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Zürcher Fachhochschule Soziale Arbeit Kurs 7.1 Grundbegriffe der politischen Philosophie, Politik und Ökonomie Überblick Politische Theorien Dana Zumr, lic. oec. HSG Dozentin ZHAW FS 2014

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Soziale Arbeit

Kurs 7.1Grundbegriffe der politischen Philosophie, Politik und Ökonomie

Überblick Politische Theorien

Dana Zumr, lic. oec. HSGDozentin ZHAW

FS 2014

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Lernziele

Die Studierenden sind in der Lage, ausgewählte Grundbegriffe der politischen Philosophie zu beschreiben und in ihren wechselseitigen Bezügen einzuordnen (das liberale versus das republikanisch-kommunitaristische Paradigma, Gerechtigkeitstheorien von John Rawls und Michael Walzer, Machtbegriff aus Sicht von Michel Foucault).

Fokus auf den Überblick über Politische Theorien

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Pflichtlektüre

Schaal, Gary S. & Heidenreich, Felix (2009). Einführung in die Politischen Theorien der Moderne. (2. Auflage). Opladen & Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich.

‚Überblick über Politische Theorien‘ Kapitel 3: Zwei Paradigmen Politischer Theorie (S. 47-76)Kapitel 6: Deliberative Theorien, da Kapitel 6.1: Partizipation und Legitimität in der Neuen Unübersichtlichkeit (S. 219-224)Kapitel 7: Postmoderne Theorien, da Kapitel 7.1: Theoriebildung unter Bedingungen der Postmoderne (S. 249-253) und Kapitel 7.2: Macht des Diskurses: Foucault (S. 253-260)

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Agenda

• Verortung der Politikwissenschaft (der politischen Philosophie und Politik)

• Themen der politischen Philosophie und Politik

• Theorien: Netze, um die Welt einzufangen

• Zur Geschichte des Begriffes ‚Politik‘

• Die Moderne

• Überblick über Politische Theorien Das liberale Paradigma Das republikanisch-kommunitaristische Paradigma Deliberative Theorien Postmoderne Theorien

• Macht des Diskurses: Michel Foucault

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Verortung der Politikwissenschaft

Politikwissenschaft begreift sich häufig als eine Integrationsdisziplin, die den sachlichen Kenntnisstand von vier anderen Disziplinen auf das Politische hin fokussiert.

Sie grenzt sich von den folgenden vier Fächern und Disziplinen ab:

Philosophie: Das Nachdenken über die normativen Grundlagen des politischen Gemeinwesens und deren legitimatorischer Basis gehört zum inhaltlichen Portfolio der politischen Philosophie.

Geschichtswissenschaften: Ideengeschichte

Rechtswissenschaften: Institutionelle Grundlagen des politischen Gemeinwesens und Verfassungsrecht

Soziologie: empirische Einstellungsforschung

Politikwissenschaft ist eine junge Disziplin (50-100 Jahre alt).

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Verortung der Politikwissenschaft

Politikwissenschaft wird zu den Sozialwissenschaften gezählt.

Zu den Sozialwissenschaften werden nebst der Politologie, die Soziologie (auch Mutter der Sozialwissenschaften bezeichnet), Publizistik, Psychologie, Ethnologie aber auch die Soziale Arbeit gezählt. Die Philosophie gilt als Geisteswissenschaft.

Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW), Generalsekretär Markus Zürcher (NZZ vom 28.9.2010, Nr. 225, S. 53): • Fordert Integration der Sozialwissenschaften und das Begraben

der Streitereien um ‚Schulen und Schismen‘ und weist auf die entsprechende Tendenz in der europäischen Hochschullandschaft hin.

• Ziel: mit ihrem ‚Steuerungswissen‘ Gesellschaft und Staat von Nutzen sein und vereint an der Lösung der drängenden Fragen der Zeit arbeiten (Bsp. Energieknappheit, Medikalisierung)

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Verortung der Politikwissenschaft

Politik-wissenschaft

SoziologieRechts-wissenschaft

Institutionelle Grundlagen /

Verfassungsrecht

Einstellungs- forschung

Geschichts-wissenschaft

Philosophie

Politische Philosophie /

TheorieIdeengeschichte

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Themen der Politischen Theorie

• Politische Theorie und Ideengeschichte verstehen sich als wissenschaftstheoretische und theoretische Grundlage der Politikwissenschaft. Dahinter steht die Vorstellung, dass ein theoriefreier Zugang zur Welt nicht möglich ist (wie in jeder anderen akademischen Disziplin auch).

• Zentrale Themen der Politischen Theorie sind:MachtHerrschaftGleichheit Gerechtigkeit

• Politische Theorie lässt sich nur tautologisch bestimmen als jene Form der theoretischen Arbeit, die von den AutorInnen einerseits selbst als Politische Theorie tituliert wird und andererseits im Diskurs innerhalb der ‚scientific community‘ auch als solche anerkannt wird.

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Theorien = Netze, um die Welt einzufangen

• Das Gemeinsame aller Ansätze, die gegenwärtig als Politische Theorien firmieren, ist weder ein identisch anzugebender Gegenstand noch eine identische Methode. Was Politik von anderen sozialen Gegenständen, wie z.B. Wirtschaft, Wissenschaft oder Religion unterscheidet, ist höchst umstritten.

• Die Frage nach der ‚richtigen Definition‘ von Politik beeinflusst den Rahmen dessen, was ein Staat legitimerweise tun kann. Denn Theorien und Begriffe prägen unsere Sicht auf die Welt. Sie sind ‚Netze, um die Welt einzufangen‘ (Karl Popper). Sie tragen ‚Weltsichten‘ mit sich, sie legen ein bestimmtes Handeln nahe und zielen darauf, in der ‚Wirklichkeit‘ relevant zu werden. Es geht um ‚Deutungsmacht‘, d.h. in der sozialen Wirklichkeit und der politischen Praxis einflussreich zu werden.

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Theorien = Netze, um die Welt einzufangen

Politische Theorien liefern das Vokabular, um spezifische gesellschaftliche Zustände überhaupt als solche wahrzunehmen, zu beschreiben und zu bewerten.• Legitime Funktionen und Aufgaben von politischen Institutionen

sind abhängig von allgemeinen akzeptierten Definitionen von Politik. Enges Staatsverständnis führt zu einem minimalen Staat Ein extensives Staatsverständnis führt zu einem interventionistischen Staat

• Ich-AG: Die gesellschaftliche Akzeptanz des Begriffes zeigte auch, dass die korrespondierende Vorstellung einer wirtschaftsliberalen (neo-liberalen) Gesellschaftsordnung bei den BürgerInnen vorherrschend wurde.

• Risikogesellschaft (Ulrich Beck, 1986): Führte zu einer veränderten Wahrnehmung gesellschaftlicher Realität und gesellschaftlicher Selbstbeschreibung

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Zur Geschichte des Begriffes ‚Politik‘

Die nachfolgenden Definitionen wurden in den letzten Jahrhunderten diskutiert:

• Politik ist das dem Menschen angeborene Streben nach dem Leben in der Gemeinschaft mit Freunden. (Aristoteles, 384 – 322 v.C.)

• Politik ist die Summe der Mittel, die nötig sind, um zu Macht zu kommen und sich an der Macht zu halten und um von der Macht den nützlichsten Gebrauch zu machen. (…) Politik ist also der durch die Umstände gebotene und von dem Vermögen des Herrschers oder des Volkes sowie von der spezifischen Art der Zeitumstände abhängige Umgang mit der Macht. (Machiavelli, Der Fürst, 1414)

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Zur Geschichte des Begriffes ‚Politik‘

• Politik ist das Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es innerhalb eines Staates oder zwischen den Menschengruppen, die er umschliesst. (Max Weber, Politik als Beruf, 1919)

• Politik ist die autoritativ verfügte Verteilung von materiellen und immateriellen Werten in der Gesellschaft. (Easton, 1954)

• Politik ist die Führung von Gemeinwesen auf der Basis von Machtbesitz. (Evangelisches Staatslexikon, 1975)

Unterschiedliche Definitionen, entsprechend bieten sie unterschiedliche Grundlagen für unterschiedliche Ausgestaltungen des Politischen.

Politik ist die Gesamtheit der Aktivitäten zur Vorbereitung und zur Herstellung gesamtgesellschaftlich verbindlicher und/oder am Gemeinwohl orientierter und der ganzen Gesellschaft zugute kommender Entscheidungen. (David Easton)

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Theorien (gr. ‚theoria‘ = Betrachtung, Untersuchung)Normative Theorien

In der Politikwissenschaft unterscheidet man in der Regel zwischen normativen Theorien und empirisch-analytischen Theorien.

Normative Theorien beinhalten Reflexionen und treffen Feststellungen über das, was sein soll. Sie begründen Wertmassstäbe, Werturteile und Handlungsanleitungen.

Eine Vielzahl der heute diskutierten Theorien sind normative Theorien, z.B. John Rawls: Rawls geht von der Idee aus, dass moderne Gesellschaften gerecht sein sollen und baut darauf seine Theorie der gerechten liberalen Demokratie.

Die Frage, welches Sollen wünschenswert ist, ist jedoch mit wissenschaftlichen Mitteln nicht abschliessend zu beantworten (deswegen gibt es so viele normative Theorien), sondern subjektiv geprägt.

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Normative Theorien

Der spezifische Wert normativer politischer Theorien liegt im Verstehen. Sie produzieren für die Gesellschaft Reflexionswissen und unterbreiten normative Orientierungsangebote. Sie bieten die Chance, sich der Wirklichkeit nicht kritik- und distanzlos stellen zu müssen, da normative Theorien Bewertungsmassstäbe liefern.

Naturwissenschaften ‚erklären‘ und Geisteswissenschaften ‚verstehen‘. Dementsprechend liegen unterschiedliche Kriterien guten wissenschaftlichen Arbeitens zu Grunde. Standards sind Konsistenz, Transparenz (bezüglich Vorannahmen wie z.B. Menschenbild) und Kenntlichkeit (in ihren praktischen Folgen).

Die Legitimität verstehender Wissenschaft muss immer wieder neu verteidigt werden.

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Empirisch-analytische Theorien

Empirisch-analytische Theorien zielen darauf, zu beschreiben und zu erklären, wie die Welt tatsächlich ist. Sie tun dies in Form von empirisch überprüfbaren Aussagen. ‘Sie liefern Beweise.‘

‚Political philosophy is dead‘ (Peter Laslett, USA, 1956). Empirische Analysemethoden fassten immer mehr Fuss in den Politikwissenschaften und dies führte zu einer verstärkten Anlehnung an die Standards positivistischer Theoriebildung der Naturwissenschaften (Falsifizierbarkeit, Deduktivität, Prognosefähigkeit, Wertneutralität,..)

Der empirisch-analytische Ansatz dominiert heute die Sozialwissenschaften. Er wird aber auch kritisiert, so legen postmoderne WissenschaftstheoretikerInnen nahe, dass der Beobachter sein Bild von der Welt der sozialen Dinge selbst konstruiert. Es wird auch auf die ‚blinden Flecken‘ (Phänomene, die eine Theorie mit ihren eigenen Mitteln nicht in den Blick bekommen kann) hingewiesen.

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Empirisch-analytische Theorien – Der Forschungsprozess als Kreislauf

1. Ausgangspunkt: Die ‚Wirklichkeit‘

2. Dazu wird eine Theorie gebildet (Set von allgemeinen Aussagen über ein bestimmtes Phänomen der Wirklichkeit). Diese Theorie soll präzise formuliert sein, rational begründet, logisch konsistent und empirisch überprüfbar sein.

3. Daraus werden einzelne Hypothesen (theoretisch begründete Annahme über ein Kausalverhältnis zwischen zwei oder mehr beobachteten empirischen Phänomenen, im Sinne von wenn-dann oder je mehr-desto) abgeleitet.

4. Diese Hypothese wird anhand der Beobachtung der Wirklichkeit überprüft. Die Hypothesen können bestätigt oder falsifiziert werden.

5. Aus Hypothesen werden Gesetze, wenn sie nie falsifiziert wurden oder regelmässig bestätigt werden. Theorien bestehen daher aus Hypothesen und Gesetzen.

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Die Moderne

Wann historisch der Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit anzusetzen ist, ist umstritten. Die Moderne stellt aber etwas grundlegend Neues dar. Historische Prozesse, die den Aufbruch in die Moderne markieren sind:

• Reformation und Säkularisierung

• Entdeckung neuer Kontinente

• Der Aufstieg des Bürgertums

• Humanismus und Rationalismus

• Erneuerung des Zeitbewusstseins

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Reformation und Säkularisierung

Die geistige und politische Welt des europäischen Mittelalters war durch eine religiöse Ordnung geprägt. Es findet seit dem frühen Mittelalter eine Verschiebung des Machtgefüges zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt statt und zwar hin zu einem Primat des Papsttums, die mit einem Verlust der sakralen Aura des Kaisertums einherging. So verdichtete sich langsam die Vorstellung einer Trennung zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre (14. Jh. Marsilius von Padua: Lehre der zwei Gewalten + die Gemeinschaft hat für ihre Staatsverfassung selber zu sorgen Exkommunikation und Verurteilung als Ketzer)

Religionskriege (eine zutiefst schockierende Erfahrung Idee des klassischen Liberalismus: Friedenssicherung auf Dauer nur durch Trennung von Staat und Kirche) und Reformation führen zur dauerhaften konfessionellen Spaltung und Schwächung der katholischen Kirche. Bei den Eliten verliert die Kirche an Relevanz und der Glauben an Orientierung (Volksfrömmigkeit als Basis alltäglichen Handelns bleibt bis ins 19. Jh.).

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Entdeckung neuer Kontinente

Transatlantische Kontakte im 16. Jh. führen zu einem neuen Blick auf die sozialen und politischen Ordnungen in Europa: Politische und soziale Ordnungsarrangements folgen weder einem göttlichen Heilsplan, noch sind sie statisch. Sie werden durch Menschen gestaltet, sind wandelbar und können daher immer auch ganz anders sein (kontingent).

Im Medium des Anderen, der fremden Kulturen, konnte die radikale Kritik an den eigenen politischen und sozialen Strukturen artikuliert werden. (Geburtsstunde der Ethnologie)

Die überseeischen Kontakte führen zu einer Revitalisierung der Utopie, als literarischen Genres. Politische Utopien entwerfen einen Idealstaat. Die Utopie will den radikalen Bruch mit dem Bekannten und den Neubeginn von heute auf morgen. (Morus: Utopia, 1515)

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Aufstieg des Bürgertums

Von zentraler Bedeutung für die Moderne ist die Ausbildung der manufakturiellen Produktion, die den grenzüberschreitenden Handel fördert und eine neue Klasse hervorbringt: das Bürgertum (Stadtbewohner und kämpfen gegen die Privilegien und Zwänge der alten feudalen Ordnung)

Der Aufstieg des Bürgertums korrespondiert mit dem Entstehen neuer Ordnungssysteme: den National- und Flächenstaaten. Die absolutistischen Herrscher (als Garanten des Friedens nach den Religionskriegen mit Heeren im Sold des Königs) finden Unterstützung im Bürgertum gegen Austausch von Rechten (insbesondere das Recht auf Eigentum) und Rechtssicherheiten.

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Humanismus und Rationalismus

Der Humanismus (auch dies ein Elitenphänomen) betont einerseits die Subjektivität des Individuums im Vergleich zum vorherrschenden Kollektivismus des Spätmittelalters und andererseits die Rationalität und Vernunft des Individuums gegen transzendentale Heilsversprechen und Ordnungsarrangements.

Wie kann sich das aus göttlichen Heilslehren freigesetzte Individuum seiner selbst vergewissern? René Descartes (1596-1650), Vertreter des Rationalismus: Ich denke, also bin ich. Dies wird zur letzten und einzigen Quelle von Sicherheit. Warum kann sich das denkende Ich nicht selbst täuschen? Der Mensch erkennt sich als endliches und unvollkommenes Wesen. Es muss ein unendliches und vollkommenes Wesen geben, Gott. Gott würde den Menschen in seiner Reflexion über die Welt sich jedoch nicht täuschen lassen. Daher: Ich denke, also bin ich. Spätere Rationalisten vertreiben dann Gott aus der Begründung…

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Erneuerung des Zeitbewusstseins

Die Moderne schöpft ihre Normativität aus sich selbst, da sie ihre orientierenden Massstäbe nicht mehr von Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen. Die Vergangenheit verliert als Quelle von Inspiration und Legitimation an Wert. Für die Moderne wird die Zukunft der Ort utopischer Hoffnungen oder zumindest Projektionsfläche von Fortschrittsvermutungen. Es findet eine Zukunftsorientierung statt.

Die Gegenwart verändert sich dadurch auch. ‚Unter dem Druck der aus der Zukunft andrängender Probleme gewinnt eine zu geschichtlich verantwortlicher Aktivität aufgerufene Gegenwart einerseits ein Übergewicht .. Andererseits sieht sich eine schlechthin transitorisch gewordene Gegenwart für Interventionen und Unterlassungen vor der Zukunft zur Rechenschaft gezogen‘ (Habermas, 1988, S. 25 zit. in Schaal & Heidenreich, 2009, S. 46).

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Zentrale Frage der Politischen Theorie der Moderne

Im Mittelalter stand die Frage nach der guten oder rechten Ordnung im Zentrum im Rahmen der religiösen Ordnung.

Die skizzierten historischen Prozesse führen zu einem Ordnungsschwund. Politische Ordnung in der Moderne ist kontingent.

Legitimationsdruck gegenüber der Gemeinschaft der Herrschaftsunterworfenen Zentrale Frage:

Wie kann politische Ordnung ohne Rückgriff auf transzendente, also göttliche, Argumente und Vorstellungen legitimiert werden?

Die politischen Theorien der Moderne sind Antworten auf diesen Ordnungsschwund. Neue Ordnungen werden proklamiert und konstruiert.

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Zentrale Frage der Politischen Theorie der Moderne

Jede Politische Theorie, die sich mit Legitimationsfragen beschäftigt, wird in ihren Antworten deutlich durch das zugrunde liegende Menschenbild beeinflusst.

Die beiden grossen Stränge – der Liberalismus und der Republikanismus – unterscheiden sich grundlegend hinsichtlich der Frage, ob der Mensch von Natur aus individualistisch ist oder gemeinschaftsorientiert.

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Übersicht Liberalismus - Republikanismus

Liberalismus Republikanismus

Menschenbild Methodologischer Individualismus

Methodologischer Holismus

Individuelles Handeln Ist nutzenmaximiert Ist tugendhaft

Zentrale Rechte Liberale Freiheitsrechte(Dreiklang: Recht, Freiheit, Besitz)

Politische Partizipationsrechte

Vergabe der Rechte Ist inklusiv Ist exklusiv

Form der Politik Verhältnis der Bürger zueinander

Konfrontativ Rechtspersonen

Kooperativ fellow citizens, Bürger, citoyen

Begründung staatlicher Herrschaft

Vertragstheoretisch (Herrschaftsvertrag/Gesellschaftsvertrag)

Vertragstheoretisch (Gesellschaftsvertrag)

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Übersicht Liberalismus - Republikanismus

Liberalismus Republikanismus

Aufgabe des Staates Sicherung liberaler Grundrechte

Ermöglichung des Guten Lebens in der Gemeinschaft der Staatsbürger

Sicherung der Stabilität eines Staates

Institutionen(checks and balances)

Tugend der Bürger und politischen Eliten

Ziel der Politik Realisierung der Mehrheitsmeinung

Gemeinwohl

Medium des Politischen

Der Markt Das Forum

VertreterInnen Hobbes, Locke, Kant, Rawls, Dahl

Rousseau, Marx, Arendt, Barber, Walzer

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Menschenbild

Im Liberalismus: Methodologischer Individualismus

Ausgangspunkt: Annahme: Der Mensch ist in dieser Welt zunächst von allen anderen Menschen isoliert. Die Überwindung der Unverbundenheit ist dabei keine Frage des individuellen Wollens, sondern des existentiellen Nicht-Könnens. Das ‚Wir‘ resultiert aus der Addition von ‚Ichs‘. Das ‚Wir‘ einer Gemeinschaft (wie auch immer aussehend) existiert als Kategorie sui generis nicht.

Renaissance: Die Unverbundenheit (‚separateness‘) wird nicht mehr als Verlust bewertet, es findet eine Umdeutung statt. Die positiv besetzte Vorstellung fasst Fuss: Der Mensch ist mit individuellen, unveräusserlichen Naturrechten ausgestattet. Die Isolation wird als Befreiung begriffen und die Gemeinschaft (welche über Jahrhunderte das soziale Leben geprägt hat) wird als Sklaverei demaskiert, da sie der natürlichen Freiheit des Einzelnen empfindliche Grenzen auferlegt hat. Das Individuum hat dabei Vorrang gegenüber der Gemeinschaft.

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MenschenbildIm Liberalismus: Methodologischer Individualismus

Annahme über das individuelle Handeln: Der Mensch ist ein homo oeconomicus, d.h. seine Handlungsmotivation besteht darin, seinen Nutzen zu maximieren und seine Kosten zu minimieren.

Weitere Erwägungen zum moralischen oder ethischen Gehalt einer Handlung werden häufig als unbegründet und normativ überflüssig zurückgewiesen. Es braucht keine Tugendhaftigkeit (den guten Menschen), denn erzwungene Tugendhaftigkeit fördert die Intoleranz und ist eine hochexplosive Mischung, wie die Religionskriege gezeigt haben. Dies ist das Revolutionäre. Im Mittelalter ging man davon aus, dass der Bürger tugendhaft sein muss (gewährleistet durch Religiosität), damit ein Gemeinwesen funktionieren kann.

Das worst-case-Szenario wird damit zum moralischen Normalfall und der Liberalismus fragt sich, wie trotzdem politische Ordnung möglich ist.

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Menschenbild

Im Republikanismus: Methodologischer Holismus

Annahme: Der Mensch ist ein von Natur aus soziales Wesen. ( Traditionslinie mit der Antike wie auch der christlich-biblischen Idee). Der Republikanismus glaubt nicht daran, dass das Individuum auf sich alleine gestellt sein kann. Es ist vielmehr konstitutiv auf soziale Beziehungen zu anderen Menschen angewiesen.

Die Gemeinschaft unterstützt dabei unterschiedliche Facetten der individuellen Entwicklung und sorgt dafür, dass menschliche Grundbedürfnisse (Nähe, Wärme, Geborgenheit Basisvertrauen, Aufbau von sozialen Beziehungen) befriedigt werden.

Die Gemeinschaft ist nach der Familie die sekundäre Instanz der Sozialisation und auch von zentraler Bedeutung für die Vermittlung zentraler gesellschaftlicher Werte und Normen ( Was ist gut, was böse?)

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Menschenbild

Im Republikanismus: Methodologischer Holismus

Die Gemeinschaft hat also eine zentrale soziale und politische Bedeutung für das Individuum, daher muss die Reflexion über das Politische, den Staat und seine Legitimationsgrundlagen bei der Gemeinschaft ansetzen und nicht beim Individuum.

Individuelles Handeln ist tugendhaft und geht auf die Antike Idee zurück: Der Mensch ist ein zoon politikon. Er erfüllt seine Natur erst dann, wenn er sich politisch beteiligt. Er ist nicht nur Rechtsperson sondern Bürger. Daher muss er als Bürger nicht nur politische Beteiligungsrechte haben, sondern diese auch ausleben sollen und wollen. Von Bürger wird zudem areté erwartet, Tugendhaftigkeit in seinen Einstellungen, Handlungen und Urteilen.

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Zentrale RechteForm der Politik / Verhältnis der Bürger

Im Liberalismus: liberale Freiheitsrechte, Rechtspersonen

Die Politische Theorie des Liberalismus basiert auf einer starken Theorie des Rechts.

Innerhalb einer liberalen politischen Ordnung treten sich die Akteure als Rechtspersonen gegenüber. Die Menschen sind primär Träger von Abwehr- oder Anspruchsrechten. Die politischen und ökonomischen Interaktionen der Menschen sind strukturiert durch die Rechte, die sie jeweils besitzen. Der Staat ist als Garant von Rechten konzipiert. (Vergabe der Rechte: inklusiv)

Ein Recht ist eine verbriefte Garantie auf eine Handlungsoption resp. eine Handlungsunterlassungsgarantie je nach Betrachtungsweise.

Die zentralen Rechte, die der liberale Staat garantieren muss, sind Freiheitsrechte und – von herausragender Bedeutung – die Eigentumsrechte.

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Zentrale RechteForm der Politik / Verhältnis der Bürger

Im Liberalismus: liberale Freiheitsrechte, Rechtspersonen

Es existieren zwei Arten von Rechten:

Naturrechte (vorstaatliche Rechte):

• Transzendente Begründung: Aufgrund der Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott besitzt er diese Rechte.

• Immanente Begründung: Der Mensch als Mensch ist mit individuellen, unveräusserlichen Naturrechten ausgestattet.

Positive Rechte: Rechte, die die Rechtspersonen vom Staat verliehen bekommen. Positives Recht ist all jenes Recht, das erst im politischen Prozess entsteht.

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Zentrale RechteForm der Politik / Verhältnis der Bürger

Im Liberalismus: liberale Freiheitsrechte, Rechtspersonen

Das Recht normiert und strukturiert die politischen wie sozialen Interaktionen innerhalb der Gesellschaft und des Staates. Prinzipiell können zwei zentrale rechtliche Interaktionsdimensionen differenziert werden: die horizontale und die vertikale Dimension.

Horizontale Dimension: rechtlich kodifizierte und vermittelte Interaktionen der Rechtspersonen untereinander

Vertikale Dimension: rechtlich kodifizierte und vermittelte Beziehungen zwischen dem Staat und jeder einzelnen Rechtsperson resp. der Gemeinschaft aller Rechtspersonen

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Zentrale RechteForm der Politik / Verhältnis der Bürger

Im Republikanismus: politische Partizipationsrechte, Bürger

Innerhalb der zeitgenössischen republikanisch-kommunitaristischen politischen Theorie besitzt der Begriff des Bürgers einen besonderen Status. Es ist normativ aufgeladen.

Als Staatsbürger ist man Bürger eines Staates und besitzt zugleich Bürgerrechte. Diese Bürgerrechte sind vor allem politische Partizipationsrechte, d.h. das aktive und passive Wahlrecht. Die normative Komponente dabei ist, dass der Bürger sich nicht nur beitiligen kann, sondern auch beteiligen soll. (Vergabe der Rechte: exklusiv)

Demgegenüber erfährt im Liberalismus diese partizipatorische Dimension des Bürgers (Vorstellung der Gestaltung des politischen Gemeinwesens) weniger Aufmerksamkeit.

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Zentrale RechteForm der Politik / Verhältnis der Bürger

Im Republikanismus: politische Partizipationsrechte, Bürger

Der Begriff des Bürgers geht – wie bereits dargelegt . auf die Antike Idee des Menschens als zoon politikon. Er erfüllt seine Natur erst dann, wenn er sich politisch beteiligt. Er ist nicht nur Rechtsperson sondern Bürger. Daher muss er als Bürger nicht nur politische Beteiligungsrechte haben, sondern diese auch ausleben sollen und wollen. Von Bürger wird zudem areté erwartet, Tugendhaftigkeit in seinen Einstellungen, Handlungen und Urteilen.

Aber: Um Bürger sein zu können und an der politischen Selbstregierung beteiligt zu sein, muss ein spezifischer Anforderungskatalog erfüllt werden, z.B Eigentumsminima, Bildungsminima (Vorbild: Athen, oberitalienische Stadtstaaten).

Der Republikanismus ist also nicht zwingend gleichzusetzen mit einem egalitären Demokratieverständnis.

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Begründung staatlicher Herrschaft / Aufgabe des Staates

Im Liberalismus: vertragstheoretisch

Staatliche Ordnung und staatliche Herrschaft ist für den Liberalismus nicht unproblematisch. Primäre Aufgabe des Staates ist es, Rechte auf horizontaler Ebene zu garantieren. Aber: Um die Rechte schützen zu können, für deren Schutz er eingesetzt wurde, muss er eben jene Rechte partiell ausser Kraft setzen. Wie legitimiert sich der Staat?

Funktionale Legitimation: über die effektive Sicherung der zentralen Rechte der Rechtsunterworfenen

Kontraktualistische Legitimation: Bereits in der Konstitutionsphase akzeptieren die Menschen, dass ihre Rechte durch den Staat eingeschränkt werden. (Steuern, Polizei als Rechtsdurchsetzungsinstitution, Strafe in Form von finanzieller Kompensation oder Freiheitsentzug)

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Begründung staatlicher Herrschaft / Aufgabe des Staates

Im Liberalismus: vertragstheoretisch

Liberale Theorien sind daher Vertragstheorien. Es existieren zwei Formen von Verträgen, die Herrschaft konstituieren:

Gesellschaftsvertrag: Hier schliessen die Bürger miteinander und untereinander einen Vertrag, aus dem die politische Herrschaft hervorgeht.

Herrschaftsvertrag: Hier schliessen die Bürger mit einer anderen Partei, die nicht die Bürger selber sind, einen Vertrag, aus dem dann politische Herrschaft hervorgeht.

Der Liberalismus geht von der Vorstellung aus, dass Menschen vorstaatliche Naturrechte besitzen, so kann eine Herrschaftsordnung rein weltlich legitimiert werden, und zudem - wie schon dargelegt - müssen die Rechtsinhaber auch nicht tugendhaft gedacht werden.

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Begründung staatlicher Herrschaft / Aufgabe des Staates

Im Liberalismus: vertragstheoretisch

Heutige Vorstellung: Liberale Demokratie = Rechtsstaat und Demokratie

Aussage: ‚Der Liberalismus benötigt die Demokratie nicht, um liberal zu sein.‘

Alternative Argumentationen: Der Schutz des Eigentums und der Freiheitsrechte kann auch durch andere Herrschaftsformen realisiert werden:

Monarchie kann auch liberale Ideale realisieren.

Idee der Selbstregulierung: kann auch die Aufgaben des liberalen Staates lösen (= Label ‚Anarcho-Kapitalismus‘)

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Begründung staatlicher Herrschaft / Aufgabe des Staates

Im Republikanimus: vertragstheoretisch (Gesellschaftsvertrag)

Politische Ordnung und politische Herrschaft werden im Republikanismus ebenfalls vertragstheoretisch legitimiert. Bei den Begründungen dominiert dabei der horizontale Gesellschaftsvertrag. Dies resultiert aus dem republikanischen Ideal einer sich selbst inaugurierenden politischen Gemeinschaft, die sich dann auf mehr oder weniger demokratische Art und Weise selbst regiert.

Der Republikanismus hat die Vorstellung vom Staat, dass die Politik an der Spitze lenkend und leitend thront (Primat der Politik). Aufgabe des Staates ist die Ermöglichung des Guten Lebens in der Gemeinschaft der Staatsbürger. (Hannah Arendt: Ein gutes Leben ist nur ein politisches Leben.)

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Ziel der Politik / Medium des Politischen

Im Liberalismus: Realisierung der Mehrheitsmeinung auf dem Markt und System von institutionellen Checks and Balances

Die Menschen sind Träger von Rechten und Handeln als Nutzenmaximierer. Jeder Mensch weiss selbst am besten, was für ihn gut ist., und zwar unabhängig von seiner Bildung, seiner Intelligenz und ähnlichen Faktoren.

Die Menschen treffen auf dem Markt geordnet aufeinander. Auf dem Markt prallen Interessen und Macht aufeinander. Die unsichtbare Hand des Marktes ist dem Gemeinwohl dienlicher als das am Gemeinwohl orientierte moralisch motivierte Handeln von Einzelpersonen (Adam Smith).

Fragen: Erzeugt individuell nutzenmaximierendes Handeln nicht externe Kosten? Ist der Markt tatsächlich gemeinwohlorientiert?

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Ziel der Politik / Medium des Politischen

Im Liberalismus: Realisierung der Mehrheitsmeinung auf dem Markt und System von institutionellen checks and balances

Ein Arrangement von Institutionen (mit Checks and Balances) ergänzt das Marktmodell auf der politischen Ebene. So können die nutzenmaximierenden Leidenschaften wechselseitig in Schach gehalten werden.

Legitimatorische Basis liberaler Demokratie: Die Bürger haben vorpolitische Präferenzen (jeder weiss, was für ihn gut ist). Demokratische Politik ist legitimiert, in dem Masse wie sie auf diese Präferenzen reagiert. Der demokratische Prozess – im Form von Wahlen und Abstimmungen – aggregiert die Präferenzen.

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Ziel der Politik / Medium des Politischen

Im Republikanismus: Gemeinwohl und das Forum

Der Republikanismus betont – wie bereits dargelegt - die Idee des gemeinwohlorientierten Handelns. Das Gemeinwohl folgt nicht aus dem politischen Prozess, sondern ist diesem substanziell vorgelagert. Der tugendhafte, reflektierende Bürger erkennt das Gemeinwohl, da es einfach existent ist.

Somit ist die moralische Qualität seiner Bürger sowie des politischen Personals entscheidend zur Sicherung der Stabilität eines Staates. Dies spielt im Liberalismus keine Rolle.

Politische Entscheidungen werden im Forum, wo ein Austausch von Argumenten und Empathie stattfindet, getroffen.

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Spielarten von liberalen Theorien

• Libertarianismus: Der Libertarianismus priorisiert im Gegensatz zum Liberalismus die Eigentumsrechte des Individuums gegenüber anderen liberalen Grundrechten. Jeder Mensch besitzt Eigentum an sich selbst. Jeder Mensch erwirbt Eigentum durch Arbeit. Diese Spielart weist dem Staat eine sehr geringe Relevanz zu, dem Markt und dem Eigentum dafür eine herausgehobene Stellung.

• Utilitarismus: Basiert ebenfalls auf der Vorstellung des methodologischen Individualismus, sieht aber eine andere Aufgabe des Staates. Der Staat soll so handeln, dass die aggregierte Summe des individuellen Glücks maximiert wird. Dies ist dann auch seine Legitimation. Der Utilitarismus interessiert sich aber nicht dafür, wie die Verteilung des Glücks in der Bevölkerung ausfällt. (Jeremy Bentham, James Mill)

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Spielarten von liberalen Theorien

• Politischer Liberalismus: Im Zentrum stehen nicht mehr die Eigentumsrechte und die politischen Freiheitsrechte, sondern die demokratischen Prozeduren und Verfahren innerhalb eines gerechten liberalen Staates. Die Vorstellung ist dabei, dass der Staat neutral ist in Fragen des Guten Lebens, weil der Pluralismus ein Faktum ist. Der demokratische Staat kann nur noch dann stabil und gerecht sein, wenn er sich auf die politische Sphäre beschränkt und keine Aussagen mehr darüber trifft, wie ein gutes Leben aussehen soll.

Der Liberalismus ist in der Ideengeschichte seit Mitte des 18. Jh. der dominante Strang Politischer Theorie gewesen. Der Liberalismus ist auch realgeschichtlich der wichtigste Theoriestrang.

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Spielarten des Republikanismus

• Die Gruppe der Theoretiker, die dem republikanischen Paradigma zuzuordnen sind, ist relativ heterogen. (Gründe: Rückgriff auf antike griechische Philosophie resp. Reaktion auf Bedingungen der Moderne, vielfältige Formen des Antiliberalismus, sprachliche Gründe: englisch versus französisch, deutsch)

• Kommunitarismus: Der zeitgenössische Kommunitarismus steht in der Tradition des humanistischen Republikanismus. Die Gemeinschaft steht im Vordergrund als normative Leitidee gegenüber der politischen Mitbestimmung. (communitas = Gemeinschaft) Im Fokus steht die normative Frage nach den sozio-moralischen Grundlagen, auf denen moderne demokratische Gesellschaften ruhen sollen. Demokratische Prozesse und seine Institutionen werden daher eher beiläufig thematisiert. Es kann ein politischer, soziologischer und philosophischer (Sandel, Walzer, …) Kommunitarismus differenziert werden.

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‚Liberal-communitarian debate‘

In der 1980er resp. 1990er Jahren wurden unter dem Label ‚liberal-communitarian debate‘ einige Themen der Politischen Theorie debattiert.

• Gerechtigkeitsfrage: John Rawls versus Michael WalzerDiese Diskussion wird separat genauer betrachtet.

• Demokratiebegründungen: Nach 1989 gewinnt die normative Demokratietheorie in westliche Demokratien an Relevanz. Gründe: freiheitsbeschränkender Sozialismus versus menschenverachtenden Kapitalismus fiel weg für die politische Legitimation, Defizite und Pathologien der Demokratie rücken in den Fokus der Aufmerksamkeit, Blick für interne Differenzierung des Modells westlicher Demokratien wird geschärft. Diskussion wird dabei geführt über die Performanz des Sozialstaates und die gesellschaftlichen Konsequenzen der liberal-individualistischen Fundierung.

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‚Liberal-communitarian debate‘

• Freiheitskonzept

Issac Berlin (1958) und dann Charles Taylor (1988/2002) differenzieren zwischen negativer und positiver Freiheit.

Negative Freiheit: bezeichnet jene Sphäre, die das Individuum besitzt, in der es frei von Eingriffen von Aussen ist und in der es tun kann, was es will. (Restriktionen: natürliche Restriktionen (Wetter, Berge, Flüsse), soziale Restriktionen (andere Menschen), politische Restriktionen (Staat und Gesetze))

Negative Freiheit impliziert die Existenz von Abwehrrechten, die das Individuum gegen den Staat hat. Der Staat darf in diese Sphäre nicht eingreifen und hat sich zu schützen und zu garantieren.

Negative Freiheit impliziert auch die Freiheit, wählen zu können (Qual der Wahl).

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‚Liberal-communitarian debate‘

Das liberale Verständnis von Freiheit ist die negative Freiheit. Dies kritisieren die KommunitaristInnen. Der Kommunitarismus argumentiert, dass es nicht nur darauf ankommt, Wahlentscheidungen zu treffen, sondern bedeutungsvolle Wahlentscheidungen zu treffen.

Positive Freiheit: bedeutet, mittels politischer Partizipation gestaltenden Einfluss nehmen zu können auf das soziale und politische Umfeld, innerhalb dessen man lebt und agiert. Politische Freiheit ist also jene, politisch gestaltend tätig werden zu können.

KommunitaristInnen betonen daher die Mitsprachemöglichkeit, den politischen Gestaltungsraum jedes Einzelnen durch politische Partizipation auf unterschiedlichen Ebenen, auf unterschiedliche Arten und in unterschiedlichen politischen Arenen.

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‚Liberal-communitarian debate‘

• Konstitution des Selbst und der Status der Gemeinschaft

Dieses Thema hängt auch mit dem Freiheitskonzept zusammen. Für den Kommunitarismus ist die Frage der Konstitution des Selbst sehr wichtig. Frage: Welche Faktoren hindern den Menschen selbst, ein authentisches Selbst auszubilden?

Antwort: Es existieren auch interne Hindernisse (dem Menschen individuell eigen).

Interne Hindernisse: im weitesten Sinne genetisch verursacht (Bsp.: Blindheit, Mangel an natürlichen Begabungen) und Hindernisse, die zwar ausserhalb des Individuums angesiedelt sind, trotzdem aber Rückwirkungen auf das Individuum haben (Bsp.: schlechtes Schulsystem, damit verbunden geringes Potenzial zur Selbstreflexion)

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‚Liberal-communitarian debate‘

Hinter dieser Überlegung steht eine romantische Vorstellung des Selbst im republikanischen Humanismus. Das Selbst wird verstanden als ein Schatz, der in uns liegt, und der gehoben werden muss. Wir haben das Potenzial zu einem glücklichen und erfüllten Leben in uns, wir benötigen aber einen sozialen und politischen Kontext, der es uns ermöglicht, dieses Potenzial zu realisieren.

So muss jede Konzeption der Freiheit bei der inneren Freiheit ansetzen. Sie ist Basis für eine normative gehaltvolle Ausgestaltung der positive und negativen Freiheit. Jeder Mensch versteht sich und die Welt nur aus dem Kontext einer sinnstiftenden Gemeinschaft heraus. Was Freiheit bedeutet, lässt sich also auch nicht jenseits der gesellschaftlichen Vorstellungen von Ehre, Solidarität und Identität bestimmen.

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‚Liberal-communitarian debate‘

Die Gemeinschaft ist also die substanzielle Basis wahrer innerer Freiheit. Die Gemeinschaft ist dabei in doppelter Hinsicht ein wertvolles Gut:

Wertschätzung konstitutiver sozialer Bindungen: Sie ermöglicht dem Individuum bedeutsame Entscheidungen zu treffen, da sie eine moralische Landkarte zur Verfügung stellt, die Wertungen (richtig/falsch, wertvoll/wertlos) bereitstellt. Erst vor diesem sozialen Hintergrund kann sich ein Selbst ausbilden.

Anerkennung von Differenz: Nur in der Gemeinschaft kann sich die Menschheit als Ganzes evolutionär vervollkommnen. ‚Jedes Leben kann nur einen kleinen Teil des in der Menschheit beschlossenen Potenzials verwirklichen, daher kommen wir nur dann in den Genuss des ganzen Reichtums menschlicher Errungenschaften und Fähigkeiten, wenn wir uns mit Menschen verbinden, die in ihrer Entwicklung andere Wege eingeschlagen haben.‘ (Charles Taylor, 2002)

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‚Liberal-communitarian debate‘

Demokratie (als freiheitliche Herrschaftsform) und Gemeinschaft stehen aus Sicht des Kommunitarismus in enger Verbindung. Entsprechend soll für das politische Gemeinwesen gekämpft werden, da die positive Freiheit ein authentisches Selbst ermöglicht. Zudem darf sich eine Gemeinschaft nicht homogen schliessen, weil sie sonst der Entfaltung des Selbst moralisch fragwürdige Schranken auferlegen würde.

Der Kommunitarismus unterscheidet zwei Typen von Gemeinschaft:

Community of fate: eine Gemeinschaft, in die man hineingeboren wird und deren Zugehörigkeit man sich nicht auswählen kann

Community of choice: Gemeinschaften, die für die Ausbildung der ‚moralischen Landkarten‘ sorgen (BewohnerInnen eines Quartiers, Vereine) und man die Zugehörigkeit wählen kann.

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‚Liberal-communitarian debate‘

Der Liberalismus geht ja davon aus, dass der Mensch in dieser Welt zunächst von allen anderen Menschen isoliert ist und er diese Unverbundenheit auch nicht überwinden kann. Das ‚Ich‘ existiert vor seinen Zielen. ‚Ich‘ suche mir meine Ziele aktiv aus, verwerfe sie, suche mir neue. Konstitutiv für das Selbst sind nicht die Ziele, aber die Wahlmöglichkeit. Im Liberalismus genügt die negative Freiheit (Abwehrrechte, Wahlfreiheit). Jeder soziale Verband beschränkt die negative Freiheit, daher muss der Staat klein bleiben, um die Freiheit nur in wenigen Bereichen einzuschränken, oder die Wahlfreiheit muss erhöht werden. Das liberale Selbst kann sich so am besten ‚permanent neu erfinden‘.

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Deliberative Theorien

• Die Politische Theorie erfährt im Bereich der Demokratietheorie eine Veränderung im Gefolge der 68-er Bewegung. Es ist der Aufbruch der partizipatorischen Demokratietheorie.

• Carole Pateman (1970): Buch ‚Participation and Democratic Theory‘: Sie will die repräsentative Demokratie demokratischer machen, indem sie

Das Portofolio politischer Partizipation erhöhte (direkte Beteiligung, Petitionen, Abstimmungen, Streiks) und auch

Den Bereich des Politischen erweiterte (u.a. Forderung nach Demokratie am Arbeitsplatz)

• Gefahren?: Überforderung der Bürger, totalitäre Züge des Beteiligungsideals Betonung des liberalen Rechts, politisch desinteressiert zu sein und sich nicht beteiligen zu müssen

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Deliberative Theorien

• Jürgen Habermas, der wohl wichtigste Vertreter, (1981) Buch: ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘. Die Deliberation gewinnt an Gewicht: Nicht mehr die politische Beteiligung an sich, sondern die diskursive Präferenzgenese rückt in den Fokus des Interesses.

• Die deliberative Theorie zweifelt an der liberalen Vorstellung der individuellen, vorpolitisch generierten Präferenzen. Argumente: Die Bürger besitzen keine klaren politischen Präferenzen, die unabhängig vom politischen Prozess sind. Sie bezweifeln den legitimatorischen Stellenwert individueller Präferenzen im demokratischen Prozess. Die politische Sphäre hat eine genuin andere Qualität als der Markt. Das Politische braucht einen deliberativen Prozess, wo die Präferenzen herausgearbeitet werden. Dadurch wird die Idee einer nicht-vermachteten Öffentlichkeit zentral. Der deliberative Prozess soll in der Öffentlichkeit stattfinden.

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Deliberative Theorien

• Folgende fünf Herausforderungen soll die deliberative Theorie besser als andere Theorien lösen können:

Überwindung der Spannung zwischen verfassungsrechtlichen Vorentscheidungen und dem Ideal demokratischer Souveränität

Überwindung des Dualismus: liberale Institutionenfixiertheit versus republikanische Tugendorientierung (im Zentrum steht der Prozess)

Erhöhung der demokratischen Legitimation politischer Systeme

Verbesserung der politischen Präferenzen (Austausch von Argumenten und Meinungen zwischen freien und gleichen Bürgern führt zur Selbstaufklärung)

Reduzierung der Implementationskosten

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Postmoderne Theorien

• Der Begriff der Postmoderne kam erstmals Ende der 1950er Jahre in der amerikanischen Literaturkritik auf und gelangte von dort in die Architekturtheorie.

• Für die Verbreitung des Labels ‚Postmoderne‘ war das Buch von Francois Lyotard ‚La condition postmoderne‘ (1978) von grosser Bedeutung. Im Auftrag der kanadischen Regierung sollte er den Stand der Wissenschaften darstellen. Seine klare Diagnose: Die Zeit der Grosserzählungen (‚méta-récits‘) ist zu Ende. Die klassische Moderne verfolgte noch Grossprojekte und hoffte, den besseren Menschen oder die endgültig gerechte Gesellschaft zu schaffen. Diese Grosserzählungen, wie beispielsweise die Geschichte des Fortschritts oder die Geschichtsphilosophie des Marxismus, seien unplausibel. Das Zeitalter der Ideologien und Utopien sei zu Ende.

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Postmoderne Theorien

• Die Postmoderne diagnostiziert einen vertieften Ordnungsschwund, versteht sich somit als Verschärfung der Moderne. Die Postmoderne bricht aber mit der Hoffnung auf eine Neuordnung. Pluralität, Komplexität, Mehrdeutigkeit und ‚neue Unübersichtlichkeit‘ werden konstatiert und befürwortet.

• Das Zeitalter der Ideologien und Utopien sei in der Postmoderne einem Bewusstsein der Differenz und des Pluralismus gewichen. Die Welt wird heute durch eine Vielzahl konkurrierender kleiner Erzählungen verständlich. Damit gibt sich die Postmoderne zufrieden. Statt einer überwölbenden Leitkultur herrsche daher eine Vielzahl von Subkulturen.

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Postmoderne Theorien

• Der Begriff ‚Postmoderne‘ ist schillernd. Heute wird der Begriff zur Bezeichnung einer Epoche, einer Ideologie, eines Stils oder als Kennzeichnung bestimmter Problemstellungen benutzt. Französische Theoretiker spielen dabei eine entscheidende Rolle. Sie wollten die Art und Weise, wie in der westlichen Welt überhaupt gedacht wird, völlig verändern.

• Michel Foucault (1926-1984) gilt es der einflussreichste Denker der Postmoderne. Ab 1970 hatte er am Collège de France den Lehrstuhl für die Geschichte der Denksysteme inne.

• Ob die Postmoderne ein Epochenbruch ist, wie es die Moderne war, ist heftig umstritten.

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Postmoderne Theorien

• Gegenüberstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, um die Unterschiede des Denkens zu erkennen:

feststehende Strukturen versus dynamische Prozesse,

abgeschlossene philosophische Systeme versus ereignishafte Entwürfe,

geschichtsphilosophische Gewissheit oder politische Utopie versus radikale Offenheit,

Evidenz der einzelnen Anschauungen versus Mehrdeutigkeit der Erscheinungen

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Postmoderne Theorien

Gemeinsame Charakteristika postmoderner Theorien sind:

Der Anti-Cartesianismus (Die Selbstgewissheit des Subjekts wird in Frage gestellt. Die Vorstellung des freien, sich selbst durchschauenden ‚Ichs‘ sei ein Mythos der Moderne.

Eine Skepsis gegenüber allen teleologischen Selbstbeschreibungen der positiven Wissenschaften (ein geschichtliches Endziel voraussetzend). Das Programm einer akkumulierten Fortschrittsweise wird verabschiedet.

Die Absicht, Begriffe ‚einzuschmelzen‘ und eingefahrene Begriffsgewohnheiten zu lösen und zu hinterfragen. Damit soll Sprache (als unser Instrument des Denkens) in neuer Formbarkeit zur Verfügung stehen.

Postmoderne Theorie schert sich nicht um Disziplingrenzen (Transdisziplinarität). Sie integriert ohne Bedenken verschiedene Disziplinen.

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Macht des Diskurses: Michel Foucault

• Wissen eröffnet nicht Macht, sondern ist Ausdruck von Macht, Resultat von Macht. Wissen ist das Ergebnis eines Konstruktionsprozesses, in dem sich die Machtverhältnisse Ausdruck in Wissensformen suchen und damit ‚Wahrheiten‘ produzieren, die die Machtverhältnisse stützen.

• Also nicht mehr: Wissen ist Macht. Wer viel weiss, hat auch viel Macht. (Bacon)

• Buch: Wahnsinn und Gesellschaft (2011, 19. Auflage). Die Unterscheidungen von gesund/krank, normal/anormal sind historisch kontingent. Die Disziplinierungssysteme der Gesellschaft (wie eben die klassische Psychologie oder die Psychiatrie) wenden nicht nur einfach eine naturgegebene Unterscheidung an, sondern institutionalisieren und festigen sie. Die Unterscheidung von normal/anormal ist ein Konstrukt und ein Instrument der Machtausübung.

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Macht des Diskurses: Michel Foucault

• Foucault interessiert sich weniger darum, was gesagt wird, sondern wie es gesagt wird. Er untersucht, mit welchem vorgeprägten Vokabular, mit welchen Unterscheidungen, narrativen Strategien oder mit welcher begleitenden Machtinszenierung (durch behauptetes Expertentum, Würde eines Amtes) die Menschen die Welt beschreiben. So sieht er dann, dass die Unterscheidung normal/anormal gar nicht so naturgegeben oder selbstverständlich ist, wie wir glauben.

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Macht des Diskurses: Michel Foucault

• Macht ist nicht immer erkennbar, sie wirkt nicht nur dort, wo Befehle gegeben und befolgt werden, sondern ist oft verborgen wirksam. Macht beginnt, wo wir zu denken beginnen, wo uns die Gesellschaft Sprache und Begriffe vorgibt, Unterscheidungen nahe legt oder ganze Argumentationsketten bereitstellt.

• Foucault stellt sich Macht als geschmeidiges, verborgenes und untergründig wirksames Medium vor, das nicht erst durch die Institution in die Welt kommt, sondern dort lediglich zentralisiert und strukturiert wird. Die Normierung ist deshalb wirksam, weil sie unbemerkt bestimmt, was und wie wir sein wollen. Die sichtbare Seite findet statt im Diskurs des Lehrers, des Richters, des Psychiaters… Die Kulturwissenschaften befreien nicht einfach aus den Normierungen, sondern setzen selbst neue. Sie sind selbst Medien der Macht. (also keine Instanzen der Befreiung des Menschens wie das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften ist)

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Macht des Diskurses: Michel Foucault

• Diskurs: Die Gesamtheit von vorgegebenen Mustern nennt Foucault Diskurs.

• L‘ordre du discours (Titel seiner Antrittsvorlesung): Der Diskurs ordnet unser Denken und befiehlt unsere Entscheidungen.

• Nicht das einzelne Subjekt entscheidet darüber, was es denken will. Was uns als frei entscheidendes Subjekt erscheint, ist nur das Integral von Einflüssen, die den Diskurs weitertragen. Das autonome Subjekt, das seine Welt entwirft, ist eine Illusion. Die Vorstellung vom freien, sich entwerfenden Subjekt ist selbst eine ideologische Vorstellung, die uns Freiheit suggerieren soll, wo wir nur Elemente eines Machtgefüges sind.

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Macht des Diskurses: Michel Foucault

• Gouvernementalität ist eine Form der Machtausübung – Macht und Kontrolle. Diese Machtausübung wird nicht mehr in Relationen von Machtausübenden und Machtunterworfenen gedacht, sondern wird verstanden als ein Medium sozialer Regelung, bei der die Subjekte auf eine Selbstkontrolle hin kontrolliert werden.

• Der Liberalismus ist nach Foucault eine gouvernementale Steuerungstechnik für komplexe Gesellschaften. Er ist ein Instrument der ‚Führung zur Selbstführung‘. Die bürgerliche Haltung ist die Fortsetzung der Herrschaft mit gouvernemental sublimierten Mitteln. (Es ist nicht eine Ordnung zu Gunsten der Freiheit, wo staatliche Macht eingeschränkt ist durch bürgerliche Freiheitsrechte und ökonomische Handlungsfreiheit.)

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Macht des Diskurses: Michel Foucault

• Gesellschaft oder Kommunikation ohne Macht ist für Foucault gar nicht möglich.

• Foucault kann keine Antwort geben auf die Frage über die rechte Ordnung der Gesellschaft (Debatte zwischen Liberalismus und Republikanimus). Auch Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handelns und die Vorstellung eines herrschaftsfreien Diskurses kann aus Foucaults Sicht nur eine Utopie sein.

• Foucault leitet dazu an, Distanz zu halten und die Macht des Diskurses zu reflektieren und sie zu unterlaufen.

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Quellen

Schaal, Gary S. & Heidenreich, Felix (2009). Einführung in die Politischen Theorien der Moderne. (2. Auflage). Opladen & Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich.

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