zur geschichte des „gaudeamus€¦ · das gaudeamus igitur, unbestritten das welt-studentenlied,...

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Zur Geschichte des „GaudeamusUnwesentlich gekürzter Text der Festrede, welche Prof. Raimund Lang am 26.April 2013 anlässlich des 185. Stiftungsfestes der US! „St. Pauli zu Jena“ gehalten hat. Wenn wir heute einen Verlust studentischer Gesangskultur zu beklagen haben, einen Verlust, der sich sowohl in der Qualitiät der Wiedergabe als auch in der zunehmenden Verengung des Repertoires äu- ßert, so sind es die Sängerschaften, die sich dieses studentischen Kulturerbes am stärksten bewusst und in ihren Kreisen dem verflachenden Zeitgeist entgegenzuwirken bemüht sind, was nicht immer eine leichte, aber stets eine vornehme Aufgabe ist. Und in dem weiten Spektrum verbindungsstudentischer Einstellungen und Ausrichtungen kommt den Sängerschaftern ein besonderes Prädikat zu, nämlich jenes, dank ihrer musikalischen Unterfütterung die Ästheten unter den Korporierten zu sein. Wenn eine Verbindung langsam auf die Vollendung des zweiten Jahrhunderts ihrer Existenz zuschrei- tet, dann wird ihr Geschichtsbuch langsam zum Lehrbuch und allemal zu einem geschichtlichen Do- kument. Ein Blick in die Geschichte des Paulus, der übrigens schon durch seine Namensgebung nach einer Kirche und damit im übertragenen Sinn nach einem Heiligen eine Art von Kanonisierung erfah- ren hat, nötigt auch dem über die Kommerstafeln hinauslauschenden Musikfreund Bewunderung und Respekt ab. Die Tatsache, dass zwei der größten Meister ihrer Kunst, der leichtlebige Austrohungare Franz Liszt und der schwerblütige Hanseat Johannes Brahms, zwar nicht aus diesem Bund herausge- wachsen sind, aber auf dem Höhepunkt ihres Ansehens hineingeschmolzen, indem sie dessen Ehren- mitgliedschaft angenommen haben, beweist ja auch die Geltung, die diesem Verein zu jener Zeit zuge- standen wurde. Und beide haben sich, in gänzlich unterschiedlicher Weise, durch ihre grandiosen Gaudeamus-Bearbeitungen in der studentischen Musikgeschichte manifestiert. Das Gaudeamus igitur, unbestritten das Welt-Studentenlied, ist zweifellos das am häufigsten zitierte studentenmusikalische Thema – gleich einer Kennmelodie zieht es sich durch die letzten beiden Jahrhunderte. Aber der Can- tus Gaudeamus igitur ist – auch das soll an dieser Stelle betont werden – nicht das älteste Studenten- lied. Zwar fuhrt uns seine Spur mehr als 700 Jahre zurück und endet dort bei einem düsteren Bußlied, das mit den Worten „Ubi sunt qui ante nos in hoc mundo fuere? anhebt und fortfährt: ,,Cineres et vermes sunt, carnes computruere.“ (Wo sind die, welche vor uns in dieser Welt waren? - Asche und Würmer sind sie, ihr Fleisch ist verfault.) Solche Formeln erinnern eher an Flagellanten-Prozessionen, als an studentische Festzüge. Doch die fahrenden Schüler, Scholaren und Vaganten schafften es über eine Strecke von 250 Jahren, dieses Lied umzuwenden in sein Gegenteil, nämlich aus der Klage über die irdische Vergänglichkeit ein Jubellied auf ebendiese vergänglichen Freuden zu machen. Das Wort Gaudeamus – freuen wir uns –, Sequenzen des Gregorianischen Chorals entnommen, geriet um 1500 an die Spitze und wurde nach und nach zum studentischen Synonym, das wie kein anderes die Kon- stante studentischer Lebenslust verkörpert. Letztlich, 1961, wurde das alte Lied zur offiziellen Hymne der Studentenweltspiele, der Universiade und damit zu einem zeitlosen, übernationalen Studentenlied. Fragen wir aber nach dem ältesten Studentenlied, so müssen wir noch einmal um ein ganzes Jahrhun- dert zurück. Als solches gilt ein Text, den wir einem mit Namen nicht fassbaren Dichter des Hochmit- telalters verdanken, der als Hofpoet dem Kölner Erzbischof und deutschen Reichskanzler Reinald von Dassel diente und sich selbst – die Grenze vom Stolz zum Hochmut berührend – als ,,Archipoet“ be- zeichnete. Er war ein Genießer und Spötter zugleich, und beides auf hohem Niveau. Als er – 1164 mit- ten im lombardischen Feldzug Friedrich Barbarossas im Feldlager von Pavia – von den Höflingen we- gen seines heftigen Weinkonsumes beim Bischof denunziert wurde, rechtfertigte er sich mit einem Gedicht, der 25 Strophen zählenden ,,Vagantenbeichte“. Die 12. bis 19. davon gelten als das Produkt der Kneippoesie und beginnen mit den Worten: ,,Meum est propositum in taberna mori“ (Meine Be- stimmung ist es, im Wirtshaus zu sterben). Sie sind ein glühendes Bekenntnis zum Trunk, aber nicht zu degoutantem Suff, sondern zum Weingenuss als Mittel zur Hebung des Geistes, und enden mit ei-

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Page 1: Zur Geschichte des „Gaudeamus€¦ · Das Gaudeamus igitur, unbestritten das Welt-Studentenlied, ist zweifellos das am häufigsten zitierte studentenmusikalische Thema – gleich

Zur Geschichte des „Gaudeamus“ Unwesentlich gekürzter Text der Festrede, welche Prof. Raimund Lang am 26.April

2013 anlässlich des 185. Stiftungsfestes der US! „St. Pauli zu Jena“ gehalten hat. Wenn wir heute einen Verlust studentischer Gesangskultur zu beklagen haben, einen Verlust, der sich sowohl in der Qualitiät der Wiedergabe als auch in der zunehmenden Verengung des Repertoires äu-ßert, so sind es die Sängerschaften, die sich dieses studentischen Kulturerbes am stärksten bewusst und in ihren Kreisen dem verflachenden Zeitgeist entgegenzuwirken bemüht sind, was nicht immer eine leichte, aber stets eine vornehme Aufgabe ist. Und in dem weiten Spektrum verbindungsstudentischer Einstellungen und Ausrichtungen kommt den Sängerschaftern ein besonderes Prädikat zu, nämlich jenes, dank ihrer musikalischen Unterfütterung die Ästheten unter den Korporierten zu sein. Wenn eine Verbindung langsam auf die Vollendung des zweiten Jahrhunderts ihrer Existenz zuschrei-tet, dann wird ihr Geschichtsbuch langsam zum Lehrbuch und allemal zu einem geschichtlichen Do-kument. Ein Blick in die Geschichte des Paulus, der übrigens schon durch seine Namensgebung nach einer Kirche und damit im übertragenen Sinn nach einem Heiligen eine Art von Kanonisierung erfah-ren hat, nötigt auch dem über die Kommerstafeln hinauslauschenden Musikfreund Bewunderung und Respekt ab. Die Tatsache, dass zwei der größten Meister ihrer Kunst, der leichtlebige Austrohungare Franz Liszt und der schwerblütige Hanseat Johannes Brahms, zwar nicht aus diesem Bund herausge-wachsen sind, aber auf dem Höhepunkt ihres Ansehens hineingeschmolzen, indem sie dessen Ehren-mitgliedschaft angenommen haben, beweist ja auch die Geltung, die diesem Verein zu jener Zeit zuge-standen wurde. Und beide haben sich, in gänzlich unterschiedlicher Weise, durch ihre grandiosen Gaudeamus-Bearbeitungen in der studentischen Musikgeschichte manifestiert. Das Gaudeamus igitur, unbestritten das Welt-Studentenlied, ist zweifellos das am häufigsten zitierte studentenmusikalische Thema – gleich einer Kennmelodie zieht es sich durch die letzten beiden Jahrhunderte. Aber der Can-tus Gaudeamus igitur ist – auch das soll an dieser Stelle betont werden – nicht das älteste Studenten-lied. Zwar fuhrt uns seine Spur mehr als 700 Jahre zurück und endet dort bei einem düsteren Bußlied, das mit den Worten „Ubi sunt qui ante nos in hoc mundo fuere? anhebt und fortfährt: ,,Cineres et vermes sunt, carnes computruere.“ (Wo sind die, welche vor uns in dieser Welt waren? - Asche und Würmer sind sie, ihr Fleisch ist verfault.) Solche Formeln erinnern eher an Flagellanten-Prozessionen, als an studentische Festzüge. Doch die fahrenden Schüler, Scholaren und Vaganten schafften es über eine Strecke von 250 Jahren, dieses Lied umzuwenden in sein Gegenteil, nämlich aus der Klage über die irdische Vergänglichkeit ein Jubellied auf ebendiese vergänglichen Freuden zu machen. Das Wort Gaudeamus – freuen wir uns –, Sequenzen des Gregorianischen Chorals entnommen, geriet um 1500 an die Spitze und wurde nach und nach zum studentischen Synonym, das wie kein anderes die Kon-stante studentischer Lebenslust verkörpert. Letztlich, 1961, wurde das alte Lied zur offiziellen Hymne der Studentenweltspiele, der Universiade und damit zu einem zeitlosen, übernationalen Studentenlied. Fragen wir aber nach dem ältesten Studentenlied, so müssen wir noch einmal um ein ganzes Jahrhun-dert zurück. Als solches gilt ein Text, den wir einem mit Namen nicht fassbaren Dichter des Hochmit-telalters verdanken, der als Hofpoet dem Kölner Erzbischof und deutschen Reichskanzler Reinald von Dassel diente und sich selbst – die Grenze vom Stolz zum Hochmut berührend – als ,,Archipoet“ be-zeichnete. Er war ein Genießer und Spötter zugleich, und beides auf hohem Niveau. Als er – 1164 mit-ten im lombardischen Feldzug Friedrich Barbarossas im Feldlager von Pavia – von den Höflingen we-gen seines heftigen Weinkonsumes beim Bischof denunziert wurde, rechtfertigte er sich mit einem Gedicht, der 25 Strophen zählenden ,,Vagantenbeichte“. Die 12. bis 19. davon gelten als das Produkt der Kneippoesie und beginnen mit den Worten: ,,Meum est propositum in taberna mori“ (Meine Be-stimmung ist es, im Wirtshaus zu sterben). Sie sind ein glühendes Bekenntnis zum Trunk, aber nicht zu degoutantem Suff, sondern zum Weingenuss als Mittel zur Hebung des Geistes, und enden mit ei-

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ner bemerkenswerten Erkenntnis: ,,Dum in arce cerebri Bacchus dominatur, in me Phebus irruit et miranda fatur!“ (Erst wenn Bacchus in meinen Geist gefahren ist, dann wird Apoll in mir wirksam und lässt mich Wunder vollbringen.) Generationen von Dichtern und Studenten haben sich diese Ver-se, die gedanklich schon bei Horaz vorgezeichnet sind, zum Vorbild genommen. Man mag und darf darüber lächeln, aber es ist nun einmal Faktum, dass der kontrollierte Genuss spiritueller Getränke auch der Hebung des Bewusstseins und der Förderung des schöpferischen Geistes dienen kann. Weder puritanische Enthaltsamkeit noch hemmungslose Trunksucht prägen den Gesellschaftsmenschen, son-dern beherrschtes Genießertum. Die orientalischen Lyriker haben diesen Gedanken weitergesponnen, allen voran der berühmte ,,Hafis“, der im I4. Jahrhundert in Persien lebte. Er verstand den maßvollen Trunk als Weg zu geistiger Einsicht, zu Weltüberwindung und Gottesnähe. Johann Wolfgang von Goethe hat 500 Jahre später Hafis Verse im „westöstlichen Diwan“ verarbeitet und so lernte sie der größte Studentendichter des l9. Jahrhunderts kennen, Josef Viktor von Scheffel, der Schöpfer des Frankenliedes und des Schwarzen Walfisch zu Askalon, und nahm den Gedanken in seine Ballade vom Zwergen Perkeo auf: ,,War’s drunten auch stichdunkel, ihm strahlte innres Licht ...“ behauptet er über den weltentrückten Zecher und erklärt den stoffgewaltigen, im 18. Jahrhundert historisch beleg-baren Heidelberger Hofzwerg des Pfälzer Kurfürsten Karl Theodor gleichsam zum Kommilitonen. Bei allem anakreontischen Humor steckt darin eine tiefe Wahrheit, die der Scheffel-Zeitgenosse Friedrich von Bodenstedt in den Satz kleidete: ,,Kein Tropfen geht verloren von dem, was Weise trinken.“ Aber lassen Sie mich wieder zurückkommen zum Gaudeamus und den beiden Scheffel-Zeitgenossen Brahms und Liszt (letzterer hat übrigens die Wartburglieder Scheffels vertont). Franz Liszt hat sich dem Gaudeamus mehrmals mit besonderer Hingabe gewidmet. Wir sprechen dabei von der neueren Gaudeamusweise, deren Schöpfer wir nicht kennen, die aber schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts auftaucht und eine ältere, noch in Moll gehaltene, ablöst. Die erste deutsche Gaudeamus-Übertragung, ,,Brüder, lasst uns lustig sein“, wird bereits nach dieser neuen Melodie gesungen. Autor der deutschen Fassung ist der frühvollendete Barockdichter Johann Christian Günther, dessen geniale dichterische Begabung mit seinem ausschweifenden Lebenswandel nicht Schritt halten konnte; 1723 verstarb er, kaum 28 Jahre alt, hier in Jena in völliger Verelendung. Auf dem alten Johannisfriedhof wurde ihm eine Gedenktafel errichtet, die ich in DDR-Jahren noch besuchte und die damals mit einer frischen Rose geschmückt war. Seit 17.. ist diese .... alten Collegiums zu sehen. Während Günthers fünfstrophiges deutsches Gaudeamus eine sehr saftige, zupackende Sprache pflegt, wurden die lateinischen Strophen gegen Ende des 18. Jahrhunderts einer Redaktion unterzogen. Der Hallenser Magister Christian Wilhelm Kindleben, wohl ähnlich verbummelt wie Günther und letztlich auch in jungen Jahren gescheitert und gestorben, brachte sie l78l für sein Liederbuch, das erste ge-druckte Studentenliederbuch der Welt, in jene Form, die noch heute Gültigkeit hat, wobei die res-publica-Strophe als dem Preußenkönig Friedrich dem Großen gewidmete Huldigung von ihm selbst dazugedichtet wurde. Um jene Zeit hatte sich bereits die neue, die ebenfalls bis heute übliche Melodie durchgesetzt. Diese Melodie nun nahm sich Franz Liszt gleich mehrmals zum Vorbild, und Jena spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Schon l570 war hier ein Collegium Musicum gegründet worden, das l769 wieder belebt wurde und ab 1770 Akademische Konzerte veranstaltete. Zum 100. Jubiläum dieser Tradition wurde Liszt um eine Komposition ersucht und erbat dazu seinerseits die Noten des Gaudea-mus. Dieser Umstand bleibt verwunderlich, denn der akademische Hymnus war Liszt längst bekannt und vertraut. Bereits knappe drei Jahrzehnte davor, l842, hatte der damals 31jährige Liszt damit einen beispiellosen Erfolg errungen, als er bei einem Konzert in Berlin frei darüber fantasierte – in Kenntnis ... sich ungefähr ein Bild von der Virtuositat seiner Improvisation machen. Jedenfalls riss er die anwe-senden Studenten zu äußerstem Enthusiasmus hin, so dass sie ihm nach dem Konzert die Pferde aus-spannen wollten, um seine Kutsche selbst zu ziehen. Liszt wusste das zu verhindern, aber bei seiner Abreise bereitete ihm die Studentenschaft das wahrscheinlich großartigste aller Komitate: 30 vierspän-nige Wagen und 50 Reiter begleiteten ihn, der selbst inmitten der Senioren in einer von sechs Schim-

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meln gezogenen Kutsche Platz nehmen musste, vom Hotel Unter den Linden über die Schlossbrücke und durch das Frankfurter Tor bis hinaus nach Friedrichsfelde zum Gut des Freiherrn von Treskow, der die ganze Gesellschaft großzügig zum Bleiben lud. Und so kam es, dass Liszts Konzert im Treskowschen Anwesen von mehr als hundert Studenten besucht war, die auf den Treppen saßen und des Meisters Vortrag mit Freiheitsliedern begleiteten. Ein Jahr später veröffentlichte Liszt seine Gaudeamus-Paraphrase, und 1870 Iieferte er dann den Je-nenser Musikfreunden eine Art Gaudeamus-Kantate, die er als reine Orchesterversion, als Variante für Männerchor und kleines Orchester und als Version für großes Orchester und gemischten Chor vorleg-te; gleichsam als Zugabe schrieb er für den Chorleiter noch eine Transkription für Klavier, die als Gaudeamus-Humoreske eine interessante Gegenüberstellung zur dreißig Jahre älteren Paraphrase dar-stellt. Liszt machte also Jena zur Gaudeamus-Stadt, und während die beiden Klavierstücke heute ... österreichische Pianist Werner Wöss 2002 eine kombinierte Fassung der beiden Werke spielte, die leider nicht notiert wurde, aber als Tonaufnahme existiert, wäre die Wiederaufführung der Kantate ein lohnendes Ziel für kunstbeflissene Couleurstudenten. Das Gaudeamus, das auch Komponisten wie der Barockmeister Friedrich Schneider aus Dessau, der Leipziger Gewandhaus-Kapellmeister Carl Reinecke, der Wiener Operettenvater Franz von Suppé, der tschechische Nationalkomponist Friedrich Smetana, der streitbare Expressionist Paul Hindemith, aber auch weniger bekannte Tonsetzer wie der Engländer Reg Tilsley oder der Neuseeländer Douglas Lil-burn zum Thema genommen haben, wurde niemals so festlich präsentiert, wie durch das andere pauli-nische Ehrenmitglied von Weltgeltung, durch Johannes Brahms. Zweimal wurde er mit akademischen Würden bedacht: 1876 verlieh ihm die auf das frühe 13. Jahrhundert zurückreichende Universität von Cambridge das Ehrendoktorat, doch konnte er es nicht annehmen, da die Statuten eine persönliche Verleihung vorsahen und sein Gesundheitszustand die Reise nach England nicht zuließ. Aber 1879 vermochte er die Reise nach Breslau anzutreten, wo ihm das Doktorat als dem ,,artis musicae servioris in Germania nunc princeps“ – als den nun ersten Meister der strengeren musikalischen Kunst in Deutschland verliehen wurde. lm Jahr darauf bedankte der knapp Fünfzigjährige sich mit einer Kom-position, seiner ,,Akademischen Festouvertüre“ in C-Moll, Op. ..., ein Werk voller burschikoser Begei-sterung, das ihm die strengen Hüter des Kontrapunktes ein Leben lang übel genommen haben, mit dem er sich aber tief in die Herzen der akademischen Bürgerschaft hineinkomponiert hat. Vier Studentenlieder sind es, die Brahms hier in höchster Meisterschaft zitiert und variiert. Da ist zu-erst einmal eine thüringische Volksweise, die uns wieder hierher nach Jena führt, weil sie der Kieler Burschenschafter Daniel August von Binzer für jenen Text verwendete, der auf dem Eichplatz im Gasthaus zur Rose am 25. November 18l9 gesungen war, als die Urburschenschaft dem Verdikt der Karlsbader Beschlüsse folgte und ihre Auflösung erklärte: ,,Wir hatten gebauet ein stattliches Haus“. Binzer, der sich seit dem Sommersemester 1818 in Jena befand und hier auch den akademischen Chor leitete, dürfte die Verse knapp davor verfasst haben, als er mit jener Delegation aus Weimar zurück-kehrte, die dort vergeblich den Herzog Carl August zur Rücknahme der Verbotsverfügung ersucht hat-te. Ein Jahr später dichtete Ferdinand Massmann, einer der Initiatoren der zweifelhaften Bücher-verbrennung am Rande des Wartburgfestes, darauf die Verse ,,Ich hab’ mich ergeben mit Herz und mit Hand“, das nach dem Ersten Weltkrieg in Österreich kurzfristig eine Art Hymnenersatz war. Interes-sant, dass die ersten Takte auch den Beginn des ersten Satzes von Gustav Mahlers monumentaler drit-ter Symphonie bilden. Dann das sogenannte Fuchsenlied, der Gassenhauer „Was kommt dort von der Höh“, den Brahms aber keineswegs als Element burlesker Kneipromantik zitiert, sondern damit seine Reverenz vor den Revo-lutionären des Jahres 1848 zum Ausdruck bringt. Damals nämlich war diese Weise in Wien zum ge-heimen und verbotenen Hymnus der aufständischen Bürger geworden, die zahllose Strophen auf Flug-blättern weiterreichten: Der Staat ist in Gefahr – der Staat der niemals sicher war ... Was fürchtet denn der Staat – das Volk, das er betrogen hat ... usw. variiert in Dutzenden von Strophen. Auch Smetana

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hat diese Töne für seinen Marsch der Prager Studentenlegion verwendet. Die Alt-48er waren zu Brahms Zeit geachtete Veteranen, und diese Sympathie findet sich in der Akademischen Festouvertüre wieder. Weiters lässt er noch die Weise des Landesvaters anklingen: ... hört, ich sing’ das Lied der Lieder ... dieses besondere Ritual symbolischer Hingabe an Landesfürst und Bundesbruder, ehe dann das Gau-deamus als prächtiges Maestoso den krönenden Abschluss bildet. Im Jänner 1881 fand in Breslau die von Brahms selbst dirigierte Uraufführung dieses philharmoni-schen Exbummels statt. In Unkenntnis der paulinischen Archivalien schließe ich dennoch nicht aus, dass die Begeisterung über diese Komposition bis nach Jena drang und hier den Beschluss zur Verlei-hung der Ehrenmitgliedschaft des Paulus beeinflusst hat, der im Sommersemester 1882 gefasst und dem Meister per Post nach Wien mitgeteilt wurde, was dieser im folgenden September mit einem freundlichen Schreiben bestätigte. Noch ein weiteres Mal werden wir fündig, wenn wir Jena als die Gaudeamusstadt, also die Stadt der studentischen Freude, bezeichnen. Es ist eine textliche Eigentümlichkeit, deren Erklärung uns hierher führt. Als Christian Wilhelm Kindleben l78l das Gaudeamus redigierte und auf Grundlage überlieferter Texte die bis heute gültige Fassung schuf, da entstand auch der unsaubere Reim der vierten Strophe: Auf Vivat academia, vivant professores folgt semper sind in flore – warum? Die Lösung ist wohl darin zu finden, dass Kindleben die Jenenser Fassung vorlag, in welcher nicht nur den Professoren und allen membra, also Gliedern der hohen Schule, sondern folgerichtig auch ihren Förderern gehuldigt wurde. Rechtlich war die Saaleuniversität von Anfang an, also seit l558, autonom, doch verfügte sie über kei-nerlei Besitz und war damit auf fürstliche und private Unterstützung angewiesen. Diese Förderer wur-den Nutritoren (Nährväter; Erzieher) genannt; Porträts dieser fürstlichen Pfleger sind noch in der Aula des 1908 errichteten neuen Hauptgebäudes zu sehen. Dem entsprechend endete die Gaudeamusstrophe also mit den Worten ,,atque nutritores“ und gab somit einen sauberen Reim. Kindleben, der auch bis dahin übliche durchaus obs-zöne Verse – vor allem in der fünften Strophe – aus dem Gaudeamus ge-strichen hat, wollte dieser örtlich gebundenen Formulierung wohl eine allgemeine Gültigkeit geben und entschloss sich deshalb zu der nicht ganz geglückten und immer wieder eine falsche Aussprache (flores) provozierenden Neufassung. Und doch ist der Wunsch „Semper sint in flore!“ – möge sie immer blühen – ein allgemein gültiger studentischer Glückwunsch, der auch über diesem heutigen Fest stehen soll. ... Lassen Sie mich also dem jubilierenden Paulus meine herzlichen Glückwünsche aussprechen als einem höchst ehren- und preisenswerten Sängerzirkel, der als ein Schmuck Jenas gelten kann, oder mit den Worten des ewig unbekannten Gaudeamuspoeten: Vivat Paulus jubilans, circulus cantorum! Summe honorabilis pariter cantabilis Jenae sit decorum! Zum Festredner: Der 2009 von BP Heinz Fischer mit dem Professorentitel ausgezeichnete Prof. Rai-mund Lang ließ sich nach der Matura in Hallein zum Schauspieler ausbilden und war von 1973 bis 1983 an mehreren Wiener Theatern angestellt. Seit 1984 arbeitet er als freier Synchronsprecher in Hamburg, vor allem für den NDR. Lang ist Mitglied mehrerer österr. und deutscher katholischer Stu-dentenverbindungen. Seine Sammlung von Studentika umfasst rund 250 Kommersbücher und 2.500 Couleurkarten. Im Jahr 2000 wurde er in den Vorstand der Gemeinschaft für deutsche Studentenge-schichte (GDS) gewählt; seit 2008 ist er deren stellvertretender Vorsitzender. Zur Quelle: Die Rede ist der DS-Zeitung, Folge 2/2013 entnommen, welcher der Text von Herrn Fritz Fiedler (PJ) zur Verfügung gestellt worden ist.

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Anhang: Kapitel 9 des Buches „Semper et ubique“ von Dieter Grillmayer

Die Übersetzung des „Gaudeamus“ (71) Im Jahr 1961 wurde das Studentenlied „Gaudeamus igitur“ zur offiziellen Hymne der Studen-tenweltspiele, der „Universiade“, erwählt und erhob sich damit, ähnlich Schillers und Beethovens „Ode an die Freude“, zu einem zeitlosen, übernationalen und völkerverbindenden Chorgesang. Allein schon das rechtfertigt es, unter den zahlreichen Studentenliedern mit lat. Texten oder Textstellen (z. B. dem „Ergo bibamus“ des J. W. v. Goethe oder dem „Vale universitas“ von Ottokar Kernstock) das „Gaudeamus“ besonders hervorzuheben, seine alte Geschichte nachzuerzählen und dieses Büchlein letztlich mit einer Übersetzung seiner sieben Strophen abzuschließen. Anm. (72) bis (75) betreffen die Geschichte des „Gaudeamus“, welche in diesem PDF-Dokument bereits ausführlich dargelegt worden ist. (76) Im Folgenden werden unter Text 91 bis 97 die Strophen des Kindleben-Textes (= der Dur-Fassung) übersetzt und abschließend wird unter Text 98 die Moll-Fassung studiert, welche sich über-raschenderweise doch recht deutlich von Kindlebens Reimen unterscheidet. 91 Gaudeamus igitur, iuvenes dum sumus, post iucundam iuventutem, post molestam senectutem nos habebit humus a) Vokabular und Grammatik: Gaudere 2. „froh sein“ od. „sich freuen“, gaudeamus ist die 1. Person P. Präsens Konj. „seien wir froh“; igitur „daher“ od. „also“. Iuvenis, iuvenis „jung“; dum „solange (als/bis)“. Iucundus 3 „erfreulich“; iuventus, iuventutis f. „Jugendzeit“. Molestus 3 „verdrießlich“ od. „beschwerlich“; senectus, senectutis f. „(hohes) Alter“. Habere 2. „(fest)halten“ od. „haben“, habebit ist die 3. Person S. Futur Ind.; humus, humi f. „Erdreich“ od. „Erde“. b) Übersetzung: „Freuen wir uns also, solange wir jung sind, nach einer erfreulichen Jugendzeit, nach einem beschwerlichen Alter wird uns die Erde haben.“ c) Fremd- und Lehnwörter: Zu gaudere siehe Text 35. Für jugendlich wird gelegentlich noch juvenil verwendet. Juventus Turin ist ein Fußballklub, der – konträr zu seinem Vereinsnamen – als die „alte Dame“ des italienischen Fußballs bezeichnet wird. Haben kommt von habere und der Humus ist mit der lat. Wurzel völlig identisch. 92 Ubi sunt, qui ante nos in mundo fuere? Vadite ad superos, transite ad inferos, ubi iam fuere a) Mit Ausnahme des fuere, siehe später, sind die meisten Vokabel des Fragesatzes bereits gut be-kannt, qui ist hier der maskuline Nominativ P. von qui/quae/quod „der/die/das“ od. „wel-cher/welche/wel-ches“; mundus, mundi m. „Welt“. Vadere 3. „schreiten“ od. „gehen“; transire „hinü-bergehen“, siehe Text 64; vadite und transite sind die Mehrzahl-Imperative. Superi, superorum m. „Götter des Himmels“ od. „Oberwelt“; inferi, inferorum m. „Unterirdische“ od. „Unterwelt“. Iam „jetzt“, „bereits“, „schon“ od. „nunmehr“. Das zweimal vorkommende fuere gibt auf den ersten Blick Rätsel auf, ist es doch unter den Formen von esse nicht zu finden. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine im klassischen Latein bereits veraltete Perfektform (fuere = fuerunt), die aber vor allem bei Dich-tern noch häufig auftaucht. Damit ergibt das erste fuere einen Sinn, nicht aber das zweite. Das liegt

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daran, dass das ganze Ende ubi iam fuere nicht sinnhaft ist, wie Dr. Emil Gaar in seiner „Initia“ (siehe Literaturverzeichnis) festgestellt hat. Sinn ergäbe nach Gaar nur die Schreibweise: ... transite ad infe-ros. Ubi? – iam fuere. Darin wiederholt Ubi? „Wo?“ die bereits eingangs gestellte Frage, um darauf mit einem resignierenden – iam fuere „sie sind schon gewesen“ od. „sie sind nicht mehr“ zu antwor-ten. b) „Wo sind die vor uns auf der Welt Gewesenen? Schreitet zu den Himmlischen, geht in die Unter-welt hinüber. Wo? – sie sind nicht mehr.“ c) Ein Vademecum („Geh mit mir!“) ist etwas, das man ständig mit sich führt. Zu Transit siehe Text 64. Inferior für untergeordnet od. minderwertig und infernalisch für höllisch od. furchtbar sind ge-bräuchliche Adjektiva, und dann ist da auch noch Dantes Inferno. 93 Vita nostra brevis est, brevi finietur, venit mors velociter, rapit nos atrociter, nemini parcetur a) Vita, vitae f. „Leben“; noster, nostra, nostrum „unser(e)“; brevis m. f. breve n. „kurz“, brevi „in Kürze“ od. „bald“; finietur ist die 3. Person S. Futur Ind. passiv von finire 4. „beenden“. Venire 4. „kommen“, venit ist die 3. Person S. Präsens Ind.; mors, mortis f. „Tod“; velociter und atrociter sind die Adverbia zu velox, velocis „schnell“ bzw. atrox, atrocis „wild“ od. „unbändig“; rapere 3M „(fort)reißen“. Parcetur ist die 3. Person S. Futur Ind. passiv von parcere 3. „sparen“, hier „(ver)schonen“, und verlangt ein Dativobjekt, daher nemini (Dativ von nemo m. „niemand“). b) „Unser Leben ist kurz, bald wird es beendet sein, rasch kommt der Tod, reißt uns unbändig fort, niemand wird verschont (werden).“ c) Rauben dürfte auf rapere zurückgehen; vita ist (bei Text 19) schon behandelt worden. 94 Vivat academia, vivant professores, vivat membrum quodlibet, vivant membra quaelibet, semper sint in flore! a) Vivere 3. „leben“, hier „hochleben“, vivat/vivant ist die 3. Person S./P. Präsens Konj.; academia, academiae f. „Akademie“, „Hochschule“, „Universität“; professor, professoris m. „öffentlicher Leh-rer“, „Professor“. Membrum, membri n. „(Mit-)Glied“, im Plural „Körper(schaft)“; qui/quae/quodlibet „jeder/jede/jedes beliebige“. Semper „immer“; sint ist die 3. Person P. Präsens Konj. von esse; flos, floris m. „Blume“ od. „Blüte“, auch „Glanzzeit“. b) Die sinnhafte Wiedergabe dieses Textes verlangt eine etwas freiere Übersetzung, insbes. das quod-libet und das quaelibet betreffend: „Hochleben mögen die/unsere Universität und die/ihre Professoren, jedes einzelne Mitglied und alle ihre Körperschaften, immer möge es ihnen wohlergehen!“ c) Ein Vivat ausbringen für jemanden hochleben lassen kommt gelegentlich noch vor. Von Akademie, ursprünglich der (vom attischen Heros Akademos abgeleitete) Name der ersten, vom griech. Philoso-phen Platon gegründeten Philosophenschule, kommt der Akademiker. Der Professor stammt vom De-ponens profiteri 2. „frei heraussagen“ od. „(öffentlich) bekennen“ ab, membrum finden wir im engli-schen member fast unverändert wieder. Und spätestens jetzt wissen wir auch über den Ursprung der Flora (Fachausdruck für „Pflanzenwelt“) und des Floristen Bescheid.

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95 Vivant omnes virgines, faciles, formosae, vivant et mulieres, tenerae,amabiles,bonae, laboriosae! a) Virgo, virginis f. „Jungfrau“ od. „junge Frau“; facilis m., f. facile n. „(wohl)gefällig“, „freundlich“ od. „willig“; formosus 3 „wohlgeformt“ od. wohlgestaltet“. Mulier, mulieris f. „(Ehe-)Frau“, tener, tenera, tenerum „zart“ od. „zärtlich“, amabilis m., f. amabile n. „liebenswürdig“ od. „liebenswert“, bonus 3 „gut“, hier wohl „tüchtig“, laboriosus 3 „arbeitsam“. b) „Hochleben sollen alle wohlgefälligen und wohlgestalteten Jungfrauen, (und) hochleben sollen auch die zärtlichen, liebenswerten, tüchtigen und arbeitsamen Hausfrauen.“ Alternativ dazu wäre eine die Wortstellung im lat. Text berücksichtigende, den zwei Subjekten nachgestellte adverbielle oder sub-stantivische Übersetzung der sechs Adjektiva denkbar. c) Virginität ist ein Synonym für Jungfräulichkeit, laboriosus kommt von dem bereits in Anm. (28) verwendeten laborare 1. „arbeiten“, aber auch „leiden“, was sich im Laboratorium, kurz Labor ge-nannt, im Laboranten und im Zeitwort laborieren niederschlägt. 96 Vivat et respublica et qui illam regit, vivat nostra civitas, maecenatum caritas, quae nos hic protegit! a) Regere 3. „regieren“, regit ist die 3. Person S. Präsens Ind. aktiv; qui „wer“; das Demonstrativpro-nomen ille/illa/illud kann auch mit „er/sie/es“ übersetzt werden, illam ist der Akkusativ von illa. Civi-tas, civitatis f. „Bürgerschaft“; maecenatum ist der Genetiv P. vom maecenas, maecenatis m. „Wohltä-ter“ od. „Gönner“; caritas, caritatis f. hier wohl „Großzügigkeit“, protegere 3. „schützen“, hier wohl besser „zu Gute kommen“, protegit ist die 3. Person S. Präsens Ind. aktiv. b) „Hoch lebe auch die Republik/der Staat und wer sie/ihn regiert, hoch lebe unsere Bürgerschaft (und) die Großzügigkeit der Gönner, welche uns hier zu Gute kommt.“ c) Zivil, wohl ursprünglich, weil von civitas kommend, in der Bedeutung „bürgerlich“ und beim Zivil-beruf noch immer mitschwingend, hat sich zum Gegenbegriff zu „militärisch“ entwickelt. Der Mäzen und das Mäzenatentum sind geläufige Fremdwörter, abgeleitet von Maecenas, einem Gönner zeitge-nössischer Dichter in der frühen röm. Kaiserzeit. Jemanden protegieren (gespr. proteschieren) für be-vorzugen oder unterstützen ist als Fremdwort gut eingeführt, ebenso die Protektion und insbesondere das Protektionskind. Zu caritas siehe Text 25. 97 Pereat tristitia, pereant osores, pereat diabolus, quivis antiburschius, atque irrisores! a) Perire „vergehen“ od. „verschwinden“, abgeleitet von dem um die Vorsilbe per erweiterten unre-gelm. Verbum ire „gehen“, pereat/pereant ist die 3. Person S./P. Präsens Konj. „möge/mögen ver-schwinden“. Tristitia, tristitiae f. „Trauer“; osor, osoris m. „(der) Hasser“; diabolus, diaboli m. „Teu-fel“. Quivis „jeglicher“, „wer auch immer“; antiburschius ist ein Kunstwort, eine Kombination von anti „gegen“ und „Bursch“ in der Bedeutung „Student“. Atque „und dazu (noch)“; irrisor, irrisoris m. „Spötter“. b) Wörtliche Übersetzung: „Es möge vergehen die Traurigkeit, verschwinden die Hasser, der Teufel und wer auch immer antistudentisch (gesinnt) ist, und dazu noch alle Spötter.“ Freiere Übersetzung: „Fort mit der Traurigkeit, fort mit denen, die (uns) hassen, fort mit dem Teufel, fort mit allen, die et-

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was gegen Studenten haben, und noch dazu fort mit allen Spöttern.“ Diese Stophe ist wohl die für ei-nen Schargesang bzw. ein Trinklied typischste und schließt das alte Studentenlied damit passend ab. 98 Die Textabweichungen in der Moll-Version a) Der ältere Text der Moll-Version ist im Faksimile auf der nächsten Seite nachzulesen. Am gering-sten sind die Textabweichungen gegenüber der Kindleben-Fassung noch in der ersten Strophe. Dort steht anstelle von post iucundam iuventutem bereits post molestam senectutem und wird wiederholt, das letzte Wort ist tumulus, tumuli m. „Grab“ statt humus. b) Die zweite Strophe wird nach Ubi sunt qui ante nos in mundo fuere? mit zweimaligem abeas ad tumulos fortgesetzt und mit si vis hos videre abgeschlossen. Abeas ist die 2. Person S. Präsens Konj. des aus der Präposition ab und dem unregelm. Verb ire zusammengesetzten abire „weggehen“ od. „fortgehen“; der mit si „falls“ eingeleitete Nebensatz enthält die 2. Person S. Präsens Ind. vis des unre-gelm. Verbs velle „wollen“, den Akkusativ P. hos von hic, also mit „diese“ od. „sie“ zu übersetzen, und videre 2. „sehen“ od. „wahrneh-men“. Die Übersetzung lautet daher: „Du magst/kannst zu den/ihren Gräbern (weg)gehen, falls du diese/sie wahrnehmen willst.“ c) In der dritten Strophe wird anstelle des rapit nos atrociter das venit mors velociter wiederholt und dann mit neminem veretur abgeschlossen. Veretur ist die 3. Person S. Präsens Ind. des Deponens vere-ri 2. „fürchten“; neminem ist der Akkusativ von nemo m. „niemand“. Übersetzung: „Unser Leben ist kurz, bald wird es beendet sein. Rasch kommt der Tod, er fürchtet niemanden“.

Quelle: Chorliederbuch der DS, Copyright Bärenreiter-Verlag Kassel