die bedeutung der form der lungentuberkulose

15
Acts Medica Scniidinavica. Vol. LXXV, fasc.' V--VI, 1931 I hus der I. Medizinischen Klinik Munchen. Die Bedeutiing der Form der Lungenfuberkulonc.' von ERNST VON ROMBERG. ~ Die lebhafte Erorterung der letzten 4 Jahre uber die Lungen- tuberkulose ist fur die vorwiegend arztliche Fragestellung zu ei- nem gewissen Abschluss gekommen, so zahlreiche Probleme selbst- verstandlich noch grundlich zu klkren bleiben. Da mag es an einem Festtage, der einen Hohepunkt des Lebens bildet, gestat- tet sein, dem hochgeschatzten Fachgenossen einen Uberblick uber die Gestaltung der Anschauungen von der Lungentuberkulose darzubringen, wie ich sie seit Beginn meines klinischen Studiums in den letzten 45 Jahren in Deutschland selbst erlebt habe. I n seiner beruhmten Bose-Gedenkschrift vom Oktober 1879 ))Die Tuberkulose vom Standpunkte der Infektionslehreo, hatte Julius Cohnheima genial und uberzeugend die Lehre Villemin'sa von der Ubertragbarkeit der Tuberkulose aus dem Jahre 1865 auf eine nicht mehr zu erschutternde Grundlage gestellt. Angeregt durch Cohnheim's u. Salomonsen'd Mitteilung uber kunstliche Tuber- kulose hatte R. Koch' 1881 den Tuberkelbazillus entdeckt. Aber so stark der Eindruck auf die Klinik war, so blieb doch fur die nachsten Jahre die von Laennec eingefuhrte, den klinischen Be- fund mit dem anatomischen Substrat vergleichende Betrachtung maassgebend, eine Betrachtung, die gleichzeitig neben dem ort- lichen Zustand der Lungen das Allgemeinbefinden beachtete. Hatte doch schon Laennece erkannt: oLes sympt8mes g6n6raux de Rei der Rodaktinn am 19. Jan. 1931 eingegnngen. ' J. Cohuheim: Gosammelto Abhrndlnngcn, Berlin 1886. Villemin: Gazette hebdom. de m6d. de Paris 1865. Nr. 50, 1866 Nr 43-45, ' J. Cohnheim n. Salomonsen: Sitz. Ber. d. schles. Ges. f. vaterlilnd. Cultur * R. Koch: Berl. k1. Wo. 1882. Nr. 15. 5. 221. S. 655. Nr 48 u. 49. 17.7. 1877. J. Cohnheims ges. Abhandl. S. 591. Laennec: Trait6 de l'noscultntion m6diate. 3. ed. Paris. 1831. T. 11. p. 172.

Upload: ernst-von-romberg

Post on 26-Sep-2016

216 views

Category:

Documents


2 download

TRANSCRIPT

Page 1: Die Bedeutung der Form der Lungentuberkulose

Acts Medica Scniidinavica. Vol. LXXV, fasc.' V--VI, 1931 I

hus der I. Medizinischen Klinik Munchen.

Die Bedeutiing der Form der Lungenfuberkulonc.' von

ERNST VON ROMBERG. ~

Die lebhafte Erorterung der letzten 4 Jahre uber die Lungen- tuberkulose ist fur die vorwiegend arztliche Fragestellung zu ei- nem gewissen Abschluss gekommen, so zahlreiche Probleme selbst- verstandlich noch grundlich zu klkren bleiben. Da mag es an einem Festtage, der einen Hohepunkt des Lebens bildet, gestat- te t sein, dem hochgeschatzten Fachgenossen einen Uberblick uber die Gestaltung der Anschauungen von der Lungentuberkulose darzubringen, wie ich sie seit Beginn meines klinischen Studiums in den letzten 45 Jahren in Deutschland selbst erlebt habe.

I n seiner beruhmten Bose-Gedenkschrift vom Oktober 1879 ))Die Tuberkulose vom Standpunkte der Infektionslehreo, hatte Julius Cohnheima genial und uberzeugend die Lehre Villemin'sa von der Ubertragbarkeit der Tuberkulose aus dem Jahre 1865 auf eine nicht mehr zu erschutternde Grundlage gestellt. Angeregt durch Cohnheim's u. Salomonsen'd Mitteilung uber kunstliche Tuber- kulose hatte R. Koch' 1881 den Tuberkelbazillus entdeckt. Aber so stark der Eindruck auf die Klinik war, so blieb doch fur die nachsten Jahre die von Laennec eingefuhrte, den klinischen Be- fund mit dem anatomischen Substrat vergleichende Betrachtung maassgebend, eine Betrachtung, die gleichzeitig neben dem ort- lichen Zustand der Lungen das Allgemeinbefinden beachtete. Hatte doch schon Laennece erkannt: oLes sympt8mes g6n6raux de

Rei der Rodaktinn am 19. Jan. 1931 eingegnngen. ' J. Cohuheim: Gosammelto Abhrndlnngcn, Berlin 1886. Villemin: Gazette hebdom. de m6d. de Paris 1865. Nr. 50, 1866 Nr 43-45,

' J. Cohnheim n. Salomonsen: Sitz. Ber. d. schles. Ges. f. vaterlilnd. Cultur

* R. Koch: Berl. k1. Wo. 1882. Nr. 15. 5. 221.

S. 655.

Nr 48 u. 49.

17 .7 . 1877. J. Cohnheims ges. Abhandl. S. 591.

Laennec: Trait6 de l'noscultntion m6diate. 3. ed. Paris. 1831. T. 11. p. 172.

Page 2: Die Bedeutung der Form der Lungentuberkulose

DIE BEDEUTUNG DER FORM DER LUNUENTUBERKULOSE. 465

la maladie ne sont presque jamais en rapport, ni avec 1’6tat des crachats, ni avec 1’6tendue des d6sordres qui existent dans les poumonsn. Mit Bewunderung lesen wir noch heutfe die meister- hafte Schilderung der verschiedenen Verlaufarten, der akut unter Umstanden wie ein harmloser Katarrh, aber auch mit Bluthusten einsetzenden Formen, deren Fieber trotz Zunahme des physika- lischen Befundes schwindet, dercn Erkrankung schnell fortschrei- t e t oder Monate und sogar Jahre stationar bleibt, um sich erst dann rasch oder langsam zu entwickeln, und im Gegensatz dazu des iiber Jahre und Jahrzehnte hinschleppenden Verlaufs. Er spricht von der Nachweisbarkeit einer Kaverne unterhalb des Schliisselbeins als einem Friihsymptom besonders durch die von ihm hochgewertete Pectoriloquie (1. c. p. 130 f.). Diese ausge- sprochen arztliche, von der Untersuchung des Kranken und des anatomischen Substrats ausgehende Betrachtung war in meinen medizinischen Anfangen in voller Geltung. So finde ich in der 2. Auflage des Lehrbuchs der speziellen Pathologie und Therapie von Striimpell 1885, dem lange Zeit fast allein in Betracht kom- menden Lehrbuch der inneren Medizin in Deutschland, Bd. 1. S. 307 f . eine vortreffliche Schilderung der mannigfachen klinischen Bilder der Lungentuberkulose, der einfachen Bronchitis, der Tu- berkulose der Bronchialwand und der tuberkulosen Peribronchi- tis, der diffusen kasigen Pneumonie, des Zerfalls der tuberkulo- sen Neubildung (Kavernenbildung) auf der einen Seite, der schrumpfenden interstitiellen Pneumonie, Schwielenbildung und Pigmentinduration auf der anderen Seite. Neben dem allmahli- chen Anfang der Lungentuberkulose wird ihr ofterer plotzlicher Beginn, unter Umstanden bei deutlichem Fieber ohne nach weis- bare ortliche Veranderungen mit erst spater hervortretendem Lokalbefund beschrieben. Es wird (S. 327) die disseminierte Lun- gentuberkulose mit zahlreichen in der ganzen Lunge verstreuten Herden geschildert, die physikalisch nicht zu diagnostizieren ware, die zuweilen chronisch, meist aber rasch verliefe und die einen tfbergang zu der echten akuten Miliartuberkulose bilden konnte. Vie1 mehr als Laennec betont Striimpell schon den Spitzenbeginn der Tuberkulose mit Veranderungen in den oberen Zwischenrip- penraumen, bei ganz initialen Fallen oberhalb des Schlusselbeins.

Dem ausgezeichneten Unterricht Strumpells in seinen Leipzi- ger Vorlesungen iiber spezielle Pathologie und Therapie verdanke ich wahrscheinlich das Interesse, das ich der Differenzierung der verschiedenen Tuberkuloseformen zuwendete. Schon in meiner

Page 3: Die Bedeutung der Form der Lungentuberkulose

466 ERNST \‘ON ROMBERG.

Leipziger Dozentenzeit versuchte ich im Perkussionskurs die Be- funde zu trennen.

In den Vordergrund traten aber zunachst andere Fragen. Wie bei den iibrigen Infektionskrankheiten war das Interesse fast aus- schliesslich durch das Studium der Erreger in Anspruch genom- men, bei der Tuberkulose in besonders ausschliesslicher Weise, weil die diagnostischen und therapeutischen Probleme des Tuber- kulins auf das Stiirkste fesselten. Die bakterielle Pathogenese riickte in den Vordergrund. Der aufbluhenden Immunitatswis- senschaft schien auch der wechselnde Verlauf der Tuberkulose als Folge einer einheitlichen immunbiologischen Reaktion des Gesamt- organismus verstandlich. Die ungleiche Disposition der einzel- nen Individuen zur Erkrankung, die R. Koch in seinem ersten Vortrage vor der Berliner physiologischen Gesellechaft (8. 0.) in der ihm eigenen stets das Ganze uberschauenden Art noch echarf be- tont hatte, wurde nicht mehr beachtet. Nur in bescheidenem Aus- maasse erfullten sich die anfangs auf das Tuberkulin gesetzten Hoffnungen. Es ist verstandlich, dass sich an diese Enttauschung eine energische Bekampfung der Krankheit durch die Errichtung der Volksheilstatten in dem durch die deutsche soziale Gesetzge- bung ermoglichten imponierenden Ausmaass anschloss. So riickte die vielgestaltige Gliederung des Beginns und des Verlaufs der Lungentuberkulose durch die friiheren inneren Mediziner aus dem Blickfeld heraus, wie sehr anschaulich das seinerzeit fiihrende Handbuch der Tuberkulose von Cornet (Wien 1899) zeigt. Man studierte und behandelte die Tuberkelbazillenkrankheit.

Abseits von der friiheren Anschauung fuhrte vor etwa 30 Jahren auch der berechtigte Wunsch nach guten Ergebnissen der Heil- stattenbehandlung. Bald hatte man erkannt, dass die hochfie- bernden mit schneller Kavernenbildung rasch fortschreitenden Tu- berkulosen keine Aussichten boten, und unter den iibrig bleiben- den die wenig ausgedehnten Erkrankungen die besten Erfolge hat- ten. Es entsprach das auch der damals sich einbiirgernden Lehre Grancher’d vom Beginn der Tuberkulose mit geringfiigigen, oft lange geschlossenen Prozessen in den Spitzen, ihrem meist lang- samen, vielfach uber Jahre hinschleppenden, die Lungen von oben nach unten abgrasenden Verlauf. Der Bereich der Lungenspitze wurde erst damals auf den Bezirk oberhalb von Schlusselbein und Schulterblattgriite eingeengt. Ebenso wie mir wird es in jener Zeit wohl vielen gegangen sein. In der Marburger Poliklinik traten -

Grancher: Maladies de l’appareil respiratoire. Paris 1890.

Page 4: Die Bedeutung der Form der Lungentuberkulose

DIE BEDEUTUNO DER FORM DIR LUNQESTUBERRULOSE. 467

mir diese fur die Heilstattenbehandlung nach der herrschenden Auffassung geeigneten Spitzenveranderungen in grosser Zahl ent- gegen, wiihrend ich sie in der Leipziger Klinik nur vereinzelt ge- sehen hatte. Es begannen die Bemuhungen, physikalisch-dia- gnostisch und durch probatorische Tuberkulinanwendung zu ent- scheiden, welche dieser Prozesse aktiv und heilstattenbedurftig waren, um so die vermeintlich sonst drohende fortschreitende Tu- berkulose zu verhuten. So entstand auch das Turban-Gerhardt'- schel Schema. Es ist seiner Aufgabe, eine Auswahl der fur die Volks- heilstatten geeigneten Kranken zu sichern, durch die Einteilung der Lungentuberkulose nach Ausdehnung und Starke der physika- lischen Veranderungen fur die Allgemeinheit zweifellos voll gerecht geworden. Aber der durch die epochalen bakteriologischen Entdeck- ungen angebahnte Schematismus in der Betrachtung der Lungen- tuberkulose wurde in weiten Kreisen der deutschen Arzte heimisch.

Eine nur individuell zu losende Frage der taglichen Praxis, die Unterbrechung der Schwangerschaft wegen Lungentuberkulose, gab in Deutschland den Anstoss zur weiteren Entwicklung. v. Rosthorn u. A. Fraenkela berichteten daruber. E. Albrechts wurde dadurch zu seinen wichtigen anatomischen Untersuchungen uber die verschiedenen Formen der Lungentuberkulose angeregt. A . FraenkeP hat das grosse Verdienst, zuerst auf dieser anatomischen Grundlage eine klinische Einteilung der verschiedenen Tuberku- lose-Formen in der Lunge versucht zu haben. Es folgte die grund- legende und erschopfende Bearbeitung des Gebiets durch Aschoff und seine Schuler, vor allem Nicol, Graff, Puhl6 und weiter durch zahlreiche anatomische Arbeiten anderer Institute. Ich nenne be- sonders Ghona, Huebschmann', Schminckea, Beitzkee. Ihre kliirende

' Tnrbnii: Tuberkulnse-Arbeiten 1890-1909. Davos-Plalz 1909, S . 118 n.

v. Rostborn u. Prnenkel: Mouatsschr. f. Gebnrtsbilfe n. Gvn. 23. 1906 u. Zschr. Tbk. 11, 507, 1907.

Dentsch. med. Wscbr. 1906 Nr. 17. 675. Albrecht: Frankf. 2. Path. I. H. 2. 1907. ' A. Fraenkel: Verhandl. der Deutsch. Kongr. f. inn. Med. 1910. 174. ' Nicnl: Beitr. Klin. Tbk. 30. 231. 1914. - GrM: Zschr. Tbk. 34. 174. 1921. -

Pnhl: Beitr. Klin. Tbk. 52, 116. 1982. - Aschoff: Verh. d. deutech. Kongr. f. inn. Med. 1921 n. Ueber die natiirlichen Heilnngsvorgtlnge bei der Lungenphthise. 2. A d . Mtinchen J. F. Bergmnnn 1922.

Ghon: Der primiire Lnngenherd b. d. Tuberknlose der Kinder. Berlin-Wien 1912. - Ghon n. Kndlich: Zschr. Tbk. 46,391. 1926. - Ghon, Kreider n. Kndlich: Virchows Arch. 264, 563. 1997. ' Hnebschmann: Miinchn. med. Wschr. 1921 Nr. 43 S . 1380, zahlreiche andere Arbeiten, Zosammenfassung: Pathologiyche Anatomie der Tnberkulose. Berlin J. Springer 1928.

Schmincke: Beitr. Klin. Tbk. 62, S . 223. 1926. - Miinchn. med. Wschr.

Beitzke: Beitr. Klin. Thk. 56, 304, 1923. - 57, 351. 1924. - 62, 221. 1925 1926. 5. 1223. -

Page 5: Die Bedeutung der Form der Lungentuberkulose

4 (58 EHNST VON ROMBER(4.

Beleuchtung und vielfach auch ihre Anregung erhielten diese For- schungen durch die glanzenden Arbeiten K. %. Ranke’s’. Er baute das krankhafte Geschehen zeitlich auf. Erst durch ihn wurde die Bedeutung des Primiiraffekts in der Lunge als des haufigsten An- fangs allgemein klar. Uberzeugend zeigte er den weiteren Weg der Ausbreitung auf die Bronchialdrusen. Er trennte die spateren Formen ab und schuf so Ubersicht in dem bis dahin nicht uber- blickbaren Gebiet. Das bleibt seine dauernde ganz grosse Leis- tung. Entsprechend der Zeit, in der er seine bahnbrechenden Ge- danken konzipierte, baute er seine Lehre mit Hilfe einer immun- biologischen Hypothese auf. Erwar sich uber ihren nur heuristischen Wert vollig klar (Dtsch. Arch. klin. Med. 119,233). Wie aber so oft, wurde das Gerust der Hypothese lebhafter erortert, als der gross- artige Bau selbst. Die vollig unfruchtbare Diskussion uber die hier unvermeidlich weit auseinandergehenden Anschauungen hat dem Fortschritt der Erkenntnis starke Hemmungen bereitet. Mit der im- mer mehr sich durchsetzenden Uberzeugung von der verhaltnis- massig bescheidenen Rolle bakterieller Umstimmung des Orga- nismus bei der Tuberkulose scheint die Gefahr jetzt im wesentli- chen gebannt.

Im Beginn dieses entscheidenden anatomischen Fortschritts drohte aber der klinischen Erforschung der Lungentuberkulose ein anderer Nachteil. Man versuchte die Klinik von der Anatomie her aufzubauen. Klinische Fortschritte sind aber nur zu erzielen, wenn die Klinik, freilich in steter enger Fiihlung mit ihrem wich- tigsten Bundesgenossen, der pathologischen Anatomie, ihrer ei- genen Fahne folgt. Ich habe deshalb zur Verhutung nicht klini- scher Einteilungsversuche mich 1914 bemuht, die Diagnostik der damals bekannten Formen der Lungentuberkulose zu forderna. Entscheidend vorwarts gebracht wurden die Bestrebungen durch die rasche Entwicklung der Rontgenologie. Griiff u. Kupferle* haben ihr in vorbildlicher Zusammenarbeit des Pathologen und des Rontgenologen die massgebende Grundlage gegeben. Das an- fangliche Fehlen rontgenologischer Befunde und die vom Ub- lichen abweichende Nomenclatur verhinderten, dass die wichti- gen Untersuchungen W. Neumann’sa - Wien so forderten, wie ihre Bedeutung es verdiente. .

Ranke: Beitr. Klin. Tbk. 21, I. 1911. - Dtsch. Arch. klin. Yed. 119, 201

Romberg: Yiinchn. med. Wschr. 1914 Nr. 34 S. 18%. u. 297. 1916. - 129, $24, 1917. - Miinch. med. Wschr. 1917. S. 305.

* GrHff u. Kiipferle: Die Lnngenphthise. Berlin J. Springer 1923. ‘ Nenmann, W. : DieKlinik der beginnonden Tnberknlose Erwacbsener. Wien 1924.

Page 6: Die Bedeutung der Form der Lungentuberkulose

DIE BEDEUTUNQ DER FORM DER LUNQENTUBERKULOSE. 469

Die Qualitatsdiagnose der Lungentuberkulose wurde die Fuh- rerin zu weiteren Fortschritten. Wohl hat man eingewendet, eine restlos exakte anatomische Vorstellung vermochte sie nicht zu ver- mitteln, weil wirklich reine Formen von proliferativer, resp. pro- duktiver, exsudativer oder zirrhotischer Erkrankung nicht vor- kamen. Ich bin zweifelhaft, ob diese Behauptung immer zutrifft. Vielfach ist sie sicher richtig. Wir vermogen aber mit grosser, wenngleich nicht absoluter Sicherheit die arztlich in Betracht kommenden Grade der verschiedenen Formen zu erkennen und in ihrer Bedeutung fur den Kranken zii beurteilen, und darauf kommt es fur uns als &zte an. Fast alle Entscheidungen pro- gnostischer und vor allem therapeutischer Art bauen auf dieser Differenzierung auf. Entscheidend ist stets die gefahrlichste Form, die sich bei einem Kranken findet. Wenn neben einer alten Zirr- hose ein fortschreitender exsudativer Prozess auftritt, wie man das auch bei Jahrzehnte alten Erkrankungen sieht, so beherrscht er das weitere Schicksal. Besteht eine ausgebreitete Aussaat prolife- rativer Herde, so ist das ungunstiger, als wenn eine reine Zirrhose vorliegt. Kavernen sind auch bei sonst reiner Zirrhose eine uner- wiinschte Komplikation. Auf die Wichtigkeit der Trennung fur jede Behandlung, mag es sich um klimatische oder physikalische Einwirkungen, um spezifische oder unspezifische Reiztherapie oder um chirurgische Eingriffe zur Herbeifuhrung von Kollaps der Lunge handeln, braucht wohl nur hingewiesen werden.

Schon 1914 wurde von mir nachdrucklich betont: )). . . das Ver- halten des Krankheitsherdes selbst ist nur eiiz Faktor im gesam- ten Krankheitsbilde. Auch wenn wir von den mannigfachen Kom- plikationen absehen, so ist neben der iirtlichen Erkrankung stets die Beaktion des Gesarntorganisrnus zu beachten . . . . . . im einzelnen sehen wir die grosste Verschiedenheit, ohne dass der anatomische Prozess allein das in allen Fallen verstiindlich macht. Bei ganz massigen, gutartigen Prozessen haben wir unter Um- stlinden zunachst starke toxische Erscheinungen, deutliches Fie- ber, starke Herzbeschleunigung, liistige Durchfiille, starke Abma- gerung und bei sehr ausgedehnten scheinbar schwereren Veran- derungen fehlt manchmal jede Temperatursteigerung, jedes All- gemeinsymptom, der Ernahrungszustand ist vortrefflich. Bei ganz gleichurtigen anatomischen Professen findet sich die grosste Verschie- denheit des Gesarntverhaltens.1) Diese Tatsache wurde vielfach nicht beriicksichtigt. Man erwartete noch immer unter der Herr- schaft immunbiologischer Vorstellungen eine gleichsinnige Reak-

Page 7: Die Bedeutung der Form der Lungentuberkulose

470 ERNST VON ROMBERQ.

tion der erkrankten Lungen und des Gesamtkorpers. Es beein- flusste diese Einstellung auch wenig, dass auf einem Gebiet, dem weissen Blutbilde, dieses Auseinandergehen von Allgemeinreaktion und Organbefund zahlenmassig aufgezeigt wurdel. Man hatte das- selbe auch an der Blutsenkung oder einer beliebigen Allgemeiner- scheinung nachweisen konnen. In der allgemeinen Praxis wurde die Qualitatsdiagnose der Lungentuberkulose vielfach bedauerlich schematisiert. Proliferativ oder produktiv wurde oft zur Bezeich- nung gutartiger, cxsudativ zu der bosartiger Phthisen. Diese un- berechtigte Einseitigkeit musste zu einer Reaktion fiihren. Die Reaktion kam durch die immer eingehendere Krankenbeob- achtung.

Die angespannte Arbeit der Pathologen, der Rontgenologen und der Kliniker hatte die ausgebildeten Lungentuberkulosen in ihrer Erscheinung und ihrem Verlauf scharf umrissen. Man hatte auch gelernt, den Primareffekt und die Veranderungen der Bronchial- und Trachealdriisen rontgenologisch zu erkennen und zu beur- teilen. Dazwischen klaffte aber eine weite Liicke, die der Ein- zelne je nach seiner Einstellung zur Pathogenese der Lungentu- berkulose theoretisch zu iiberbriicken versuchte. Hier schuf die Rontgenologie sicheren klinischen Boden.

Zunachst fielen Befunde auf, die sich mit der unbeschrankt herr- schenden Lehre vom Spitzenbeginn der Phthise nicht vereinigen liessen.

Riedera - Miinchen schilderte Kavernen mit diinner Wand in sonst nicht veranderten Lungen. H. Straub u. Otten* berichteten aus meiner Tiibinger Klinik iiber tuberkulose Infiltrate nahe dem Hilus mit merkwiirdig regelmassiger Kavernenbildung. Es folgten einschlagige Befunde von Schutb, Gerhartz', Alexandefl, Grau7. Assmann8 beschrieb 1928 als eine Friihform die seinen Namen tragenden Herde unter dem Schliisselbein und die Kavernenbildung in ihnen. Er deutete sie als kasige Pneumonien. In den 3 folgen- den Jahren schlossen sich entsprechende Mitteilungen von Grasss,

* Romberg: Zschr. Tbk. 34, 191. 1921. * Rieder: Fortschritte d. Rllntganetrnhlen 16, 1. 1910/11. H. Straub u. Otten: Beitr. Klin. Tbk. 24, 283. 1912. ' Schut: Beitr. Klin. Tbk. 24, 145. 1912.

E. Gerhartz: Beitr. Klin. Tbk. 34, 191. 1915. Alexander: Beitr. Klin. Tbk. 36, 75. 1917. Friihdin nose der Lungentuber-

kulode. 3. Aufl. Leipeig. 1925. - Zschr. Tbk. 50, 3. 1828. 'I Gtrau: Beitr. Klin. Tbk. 42, 925, 1919. * Assmann: Die Rllntgendiagnostik innerer Krankheiten, Leipzig F . C. W.

Vogel 1922 u. Beitr. Klin. Tbk. 60, 527. 1925. Grass: Beitr. Klin. Tbk. 59. 362. 1924.

Page 8: Die Bedeutung der Form der Lungentuberkulose

DIE BEDEUTUNQ DER FORM DER LUNQENTUBERKULOSE. 47 1

Haudekl, Dietla, Fleischnels an. Besonders ist die Schilderung U1- rici's4 von 1924 hervorzuheben. Wichtige klinische Ziige wurden von ihm betont. Aber erst 1926 erkannte man nahezu gleichzeitig an verschiedenen Stellen als besondere Merkmale der geschilderten Abweichungen, die sich mit der zunehmenden Haufigkeit der Rontgenuntersuchung als eine typische, keineswegs seltene Ver- hderung bei Erwachsenen herausstellten, ihre rasche Entstehung a19 umschriebene oder ausgedehntere Infiltrierung, die Moglich- keit der schnellen Riickbildung betrachtlicher Prozesse und andererseits die Neigung zur Kavernenbildung mit einer bis dahin nicht gekannten Schnelligkeit einer fibrosen Umwallung auch bei Riickbildung des umgehenden Infiltrats. Redekers, Passbender@, aus meiner Klinik Lydtin' und Ickerts haben die Vorgange eindrucksvoll geschildert.

Bei der schnellen Riickbildungsmoglichkeit konnte es sich bei diesen Infiltrierungen nicht um die bis dahin allein gekannten ex- sudativen Prozesse, um kasige Bronchopneumonien oder Pneumo- nien, handeln. Vie1 mehr war an mildere Entziindungen mit se- roser Durchtrinkung und Zellvermehrung ohne erkennbare Ent- stehung spezifischen tuberkulosen Gewebes, ohne allgemeine Verkasung um einen tuberkulosen Herd zu denken, wie ihn die Kavernenbildung ja zweifellos anzeigte. Rankeg hatte der- artige Entziindungen um tuberkulose Herde beschrieben und nach einem Ausdrucke Schmincke's als perifokale Entziindung bezeich- net, wahrend Tendeloolo schon friiher sie kollaterale Entziindun- gen genannt hatte. Mit Recht wurden 1926 diese in ihrem Verlauf a19 etwas neues imponierenden Entziindungen in Beziehung zu Veranderungen gesetzt, die den Kinderarzten in der Umgebung tuberkuloser Bronchial- und Trachealdriisen bekannt waren. Kleinschmidtll, Eliasberg u. Neulandla hatten sie niichst Sluka",

Handek: Wiener klin. Wschr. 1924, Nr. 43, 1109.

Fleischner: Beitr. Klin. Tbk. 61. 442. 1925. * Dietl: Beitr. Klin. Tbk. 60, 332. 1925.

' Ulrici: Diagnostik und Thcrapie der Lungen- u. Kehlkopftuberknlose. Berlin. J. Springer. 1924 S. 71 a. 102. ' Redeker: Beitr. Klin. Tbk. 6?, 574. 1926.

Fassbender: Zscbr. Tbk. 44, 35. 1926. ' Lydtin: Zschr. Tbk. 45, 273. 1926. " Ickert: Zschr. Tbk. 45, 291. 1926. " Ranke: Deutsch. Arch. f. kl. Yed. 119, 237. 1916. l" Tendeloo: Pathologische Anatomic der Tbc. Handb. d. Tbk. I, 41. 1914. 'l Kleinschmidt: Beitr. Klin. Tbk. 61, 330. 1925. Beitr. Klin. Tbk. 63, 369.

l2 Eliasberg n. Nenland: Jahrb. Kinderheilk. 93, 88, 1920 u. 94, 102, 1921. l 3 Slnka: Wiener klin. Wschr. 1912. Nr. 7, S. 259 11. 1913. Nr. 7, S. 284. 30-.310G69. Acta m d . Scundimv V o l . LXXT'.

1927.

Page 9: Die Bedeutung der Form der Lungentuberkulose

472 ERNST VON ROMBERG.

der eine spezielle Form beschrieb, zuerst umfassend geschildert. Sie waren als Epituberkulosen den Padiatern gelaufig. Redeker' hatte dann auch um den Primaraffekt herum entsprechendes ge- sehen. Der Unterschied dieser fast nur bei Kindern, vereinzelt bei Erwachsenen vorkommenden Veranderungen t ra t aber jetzt rasch hervor. Er wurde rnit Recht auf die Verschiedenheit des Herdes bezogen, den die in ihrer Art sehr ahnliche perifokale In- filtration umgab, einmal Lymphdrusen oder Primiiraffekt, im an- deren Falle ein Lungenherd rnit der Moglichkeit voller Vernarbung, aber auch rnit einer grossen Neigung zum kavernosen Zerfall und mit der Fahigkeit, den Hohlraum schnell fibros abzukapseln, wah- rend die unter Umstanden ebenso rasch entstehenden Kavernen verkaster exsudativer Tuberkulosen hemmungslos in die Umge- bung hineinfrassen. Wic Lydtinn ferner rnit Recht betonte, sind zudem diese perifokalcn Entzundungen um Lungenherde meist bei weitem nicht so ausgedehnt wie bei Kindern um Driisen oder Primiiraffekt.

Redeke9 ta t einen weiteren entscheidenden Schritt. Er zeigte die Entwicklung der bekannten Formen der Lungentuberkulose aus den Infiltraten durch Reihenaufnahmen bei einer von ihni fiir- sorgerisch mustergultig uberwachten Bevolkerung. Ich4 sprach mich in einem am 3. Februar 1927 gehaltenen Vortrage ebenfalls nachdrucklich fur die Bedeutung dieser Moglichkeit aus, schildertc sie aber nach meiner Erfahrung nicht als die allein vorkommende Entstehung der Lungentuberkulose. Als ein Begriinder der Auf- fassung ist vor allem auch Ulricia zu nennen. Eine grosse Reihe wichtiger Mitteilungen folgte. Es ist hier unmoglich, sie entspre- chend ihrer Bedeutung zu wurdigen. Die Benennung der Prozesse als Fruhinfiltrat durch Simon-Aprath (s. Redeker 1.c.) entfaltete die Fahne, unter der die Anhanger der neuen Lehre, wie sie wenig glucklich genannt wurde, den Kampf fur ihre Anschauungen fiihr- ten. Lydtine sagt mit Recht: vDas Neue der klinischen Erfahrung bestand demnach nicht in der gelegentlichen Beobachtung lihnli- cher rontgenologischer Erscheinungen, sondern in der Erkennt- -~

Redeker: Zschr. Tbk. 45, 1. 1926. Lgdtin: Beitr. Klin. Thk. 67, 235. 1927. Redeker: Dtsch. med. Wschr. 1927. Nr. 3. Beitr Iilin. Thk. 65, 449.1927.

- Zentralbl. inn. Med. 1927. Nr. 33 n. 34. Romberg: Klin. Wscbr. 1927. Nr. 24. - Ueber die Entwicklung d. Lnngen-

tnherkulose. Berliii J. Springer. 2. Anfl. 1928. Ulrici: Fortschritte ROntgenstrahl. 36, 279. 1927. - Dtscb. med. Wschr.

1928. Nr. 16. Lydtin: Zentrbl. f. d. gesamt. Tnberknloseforschung 30 H. 9/10, 515. 1929.

Page 10: Die Bedeutung der Form der Lungentuberkulose

DIE BEDEUTUNQ DER FORM DER LUNQENTUBERKULOSE. 473

nis, dass das Friihinfiltrat und seine weiteren Stadien eine ront- genologisch verfolgbare Regelentwicklung fur zahlreiche Lungen- tuberkulosen darstellen. Das Neue bestand ferner in der Heraus- arbeitung der diagnostischen und prognostischen Eigenart dieser Fruhformen und der aus dieser Eigenart fur die Behandlung des Einzelfalles wie fur die Bekampfung der Tuberkulose uberhaupt sich ergebenden Folgerungen.))

Wesentlich vorbereitet war die Einstellung zur Bedeutung des Friihinfiltrrttes durch die Verfolgung zahlreicher Spitzentuberku- losen. Schon 1924 hatte ein bewahrter Fuhrer der deutschen Tu- berkulose-Forschung Braeuningl, 1927 Lydtina und 1928 Kayser- Petersen8 betont, dass nur 7 % der physikalischen Spitzenveran- derungen fortschritten. Diese Zahl hatten Redeker" und ebenso Lydtin5 noch weiter eingeschrankt, indem von rontgenologisch sicher gestellten kleinherdigen Spitzentuberkulosen der erste 2.9 yo fortschreitend erkranken sah, der zweite nur bei 3 % ein bazil- lares Stadium, davon bei der Halfte nur voriibergehend, bei der anderen Halfte fortschreitend beobachtete. Die seltene Entwick- lung fortschreitender Lungentuberkulosen aus kleinherdigen Spit- zenerkrankungen durfte natiirlich nicht dazu fiihren, alle derar- tigen Spitzenveranderungen als gleichgiiltig zu betrachten. Auch sie konnen, wie ich 1927, entsprechend meinen u. Kerber'd Unter- suchungen betonte, krank machen, unter Umstanden auch lan- gere Zeit die Gesundheit empfindlich beeintrachtigen. Sie konnen vereinzelt offen sein. Erkrankung durch Spitzenherde ist aber so ungewohnlich, dass man zunachst andere Ursachen des gestorten Befindens ausschliessen muss.

Praktisch wirkte die veranderte Anschauung sich rasch gunstig aus. Die deutschen Landesversicherungsanstalten und die Reichs- versicherungsanstalt fur Angestellte offneten ihre Heilstatten seit dem Spatsommer 1927 in vorbildlicher Weise den Kranken mit Fruhinfiltraten trotz ihrer die Aufnahme bis dahin erschwerenden Kavernen und ihren unmittelbaren Folgezustanden. Die Mehr- zahl ihrer Kranken war jetzt offen, wahrend sie friiher in einem nicht mehr zu rechtfertigenden Umfange von geringfugigen ge-

l Braenning: Beitr Klin. Tbk. 58, 429. 1924. * Lydtin: Zschr. Tbk. 49, 1. 1927. * Kavser-Petersen: Beitr. Klin. Tbk. 69. 10. 1928. ' Rdeker n. Walter: Entstehnng nnd' Entwicklnng der Lnngennchwindsucht

Lydtin: Zentralbl. f. die ges. Tnberknloseforschnng. 30 Heft 9/10, 519 n.

Romberg n. Kerber: Beitr. Klin. Tbk. 58, 349. 1924.

beim Erwachssnen. 2. Aufl. Leipzig. Kabitzsch. 1929 S. 87.

Schlnssanmerkung 1930.

Page 11: Die Bedeutung der Form der Lungentuberkulose

474 ERNST VON ROMBERQ.

schlossenen Spitzenerkrankungen besetzt waren. Ein frischer the- rapeutischer Zug ging durch die Heilstatten. Der Nutzen der Kol- lapstherapie, besonders des kunstlichen Pneumothorax war bei den Fruhkavernen allgemein anerkannt. Ebenso erfuhr die Fiirsorge- tktigkeit, die ja durch Redeker maassgebend zu der Umstellung beigetragen hatte, eine begrussenswerte Relebung. 8% galt ausser der Pflege altbewahrter Maassnahmen das oft nur rontgenologisch festzustellende, vielfach schon in seinen Anfangen offene Pruhin- filtrat zu finden. Es galt, es rasch der aussichtsvollen Behandlung zuzufuhren. Man hatte nicht mehr Zeit, abzuwarten, wie bei der friiheren Annahme des langsamen Beginns der Lungentuberkulose. Das Auftreten des Fruhinfiltrats und seine Kavernisierung war ein akutes Ereignis, das unter Umstanden schnell zu nicht mehr ausgleichbaren Folgen fuhrte.

Selbstverstandlich folgte der ersten Welle der Anerkennung ein Wellental der Kritik. Sie richtete sich einmal gegen die bei ein- zelnen Verfechtern der vorgetragenen Anschauungen zu ausschliess- lich betonte Bedeutung des Friihinfiltrats fur die Entwicklung der Lungentuberkulose. Auf der 3. Tagung der Deutschen Tuber- kulose-Gesellschaft am 31. Mai und 1. Juni 1928 in Wildbad' sties- sen in den Berichten von Kayser-Petersen, Ulrici und Graff und in der ausserordentlich lebhaften, bisweilen fast dramatischen Aus- sprache die Gegensatze hart aufeinander. Noch in den folgenden Berichten uber Allergie und Tuberkulose von Redeker und Neu- feld fiihlte man die herrschende Spannung. Mir war die Aufgabe zugeteilt, die Bedeutung der Vortrage der beiden Verhandlungs- tage fur die wissenschaftliche Arbeit der nachsten Zeit am Schliisse der Verhandlung zusammenfassen. Ich sagte (S. 303): ))Die Aus- sprache hat nichts ergeben, was die grosse Rolle des Friihinfil- trats erschuttert. Insbesondere ist kein uberzeugendes Material vorgebracht worden, das die Anschauung von der primaren Er- krankung der Lungenspitzen mit kleinen, proliferativen Herden als regelmassigen arztlich in Betracht kommenden Anfang der Lungentuberkulose irgendwie stiitzt.)) Andererseits betonte ich (S. 304), dass auch aus scheinbar primaren hamatogenen oder peri- bronchial entstandenen Spitzenherden eine fortschreitende Tu- berkulose in manchen Fallen sich entwickelt. Ich betonte a19 weitere Moglichkeiten der Entstehung ausgedehntere hamatogene

Verhandlnngen d. deutsch. Tub. Ges. J. Springer. Berlin 1928.

Page 12: Die Bedeutung der Form der Lungentuberkulose

DIE BEDEUTUNQ DER FORM DER LUNGENTUBERKULOSE. 475

Streuungen, wie Gerhartzl, besonders Grau', Lydtins, Simon4, Dukens und RedekerE sie geschildert hatten, ferner Streuung oder Durchbruch eines Primaraffekts oder einer Driise. Sie traten aber beim Erwachsenen und schon beim jugendlichen Menschen gegen das Friihinfiltrat zuriick.

Scharf zuriickgewiesen wurde die topische Einteilung des Be- ginns nach Spitzen und infraklavikuliirem Bereich. Findet sich auch die Mehrzahl der Priihinfiltrate an der von Assmann zuerst beschriebenen Stelle unterhalb des Schliisselbeins, so kommen sie doch auch in allen anderen Lungenabschnitten, auch in den Spit- Zen vor. Sind kleinherdige Veranderungen in den Spitzen bei Er- wachsenen ein anatomisch fast regelmassiger Befund, so finden sich ausgedehntere Streuungen doch in den verschiedensten Be- zirken.

Die Kritik beanstandete ferner die ungeniigende Klarung der klinischen Befunde durch die pathologische Anatomie. Die For- derung war nur durch die allmahliche Zusammentragung von Zufallsbefunden zu erfullen, weil ein frisches Friihinfiltrat oder seine Kaverne nicht im Beginn zum Tode fiihrt. So erklart sich die noch 1927 vollige Unbekanntschaft der pathologischen Ana- tomie mit dem eindrucksvollen klinischen Bilde. Man konnte nur Vermutungen aussern. I n der ersten Veroffentlichung meines Vortrags vom 3. Februar 1927 wies ich auf die Moglichkeit einer Beziehung zu den von Birch-Hirschfeld' als tuberkulose Erstherde beschriebenen Veriinderungen. Aschoffs betonte ihre Identitat mit den von ihm auf dem Deutschen Kongress fur innere Medizin 1921 beschriebenen, 1922 von PuhP ausfiihrlich veroffentlichten tuber- kulosen Reinfekten. Die Rolle gehaufter Infektion bei der Ent- stehung von Friihinfiltraten f ugte sich dieser Auffassung zwang- 10s. Dann begriindete Loeschcke'o mit seinem Schuler Zeiss auf

._.___

Gerhartz: Beitr. Klin. Tbk. 34, 191, 1915.

Lydtin: Zschr. Tbk. 49, 11. 1927. Simon: Zschr. Tbk. 42, 353. 1925.

a Grau: Beitr. Klin. Tbk. 42, 325, 1919.

Simon n. Redeker, Prakt. Lehrbnch der Kindertuberkulose. ' Daken n. Beitzke: Die ambnlante Diagnostik der Kindertnberkulose.

Miinchen Lehmann 1926 S. 70. - Conrtin u. Duken: Fortschr. d. ROntgen- strahl. 37. 836 u. Zschr. f. Kinderheilk. 45, 603. 1928.

a Redeker n. Walter: Entatehung nnd Entwicklung der Lnngenschwindsucht des Erwachsenen. Leipzig. Kabitzsch 1928 S. 135 (2. A d . 1929). ' Birch-Hirschfeld: Deutsch. Arch. f. kl. Med. 64 Tafel 111-V.

' Puhl: Beitr. Klin. Tbk. 52, 116. 1982. lo Loeschcke: Beitr. Klin. Tbk. G8, 251. 1928. u. Dtsch. Tuberkulosekongr.

Leipzig Kabitzsch 1926. S. 246.

1899. Aschoff: Klin. Wschr. 1929 Nr. 1.

1928 S. 221.

Page 13: Die Bedeutung der Form der Lungentuberkulose

476 ERNST VON ROMBBRQ.

sorgfaltigen anatomischen Studien die Auffassung, dass die Friih- infiltrate durch eine Streuung groben Korns aus Spitzenherden entstanden, eine Anschauung, die auch von Griiff auf dem Wildba- der Kongress und allerdings nicht als durchweg giiltig von Aschoff (1. c.) anerkannt wurde. Aschoff betonte endlich die Entstehung der Puhl’schen Reinfekte ausser auf exogenem Weg durch gehaufte Infektion , ausser durch intrakanalikulke Streuung von einem Spit- zenherd aus auch auf dem Blutwege.

Die disseminierten kleinherdigen Tuberkulosen, aus denen eben- falls fortschreitende Lungentuberkulosen hervorgehen konnen, wollte Loeschke auf eine Streuung kleinen Korns zuriickfiihren. Huebschmann‘ hielt demgegeniiber an der auch sonst iiberwiegend anerkann ten hamatogenen Entstehung fest.

Tatsachlich durften fur das Friihinfiltrat alle genannten Mog- lichkeiten in Betracht kommen. Die vereinzelten Befunde Ass- mann’sp, Schminoke’sa, Pagel’s*, Kudlich’ss, die iiberraschend zahl- reichen Schurmann’d auf Grund seiner Hamburger Erfahrungen zeigen die Entstehung des Friihinfiltrats neben Spitzenherden und ohne sie. Sie zeigen entsprechend der Puhl’schen Schilderung den verkbten Fokus mit dem ihm umgebenden, nicht von tuberku- losem Gewebe gebildeten perifokalen Entziindungshof und die den Fokus einschmelzende Friihkaverne mit ihrer starken zirrhoti- schen Umwallung, sowie endlich den verkiisten zur Kaverne fuh- renden Drainagebronchus. Die Vorstellungen, die auf Grund des Rontgenbefundes und seiner Entwicklung von der Klinik geaus- sere waren, wurden also anatomisch bestatigt.

Zu einer nach den schweren Kampfen des Vorjahres begriissens- werten Verstandigung fuhrte die Verhandlung der Deutschen Pa- thologischen Gesellschaft in Wien7 am 6 . April 1929 mit den Berich- ten von Huebschmann und mir. Sicher ist noch vieles unklar. Vor allem muss die Haufigkeit erforscht werden, in der die einzelnen Entstehungsmoglichkeiten der Friihinfiltrate und der disseminier- ten Streuungen sich verwirklichen. Viele Einzelheiten des Verlaufs sind noch zu studieren. Vor allem ist die grundsatzlich scheinbar

Hnebschmann : Patholog. Anatomie der Tnherknlose. Berlin Springer 1928,

’ Assmann: Klin. Wschr. 1927, S. 2128. Schmincke: Beitr. Klin. Tbk. 67, 124, 1927. Pagel: Dtsch. med. Wschr. 1929, S. 394. ’ Eudlich n. Reimann: Z. Tbk. 55, 289, 1930. ’ Schiirmann: Beitr. path. Anat. 81, 568, 1938-1929 u. 83, 551, 1929. Verhandl. d. Dentsch. Path. Oesellsch. Gustav Fischer, Jena 1999.

S. 52.

Page 14: Die Bedeutung der Form der Lungentuberkulose

DIE BEDEUTUNQ DER FORM DER LENQENTUBERKULOSE. 477

feststehende Behandlung in den Bedingungen von Erfolg, vor allem Dauererfolg und Misserfolg weiter zu klaren.

Aber es diirfte jetzt fast allgemein die Entwicklung der Lun- gentuberkulose auf verschiedenen Wegen anerkannt sein: beim jungen Kind, selten spater der Durchbruch von Primaraffekt oder einer Bronchialdriise mit der rasch verkasenden Pneumonie, wei- ter mit fortschreitendem Alter immer seltener die mindestens vor- wiegend hamatogenen disseminierten Streuungen von einzelnen Spitzenherden zur ausgebreiteten Durchsetzung grosserer oder kleinerer Lungenabschnitte bis zur Miliartuberkulose, daneben die meist gutartigen perifokalen Entziindungen um Primaraffekt und dazugehorige Driisen, und endlich im jugendlichen und er- wachsenen Alter vorherrschend das Friihinfiltrat mit seinen dring- lichen Forderungen an Erkennung und Behandlung, nicht selten ein Nebeneinander der verschiedenen Vorgange und jenseits dieser mannigfaltigen Anfange die ausgebildete Lungentuberkulose in ihrer bei jedem Kranken wechselnden Vielgestaltigkeit, wie sie durch die Form der Erkrankung, durch die Mischung verschiedener Formen, durch die wechselnde Allgemeinreaktion bedingt wird. Es ist in gleicher Weise der Arbeit der Klinik, besonders der Ront- genologie, der pathologischen Anatomie und der Bakteriologie einschliesslich der Immunitatswissenschaft zu danken, dass in ver- haltnismassig kurzer Zeit durch das oft heisse Ringen die Kennt- nisse beachtenswert gefordert wurden. Der Schematismus, der von verschiedenen Seiten den Fortschritt hemmte, diirfte wenig- stens fur die nachste Zeit keinen Boden mehr finden.

Eine Gewahr in dieser Beziehung erblicke ich in der erneuten Betonung der Konstitution. Sicher bewirkt die Ansiedlung der Tuberkelbazillen eine beachtenswerte Umstimmung des Organis- mus. Wie bei vielen Infektionskrankheiten tritt sie aber fur die Gestaltung des Verlaufs im Einzelnen hinter die angeborenen und erworbenen Eigenschaften des Korpers zuriick, von denen Form und Ausgang des Kampfes zwischen Erregern und Organismus abhangt. Es ist ein Verdienst Lydtin'sl das fur die Lungentuber- kulose scharf betont zu haben, nachdem Neufeld wiederholt, zu- letzt auf der Wildbader Tagung 1928 vom bakteriologischen Stand- punkt die verhaltnismassig bescheidene Rolle der erworbenen Im- munitat bei Tuberkulose eindrucksvoll geschildert hatte. Die Erb- untersuchungen von Diehl und v. Verschuera an tuberkulosen

Berlin Lydtin: Zschr. Tbk. 43, 973. 1996 11. Klio. Wschr. 1930 Nr. 49.

a Diehl u. v. Verschurr: Verhandl. d. deutsch. Tub. Ges. J. Springer. 1930, '206.

Page 15: Die Bedeutung der Form der Lungentuberkulose

478 ERNBT VON ROMRERQ.

Zwillingen aus tuberkulosem Milieu zeigten unmittelbar in iiber- zeugender Weise die grosse Rolle vererbter Eigenschaften. Selbst- verstandlich sol1 durch die Betonung der Konstitution die Be- deutung der Infektion nicht herabgesetzt werden. Die gehiiufte Superinfektion spielt bei der Entstehung vieler Infiltrierungen, namentlich der Friihinfiltrate in einem betrachtlichen Teil die- ser Erkrankungen eine maassgebende Rolle.

Ich habe mein personliches Erleben in der Entwicklung der deutschen Anschauungen von der Lungentuberkulose wiedergege- ben. J e nach seiner Einstellung wird jeder das Werden seiner Vorstellungen anders sehen. Vor allem hat die Wissenschaft an- derer Lander zum Teil andere Wege beschritten. Ich habe niich absichtlich auf die vorgelegten Ausfiihrungen beschrankt, weil eine personlich betonte Gabe den Empfanger am ehesten freut und mir daran liegt, meiner Hochschiitzung fur Herrn I. Holmgreri und nicinem Dank fur die mir vor einigen Jahren gewahrte liebenswur- dige Gastfreundschaft einen moglichst lebhaften Ausdruck xu geben.