, blafft er mich an. Kennst du ihn?Keine gute Idee nein, ganz und gar keine gute Idee. Mein Herz schlgt bis

    zum Hals. Ich klammere mich an der Stange fest, damit meine zitternden Hndemich nicht verraten. Wenn ich dem Fremden sage, dass ich den Mann aus derZeitung kenne, wird mir etwas Entsetzliches zustoen, das wei ich. Ich mussihn davon berzeugen, dass ich den Kerl nicht kenne. Ich knnte mich ruspernund mit den Schultern zucken aber das wre so gut wie gelogen.

    Ich ruspere mich.Kennst du ihn?, wiederholt der Fremde.Ich zucke mit den Schultern und gebe keine Antwort.Ja oder nein?Ich kriege eine Gnsehaut, dabei ist meine Angst vllig unbegrndet. Das

    hier ist nur ein Test, keine Wirklichkeit. Keine Ahnung, sage ich mglichstwegwerfend. Woher soll ich wissen, wer das ist?

    Der Fremde steht auf und endlich sehe ich auch sein Gesicht. Er trgt einedunkle Sonnenbrille, sein Mund ist verzerrt und seine Wangen sind genausoschlimm vernarbt wie seine Hnde. Er beugt sich zu mir. Sein Atem riecht nachZigarettenrauch. Es ist nur ein Test, rufe ich mir ins Gedchtnis. Nur ein Test.

    Du lgst, sagt er. Du lgst!Tue ich nicht.Deine Augen verraten dich.Ich straffe meinen Krper. Tun sie nicht.Wenn du ihn kennst, sagt er leise, dann knntest du mich retten. Du

    knntest mich retten!Ich kneife die Augen zusammen. Tja, sage ich entschlossen. Ich kenne

    ihn aber nicht.

  • 3. Kapitel

    Ich wache auf. Meine Hnde sind feucht und ich habe ein schlechtes Gewissen.Ich liege auf dem Stuhl in dem Zimmer mit den Spiegeln. Als ich mich zurSeite drehe, sehe ich Tori hinter mir. Mit zusammengepressten Lippen entferntsie die Elektroden von meinem Kopf. Ich warte darauf, dass sie etwas ber denTest sagt dass er jetzt vorbei ist, dass ich mich gut geschlagen habe, wiesollte man das auch nicht, es war ja alles nur Einbildung , aber sie sagt keinWort, sondern nimmt stumm die Kabel weg.

    Nervs setze ich mich auf und wische die Hnde an meiner Hose ab. Ich mussetwas falsch gemacht haben. Hat Tori deshalb diesen seltsamen Blick weil sienicht wei, wie sie mir beibringen soll, dass ich eine Niete bin? Ich wnschte,sie wrde irgendetwas sagen.

    Das war wirklich erstaunlich, sagt sie schlielich. Entschuldige micheinen Moment, ich bin gleich wieder da.

    Erstaunlich?Ich ziehe die Knie hoch und presse mein Gesicht dagegen. Am liebsten wrde

    ich weinen, Trnen wren jetzt eine echte Erleichterung, aber ich kann nicht.Wie kann man in einer Prfung versagen, auf die man sich nicht einmalvorbereiten darf?

    Je mehr Zeit verstreicht, desto unruhiger werde ich. Alle paar Augenblickemuss ich mir die schweinassen Hnde abwischen aber vielleicht tue ich dasauch nur, um mich zu beruhigen. Und wenn sie mir nun sagt, dass ich fr keine

  • der Fraktionen infrage komme? Dann muss ich auf der Strae leben, bei denFraktionslosen. Das schaffe ich nicht. Fraktionslos zu sein bedeutet nicht nur,ein Leben in Armut und Elend zu fhren, es bedeutet auch ein Leben abseits derGesellschaft, ohne das Wichtigste im Leben: die Gemeinschaft mit anderen.

    Meine Mutter hat es mir genau erklrt. Wir knnen nicht alleine berleben,und selbst wenn wir es knnten, wir wrden es nicht wollen. Ohne eineFraktion hat unser Leben keinen Sinn und Zweck.

    Energisch schttle ich den Kopf. An so etwas darf ich nicht denken! Jetztblo nicht die Nerven verlieren.

    Endlich ffnet sich die Tr und Tori kommt zurck. Nervs umklammere ichdie Stuhllehne.

    Es tut mir leid, falls dich das, was ich dir jetzt sage, erschreckt, fngt siean und stellt sich neben mich, die Hnde in die Taschen vergraben. Sie ist blassund wirkt angespannt.

    Beatrice, deine Ergebnisse waren nicht eindeutig, verkndet sie.Normalerweise kann man bei jeder Testphase eine oder mehrere Fraktionenausschlieen, aber bei dir war das lediglich bei zweien der Fall.

    Nur zwei?, frage ich verdattert. Meine Kehle ist so eng, dass ich kaumsprechen kann.

    Wenn du einen spontanen Widerwillen gegen das Messer gezeigt undstattdessen den Kse gewhlt httest, dann htte dich die Simulation in einanderes Szenario gefhrt, das deine Eignung fr Amite unter Beweis gestellthtte. Aber das ist nicht geschehen, weswegen diese Fraktion fr dich nichtinfrage kommt. Sie hlt inne und reibt sich nachdenklich den Nacken. Frgewhnlich verluft die Simulation eindeutig, am Schluss bleibt eine Fraktionbrig, alle anderen scheiden nacheinander aus. Aber dein Verhalten lie es nichtzu, auch nur eine der brigen Fraktionen auszuschlieen. Deshalb musste ich dieSimulation verndern und dich in den Bus setzen. Erst da hat deine hartnckigeUnehrlichkeit Candor ausgeschlossen. Sie zieht eine Grimasse. Keine Sorge,in dieser Situation sagt wirklich nur ein Candor die Wahrheit.

  • Ein Zentnerstein fllt mir vom Herzen. Vielleicht bin ich doch keine Niete.Genau genommen stimmt das nicht ganz, korrigiert sie sich. Kandidaten,

    die in dieser Situation die Wahrheit sagen, gehren zu Candor oder Altruan.Und genau das ist das Problem.

    Ich starre sie mit offenem Mund an und versuche zu verstehen, was sie sagt.Einerseits hast du dich lieber auf den Hund geworfen, als mit anzusehen,

    wie er das kleine Mdchen attackiert, was typisch ist fr eine Altruan.Andererseits hast du dich standhaft geweigert, dem Mann im Bus die Wahrheitzu sagen, selbst als er dir erklrt hat, dass die Wahrheit ihn retten knnte. Dasist berhaupt kein selbstloses Verhalten. Sie seufzt. Dass du nicht vor demHund davongelaufen bist, deutet auf Ferox hin, aber auch das Messer ist einZeichen der Ferox, und das wolltest du partout nicht nehmen.

    Sie ruspert sich, dann fhrt sie fort. Dein kluges Verhalten dem Hundgegenber zeigt eine Neigung zu Ken. Ich wei nicht, wie ich deine Weigerung,dich zu entscheiden, im ersten Prfungsabschnitt bewerten soll, aber

    Moment mal, falle ich ihr ins Wort. Heit das, es ist unklar, fr welcheFraktion ich mich eigne?

    Ja und nein, antwortet Tori. Ich schliee daraus, dass du gleichermaenfr Altruan, Ferox und Ken infrage kommst. Leute mit einem solchen Ergebnisnennt man , sie spht ber die Schulter, als frchte sie, jemand knnte unsbelauschen, man nennt sie Unbestimmte. Tori spricht das letzte Wort soleise aus, dass ich es fast nicht hre, und da ist auch wieder dieser angespannte,besorgte Gesichtsausdruck. Sie geht um den Stuhl herum und beugt sich ganzdicht zu mir.

    Beatrice, wispert sie, du darfst unter keinen Umstnden mit jemandemdarber sprechen. Das ist sehr wichtig, hrst du?

    Ich nicke. Ja, ich wei. Wir drfen unsere Testergebnisse nichtausplaudern.

    Nein. Tori hat sich vor den Stuhl gekniet und die Arme auf die Lehnengelegt. Unsere Gesichter berhren sich fast. Du verstehst mich nicht. Ich meine

  • nicht, dass du sie vorerst fr dich behalten sollst. Du darfst niemals mitjemandem darber sprechen, niemals, egal, was passiert. Eine Unbestimmte zusein, ist uerst gefhrlich. Verstehst du?

    Ich verstehe nichts was bitte ist an Testergebnissen gefhrlich, die nichtganz eindeutig sind? , aber ich nicke trotzdem. Ich hatte ohnehin nicht vor,mit jemandem darber zu sprechen.

    Okay. Ich lasse die Armlehnen los und stehe auf. Meine Beine fhlen sichso wacklig an, dass ich umgeknickt wre, wenn Tori mich nicht gesttzt htte.

    Ich werde deine Testergebnisse manuell in das System eingeben und dichoffiziell als Altruan deklarieren. Ich schlage vor, du gehst jetzt nach Hause,sagt Tori. Du musst jetzt viel nachdenken, und da tut es dir sicher nicht gut,noch lnger zusammen mit den anderen zu warten.

    Ich muss meinem Bruder Bescheid sagen.Keine Sorge, das bernehme ich.Ratlos reibe ich mir die Stirn. Beim Hinausgehen starre ich stur vor mich

    hin. Ich ertrage es nicht, Tori in die Augen zu sehen. Ich ertrage es nicht, an dieZeremonie der Bestimmung zu denken, die schon morgen stattfinden wird.

    Jetzt muss ich ganz allein entscheiden, ganz unabhngig von dem, was derTest besagt.

    Altruan. Ferox. Ken.Eine Unbestimmte.

    Ich beschliee, nicht mit dem Bus zu fahren. Wenn ich frher als sonst nachHause komme, merkt es mein Vater, wenn er am Abend das Hausprotokoll liest,und dann wird er eine Erklrung von mir verlangen. Also gehe ich lieber zuFu. Ich muss Caleb abpassen, ehe er unseren Eltern etwas erzhlt. Zum Glckist Caleb verschwiegen.

    Ich laufe mitten auf der Strae, denn manchmal fahren die Busse haarscharfber die Bordsteinkante, deshalb ist es so sicherer. In der Nhe unseres Hausessind noch an einigen Stellen Farbreste zu sehen, wo frher die gelbenMittelstreifen waren. Mittlerweile sind sie berflssig, weil es nur noch so

  • wenige Autos gibt. Wir brauchen auch keine Ampeln, aber manche baumelnimmer noch windschief ber der Strae und sehen aus, als wollten sie jedenMoment runterfallen.

    Der Wiederaufbau geht langsam voran, die Stadt besteht aus einemFlickenteppich von neuen, gepflegten Husern und alten, verrottendenGebuden. Die meisten der neueren Huser stehen entlang des Sumpflands, dasvor langer Zeit einmal ein See war. Die Stadterneuerungsbehrde der Altruan,bei der meine Mutter arbeitet, ist fr den Groteil der Aufbauarbeitenverantwortlich.

    Wenn ich von auen das Leben der Altruan betrachte, finde ich eswunderschn. Wenn ich sehe, welche Harmonie in meiner Familie herrscht.Wenn ich sehe, wie alle, die woanders zum Essen eingeladen sind, ungefragtbeim Geschirrsplen helfen. Wenn ich sehe, wie Caleb Fremden hilft, ihreEinkufe zu tragen. Ich knnte mich immer wieder neu in dieses Lebenverlieben. Doch wenn ich mich selbst so verhalten soll, gelingt es mir nicht. Ichfhle mich nie so, als kme mein Verhalten von ganzem Herzen.

    Aber wenn ich eine andere Fraktion whle, dann muss ich meine Familieverlassen. Und zwar fr immer.

    Das Stadtviertel der Altruan grenzt an das Gebiet mit Bauruinen undverfallenen Gehsteigen, durch das ich nun laufe. An manchen Stellen ist dieStrae eingesunken, darunter kommen die Abwasserkanle und die verlassenenU-Bahn-Schchte zum Vorschein. Diese Stellen sind gefhrlich. Manchmalstinkt es so entsetzlich nach Abwasser und Unrat, dass ich mir die Nasezuhalten muss.

    Hier wohnen alle, die zu keiner Fraktion gehren. Weil sie die Initiation beider von ihnen gewhlten Fraktion nicht bestanden haben, leben sie in Armutund verrichten die Arbeiten, die niemand sonst verrichten will. Sie sindHausmeister, Bauarbeiter und Mllmnner; sie schuften, fahren Zge, lenkenBusse. Ihre Arbeit wird mit Kleidung und Essen entlohnt. Und trotzdem httensie von beidem zu wenig, behauptet meine Mutter.

  • An einer Ecke steht einer dieser bedauernswerten Fraktionslosen. Seinebraune Kleidung ist schbig und er hat eingefallene Wangen. Er starrt mich anund ich starre zurck. Ich kann nicht wegsehen.

    Entschuldige, spricht er mich an. Seine Stimme ist rau. Hast du etwasEssbares fr mich?

    Ich spre einen Klo im Hals und eine innere Stimme ermahnt mich: Ziehden Kopf ein und geh weiter.

    Nein, denke ich kopfschttelnd. Es ist nicht richtig, sich vor diesem Mann zufrchten. Er braucht Hilfe, und die sollte ich ihm gewhren.

    hm ja, murmle ich und greife in meine Tasche. Mein Vater hatgesagt, ich solle fr Gelegenheiten wie diese immer etwas zu essen bei mirhaben. Ich gebe dem Mann einen kleinen Beutel mit getrocknetenApfelschnitzen.

    Er greift danach, aber statt den Beutel zu nehmen, umklammert er meinHandgelenk. Er lchelt mich an. Zwischen seinen Schneidezhnen klafft eineLcke.

    Na, du hast aber schne Augen, sagt er. Schade, dass du sonst sounscheinbar bist.

    Mein Herz klopft wie verrckt. Ich will meine Hand wegziehen, aber er hltmich nur umso fester. Sein Atem riecht unangenehm faulig.

    Du bist ein bisschen zu jung, um ganz allein durch die Gegend zu streifen,Kleine, sagt er.

    Ich hre auf zu ziehen und stelle mich kerzengerade hin. Ich wei, dass ichjnger wirke, daran braucht er mich nicht zu erinnern. Ich bin lter, als ichaussehe, erklre ich. Ich bin sechzehn.

    Er reit den Mund auf und ein grauer Backenzahn mit einem dunklen Fleckan der Seite wird sichtbar. Ist das ein Lcheln oder schneidet er eine Grimasse?Dann ist heute ein besonderer Tag fr dich, was? Der Tag, bevor du dichentscheidest?

    Lassen Sie mich los, sage ich. In meinen Ohren summt es. Meine Stimme

  • klingt entschlossen und streng ganz anders, als ich es erwartet htte. Fast so,als wre es nicht meine eigene.

    Ich bin bereit. Ich wei, was ich tun werde. Ich stelle mir vor, wie ich ihmmit dem Ellbogen einen Sto versetze. Ich sehe den Beutel mit denApfelschnitzen zu Boden fallen, hre schon meine Schritte, als ich davonrenne.Ich bin bereit zu handeln.

    Doch da lsst er meine Hand los, nimmt die pfel und sagt: Whle klug,kleines Mdchen.

  • 4. Kapitel

    Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich fnf Minuten frher als blich in unsereStrae einbiege. Die Uhr ist der einzige Schmuck, den die Altruan tragen drfen,und das auch nur, weil sie etwas Praktisches ist. Meine hat ein graues Armbandund der Uhrendeckel ist aus Glas. Wenn ich sie im richtigen Winkel halte, seheich ber dem Ziffernblatt mein Spiegelbild.

    Die Huser in unserer Strae sehen alle gleich aus. Sie sind aus grauemZement und haben nur wenige Fenster, sie sind schlicht, praktisch,unaufdringlich. In den Vorgrten wchst Hirse, die schmucklosen Briefkstenbestehen aus Metall. Manchen mag das trist vorkommen, aber auf mich wirktdiese Einfachheit beruhigend.

    Es ist ja nicht so, dass wir etwas Besonderes nicht zu schtzen wssten, wiedie anderen Fraktionen manchmal behaupten. Alles unsere Huser, unsereKleider, die Art, wie wir unsere Haare tragen soll uns helfen, uns selbst zuvergessen und uns vor Eitelkeit, Gier und Neid zu bewahren, alles dreiSpielarten der Selbstsucht. Wenn wir wenig haben und wenig wollen, dann sindwir alle gleich und mssen niemanden beneiden.

    Ich gebe mir redlich Mhe, genau so zu sein.Zu Hause setze ich mich auf die Vordertreppe und warte auf Caleb. Es dauert

    nicht lange. Nach kaum einer Minute sehe ich grau gekleidete Gestalten dieStrae entlangkommen. Ich hre sie lachen. In der Schule versuchen wir, keineAufmerksamkeit zu erregen, aber sobald wir zu Hause sind, fangen wir an zu

  • scherzen und zu necken. Was nicht heit, dass mein Hang zum Sarkasmus gernegesehen wird. Sarkasmus richtet sich immer gegen andere. Vermutlich ist esalso wirklich besser, dass meine Fraktion mich dazu anhlt, meine Zunge imZaum zu halten. Ja, vielleicht muss ich meine Familie gar nicht verlassen.Wenn ich mich richtig anstrenge, selbstlos zu sein, vielleicht werde ich es dannauch.

    Beatrice!, ruft Caleb. Was ist passiert? Ist alles in Ordnung mit dir?Mir gehts gut. Er ist mit Susan und ihrem Bruder Robert gekommen.

    Susan wirft mir einen merkwrdigen Blick zu, als wre ich auf einmal eineandere Person als noch heute Morgen. Achselzuckend sage ich: Mir ist nachdem Test schlecht geworden. Lag sicher an der Flssigkeit, die wir trinkenmussten. Aber jetzt gehts mir schon besser.

    Ich versuche, berzeugend zu lcheln. Bei Susan und Robert scheine ichdamit Erfolg zu haben, denn sie machen nicht lnger den Eindruck, als sorgtensie sich um meinen Geisteszustand. Aber Caleb sieht mich auszusammengekniffenen Augen an, so wie er es immer tut, wenn er jemanden inVerdacht hat, nicht die Wahrheit zu sagen.

    Seid ihr beiden heute mit dem Bus gefahren?, frage ich. Es ist mireigentlich egal, wie Susan und Robert von der Schule nach Hause kommen,aber ich will das Thema wechseln.

    Vater muss heute lnger arbeiten, antwortet Susan. Auerdem mchte er,dass wir vor der morgigen Zeremonie noch einmal in uns gehen.

    Als sie von der Zeremonie spricht, macht mein Herz einen Satz.Du kannst spter gerne vorbeikommen, wenn du magst, sagt Caleb

    hflich.Vielen Dank, sagt Susan und schenkt Caleb ein Lcheln.Robert zieht die Augenbrauen hoch und sieht mich, wie so oft in letzter Zeit,

    vielsagend an. Seit gut einem Jahr flirten Caleb und Susan so zaghaftmiteinander, wie es nur zwei Altruan knnen. Caleb blickt Susangedankenverloren hinterher, als sie weggeht. Ich packe ihn am Arm und rttle

  • ihn aus seiner Versunkenheit. Dann zerre ich ihn ins Haus und schliee die Trhinter uns.

    Caleb sieht mich an. Fragend zieht er seine dunklen, geraden Augenbrauenzusammen. Wenn er die Stirn so in Falten legt, hnelt er eher meiner Mutter alsmeinem Vater. In diesem Moment sehe ich ihn vor mir, wie er das gleicheLeben fhrt wie mein Vater: wie er bei den Altruan bleibt, einen Beruf lebt,Susan heiratet, mit ihr eine Familie grndet. Er wird ein wunderschnes,erflltes Leben fhren.

    Nur ich werde dann vielleicht nicht da sein.Sagst du mir jetzt die Wahrheit?, fragt er leise.Die Wahrheit ist, dass ich nicht darber sprechen darf. Und du darfst mich

    nicht danach fragen.Stndig brichst du irgendwelche Regeln, nur diese eine nicht? Und das bei

    etwas so Bedeutsamem? Caleb runzelt die Stirn und fngt an auf seiner Lippezu kauen. Trotz seines vorwurfsvollen Untertons habe ich das Gefhl, als wolleer mir nicht nur einfach etwas entlocken, als wolle er wirklich meine ehrlicheAntwort hren.

    Und was ist mit dir?, sage ich mit schmalen Augen. Wie ist dein Testausgegangen?

    Wir blicken uns an. Ich hre in der Ferne einen Zug pfeifen, so leise, dassman es auch fr einen Windhauch halten knnte, der durch die Gasse streicht.Aber ich wei genau, was ich da hre. Es klingt, als riefen mich die Ferox zusich.

    Erzhl bitte nicht den Eltern, was passiert ist, okay?, bettle ich.Caleb sieht mich forschend an, dann nickt er.Ich mchte nach oben gehen und mich hinlegen. Der Test, der Fumarsch,

    das Zusammentreffen mit dem fraktionslosen Mann haben mich erschpft. AberCaleb hat an diesem Morgen das Frhstck zubereitet, Mutter hat dasPausenbrot fr uns gemacht und gestern Abend hat Vater das Abendessengerichtet. Deshalb bin ich jetzt an der Reihe. Ich hole tief Luft, gehe in die

  • Kche und fange mit dem Kochen an.Kurze Zeit spter kommt Caleb zu mir. Bei so viel Hilfsbereitschaft muss ich

    die Zhne zusammenbeien. Er hilft bei allem. Seine natrliche Gte, seineangeborene Selbstlosigkeit irritieren mich immer wieder.

    Wortlos machen Caleb und ich uns an die Arbeit. Ich stelle die Erbsen auf dieHerdplatte und er taut vier Hhnchenstcke auf. Meistens essen wirTiefgekhltes oder Konserven, denn die Bauernhfe sind sehr weit weg. MeineMutter hat mir erzhlt, dass die Menschen frher keine genetisch erzeugtenLebensmittel gekauft haben. Sie lehnten es als unnatrlich ab. Heutzutage bleibtuns gar nichts anderes brig.

    Als meine Eltern nach Hause kommen, ist das Essen fertig und der Tischgedeckt. Mein Vater lsst seine Tasche an der Tr fallen und drckt mir einenKuss auf die Stirn. Andere Leute halten ihn fr einen rechthaberischen Menschen um nicht zu sagen herrisch , aber er hat auch eine liebevolle Seite. Ichbemhe mich, nur seine guten Seiten zu sehen, ich bemhe mich wirklich.

    Wie war der Test?, will er von mir wissen. Ich schtte die Erbsen in eineSchssel.

    Gut, antworte ich. Ich bin kein Candor, so viel steht fest. Lgen gehenmir viel zu leicht ber die Lippen.

    Ich habe gehrt, dass es wegen eines Tests Aufregung gab, sagt meineMutter. Wie mein Vater arbeitet auch sie fr die Regierung, sie ist frStadterneuerungsprojekte zustndig, hat aber auch die Freiwilligen fr dieEignungstests angeworben. Die meiste Zeit verbringt sie jedoch damit, dieLeute einzuteilen, die den Fraktionslosen Essen, Unterkunft und Arbeitverschaffen sollen.

    Ach ja?, fragt mein Vater berrascht, denn so etwas kommt uerst seltenvor.

    Ich wei nicht viel darber, aber meine Freundin Erin hat mir erzhlt, dassbei einem der Tests etwas schiefgegangen ist, deshalb musste das Ergebnismndlich bermittelt werden. Meine Mutter legt eine Serviette neben jedes

  • Gedeck. Anscheinend ist dem Kandidaten schlecht geworden und man hat ihnvorzeitig nach Hause geschickt. Achselzuckend fgt meine Mutter hinzu: Ichhoffe, es geht dem Betreffenden wieder gut. Habt ihr beiden davon gehrt?

    Nein, beantwortet Caleb lchelnd Mutters Frage.Mein Bruder eignet sich ebenfalls nicht fr Candor.Wir setzen uns. Bei Tisch reichen wir das Essen immer dem weiter, der

    rechts von uns sitzt, keiner isst, ehe sich nicht alle bedient haben. Mein Vaterreicht meiner Mutter und meinem Bruder die Hand, sie wiederum geben ihmund mir die Hnde, dann dankt mein Vater Gott fr die Speisen, fr die Arbeit,fr unsere Freunde und unsere Familie. Nicht alle Altruan sind religis, abermein Vater mahnt uns, wir sollten diese Unterschiede nicht beachten siewrden uns nur voneinander trennen. Ob und was ich glauben soll, wei ichnicht.

    So, sagt meine Mutter zu meinem Vater. Jetzt erzhl es mir. Sie nimmtdie Hand meines Vaters und massiert mit dem Daumen seine Fingerknchel. Ichstarre auf ihre verschrnkten Finger. Meine Eltern lieben sich, aber sie zeigenihre Zuneigung nur selten vor uns. Sie haben uns gelehrt, dass krperlicherKontakt sehr machtvoll sein kann, deshalb vermeide ich Berhrungen, so gut esgeht.

    Sag mir, was dich beunruhigt, fordert sie ihn auf.Ich starre auf meinen Teller. Das untrgliche Gespr meiner Mutter berrascht

    mich oft, aber diesmal versetzt es mir einen Stich. Ich war so sehr mit mirselbst beschftigt, dass ich die gefurchte Stirn meines Vaters und seineniedergeschlagene Haltung gar nicht bemerkt habe.

    Ich hatte einen harten Tag, seufzt er. Nun ja, eigentlich war es Marcus,der einen harten Tag hatte. Ich habe kein Recht, das von mir zu behaupten.

    Marcus arbeitet mit meinem Vater zusammen; sie gehren beide zu denpolitischen Anfhrern. Die Stadt wird von einem Rat regiert, der aus fnfzigLeuten besteht, es sind ausschlielich Altruan, denn unsere Fraktion gilt alsunbestechlich. Die Ratsvorsteher werden aufgrund ihres unbescholtenen

  • Charakters, ihrer sittlichen Standhaftigkeit und ihrer Fhrungsstrke ausgewhlt.Zu Themen, die sie betreffen, knnen sich in den politischen Versammlungennatrlich auch Mitglieder anderer Fraktionen zu Wort melden, aber die letzteEntscheidung trifft stets der Rat. Beschlsse werden in der Regel einvernehmlichund gleichberechtigt gefllt, aber unter den Ratsfhrern gilt Marcus als besonderseinflussreich.

    So ist es seit dem Groen Frieden, in dessen Folge sich die Fraktionengebildet haben. Meiner Ansicht nach funktioniert dieses System nur deshalb sogut, weil wir Angst vor dem haben, was uns drohen wrde, wenn es diesesSystem nicht gbe nmlich Krieg.

    Geht es um den Bericht, den Jeanine Matthews verfasst hat?, fragt meineMutter. Jeanine Matthews ist in den Versammlungen die einzige Vertreterin derKen, sie wurde wegen ihres besonders hohen Intelligenzquotienten ausgewhlt.Mein Vater beschwert sich oft ber sie.

    Ich schaue auf. Ein Bericht?Caleb wirft mir einen warnenden Blick zu. Wir drfen beim Essen nicht

    sprechen, es sei denn, unsere Eltern stellen uns eine Frage, und das tun sie frgewhnlich nicht. Zuzuhren sei unser Geschenk an die Eltern, sagt mein Vater.Und nach dem Essen, im Familienzimmer, hren sie dann uns zu.

    Ja, erwidert mein Vater. Seine Augen werden schmal. Diese herrische,selbstgerechte Er hlt inne und ruspert sich. Tut mir leid. Aber sie hatdoch tatschlich einen Bericht geschrieben, in dem sie Marcus persnlichangreift.

    Was wirft sie ihm denn vor?, platzt es aus mir heraus.Beatrice, sagt Caleb ruhig.Ich ziehe den Kopf ein und rhre mit der Gabel in meinen Erbsen, bis meine

    Wangen nicht mehr glhen. Ich mag es nicht, wenn man mich rgt. Besondersdann nicht, wenn die Rge von meinem Bruder kommt.

    Zu meiner berraschung beantwortet Vater meine Frage. In dem Berichtsteht, dass seine Gewaltttigkeit und Grausamkeit der Grund dafr gewesen

  • seien, dass sein Sohn zu den Ferox gewechselt ist, statt bei den Altruan zubleiben.

    Nur wenige, die von den Altruan abstammen, verlassen diese Fraktion.Diejenigen, die es dennoch tun, bleiben uns fr immer im Gedchtnis. Vor zweiJahren hat Marcus Sohn Tobias uns verlassen und sich den Feroxangeschlossen. Marcus war niedergeschmettert. Tobias war sein einziges Kind,ja seine einzige Familie, denn seine Frau war bei der Geburt des zweiten Kindesgestorben und der Sugling nur wenige Minuten spter.

    Ich bin diesem Tobias nie begegnet. Er hat nur selten anGemeinschaftsveranstaltungen teilgenommen, und wenn Marcus zu uns zumEssen kam, war er auch nie dabei. Mein Vater hat sich oft darber gewundert,aber jetzt spielt es keine Rolle mehr.

    Marcus? Grausam?, wiederholt meine Mutter kopfschttelnd. Der armeMann. Muss man ihn auch noch stndig an seinen schlimmen Verlusterinnern?

    Du meinst an den Verrat seines Sohnes?, stellt mein Vater in kaltem Tonrichtig. Aber eigentlich ist das keine groe berraschung. Schon seit Monatenbereiten uns die Ken mit ihren Berichten nichts als rger. Und das ist nochlngst nicht alles. Da kommt noch mehr, das kann ich euch versichern.

    Ich sollte jetzt still sein, aber ich kann nicht anders. Warum machen die soetwas?, platze ich heraus.

    Weshalb hrst du nicht einfach deinem Vater zu, Beatrice?, fragt meineMutter sanft. Es klingt wie ein Vorschlag, nicht wie ein Befehl. Ich schaue berden Tisch zu Caleb, der mich missbilligend anblickt.

    Verlegen starre ich auf meine Erbsen. Ich wei nicht, ob ich dieses Leben mitseinen vielen Pflichten und Regeln noch lnger ertragen kann. Ich bin nicht gutgenug dafr.

    Ich werde dir den Grund nennen, sagt mein Vater. Sie tun es, weil wiretwas haben, um das sie uns beneiden. Wenn man wie die Ken Wissen beralles stellt, dann endet es unweigerlich in einer Gier nach Macht, und das fhrt

  • die Menschen in dunkle Abgrnde. Wir sollten dankbar sein, dass wir es besserwissen.

    Ich nicke. Die Ken kommen fr mich nicht infrage, obwohl meineTestergebnisse diese Mglichkeit nicht ausschlieen. Immerhin bin ich dieTochter meines Vaters.

    Nach dem Essen splen meine Eltern das Geschirr. Sie lassen sich dabei nichteinmal von Caleb helfen, denn heute Abend sollen wir uns mit uns selbstbeschftigen. Statt uns im Familienzimmer zu versammeln, sollen wir in Ruheber unsere Testergebnisse nachdenken.

    Meine Eltern knnten mir vielleicht bei meiner Entscheidung helfen, wennich mit ihnen ber mein Ergebnis sprechen drfte. Aber ich darf es ja nicht.Jedes Mal, wenn mein Entschluss, den Mund zu halten, ins Wanken gert, hreich im Geiste Toris geflsterte Warnung.

    Caleb und ich steigen die Treppe hinauf. Bevor jeder in sein eigenesSchlafzimmer geht, legt er mir die Hand auf die Schulter und hlt mich zurck.

    Beatrice, sagt er und sieht mich ernst an. Wir sollten an unsere Familiedenken. Er klingt angespannt. Aber aber wir mssen auch an unsdenken.

    Verwundert sehe ich ihn an. Ich habe noch nie erlebt, dass er an sich gedachthat, habe noch nie gehrt, dass ihm etwas anderes wichtiger wre alsSelbstlosigkeit. Seine Bemerkung verblfft mich dermaen, dass ich nur daserwidere, was man von mir erwartet. Die Testergebnisse sollen uns nicht inunserer Entscheidung beeinflussen.

    Caleb lchelt matt. Tatschlich nicht?Er drckt meine Schulter und geht in sein Zimmer. Durch den Trspalt sehe

    ich sein ungemachtes Bett und einen Stapel Bcher auf seinem Schreibtisch. Ichwnschte, ich knnte ihm sagen, dass wir das Gleiche durchmachen. Ichwnschte, ich knnte mit ihm sprechen, wie ich will, und nicht, wie ich soll.Aber der Gedanke, ihm mein Gefhl der Hilflosigkeit zu offenbaren, ist fastunertrglich, deshalb wende ich mich ab.

  • Als ich meine Zimmertr hinter mir schliee, denke ich pltzlich, dass dieWahl vielleicht gar nicht so schwer ist. Mich fr die Altruan zu entscheiden,verlangt von mir einen Akt der Selbstlosigkeit; umgekehrt erfordert es von mirgroen Mut, mich fr die Ferox zu entscheiden. Morgen werden beideEigenschaften Selbstlosigkeit und Mut gegeneinander antreten, morgen kannnur eine den Sieg davontragen. Und vielleicht bedeutet ja allein meineEntscheidung fr eine dieser beiden Eigenschaften, dass ich wirklich zu derFraktion gehre, deren hauptschliche Tugend sie ist.

  • 5. Kapitel

    Der Bus, mit dem wir zur Zeremonie der Bestimmung fahren, ist voller graugekleideter Menschen. Durch die Wolken dringt eine fahle Sonne wie das Endeeiner angebrannten Zigarette. Ich werde niemals rauchen rauchen ist eitel ,aber als wir aus dem Bus aussteigen, stehen ein paar Candor da und ziehen anihren Zigaretten. Ich muss den Kopf in den Nacken legen, wenn ich die Spitzeder Zentrale sehen will, doch heute ist ein Teil des Gebudes von den Wolkenverborgen. Es ist das hchste Bauwerk der Stadt. Die beiden Lichter auf seinemDach sehe ich sogar vom Fenster meines Schlafzimmers.

    Ich steige hinter meinen Eltern aus dem Bus. Caleb wirkt vllig gelassen.Das wre ich auch, wenn ich wsste, was ich tun soll. Stattdessen habe ich dasbeklemmende Gefhl, dass mir das Herz gleich aus der Brust springt. Ich fasseCalebs Arm, um mich daran festzuhalten, whrend wir die Eingangsstufenhinaufgehen.

    Der Fahrstuhl ist berfllt, weshalb mein Vater freiwillig einer Gruppe vonAmite seinen Platz abgibt und stattdessen die Treppe nimmt. Wir folgen ihmohne Widerspruch und geben den anderen aus unserer Fraktion damit einBeispiel. Bald sind wir von einem Heer grau gekleideter Menschen umringt, diemit uns im Schummerlicht die Zementtreppen hinaufsteigen. Ich passe michdem Tempo der anderen an. Die gleichfrmigen Schritte und die Uniformitt derMenschen um mich herum gaukeln mir vor, ich knnte mich fr diese Fraktionentscheiden, mich der bienengleichen Disziplin der Altruan unterordnen und

  • stets nur an andere denken.Aber dann werden meine Beine schwer, ich ringe nach Luft, und schon wieder

    kreisen meine Gedanken nur um mich selbst. Wir mssen zwanzig Stockwerkehinauf, um zur Zeremonie der Bestimmung zu gelangen.

    Im zwanzigsten Stockwerk angekommen, bleibt mein Vater wie ein Wchterstehen und hlt die Tr auf, whrend die Altruan in einer langen Reihe an ihmvorbeigehen. Ich will auf ihn warten, aber die Menge schiebt mich weiter, ausdem Treppenhaus in den Saal, in dem ich ber mein knftiges Lebenentscheiden werde.

    Der Raum ist in konzentrische Kreise aufgeteilt. An den Wnden stehen dieSechzehnjhrigen. Noch sind wir keine offiziellen Mitglieder einer Fraktion.Unsere heutige Entscheidung macht uns zu Initianten, und erst wenn wir dieInitiation abgeschlossen haben, gelten wir als vollwertige Mitglieder.

    Nach unseren Nachnamen geordnet, die wir heute vielleicht zum letzten Maltragen, stellen wir uns in alphabetischer Reihenfolge auf. Ich stehe zwischenCaleb und Danielle Pohler, einem Amite-Mdchen mit rosigen Wangen undeinem gelben Kleid.

    Im Kreis vor uns stehen die Stuhlreihen fr die Familienangehrigen. Siesind in fnf Abschnitte unterteilt, ein Abschnitt fr jede Fraktion. Nicht alleMitglieder einer Fraktion nehmen an der Zeremonie teil, aber es sind so viele,dass der Saal voll ist.

    Jedes Jahr ist eine andere Fraktion fr die Zeremonie verantwortlich. Indiesem Jahr sind es die Altruan. Marcus wird die Erffnungsrede halten und dieNamen in umgekehrter alphabetischer Reihenfolge vorlesen. Caleb ist also vormir dran.

    Im innersten Kreis stehen fnf Metallschalen. Sie sind so gro, dass ich ganzhineinpassen wrde, wenn ich mich zusammenrolle. In jeder befindet sich eineSubstanz, die typisch fr die jeweilige Fraktion ist: graue Steine fr Altruan,Wasser fr Ken, Erde fr Amite, brennende Kohlen fr Ferox und Glas frCandor.

  • Wenn Marcus meinen Namen aufruft, werde ich wortlos in die Mitte der dreiKreise gehen. Er wird mir ein Messer geben. Damit werde ich mir in die Handschneiden und mein Blut in die Schale der Fraktion tropfen lassen, fr die ichmich entscheide.

    Mein Blut, das auf Steine fllt. Mein Blut, das auf Kohlen zischt Bevor meine Eltern ihren Platz einnehmen, bleiben sie vor Caleb und mir

    stehen. Mein Vater ksst mich auf die Stirn und klopft Caleb grinsend auf dieSchulter.

    Bis spter, mein Sohn, sagt er gut gelaunt. Er hat nicht die Spur einesZweifels.

    Meine Mutter umarmt mich, und das bisschen Entschlossenheit, das ich mirbewahren konnte, schwindet dahin. Ich beie die Zhne zusammen und starre andie Decke, wo Kugellampen ein blaues Licht ausstrahlen. Meine Mutter umarmtmich ungewhnlich lang, sie hlt mich selbst dann noch fest, als ich meineHnde sinken lasse. Ehe sie mich freigibt, flstert sie mir ins Ohr: Ich liebedich, egal, was passiert.

    Verwirrt sehe ich zu, wie sie weggeht. Sie ahnt, was ich vorhabe. Sie weies, sonst htte sie das nicht gesagt.

    Caleb nimmt meine Hand und drckt sie so fest, dass es wehtut, aber ichwehre mich nicht dagegen. Das letzte Mal hielten wir uns an den Hnden, alsmein Onkel begraben wurde und mein Vater weinte. Genau wie damals brauchtjetzt jeder von uns die Kraft des anderen.

    Langsam kehrt Ruhe in den Saal ein. Ich msste eigentlich die Feroxbeobachten, um so viel wie mglich ber sie zu erfahren, aber ich sehe nur dieLampen ber mir. Ich versuche, mich selbst in ihrem blauen Licht zu vergessen.

    Marcus steht auf einem Podium, das zwischen den Ken und den Feroxaufgebaut ist, und ruspert sich ins Mikrofon. Willkommen, sagt er.Willkommen zur Zeremonie der Bestimmung. Willkommen zu dem Ereignis,mit dem wir die demokratischen Grundstze unserer Vorfahren ehren, die unslehren, dass jeder Mensch das Recht hat, fr sich selbst den Weg zu whlen, den

  • er beschreiten will.Genauer gesagt, einen von fnf vorgegebenen Wegen, denke ich im Stillen.

    Ich drcke Calebs Finger so fest, wie er zuvor meine gedrckt hat.Unsere Schutzbefohlenen sind jetzt sechzehn Jahre alt. Sie stehen an der

    Schwelle zum Erwachsensein, und nun liegt es an ihnen zu entscheiden, wie sieweiterleben wollen. Marcus spricht feierlich und betont jedes einzelne Wort.Vor vielen Jahrzehnten haben unsere Vorfahren erkannt, dass nicht politischeLehren, religise berzeugungen, Rasse oder Nationalitten fr die Kriege in derWelt verantwortlich sind. Sie erkannten, dass den Menschen vielmehr etwasGrundstzliches fehlt der Widerstand gegen das Bse, in welcher Gestalt auchimmer es auftreten mag. Deshalb teilten sie sich in Fraktionen auf, die danachstrebten, jenen Makel, den sie fr die Wirren der Welt verantwortlich machten,auszulschen.

    Meine Augen wandern zu den fnf Metallschalen. Woran glaube ich? Ich weies nicht, ich wei es nicht, ich wei es nicht.

    Diejenigen, die der Aggression die Schuld gaben, grndeten Amite, dieFraktion der Freundschaft und Friedfertigkeit.

    Die Amite lcheln einander zu. Sie kleiden sich leger in Rot oder Gelb. JedesMal, wenn ich sie sehe, wirken sie freundlich, liebevoll und frei. Aber es ist mirnie in den Sinn gekommen, mich ihnen anzuschlieen.

    Jene, die die Unwissenheit dafr verantwortlich machten, grndeten Ken,die Fraktion der Gelehrten.

    Ken auszuschlieen, ist das Einzige, was mir leichtfllt.Diejenigen, die der Doppelzngigkeit die Schuld gaben, schufen Candor,

    die Fraktion der Freimtigen.Candor habe ich noch nie gemocht.Diejenigen, die den Egoismus dafr verantwortlich machten, schufen

    Altruan, die Fraktion der Selbstlosen.Auch ich mache den Egoismus dafr verantwortlich, ja das tue ich wirklich.Und jene, die der Feigheit die Schuld gaben, wurden Ferox, die

  • Furchtlosen.Aber ich bin nicht selbstlos genug. Sechzehn Jahre lang habe ich es versucht,

    aber es reicht nicht.Meine Beine werden weich, alles Leben entweicht aus ihnen, ich frage mich,

    wie ich einen Fu vor den anderen setzen soll, wenn ich aufgerufen werde.Diese fnf Fraktionen arbeiten nun schon seit vielen Jahren zusammen, sie

    leben in Frieden miteinander, und alle tragen etwas zu unserer Gesellschaft bei.Altruan stellt die uneigenntzigen Fhrer unserer Regierung, Candor dievertrauenswrdigen und vernnftigen Kenner des Rechts. Dank der Ken habenwir kluge Lehrer und Forscher, Amite hat uns verstndnisvolle Berater undVerwalter geschenkt. Ferox schlielich sorgt dafr, dass wir vor Gefahren vonauen und innen sicher sind. Doch der Einfluss der Fraktionen ist nicht alleindarauf beschrnkt. Sie geben einander viel mehr, als sich in so wenigen Wortensagen lsst. Die Fraktion gibt unserem Leben einen Sinn und eine Richtung.

    Ich muss an das Motto denken, das ich in meinem Lehrbuch ber dieGeschichte der Fraktionen gelesen habe: Fraktion vor Blut. Zuerst die Fraktion,dann die Familie. Kann das wirklich gut und richtig sein?

    Ohne unsere Fraktion knnten wir nicht berleben, fgt Marcus nochhinzu.

    Das Schweigen, das auf seine Rede folgt, lastet schwerer als jede andere Formder Stille. Es bringt unsere grte Angst zum Ausdruck. Grer noch als dieFurcht vor dem Tod ist die Angst, fraktionslos zu sein.

    Deshalb ist der heutige Tag ein Freudentag, fhrt Marcus fort. Es ist derTag, an dem wir unsere neuen Initianten begren, die mit uns gemeinsam einebessere Gesellschaft und eine bessere Welt errichten werden.

    Reihum ist gedmpfter Beifall zu hren. Ich gebe mir Mhe, ganz ruhig zustehen, denn wenn ich die Knie aneinanderdrcke und mich ganz starr und steifmache, zittere ich nicht. Marcus liest die ersten Namen vor, aber ich kann keineSilbe von der anderen unterscheiden. Wie soll ich da wissen, wann er michaufruft?

  • Einer nach dem anderen treten die Sechzehnjhrigen aus der Warteschlangeheraus und gehen in die Mitte des Raums. Das erste Mdchen, das sichentscheiden muss, whlt Amite, die Fraktion, aus der sie stammt. Ich sehe, wieihre Blutstropfen auf die Erde in der Schale fallen, dann stellt sie sich hinter dieSthle ihrer Fraktion.

    Im Raum herrscht nun stndige Bewegung: ein neuer Name, eine neuePerson, die whlt, ein neues Messer. Ich kenne die meisten, aber ich bezweifle,dass sie mich kennen.

    James Tucker, ruft Marcus auf.James Tucker von den Ferox ist der Erste, der auf dem Weg zu den Schalen

    stolpert. Er streckt die Arme vor, aber er fngt sich wieder und strzt nicht. Erwird rot und beeilt sich weiterzugehen. Als er in der Mitte steht, gleitet seinBlick von der Schale der Ferox zur Schale der Candor von den gelbrotenFlammen, die mit jeder Sekunde hher auflodern, hin zum Glas, in dem sichdas blaue Licht widerspiegelt.

    Marcus reicht ihm das Messer. James holt tief Luft ich sehe, wie sich seinBrustkorb hebt , und als er ausatmet, nimmt er das Messer. Dann zieht er esmit einem schnellen Ruck ber seine Handflche und streckt den Arm zur Seite.Sein Blut tropft auf das Glas. Er ist der Erste, der sich fr eine andere Fraktionentscheidet. Der erste Wechsel. Unter den Ferox erhebt sich emprtesGemurmel, aber ich halte den Kopf gesenkt und achte nicht darauf.

    Von jetzt an werden sie ihn als Verrter behandeln. Seine Ferox-Familie wirdihn in eineinhalb Wochen am Besuchertag in seiner neuen Fraktion besuchenknnen, aber sie werden nicht hingehen, weil er sie im Stich gelassen hat. SeinFehlen wird durch ihre Flure geistern, und er wird eine Lcke hinterlassen, diesie nicht fllen knnen. Doch die Zeit wird vergehen, und die Lcke wird sichschlieen, wie wenn man einem Krper ein Organ entnimmt und dieKrperflssigkeiten die leere Stelle allmhlich wieder fllen. Menschen knnendie Leere nicht lange ertragen.

    Caleb Prior, ruft Marcus.

  • Caleb drckt mir ein letztes Mal die Hand und setzt sich in Bewegung. ImWeggehen wirft er mir einen langen Blick ber die Schulter zu. Ich sehe, wieseine Fe auf die Mitte des Raums zusteuern, seine Hnde sind ruhig, als erdas Messer von Marcus entgegennimmt. Geschickt schneidet er sich in dieHand. Dann steht er da, das Blut sammelt sich in seiner hohlen Hand, er nagtan seiner Unterlippe, wie so oft.

    Er atmet aus. Er atmet ein. Und dann hlt er seine Hand ber die Schale derKen. Sein Blut tropft in das Wasser und frbt es noch eine Spur rter.

    Das einsetzende Raunen in unseren Reihen schwillt zu wtendem Protest an.Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Ausgerechnet mein Bruder, meinselbstloser Bruder, ausgerechnet er wechselt zu einer anderen Fraktion? MeinBruder, wie geschaffen fr die Altruan, wird ein Ken?

    Als ich die Augen schliee, sehe ich den Bcherstapel auf CalebsSchreibtisch vor mir, sehe, wie er seine zitternden Hnde nach demEignungstest an den Beinen abwischt. Gestern noch hat er mir gesagt, manmsse auch an sich selbst denken. Wieso habe ich nicht gemerkt, dass er sichdiesen Rat auch selbst gab?

    Ich schaue zu den Ken hinber sie lcheln selbstgefllig und knuffen sichmit den Ellenbogen. Die sonst so gelassenen Altruan flstern aufgeregt undstarren quer durch den Raum zu der Fraktion, mit der wir seit Kurzem verfeindetsind.

    Wenn ich bitten darf , sagt Marcus, aber die Menge hrt nicht auf ihn.Dann ruft er laut: Ruhe, bitte.

    Im Raum wird es still, bis auf ein seltsames Klingeln, das ich nicht zuordnenkann.

    Dann hre ich meinen Namen. Ein Schaudern durchluft mich und meinKrper setzt sich wie von selbst in Bewegung. Auf halbem Weg zu den Schalenbin ich sicher, dass ich die Altruan whlen werde. Ich sehe alles klar vor mir.Ich sehe, wie ich zu einer grau gekleideten Frau werde und Susans BruderRobert heirate, wie ich an den Wochenenden als Freiwillige arbeite, tagein,

  • tagaus in friedlicher Gleichfrmigkeit lebe, ruhige Abende vor dem Ofenverbringe, in der angenehmen Gewissheit, geborgen zu sein. Mglicherweisewerde ich auch dann nicht gut genug sein, aber mit Sicherheit besser als heute.

    Das Klingeln. Erst jetzt fllt mir auf, dass es nur in meinen Ohren ist.Ich blicke zu Caleb hinber, der hinter seiner neuen Fraktion steht. Er

    erwidert meinen Blick und nickt fast unmerklich, als wisse er genau, was mirgerade durch den Kopf geht, und als wolle er mich darin bestrken. MeineSchritte stocken. Wenn selbst Caleb sich nicht fr die Altruan entschieden hat,wie kann ich mich dann fr sie entscheiden? Aber habe ich denn berhaupt eineWahl, jetzt, da er uns verlassen hat und ich die Einzige bin, die noch brig ist?Caleb hat mir keinen anderen Ausweg gelassen.

    Entschlossen beie ich die Zhne zusammen. Ich werde das Kind sein, dasbei seinen Eltern bleibt; ich muss es fr meine Eltern tun. Ich muss.

    Marcus reicht mir ein Messer. Ich blicke ihm in die Augen sie sind tiefblau,von einer seltsamen Farbe und nehme es aus seiner Hand entgegen. Er nicktund ich wende mich den Schalen zu. Das Feuer der Ferox und die Steine derAltruan stehen beide rechts von mir. Ich halte das Messer in der rechten Handund fhre die Schneide zu meiner Handflche. Mit zusammengebissenen Zhnendrcke ich die Klinge nach unten. Es sticht, aber ich bemerke es kaum. Ichpresse beide Hnde vor die Brust und stoe zitternd die Luft aus.

    Ich ffne die Augen und strecke den Arm aus. Mein Blut tropft auf denTeppich zwischen den beiden Schalen.

    Dann, mit einem leisen Aufschrei, den ich nicht unterdrcken kann, streckeich die Hand aus und mein Blut tropft zischend auf die Kohlen.

    Ich bin nicht selbstlos.Ich bin mutig.

  • 6. Kapitel

    Mit gesenktem Blick stelle ich mich hinter die Ferox-Initianten, die sich dafrentschieden haben, bei ihrer eigenen Fraktion zu bleiben. Sie sind alle grer alsich; selbst wenn ich den Kopf hebe, kann ich nur ihre Schultern sehen. Alsschlielich auch das letzte Mdchen seine Wahl getroffen hat es entscheidetsich fr die Amite , ist es Zeit zu gehen. Die Ferox machen den Anfang.Schweigend laufe ich an den grau gekleideten Mnnern und Frauen meiner altenFraktion vorbei und starre angestrengt auf den Hinterkopf irgendeines Menschenvor mir.

    Aber ich muss meine Eltern unbedingt noch einmal sehen. Im letztenMoment schaue ich ber die Schulter und wnschte, ich htte es nicht getan.Der vorwurfsvolle Blick meines Vaters durchbohrt mich frmlich. Hinter meinenAugen verspre ich ein Brennen, und unwillkrlich berlege ich, ob mein Vateres irgendwie geschafft hat, mich in Flammen zu setzen, um mich fr das zubestrafen, was ich getan habe aber nein, ich brenne nicht, ich fange nur zuweinen an.

    Meine Mutter neben ihm lchelt.Die Leute hinter mir schieben mich weiter, weg von meiner Familie, die die

    letzte sein wird, die geht. Vermutlich bleiben meine Eltern, um die Sthleaufzustapeln und die Schalen zu reinigen. Ich verdrehe den Kopf, suche Calebinmitten der Ken, die ebenfalls nach drauen drngen. Er steht bei seiner neuenFraktion und schttelt gerade einem Jungen die Hand, der von den Candor

  • gekommen ist. Sein entspanntes Lcheln kommt mir wie ein Verrat vor; mirdreht sich der Magen um und ich muss mich abwenden. Wenn es ihm soleichtfllt, warum nicht auch mir?

    Verstohlen betrachte ich den Jungen rechts von mir. Er war frher bei denKen; jetzt sieht er blass und nervs aus, womglich fhlt er sich genauso wieich. Ich habe mir den Kopf zerbrochen, welche Fraktion ich whlen soll, aber niehabe ich auch nur einen Gedanken daran verschwendet, was passieren wrde,wenn ich mich fr die Ferox entscheide. Erstmals frage ich mich, was mich inderen Hauptquartier erwartet.

    Die vordersten Ferox strmen zum Treppenhaus statt zum Aufzug. Ich dachteimmer, nur die Altruan gingen zu Fu.

    Was zum Teufel ist hier los?, fragt der Junge neben mir.Ich schttle stumm den Kopf und renne weiter. Im Erdgeschoss angekommen,

    schnappe ich keuchend nach Luft, aber die Ferox drngen bereits zum Ausgang.Die Luft drauen ist frisch und kalt, die untergehende Sonne frbt den Himmelrtlich und spiegelt sich in den schwarzen Fensterscheiben der Zentrale.

    Die Ferox nehmen die ganze Strae in Beschlag, sogar ein Bus mussihretwegen anhalten; ich renne, um den Anschluss nicht zu verlieren. BeimLaufen wird mein Kopf etwas klarer. Ich bin schon seit ewigen Zeiten nicht mehrirgendwohin gerannt. Die Altruan lehnen alles ab, was dem eigenen Vergngendient, und genau das ist es: Meine Lungen stechen, meine Muskeln schmerzen,aber ich spre das wilde Vergngen eines kraftvollen Spurts. Ich laufe den Feroxhinterher, die Strae entlang, um die Ecke, und dann hre ich ein vertrautesGerusch: das Pfeifen des Zugs.

    Oh nein, murmelt der Ken-Junge halblaut. Mssen wir etwa auf diesesDing aufspringen?

    Ja, stoe ich atemlos hervor.Wie gut, dass ich den Ferox so oft zugesehen habe, wie sie zur Schule

    kamen. Die Wartenden stellen sich in einer langen Reihe auf. Der Zug rollt aufseinen sthlernen Schienen heran, die Lichter blinken, das Warnsignal drhnt.

  • Alle Wagentren sind offen, damit die Ferox hineinspringen knnen, und genaudas tun sie, eine Gruppe nach der anderen. Die Initianten aus den Reihen derFerox sind natrlich schon lngst daran gewhnt, in Windeseile springen auchsie auf. Nun sind nur noch die Neulinge der restlichen Fraktionen brig. Mit einpaar anderen laufe ich los. Wir rennen ein Stck neben dem Wagen her, dannmachen wir einen Satz zur Seite. Weil ich weniger gro und weniger stark binals die anderen, schaffe ich es nicht, mich in den Wagen zu hieven. Ich prallemit der Schulter gegen die Auenwand des Waggons und klammere mich aneinen Griff neben der Tr. Meine Arme zittern, aber dann packt mich eineehemalige Candor und zieht mich hoch. Nach Luft schnappend, danke ich ihr.

    Ich hre laute Rufe und drehe mich um. Ein schmaler, rothaariger Junge ausder Fraktion der Ken rudert wie wild mit den Armen und versucht, mit demZug Schritt zu halten. Ein brnettes Ken-Mdchen, das an der Tr sitzt, strecktdie Hand aus, aber sie kriegt ihn nicht zu fassen, er ist schon zu weitzurckgefallen. Neben den Gleisen sinkt er auf die Knie und vergrbt den Kopfin den Hnden, whrend der Zug einfach davonfhrt.

    Ich fhle mich hundeelend. Der arme Teufel hat den ersten Aufnahmetest derFerox nicht bestanden. Er ist jetzt fraktionslos. Das ist etwas, was jedem vonuns passieren kann.

    Alles in Ordnung?, fragt mich das hilfsbereite Candor-Mdchen gutgelaunt. Sie ist gro, dunkelhutig und hat kurze Haare. Ziemlich hbsch.

    Ich nicke.Ich heie Christina, sagt sie und streckt die Hand aus.Es ist schon sehr lange her, seit ich jemandem die Hand geschttelt habe. Die

    Altruan gren einander, indem sie sich als Zeichen des Respekts verbeugen.Unsicher nehme ich ihre Hand und schttle sie zweimal. Ich hoffe, ich habe sienicht zu fest oder zu schwach gedrckt.

    Beatrice, erwidere ich.Weit du, wohin wir fahren? Sie muss schreien, denn der Wind pfeift

    immer heftiger durch die geffneten Tren. Der Zug wird schneller. Ich lasse

  • mich auf den Boden fallen, denn so kann ich das Gleichgewicht besser halten.Christina zieht eine Augenbraue hoch.

    Wenn der Zug schnell fhrt, zieht es strker, erklre ich ihr. Und beistarkem Wind kann man rausfallen. Also setz dich lieber.

    Christina setzt sich zu mir, rutscht dann wieder ein Stck von mir weg,damit sie sich bequem an die Wand lehnen kann.

    Ich schtze, wir fahren zum Hauptquartier der Ferox, beantworte ich ihreFrage. Aber ich habe keine Ahnung, wo das ist.

    Wei das berhaupt jemand? Sie schttelt den Kopf und grinst. Bei denFerox hat man immer das Gefhl, als wrden sie urpltzlich aus der Erdeschieen.

    Ein Windsto fegt durch den Wagen, und alle, die stehen geblieben sind,verlieren den Halt und purzeln bereinander. Christina lacht. Ich kann nichthren, was sie sagt, aber auch ich ringe mir ein Lcheln ab.

    Links von mir spiegelt sich das rtlich gelbe Licht des Sonnenuntergangs inden glsernen Hausfassaden, undeutlich erkenne ich die Reihen grauer Huser,die einmal mein Zuhause waren.

    Heute wre Caleb an der Reihe, das Abendessen zu machen. Wer wird es anseiner Stelle tun meine Mutter oder mein Vater? Und wenn sie sein Zimmeraufrumen, was werden sie dann vorfinden? Vermutlich jede Menge Bcher, diezwischen dem Kleiderschrank und der Wand oder unter seiner Matratze verstecktsind. Der Wissensdurst eines echten Ken fllt alle verborgenen Winkel seinesZimmers aus. Hat er schon immer gewusst, dass er diese Fraktion whlenwrde? Wenn ja, weshalb ist mir nichts aufgefallen?

    Er hat einen erstklassigen Schauspieler abgegeben, so viel steht fest. Bei demGedanken daran wird mir schlecht. Ich habe meine Familie zwar ebenfallsverlassen, aber wenigstens habe ich mich nicht verstellt. Wenigstens wusstenalle, dass ich nicht selbstlos bin.

    Mit geschlossenen Augen stelle ich mir meine Mutter und meinen Vater vor,wie sie schweigend am Esstisch sitzen. Ist das ein letzter Rest von

  • Selbstlosigkeit, der mir bei dem Gedanken an sie die Kehle zuschnrt, oder istes Selbstsucht, weil ich wei, dass ich nie wieder ihre Tochter sein werde?

    Sie springen ab!Bei diesen Worten hebe ich erschrocken den Kopf. Mein Nacken ist ganz

    steif. Gut eine halbe Stunde lang kauere ich jetzt schon gegen die Waggonwandgelehnt auf dem Boden, hre dem brausenden Wind zu und sehe, wie die Stadtan uns vorbeiwischt. Ich setze mich auf. In den letzten Minuten ist der Zuglangsamer geworden, der Junge, der so laut gerufen hat, hat also recht. DieFerox in den Waggons vor uns springen aus dem Zug, whrend er an einemHausdach vorbeifhrt. Die Schienen verlaufen auf der Hhe des siebtenStockwerks.

    Allein bei der Vorstellung, aus einem fahrenden Zug heraus auf ein Hausdachzu springen und zu wissen, dass zwischen dem Zug und dem Dach eine Lckeklafft, mchte ich mich am liebsten bergeben. Trotzdem raffe ich mich auf undstolpere auf die gegenberliegende Seite des Waggons, wo sich die anderenFraktionswechsler bereits in einer Reihe aufgestellt haben.

    Wenn die das machen, mssen wir es auch, sagt ein Candor-Mdchen. Siehat eine groe Nase und schiefe Zhne.

    Na groartig, antwortet ein Junge aus ihrer Fraktion. Als wrde esirgendeinen Sinn machen, von einem Zug auf ein Dach zu springen, Molly. Wieverrckt ist das denn?

    Darauf haben wir uns nun mal eingelassen, Peter, erklrt ihm dasMdchen.

    Ich mache das garantiert nicht, sagt ein Amite-Junge hinter mir. SeineHaut ist gebrunt und er trgt ein weies Hemd er ist als Einziger von denAmite zu den Ferox gewechselt. Auf seinen Wangen glitzern Trnen.

    Du musst, sagt Christina, oder du bist durchgefallen. Nur Mut, es wirdschon klappen.

    Nein, wird es nicht. Ich bin lieber fraktionslos als tot! Der Amite-Jungeschttelt den Kopf. Er klingt panisch. Er schttelt immer nur weiter den Kopf

  • und starrt auf das Dach, das mit jeder Sekunde nher kommt.Ich empfinde das anders als er. Ich wre lieber tot als so verloren wie jene, die

    keiner Fraktion angehren.Du kannst ihn nicht zwingen, sage ich zu Christina. Ihre braunen Augen

    sind weit aufgerissen, und sie beit die Lippen so fest zusammen, dass alleFarbe aus ihnen weicht.

    Sie gibt mir ihre Hand. Komm.Mit einem Stirnrunzeln will ich ihr gerade erklren, dass ich keine Hilfe

    brauche, aber dann sagt sie: Ich schaffe es nicht wenn mich keinermitzieht.

    Ich ergreife ihre Hand und wir stellen uns an die geffnete Waggontr. Alsunser Wagen an dem Dach vorbeifhrt, zhle ich laut: Eins zwei drei!

    Bei drei springen wir aus dem Eisenbahnwaggon. Einen Augenblick langwerden wir schwerelos durch die Luft katapultiert, dann schlagen meine Fe auffesten Boden auf und ein wilder Schmerz rast durch meine Beine.

    Der Aufprall ist so hart, dass ich der Lnge nach hinfalle und mit demGesicht nach unten auf dem Schotter liegen bleibe. Ich lasse Christinas Handlos. Sie lacht.

    Das hat Spa gemacht, sagt sie.Ja, Christina passt gut zu den Ferox, die immer auf der Suche nach neuem

    Nervenkitzel sind. Ich wische mir die Steinchen aus dem Gesicht. Alle Neulingehaben es mit unterschiedlichem Erfolg bis aufs Dach geschafft, nur der Amite-Junge nicht. Molly, das Candor-Mdchen mit den schiefen Zhnen, hlt sichsthnend den Fuknchel, Peter, der dunkelhaarige Candor-Junge, lchelt stolz wahrscheinlich ist er aufrecht auf seinen Fen gelandet.

    Pltzlich hre ich einen lauten Schrei. Suchend blicke ich mich um. EinFerox-Mdchen steht am Rand des Dachs, starrt in die Tiefe und schluchzt.Hinter ihr steht ein Ferox-Junge und hlt sie an der Taille fest, damit sie nichtabstrzt.

    Rita, sagt er. Beruhige dich, Rita

  • Ich sphe ber den Dachrand. Unten auf dem Gehweg liegt jemand, einMdchen, die Arme und Beine grausig verdreht, das Haar wie ein Fcher umden Kopf ausgebreitet. Mein Magen krampft sich zusammen, ich drehe den Kopfweg. Nicht alle haben es geschafft. Nicht einmal die Ferox sind dagegen gefeit.

    Rita fllt auf die Knie und weint. Ich wende mich ab. Je lnger ich hinschaue,desto mehr ist mir nach Heulen zumute, und ich darf doch vor all diesen Leutennicht weinen.

    So ist es hier eben, ermahne ich mich streng. Wir nehmen Gefahren auf unsund dabei knnen wir sterben. Menschen sterben und wir nehmen neue Gefahrenauf uns. Je eher ich mir das zu eigen mache, desto grer ist dieWahrscheinlichkeit, dass ich die Initiation berstehe.

    Dabei bin ich nicht mal sicher, dass ich die Initiation berleben werde.Ich werde jetzt bis drei zhlen und dann werde ich mich abwenden. Eins. Ich

    denke an das Mdchen, das auf dem Gehweg liegt, und mich berluft es kalt.Zwei. Ich hre, wie Rita schluchzt und der Junge hinter ihr leise auf sie einredet.Drei.

    Mit zusammengepressten Lippen entferne ich mich von Rita und derDachkante.

    Ich verspre einen stechenden Schmerz in meinem Ellbogen. Als ich denrmel hochschiebe, zittert meine Hand. Die Haut ist aufgeschrft, aber es blutetnicht.

    Unerhrt! Eine Stiff lsst nackte Haut sehen! Stiff ist ein Schimpfwort frdie Altruan, und ich bin die Einzige hier. Peter zeigt feixend auf mich. Ich hreGelchter. Mit hochrotem Gesicht streife ich den rmel runter.

    Alle mal herhren! Ich heie Max! Ich bin einer von den Anfhrern eurerneuen Fraktion, ruft ein Mann vom anderen Ende des Dachs. Er ist etwas lter,hat tiefe Furchen in seiner dunklen Haut, und an den Schlfen sind seine Haareschon grau. Er steht so lssig auf dem Dachvorsprung, als wre es ein breiterGehweg. Als wre nicht gerade jemand von hier oben in den Tod gestrzt.Einige Stockwerke unter uns ist der Eingang zu unserem Hauptquartier. Wenn

  • ihr euch nicht traut runterzuspringen, dann gehrt ihr nicht hierher. UnsereNeulinge haben das Vorrecht, als Erste zu springen.

    Wir sollen allen Ernstes vom Dach springen?, fragt ein Ken-Mdchen. Sieist einen halben Kopf grer als ich, mit mattbraunen Haaren und wulstigenLippen. Ihr Mund steht sperrangelweit offen.

    Ich wei nicht, wieso sie so entsetzt tut.Ja, sagt Max, er scheint sich darber zu amsieren.Ist da unten Wasser oder so?Wer wei? Er zieht vielsagend die Augenbrauen hoch.Die Ferox bilden eine breite Gasse, um uns passieren zu lassen. Ich schaue

    mich unter den Neulingen um. Keiner ist scharf darauf, vom Dach zu springen sie schauen berallhin, nur nicht zu Max. Einige widmen sich ihren kleinerenVerletzungen oder wischen sich den Sand aus den Kleidern. Ich blicke zu Peter.Er zupft an seinen Fingerngeln und versucht, unbeteiligt zu wirken.

    Ich habe meinen Stolz, und eines Tages werde ich deswegen rger kriegen,aber heute macht er mich verwegen.

    Ich trete an den Dachvorsprung. Hinter mir hre ich Gekichere.Max weicht zur Seite und macht mir den Weg frei. Ich gehe bis zum Rand

    und blicke nach unten. Der Wind pfeift durch meine Kleider und lsst den Stoffflattern. Das Haus, auf dem ich stehe, bildet zusammen mit drei anderenGebuden ein groes Viereck. In der Mitte des Innenhofs ist im Beton einriesiges Loch. Woraus der Boden besteht, kann ich von hier oben nichterkennen.

    Sie wollen uns nur Angst einjagen. Ich werde gefahrlos unten ankommen.Diese Gewissheit hilft mir, bis vor an die Kante zu treten. Meine Zhneklappern. Ich kann jetzt nicht mehr zurck. Nicht wenn alle hinter mir stehenund nur darauf warten, dass ich kneife. Ich taste an meinem Hemdkragen herum,bis ich den Knopf gefunden habe. Nach ein paar vergeblichen Versuchen knpfeich das Hemd auf und ziehe es aus.

    Darunter trage ich ein graues T-Shirt. Es liegt eng an, enger als alle anderen

  • Kleidungsstcke, die ich besitze. Noch nie hat mich jemand in diesem T-Shirtgesehen. Ich knlle mein Oberteil zusammen und blicke ber die Schulter zuPeter. Mit zusammengebissenen Zhnen schleudere ich es auf ihn. Ich treffe ihnan der Brust. Er sieht mich an. Hinter mir hre ich Pfeifen und Johlen.

    Ich blicke hinunter in das Loch. Eine Gnsehaut jagt ber meine blassenArme und mein Magen rebelliert. Wenn ich jetzt nicht springe, werde ich esniemals tun.

    Ich schlucke den dicken Klo in meinem Hals hinunter und denke an nichts.Ich stoe mich einfach ab und springe.

    Das dunkle Loch rast auf mich zu, wird grer und breiter, der Wind pfeift inmeinen Ohren. Mein Herz klopft so schnell, dass es wehtut. Jede Faser in mirist angespannt und im Fallen stlpt sich mir der Magen um. Das Lochverschluckt mich und ich strze in die Dunkelheit.

    Ich falle auf etwas Hartes, aber dann gibt es unter mir nach und hllt michein. Der Aufprall ist so stark, dass ich keine Luft mehr bekomme und nachAtem ringen muss. Meine Arme und Beine brennen.

    Ein Netz. Am Boden des Lochs ist ein Netz. Ich schaue hoch und lache, halberleichtert, halb hysterisch. Am ganzen Krper bebend, schlage ich die Hndevors Gesicht. Ich bin gerade von einem Dach gesprungen.

    Jetzt brauche ich schleunigst wieder festen Boden unter den Fen. MehrereHnde strecken sich mir vom Rand des Netzes entgegen. Ich packe dieerstbesten und halte mich daran fest. Ich rolle vom Netz und wre mit demGesicht nach unten auf den Boden gefallen, wenn mich nicht jemand aufgefangenhtte.

    Dieser Jemand ist der junge Mann, dessen Hnde ich ergriffen habe. Er hateine schmale Oberlippe und eine volle Unterlippe. Seine Augen liegen so tief,dass seine Wimpern fast die Augenbrauen berhren, sie sind tiefblau,trumerisch, gedankenverloren, abwartend.

    Er fasst mich am Arm, aber sobald ich aufrecht stehe, lsst er mich los.Danke, sage ich.

  • Wir stehen auf einem Podium, etwa drei Meter ber dem Boden, mitten ineiner Art Hhle.

    Nicht zu fassen, sagt jemand hinter ihm. Die Stimme gehrt einemdunkelhaarigen Mdchen, das drei silberne Ringe an die Augenbrauen gepiercthat. Sie grinst mich an. Ausgerechnet eine Stiff hat sich als Ersteheruntergewagt? Das gabs noch nie.

    Es wird schon seinen Grund haben, weshalb sie nicht mehr bei den Altruanist, Lauren, sagt der Junge. Seine Stimme ist tief und kehlig. Wie heitdu?

    hm Ich wei selbst nicht, weshalb ich zgere. Aber Beatrice klingtjetzt irgendwie verkehrt.

    Denk drber nach, sagt er und ein feines Lcheln huscht ber sein Gesicht.Ein zweites Mal kannst du nicht neu whlen.

    Ein neuer Ort, ein neuer Name. Ich kann mich hier neu erfinden.Tris, sage ich laut.Tris, wiederholt Lauren grinsend. Sags den anderen, Four.Der Junge, Four, schaut ber die Schulter und ruft: Erste Springerin: Tris!Als sich meine Augen an das Licht gewhnt haben, sehe ich um mich herum

    eine Menschenmenge. Die Leute jubeln und recken die Fuste, und dann flltnoch jemand in das Netz. Mit einem lauten Schrei. Christina. Alle lachen undjohlen.

    Four legt mir die Hand auf den Rcken und sagt: Willkommen bei denFerox.

  • 7. Kapitel

    Als alle wieder festen Boden unter den Fen haben, fhren uns Lauren undFour einen schmalen Tunnel entlang. Die Wnde sind aus Stein und der Bodenfllt schrg ab; ich komme mir vor, als wrde ich ins Innere der Erde steigen.Der Abstand zwischen den Wandlichtern ist gro, und jedes Mal, wenn ichmich zwischen zwei der matten Lampen vorantaste, fhle ich michorientierungslos und allein, bis mich jemand anrempelt und unsere Schulternaneinanderstoen. Im Lichtkreis verspre ich dann wieder ein Gefhl vonSicherheit.

    Der ehemalige Ken vor mir bleibt abrupt stehen und ich renne prompt in ihnhinein, pralle gegen seine Schulter und taumle zurck. Verwirrt reibe ich mir dieNase. Der ganze Trupp ist stehen geblieben, weil unsere drei Anfhrer mitverschrnkten Armen auf uns warten.

    Hier trennen wir uns, verkndet Lauren. Die Initianten der Feroxkommen mit mir. Ich gehe davon aus, dass ihr euch auskennt und keinenRundgang mehr braucht.

    Lchelnd gibt sie den gebrtigen Ferox ein Zeichen. Diese lsen sich aus derGruppe und verschwinden gemeinsam in der Dunkelheit. Als der Letzte vonihnen aus dem Lichtkegel taucht, schaue ich, wer noch da ist. Nur neun anderesind brig geblieben. Ich bin die einzige Altruan, von den Amite ist keinermehr da. Die brigen sind ehemalige Ken und, fr mich berraschend, Candor.Man muss wohl ziemlich tapfer sein, um stndig die Wahrheit zu sagen. Ich

  • knnte das nicht.Four wendet sich zu uns und sagt: Normalerweise arbeite ich im

    Kontrollraum, aber fr die nchsten Wochen habe ich eure Ausbildungbernommen. Ich heie Four.

    Four?, wiederholt Christina verwundert. So wie die Zahl?Ja, antwortet Four. Was dagegen?Nein.Gut. Dann gehen wir jetzt in die Grube. Ihr werdet sie schon noch ins Herz

    schlieen. Es Christina kichert los. In die Grube? Toller Name.Four baut sich vor Christina auf und beugt sich ganz dicht zu ihr. Seine

    Augen werden schmal und einen Moment lang schaut er sie einfach nur an.Wie heit du?, fragt er leise.Christina, sagt sie mit piepsiger Stimme.Okay, Christina, wenn ich meine Zeit mit Klugscheiern von den Candor

    totschlagen wollte, dann wre ich zu dieser Fraktion gewechselt , zischt er.Das Erste, was ich dir beibringen werde, ist, wie man die Klappe hlt.Kapiert?

    Sie nickt.Four macht sich auf den Weg zu dem finsteren Ende des Tunnels. Wir folgen

    ihm schweigend.So ein Idiot, murmelt Christina.Ich schtze, er mag es nicht, wenn man sich ber ihn lustig macht, flstere

    ich zurck.In Fours Gesellschaft sollte man sich wohl besser vorsehen. Vorhin auf dem

    Podium schien er ja ganz umgnglich zu sein, aber jetzt macht mich seinebrske Art misstrauisch.

    Four stt eine breite Flgeltr auf, und wir gehen in das, was er Grubegenannt hat.

    Oh, raunt Christina, jetzt kapier ich.

  • Grube ist wirklich die passende Bezeichnung. Es ist eine unterirdischeHhle, so gro, dass ich von meinem Platz aus nicht bis ans andere Ende sehenkann. Unebene Felswnde ragen haushoch ber mir auf. In die Steinwndeeingehauen sind weitrumige Nischen fr Speisen, Kleidung, Vorrte und frdiverse Freizeitbeschftigungen. Schmale Stege und Treppen aus Fels verbindensie. Und nirgendwo gibt es Gelnder, die einen vor dem Absturz bewahren.

    Ein gelbroter Lichtstrahl kommt von schrg oben. Das Dach der Grubebesteht aus Glas, und darber befindet sich ein Gebude, durch das dasSonnenlicht hereinfllt. Bestimmt sind wir mit dem Zug daran vorbeigefahren,aber da hat es ausgesehen wie jedes andere Gebude auch.

    In unregelmigen Abstnden sind blaue Lampen aufgehngt, die so hnlichaussehen wie die blauen Kugeln im Zeremoniensaal. Je dunkler es drauen wird,desto heller leuchten sie.

    berall wimmelt es von schwarz gekleideten Menschen, sie rufendurcheinander, reden laut, temperamentvoll, gestenreich. Aber mir fllt auf, dasskeine alten Leute unter ihnen sind. Gibt es berhaupt alte Ferox? Leben sienicht lange genug, um alt zu werden? Oder werden sie einfach weggeschickt,wenn sie nicht mehr aus fahrenden Zgen springen knnen?

    Eine Schar Kinder rennt einen schmalen Gang ohne jedes Gelnder so schnellhinunter, dass mein Herz vor Schreck klopft und ich ihnen am liebsten zurufenmchte: Lauft langsamer, damit euch nichts passiert! Ich muss unwillkrlichan die Straen der Altruan denke