zeitgeschichte - vom mauerfall zur deutschen einheit

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ZEITGESCHICHTE Vom Mauerfall zur deutschen Einheit "Es ist ungewöhnlich, daß sich ein Staat freiwillig aus der Geschichte verabschiedet", erklärte Ministerpräsident Lothar de Maiziere in seiner letzten Rundfunk- Rede am Todestag der DDR, dem 2. Oktober 1990. Es war die Freiwilligkeit eines Bankrotteurs, der zum Konkursrichter geschleppt wird. Elite- Einheiten der Nationalen Volksarmee wurden von SED- Generalsekretär Egon Krenz in den Zustand der "Erhöhten Gefechtsbereitschaft" versetzt. Dass gleichwohl kein Tropfen Blut geflossen ist, rechnen sich die ehemaligen "DDR"- Generäle als Verdienst an. In Gesprächen mit SPIEGEL- Reporter Hans Halter erzählten sie freimütig über ihren intern geführten Streit, ob und wie der Bestand der "DDR" noch geschützt werden könnte. Neben den Militärs befragte der SPIEGEL auch Politiker und Wirtschaftsexperten, um die aufregenden Monate zwischen Öffnung und Abschaffung der Grenze nachzuzeichnen. Ergebnis ist die dreiteilige Serie "Vom Mauerfall zur deutschen Einheit". AP Die Mauer fällt 1989 Zeitgeschichte Vom Mauerfall zur deutschen Einheit 1. Zeitgeschichte: Vom Mauerfall zur deutschen Einheit vom 17.06.2007 - 824 Zeichen SPIEGEL ONLINE 2. ZEITGESCHICHTE: Die Gnade der zweiten Reihe vom 08.11.2004 - 22646 Zeichen DER SPIEGEL Seite 54 3. SPIEGEL-GESPRÄCH: "Es lag etwas in der Luft" vom 08.11.2004 - 18156 Zeichen DER SPIEGEL Seite 66 4. "Wir wollen konsumieren" vom 16.10.1995 - 29862 Zeichen DER SPIEGEL Seite 162 5. "Alle hatten glänzende Augen" vom 09.10.1995 - 32395 Zeichen DER SPIEGEL Seite 76 6. "Am Rande des Bürgerkriegs" vom 02.10.1995 - 38000 Zeichen DER SPIEGEL Seite 40 7. SPIEGEL-Gespräch: "Schön, ich gab die DDR weg" vom 02.10.1995 - 28842 Zeichen DER SPIEGEL Seite 66 8. Polemik: Die Unfähigkeit zu feiern vom 02.10.1995 - 19725 Zeichen DER SPIEGEL Seite 236

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ZEITGESCHICHTE

Vom Mauerfall zur deutschen Einheit

"Es ist ungewöhnlich, daß sich ein Staat freiwillig aus der Geschichte verabschiedet", erklärte

Ministerpräsident Lothar de Maiziere in seiner letzten Rundfunk- Rede am Todestag der DDR, dem 2.

Oktober 1990. Es war die Freiwilligkeit eines Bankrotteurs, der zum Konkursrichter geschleppt wird.

Elite- Einheiten der Nationalen Volksarmee wurden von SED-Generalsekretär Egon Krenz in den Zustand der "ErhöhtenGefechtsbereitschaft" versetzt. Dass gleichwohl kein Tropfen Blut geflossen ist, rechnen sich die ehemaligen "DDR"- Generäle als Verdienst an. In Gesprächen mit SPIEGEL- Reporter Hans Halter erzählten sie freimütig überihren intern geführten Streit, ob und wie der Bestand der "DDR" noch geschützt werden könnte. Neben den Militärs befragte der SPIEGEL auch Politiker und Wirtschaftsexperten, um die aufregenden Monate zwischen Öffnung und Abschaffung der Grenze nachzuzeichnen. Ergebnis ist die dreiteilige Serie "Vom Mauerfall zur deutschen Einheit".

AP

Die Mauer fällt 1989

ZeitgeschichteVom Mauerfall zur deutschen Einheit

1. Zeitgeschichte: Vom Mauerfall zur deutschen Einheit vom

17.06.2007 - 824 Zeichen

SPIEGEL ONLINE

2. ZEITGESCHICHTE: Die Gnade der zweiten Reihe vom

08.11.2004 - 22646 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 54

3. SPIEGEL-GESPRÄCH: "Es lag etwas in der Luft" vom

08.11.2004 - 18156 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 66

4. "Wir wollen konsumieren" vom 16.10.1995 - 29862 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 162

5. "Alle hatten glänzende Augen" vom 09.10.1995 - 32395 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 76

6. "Am Rande des Bürgerkriegs" vom 02.10.1995 - 38000 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 40

7. SPIEGEL-Gespräch: "Schön, ich gab die DDR weg" vom

02.10.1995 - 28842 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 66

8. Polemik: Die Unfähigkeit zu feiern vom 02.10.1995 - 19725 Zeichen

DER SPIEGEL Seite 236

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Klemens Koschig ist geblieben. DerMitbegründer des Neuen Forumsim sachsen-anhaltischen Roßlau

sitzt genau dort, wo ihn sich die Menschenbei den Demos im Herbst 1989 hinge-wünscht hatten: in der einstigen SED-Kreisleitung.

Koschig residiert im Dienstzimmer desletzten 1. Sekretärs der DDR-Staatspartei.Dessen rotes Telefon steht noch immer vollfunktionstüchtig auf dem Schreibtisch – esist heute die Direktleitung zu Koschigs Fa-milie. An der Wand leuchtet eine roteSteckdose. Aus der kam zu SED-Zei-ten noch Strom, wenn sonst alles inder Stadt dunkel war: Sie hing an ei-nem Notstromaggregat. Niemand darfdas heute nutzlose Teil entfernen, es istein Stück Erinnerung.

Klemens Koschig, 46, ist Bürger-meister der 14000-Seelen-Stadt Roß-lau, und die einstige Kreisleitung istsein Rathaus. Das Neue Forum holthier bei den Kommunalwahlen zwi-schen 14 und 22 Prozent der Stimmen,Immer-noch-Forum-Mitglied Koschigwird von den Roßlauern bei der Wahlzum Bürgermeister regelmäßig mitDDR-Ergebnissen bedacht: zuletzt 83Prozent.

Als alles anfing 1989, war Koschig Ma-schinenbau-Ingenieur in einem Hydrier-werk, engagierte sich in einer katholischenStudentengemeinde und war ehrenamtli-cher Denkmalpfleger. Während einer Wei-terbildung in Halle lief er bei den erstenDemonstrationen eher zufällig auf demWeg nach Hause den Vopos in die Arme.Er wurde verhaftet, vernommen und lau-fen gelassen – „am nächsten Tag habe ichmich beim Neuen Forum eingetragen“.

Für die erste Demo in Roßlau Ende Ok-tober 1989 nominierte das Neue Forum denLaienprediger, und Koschig begeisterte dieProtestierer, die sich vor der Kreisleitungversammelt hatten. Das tat er von nun anjeden Dienstag, gleich nach der Frie-densandacht. Einmal machte er dem Polit-büro nach den Strafgesetzen der DDR denProzess – für Honecker kamen 120 Jahreheraus; die Menge tobte.

Wenig später wurden die Botschaftendes Forum-Mannes, der beim Mauerfall„geweint hat vor Glück“, unpopulärer.„Die Arbeiter wollten mich fast lynchen“,erinnert sich Koschig, als er, statt ein kla-

der Demokratische Aufbruch den Beginnder Karriere. Das gilt für Wolfgang Thier-se, als Bundestagspräsident heute der rang-höchste Ossi, für Angela Merkel, die in-zwischen darum kämpft, die Geschicke desvereinten Deutschland lenken zu können,und für viele einfache Abgeordnete.

Ohne Leute wie sie, so viel steht fest,wäre die Wende kaum vollendet worden.Nur: Viele von ihnen haben den Revolu-tionszug erst bestiegen, als er schon rollte.Die Mauer zu Fall gebracht und damit denZweiten Weltkrieg beendet haben nicht sie.

Dafür stehen Namen wie WolfgangTemplin, Bärbel Bohley, Werner Fi-scher oder Joachim Gauck. Namen,über die jetzt, nach 15 Jahren, lang-sam der Mantel des Vergessens fällt.

Nichts wäre falscher, als die Mitrei-senden des Zuges in die Freiheit alle-samt Opportunisten oder gar Tritt-brettfahrer zu nennen. Manche hatteneinfach Glück. Während die deutscheRevolution ihre Väter und Mütter fraß,genießen sie, um es ähnlich platt wieHelmut Kohl zu sagen, die Gnade derzweiten Reihe.

Dieter Althaus, Matthias Platzeckoder Angela Merkel hatten sich nichtim jahrelangen Kampf mit der Stasi

wund gerieben. Sie verstanden Anpas-sungsfähigkeit nicht nur als Schande. Siewaren einfach bereit für die neue Zeit.

Die Leute der ersten Stunde, sagt Ri-chard Schröder, Theologe und Vorsitzen-der der SPD-Fraktion in der Volkskammer,„passten nicht ins Schema“. Sie wusstensich nicht in der Parteienlandschaft Westzurechtzufinden, fühlten sich von Kohlplatt gemacht, von Oskar Lafontaine imStich gelassen und vom damaligen bayeri-schen Ministerpräsidenten Max Streibl be-leidigt, als der erklärte, man werde demOsten erst helfen, wenn sich „die Laien-spieler“ wieder in ihre angestammten Be-rufe zurückgezogen hätten.

Nicht jeder konnte sofort, wie RichardSchröder, Trost bei einem alten Zitat su-chen. Der hatte 1990 erklärt: „Ich betrach-te meine politische Tätigkeit als vorüber-gehende Nothilfe für die Zeit der Festi-gung des demokratischen Rechtstaats.“

Jetzt, fast 15 Jahre später, haben vieleder friedlichen Revolutionäre offensicht-lich ihren Frieden mit der neuen Bundes-republik gemacht. Gelassen, fast schon

res Bekenntnis zur Wiedervereinigung ab-zugeben, von einem Neuaufbau der DDRmit sozialer Marktwirtschaft gesprochenhabe. Dennoch erzielte er bei der erstenfreien Kommunalwahl mit mehr als 1200Stimmen das beste Einzelergebnis. Bür-germeister wurde allerdings ein Christ-demokrat, der aber schon nach 120 Tagenim Rathaus aufgab und am 25. Oktober1990 für Klemens Koschig vom Neuen Forum Platz machte.

Dort sitzt er nun, eine Nickelbrille im of-fenen Gesicht, lächelnd, im blauen Hemd

mit einer Stars-and-Stripes-Krawatte umden Hals, denkt über die vergangenen Jah-re nach und sagt: „Die schnelle Einheit warwohl doch erforderlich.“ Der Mann in deralten SED-Kreisleitung wurde von CDUund SPD umworben, blieb sich aber bishertreu. „Man wechselt die Gesinnung nichtwie das Hemd.“

Was im kleinen Roßlau als Standfestig-keit honoriert wird, ist in der großen Poli-tik längst undenkbar. Koschig ist einer derletzten ersten Männer der Wendezeit, jenerBürgerbewegten, die aktiv und an vorders-ter Front die friedliche Revolution voran-getrieben haben.

Andernorts, von Schwerin bis Dresden,von Berlin bis Erfurt, ist das Neue Forum,die im Herbst 1989 gegründete politischePlattform, nicht viel mehr als ein Verein,eine Erinnerungsgemeinschaft. In denHandbüchern des Bundestags und derLandtage markieren jedoch bei fast jedemostdeutschen Politiker Organisationen ausdem deutschen Herbst ’89 wie das NeueForum, Demokratie Jetzt, die neu gegrün-dete Sozialdemokratische Partei SDP oder

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Deutschland

Z E I T G E S C H I C H T E

Die Gnade der zweiten ReiheDie Protagonisten der deutschen Revolution machen allmählich ihren Frieden mit der neuen

Bundesrepublik und ihren pragmatischeren Mitstreitern. 15 Jahre nach dem Mauerfall entsteht so eine neue, gemeinsame Erinnerung an den Herbst 1989.

Grenzöffnung am 9. November: Ende des Krieges

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gelöst, blicken sie auf die aufregendste Zeitder deutschen Demokratie zurück – jederaus unterschiedlichem Blickwinkel und je-der auf seine Weise.

*Steffen Reiche ist ganz unten angekom-men, im Keller seines Hauses in Potsdam-Rehbrücke, seinem Arbeitszimmer. Hiersitzt er jetzt öfter.

Ganz hinten, in der Ecke am Bücher-regal, hängt ein Foto: ein junger Mann mitBrille, Bart, einem scheuen Lächeln, ei-ner „Lederjacke aus Polen“, wie er er-klärt. Das Foto entstand in Bonn, imHerbst 1989. Reiche war 29, als er in die Politik geriet.

Wenige Tage nach Gründung der SDPhatte der Pfarrer in den Westen reisen dür-

kandidat, er wurde erst Wissenschafts-minister, dann Bildungsminister.

Im Unterschied zu anderen hat Reichenie auf einem Revolutionsbonus beharrt.Er wollte keine Zukunft nur wegen seinerVergangenheit. Und so muss sich der Ex-Minister heute abfinden mit seiner Herab-stufung zum europapolitischen Sprecherder Landtagsfraktion – und sucht die Grün-de auch bei sich. „Vielleicht bin ich etwaszu unkonventionell.“

Rolf Schwanitz dagegen kämpft. Obwohler eigentlich kein Kämpfertyp ist. Er istStaatsminister im Kanzleramt. Er trägt gernAktenmappen. Er wirkt im Stillen, manchesagen: Er wirkt gar nicht. Wenn ihm derKanzler sagt, er möge auf der Regierungs-bank bleiben, damit die nicht unbesetzt ist,dann sitzt er da, als wäre er mit Sekun-denkleber festgeleimt worden.

So soll er auch früher gewesen sein, alsLehrer an der Fachschule für Ökonomie inPlauen. Er hat Wirtschaft und Jura stu-diert, er wurde Dozent. Weil das nicht ge-rade nach Widerstand klingt, nannte ihnein Plauener Anzeigenblatt einen „sys-temkonformen Lehrer“.

Doch was heute als Überlebensgarantiegilt, darf in der Biografie nicht sein. Alsosprach der Staatsminister wie einst dieSED-Funktionäre in der Redaktion vor undließ seine Rolle im Herbst ’89 nachträglichwürdigen: Er habe in der „Arbeitsgruppegegen Korruption und Amtsmissbrauch“gearbeitet. Daran kann sich in Plauen nicht

fen, seine Großmutter hatte 84. Geburtstag.Er schaute in der SPD-Zentrale vorbei,Hans-Jochen Vogel bot ihm das Genossen-Du an, eine Sekretärin zwei Anzüge ihresMannes, damit das junge Gesicht der Ost-partei auch im Westen vorgezeigt werdenkonnte. Als Willy Brandt und Vogel dannam 11. November die neuen Genossen imOsten aufsuchten, saß Reiche nebenBrandt in der schwarzen Limousine.

Heute, mit 44 Jahren, liegt seine Ge-schichte in kleinen Stapeln auf dem Kel-lerboden. „Bildung“ steht auf einem, „So-zialdemokratie“ auf einem anderen. „Ichsortiere gerade die letzten 14 Jahre.“ Erhat Zeit genug, im neuen Kabinett Bran-denburgs wurde er nicht mehr gebraucht.

Er hat Wege geebnet, die immer wiederandere beschritten. Er war zu jung, um

1989 Chef der Ost-SPD zuwerden, musste sich mitdem Landesvorsitz inBrandenburg begnügen.Dort ließ er Manfred Stol-pe den Vortritt, Reiche warklar, „mit 30 kann mannicht Ministerpräsidentwerden“. Als er alt genuggewesen wäre, war ein an-derer, den er selbst einstvon den Grünen in dieSPD mitgelotst hatte,locker an ihm vorbeigezo-gen – Matthias Platzeck.Reiche wurde nie Spitzen-

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Friedliche Erstürmung der Mauer: Viele haben den Revolutionszug erst bestiegen, als er schon rollte

Bürgermeister Koschig: Nicht die Gesinnung gewechselt

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NORBERT MICHALKE / IMAGES.DE

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jeder erinnern, doch Schwanitz ist es„schon wichtig“, dass die Menschen inPlauen seine Wahrheit erfahren: „Immer-hin leben da meine Wähler.“

*Dieter Althaus, 46, hat immer funktioniert– und ist immer in Führungspositionen ge-landet. Er war Pionier und FDJler, CDU-Mitglied in der Blockpartei. Noch im Au-gust 1989 suchte er nach Wegen, „unsereSchüler die Werte des Sozialismus als mo-ralisch erstrebenswert erkennen und erle-ben zu lassen“.

Ende Oktober demonstrierte er nach einer Missionspredigt in Heiligenstadt für Reformen, ein Jahr später zog er fürdie Union in den Thüringer Landtag ein.Heute ist der Mann, dem das Landes-arbeitsgericht 1994 in einem Verfahren um die Kündigung einer Lehrerin be-scheinigte, er habe in der DDR „die Bundesrepublik mit ideologischen Hetz-parolen“ bekämpft, Ministerpräsident des Freistaates. Im Blick zurück wird dieErinnerung ein wenig aufgehübscht. Alt-haus präsentiert sich gern als Mitinitiatorder Heiligenstädter Montagsdemos undbehauptet, nie Karrierepläne gehabt zuhaben, nachdem er „auf meinen Doktor-titel in Physik verzichten musste, weil ich nichts mit der SED zu tun haben wollte“.

Noch lieber richtet er den Blick nachvorn, ganz im Sinne seines dynamischenCredos im neuen System: „Nachdem wirbereits tausend Probleme gelöst haben,werden wir die restlichen hundert auchnoch lösen.“ In dieser Woche wird Althausmit seinem Kollegen Roland Koch und denehemaligen DDR-Oppositionellen VeraLengsfeld, Günter Nooke und StephanHilsberg eine wegweisende Diskussion

* Oben: mit DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière,Rainer Eppelmann und Peter-Michael Diestel (alle CDU)1990 in der DDR-Volkskammer; unten: bei der Großde-monstration am 4. November 1989 in Berlin (linkes BildM.) und bei der Verleihung der „Goldenen Henne“ am 22. September in Berlin (rechtes Bild).

gelben Löwenkopf – Werbung für einenafrikanischen Piratensender.

*Joachim Gauck, 64, sieht ein bisschen ge-hetzt aus, als er das Restaurant am Berli-ner Bahnhof Zoo betritt. Der Mann, nachdem eine Riesenbehörde benannt wurde,ist als Handlungsreisender in Sachen Frei-heit unterwegs, in einer Stunde geht seinZug nach Erfurt, zum Vortrag. Einst er-schreckte er als „Revolutionspfarrer vonRostock“ die Herrschenden der DDR mitSätzen wie „Wir sagen unserer Angst ,AufWiedersehen‘“. Später sorgte er mit Sätzenwie diesem für Aufsehen: „Sie hatten dasParadies erträumt und wachten auf inNordrhein-Westfalen.“ Jetzt trägt er sei-nen Koffer wieder selbst.

Die ihm nach zehn Jahren Gauck-Behör-de angebotene Leitung der Bundeszentra-le für politische Bildung schien ihm zu we-nig. Als Kanzler Gerhard Schröder ihm an-bot, sich für ein Bundestagsmandat starkzu machen, fragte er sich: „Geht das dennals Parteiloser?“ Er hätte es gern mit Schrö-der diskutiert, aber es kam kein Anrufmehr.

Der „freischaffende Redner“ Gaucknennt sich heute einen „linken, liberalenKonservativen“. Er passt in keine Partei. Erhat keine Funktion mehr, außer JoachimGauck zu sein. Aber das ist nicht wenig.Vor kurzem hat ihn Bundespräsident HorstKöhler ins Präsidialamt eingeladen. BeiGebäck und Kaffee sollte er ihm die Ossiserklären.

Matthias Gabriel dagegen, in der DDRVerwaltungsleiter einer kirchlichen Sozial-einrichtung, hat sich gar nicht erst die Zeitgenommen für philosophische Gedankenbei seiner Blitzkarriere. Ihm hat der Herbst’89 Türen geöffnet, von deren Existenz ervorher gar nichts wusste. „Es ging alles ge-waltig schnell.“ Gabriel, 51, einst Mitglieddes Neuen Forums, heute Mann der Wirt-schaft, ist das, was man einen Genuss-menschen nennt. Ein schicker Dienstwa-gen, ein erstklassiger Wein, er findet sich

führen: „9. November 1989 bis 9. Novem-ber 2004: Was war? Was bleibt?“

Darauf hätte ein Kollege von der CDU,Arnold Vaatz, 49, bestimmt eine eigeneAntwort. Noch immer steuert der einstigeBürgerbewegte, der 1990 in die CDU ein-trat, „weil die Union die Einheit wollte“, inLokalen den dunkelsten und kleinstenTisch an – wohl damit keiner mithörenkann. Er fühlt sich noch Jahre nach derWende verfolgt und gemobbt wie einst inder DDR, wo er mehrere Monate alsZwangsarbeiter hatte schuften müssen. DieUnion von Blockflöten zu säubern war ihmzur Obsession geworden. Die Christdemo-kraten waren ihm in einer „Sternstundeder Vernunft“ noch gefolgt, als er Kurt Bie-denkopf zur Ministerpräsidenten-Kandi-datur überredete, mochten es aber irgend-wann nicht mehr hören.

Nun ist Vaatz im Bundestag vor allemfür Entwicklungshilfe zuständig. Und auchin dieser Mission leistet der Mann, der inden kritischen Herbsttagen zwischen De-monstranten und Staatsmacht vermittelte,unbürokratische Hilfe für Untergrundakti-visten, wie er einer war.

Manchmal trägt Arnold Vaatz unter derLederjacke ein blaues T-Shirt mit einem

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Bürgerrechtler Gauck*: „Wir sagen unserer Angst ,Auf Wiedersehen‘“

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Regimekritikerin Bohley*: „Ich mache Politik von unten“

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der gesucht noch gewollt“ hat. Zu langeseien er und andere Oppositionelle in der„hochgestochen-historischen Arroganzverharrt, eine Revolution geschafft zu ha-ben“. Dies habe zu einem Realitätsverlustund dann in die politische Bedeutungslo-sigkeit geführt.

Sie als Oppositionelle hätten „so langedie Zähne zusammengebissen, dass wirkompromissunfähig waren“. Heute habeer begriffen, dass es vor allem in punctoVergangenheit „wichtig gewesen wäre,elastisch zu sein. Platzeck hat sich mit Stol-pe arrangiert und ist heute an der Macht“.

Matthias Platzeck, der Ministerpräsidentvon Brandenburg, hatte das, was Templinheute „Unwillen zur Macht“ nennt, nie.Auch er begann bürgerbewegt, bei einerUmweltgruppe in Potsdam, später saß eram Runden Tisch, wurde Minister ohneGeschäftsbereich, dann grüner Umweltmi-nister bei Stolpe in Brandenburg. Als dieOder-Flut ihn 1997 bundesweit bekanntmachte, war er bereits aus der Ökoparteiausgetreten. Das damals geprägte Bild vomhandfesten Macher löste er jetzt, nach sei-ner Wiederwahl, ein. Er bestellte seinenlangjährigen Mitstreiter Reiche ein und er-klärte ihm kühl: „Steffen, ich werde dichnicht wieder als Minister berufen.“ Vielmehr sagte er nicht.

Als Templin begann, so pragmatisch wiePlatzeck zu denken, saß er längst zwischenallen Stühlen. Also bringt er nun als eineArt Ich-AG für politische Bildung „Bio-grafien und Positionen zusammen“. Da-von kann er leben, nicht nur materiell.Schließlich gibt es noch Hoffnung, tief imOsten.

Aber er versucht es auch im neuenDeutschland. Zum Jahrestag hat er überseinen früheren Mitkämpfer ReinhardSchult den Ex-SED-Funktionär GünterSchabowski, der mit der Bekanntgabe derneuen Reisebestimmungen für DDR-Bür-ger eher versehentlich die Mauer öffnete,zu einer Dissidentenparty eingeladen.„Mal sehen, ob er den Mut hat zu kom-men.“

*In der Fußgängerzone der Kleinstadt imOderbruch ist das Schild „Ingrid Köppe,Rechtsanwältin“ nicht zu übersehen.

Hier gibt es für eine Rechtsanwältin vielzu tun. Das Leben der Menschen diesesausgebluteten Landstrichs entlang der pol-nischen Grenze ist voller Spannungen.Ehe- und Verkehrssachen, nachbarlicheStreitigkeiten, häusliche Gewalt – IngridKöppe nimmt, „was eben so kommt“.

Vor 15 Jahren war sie das Gesicht derWende, sprach selbstbewusst in Kamerasund Mikrofone, was andere am RundenTisch nur dachten. Vier Jahre war sie imBundestag, arbeitete in einem Untersu-

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Rolf Schwanitz, Staatsminister im Kanzleramt: Erstudierte in der DDR Ökonomie und Jura, 1989wurde er Neues-Forum-Mitglied, bevor er zur SPDwechselte und Volkskammerabgeordneter wurde.

Angela Merkel, Bundesvorsitzende der CDU: Die Pfarrerstochter, in der DDR Physikerin, wurde1989 Mitglied beim Demokratischen Aufbruch, der später in der CDU aufging.

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Matthias Platzeck, Ministerpräsident vonBrandenburg: Er studierte in der DDR Kybernetik,gründete 1988 eine Umweltgruppe, 1989 dieGrüne Liga, 1995 wurde er Mitglied der SPD.

Karrierestart – Herbst 1989

Dieter Althaus, Ministerpräsident von Thüringen:Der Katholik wurde in der DDR Lehrer, 1985Mitglied der Ost-CDU, 1989 demonstrierte er inHeiligenstadt gegen die SED.

Weitere Informationen unter www.spiegel.de/dossiers

und sein Leben gut. Er hat rote Wangenund ist etwas runder als früher, als er nochMinister war.

Er nutzte die Chancen, wie sie kamen:Friedensgebete, Demonstrationen, NeuesForum – und weil ihm das „zu chaotisch“war, wurde er Sozialdemokrat. Als solcherfrei gewählter Bürgermeister von Halber-stadt, später Staatssekretär im Magdebur-ger Kabinett. Auch als Wirtschaftsministerhatte er noch eine eigene Meinung, läster-te über seine Landsleute, die „ihre Kissenin die Fensterbank legen und zuschauen,wie andere ihre Autos einparken“. Promptmusste er den Kabinettstisch verlassen.

Jetzt ist er Geschäftsführer im Chemie-park Bitterfeld und fühlt sich „viel freier alsin der Politik“. Hier könne er „noch wasbewirken“ – und ist ganz pragmatisch Mit-glied bei der FDP geworden.

*Die Akazienstraße im Berliner StadtteilSchöneberg war und ist alternatives Yup-pie-Land – mit einem Laden für Rioja-Weine, einem für Spezialitäten aus derProvence, Esoterik-Boutiquen für Besser-verdiener und einem Café, das „Bilder-

buch“ heißt. Hierher hat Wolfgang Temp-lin „rübergemacht“, wie es einst hieß. Erkonnte das „beinharte Ostmilieu“ rundum den Treptower Park nicht mehr aus-halten.

Auch wenn er die jüngsten Montags-demonstrationen begrüßte, mit der „Be-nachteiligungsfixierung“ seiner einstigenMitbürger will der Mann, über den die Sta-si rund 40 Aktenordner anlegte, der 1985die Initiative Frieden und Menschenrech-te (IFM) mitgründete und zu den meist-gehassten Staatsfeinden der DDR zählte,nichts mehr zu tun haben.

Templin, 55, hat sich weiter nach Ostenorientiert. Nach Polen vor allem und in dieUkraine, wo Dissidenten noch Teil des poli-tischen Lebens sind, wo noch die Chan-ce besteht, dass Neues entsteht und dasAlte nicht einfach eingemeindet wird.Dorthin organisiert er Gruppenreisen, ge-meinsam mit der Bundeszentrale für poli-tische Bildung und anderen Organisatio-nen. „Dort entscheidet sich die ZukunftEuropas.“

Bis Mitte der neunziger Jahre hat Tem-plin gebraucht, um zu begreifen, „dass derWesten die Unangepassten in der DDR we-

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chungsausschuss die DDR-Organisation„Kommerzielle Koordinierung“ auf, ent-larvte das geheime Zusammenspiel zwi-schen Ost und West. Dann verschwand sievon der politischen Bühne, als hätte es sienie gegeben. Selbst viele ihrer ehemaligenMitstreiter wissen nicht, wo sie zu findenist. Sie habe sich nicht zurückgezogen, sagtKöppe, 46, „sondern ins Leben hineinbe-geben“.

Auch Bärbel Bohley, 59, will nicht alsAussteigerin gelten, allenfalls als Umstei-gerin. Mit ihrem Verein „Seestern“ er-möglicht sie in dem kleinen Dorf —elinanahe der kroatischen Hafenstadt Split Kin-dern, sich ohne Angst vom Krieg zu erho-len. Damit mache sie („Ich wollte dochnicht Frau Honecker ersetzen“) das, „wasich immer getan habe – Politik von unten“.Ihr neues Leben in Kroatien ist das alteLeben, nur an einem anderen Ort.

Ingrid Köppe will dagegen ihr Lebennachholen, wollte nach fünf Jahren als öf-fentliche Frau die 1989 erkämpften Frei-heiten für sich nutzen. Sie studierte Jura ander Viadrina in Frankfurt (Oder), in derDDR hatte sie als 18-Jährige ihr Studiumabbrechen müssen. Sie reiste durch dieWelt – durch Guatemala, nach New York,Istanbul, Spanien und Frankreich.

Dann schien ihr die Zeit reif für denOderbruch. Eine halbe Stunde Autofahrtvon der Kanzlei entfernt steht ihr Haus,mitten auf dem Land, mit einem Gemüse-feld, das sie in der Freizeit beackert.

Ihr Aussehen hat sich kaum verändert,ihre stahlblauen Augen, ihr Tempo beimDenken, Sprechen und Handeln, alles wiefrüher. Doch das Damals ist abgeschlos-sen. Ingrid Köppe will „selbst bestimmen,wie mein Leben verläuft“. Das müsse, hat-te sie am selbst gewählten Ende ihrer Polit-Karriere gehofft, „ein wunderbaresGefühl“ sein. Davon hat sie heute nichtszurückzunehmen.

* Oben: bei einer Sitzung des Zentralen Runden Tischesin Berlin; unten: bei einer Pressekonferenz zur Auflösungder Staatssicherheit am 27. März 1990 in Berlin.

gefüllt, „in nur 15 Minuten“. Ein Haus habeer nicht, und „mit dem Familienschmuckhielt sich das auch in Grenzen“. Es sei„schon krass“, mit wie wenig er demnächstauskommen müsse, aber „wer sich mit denZahlen beschäftigt, muss einsehen, dass dasSystem erneuert werden muss“.

Der Langzeitarbeitslose Werner Fischer(„Ich kann doch keinen Vorgesetzten mehrertragen“) als Musterklient des Sozial-reformers Wolfgang Clement – der Revo-lutionär von damals mag nichts dabei fin-den. Wichtig ist ihm nur, dass es „keinegravierenden Probleme“ mehr gibt. Zwarkann er in Berlin noch immer nicht ausdem Haus gehen, ohne alle Notizzettel zuvernichten, „aber die Angst ist weg, keinersteht mehr vor der Tür“. Seine Tochter hat studiert, was ihm damals undenkbarschien. Deshalb will Fischer, 54, nicht jam-mern: „Die Emotionen sind abgearbeitet,ausgelebt. Sie sind jetzt Erinnerung.“

Selbst die Renaissance der PDS ist ihm„wurscht“, auch wenn er die von ihr be-anspruchte Interpretationshoheit über dieDDR „ekelhaft“ findet. Aber das sei letzt-lich wohl auch „nur eine Stilfrage“.

Deshalb kann die neue Zeitrechnung derSPD im Osten ihn auch nicht mehr auf-regen. Während noch gegen den letztenMauerschützen vor Gericht verhandeltwird, haben die Sozialdemokraten in Sach-sen-Anhalt ein ehemaliges SED-Mitgliedzu ihrem Landeschef gewählt, HolgerHövelmann, 37.

Dabei hat er all das nicht, was bisher Vor-aussetzung war, um im Osten als Politikervoranzukommen: „In Bürgerrechtskreisenhabe ich nicht verkehrt.“ Den Mauerfall er-lebte er als Offiziersanwärter in Zittau, dasDDR-Fernsehen war eingeschaltet. Erst 1993ging er in die SPD, „um Karriere zu ma-chen“, wie Skeptiker vermuten.

„Ich habe kein schlechtes Gewissen, undich schäme mich nicht“, sagt Hövelmann.„Ich habe einen Prozess durchgemacht,wie viele DDR-Bürger.“ Stefan Berg,

Gunther Latsch, Heiner Schimmöller, Peter Wensierski, Steffen Winter

Bärbel Bohley kommt manchmal zu-rück. Vor wenigen Wochen stand sie plötz-lich mit Manfred Stolpe, dem sie stets sei-ne Stasi-Kontakte vorgehalten hatte, imFriedrichstadtpalast. Sie wurde vom Ost-blatt „Super Illu“ für ihren Mut im Herbst1989 mit der „Goldenen Henne“ ausge-zeichnet. Früher hätte sie die Gelegenheitgenutzt, ihren Erzfeind einen Stasi-Mannzu nennen, heute kommt sie lachend aufdie Bühne, schwarzes Kostüm, roter Schal.Nur die Henne nennt sie versehentlich eineEnte.

Am 9. November ist sie wieder in derHeimat, diskutiert im „Tränenpalast“ unterdem Motto: „Der Mauerfall und was wirdaraus gemacht haben. Ein öffentlichesNachdenken mit Bärbel Bohley und Hel-mut Kohl“. Die Kosten trägt die CDU. Dastreffe sich gut, sagt sie, „ich musste sowie-so nach Berlin“. Das Haus am PrenzlauerBerg, in dem sie bis heute eine Wohnunghat, ist fertig saniert. Sie kann ihre Sachenwieder auspacken.

*Der Mann, der als „Stasi-Auflöser“ zu ei-nem Helden der Wende wurde, hat vorkurzem seinen Hartz-IV-Antragsbogen aus-

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Dissident Fischer (2. v. l.)*: „Die Angst ist weg, keiner steht mehr vor der Tür“

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Oppositionelle Köppe, Templin*: Das Damals ist abgeschlossen

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SPIEGEL: Herr Garton Ash, es gibt Ereig-nisse, die haben sich so tief in das kollek-tive Gedächtnis eingeprägt, dass die Zeit-genossen noch Jahrzehnte später genauwissen, was sie am Tag des Geschehens ge-macht haben. Wie erlebten Sie den Abenddes 9. November 1989?Garton Ash: Ein Student hier auf der Straßein Oxford kam auf mich zu und erzählte, inBerlin sei etwas los. Ich habe dann sofortden Fernseher eingeschaltet. Am nächstenTag flog ich nach Berlin-Tegel und fuhr inden Osten. Ich werde nie vergessen, wie ichüber den Potsdamer Platz durch die Mau-er kommend den Westteil der Stadt betrat,herzlich begrüßt von West-Berlinern, diemich für einen Ossi hielten und mir einenStadtplan überreichten. SPIEGEL: Kam der Mauerfall für Sie über-raschend?Garton Ash: Selbstverständlich. Ich hattezwar seit langer Zeit vorausgesehen, dassdas sowjetische Imperium – wie alle ande-ren Imperien – zerfallen würde. Aber dassdie Mauer auf diese Weise, mit solcherSpontaneität und Wucht auf dem Schutt-haufen der Geschichte landet, war für michnahezu unvorstellbar. SPIEGEL: Obwohl der langjährige SED-ChefErich Honecker Wochen zuvor gestürztworden war?Garton Ash: Es lag sicher etwas in der Luft.Günter Schabowski, Egon Krenz und wie

grundlegend verändert, und das habenauch die Revolutionen von 1989. Wer hät-te vor 15 Jahren gedacht, dass heute diebaltischen Republiken, die es 1989 nochnicht einmal als Staaten gab, Mitglied inder Nato und der EU sein würden? Allereden heute von 9/11, wie die Amerikanerden 11. September 2001 bezeichnen. Abervorher gab es einen anderen 9/11 – aller-dings in der europäischen Schreibweise,nämlich den 9. November 1989, und derdefiniert unsere Gegenwart immer nochgrundlegender als der Fall der Zwillings-türme in New York. SPIEGEL: Der große RevolutionshistorikerFrançois Furet hat den Vergleich mit derFranzösischen Revolution zurückgewiesen,weil vom Zerfall des Ostblocks keine neueIdee ausgegangen sei.Garton Ash: Jürgen Habermas sprach mitBlick auf 1989 von der „nachholendenRevolution“: Die Menschen kämpften füretwas, was es anderswo – in Westeuropa –schon gab. Trotzdem hat auch 1989 eine ei-gene Botschaft. Die Umstürze in Prag oderOst-Berlin stehen für ein neues Modell,nämlich die samtene Revolution: friedlich,evolutionär, sich selbst begrenzend. Derpolnische Oppositionelle Adam Michnikhat ja gesagt, wir haben aus der Geschich-te gelernt, dass diejenigen, die die Bastillestürmen, am Ende selbst Kerker errichten.Die Revolutionen von 1989 waren insofernauch eine Antwort auf die FranzösischeRevolution. Denn diese begann mit Ge-walt und endete in Gewalt.SPIEGEL: Bislang hat das Modell aber wenigNachahmer gefunden.

* Mit Norbert Blüm, Oskar Lafontaine, Willy Brandt,Hans-Dietrich Genscher, Hannelore und Helmut Kohl,Richard von Weizsäcker, Lothar und Eva de Maizière aufdem Balkon des Berliner Reichstags am 3. Oktober 1990.

sie alle hießen sprachen von mehr Reise-freiheit. Aber das Besondere waren japlötzlich nicht mehr irgendwelche Zuge-ständnisse, sondern die Menschenmassen,der Jubel, das Revolutionäre. Für meineGeneration – und das wissen die unter 30-Jährigen heute oft nicht – war derEiserne Vorhang so etwas wie die Alpen,quasi ein Teil der physischen LandschaftEuropas. Dass die Mauer friedlich ver-schwinden würde, erschien fast ausge-schlossen.SPIEGEL: Sie haben die Revolutionen von1989 mit der Französischen Revolutiongenau 200 Jahre zuvor verglichen. Ist dasnicht übertrieben?Garton Ash: Nein, die Französische Revo-lution hat die europäische Landkarte

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Deutschland

S P I E G E L - G E S P R Ä C H

„Es lag etwas in der Luft“Der britische Historiker Timothy Garton Ash über den Fall der Berliner Mauer, den Niedergang

des sowjetischen Imperiums und das Modell der samtenen Revolution

Feier zur Wiedervereinigung*: „Freudentränen haben Geschichte gemacht“

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Timothy Garton Ashlehrt Zeitgeschichte in Oxford. Von1978 bis 1982 lebte er in Ost- und inWest-Berlin. Seine Reportagen überdie DDR trugen ihm ein Einreiseverbotdes Regimes ein. Anschließendschrieb er aus Polen, Ungarn und derTschechoslowakei und schloss Freund-schaft mit Dissidenten wie VáclavHavel. Zuletzt veröffentlichte GartonAsh, 49, das Buch „Freie Welt. Europa,Amerika und die Chance der Krise“.

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Der Untergangdes Sowjetimperiums14. August 1980 Beginn des Streiks inder Danziger Lenin-Werft.

17. September 1980 Gründung derGewerkschaft Solidarno£ƒ in Danzig.

13. Dezember 1981 General WojciechJaruzelski verhängt das Kriegsrecht in Polen.

11. März 1985 Michail Gorbatschowwird Generalsekretär der KPdSU.

21. Januar 1989 Ungarns Kommunistenverzichten auf ihre verfassungsmäßiggarantierte Führungsrolle.

6. Februar bis 5. April 1989Verhandlungen am Runden Tischzwischen Regierung und Opposition(Leitung: Lech Walesa) in Warschau.

2. Mai 1989 Ungarn beginnt mit demAbbau der Befestigungen an der Grenzezu Österreich.

4. Juni 1989 In Polen gewinnt das „Bürger-komitee“ die Parlamentswahl. Jaruzelskiwird im Juli Präsident; Tadeusz Mazowiecki(Solidarno£ƒ) wird im August erster nicht-kommunistischer Ministerpräsident.

19. August 1989 Etwa 500 Ostdeutschenutzen das „Paneuropäische Picknick“ zurFlucht aus Ungarn nach Österreich.

11. September 1989 Öffnung derGrenze zwischen Ungarn und Österreich.

18. Oktober 1989 Erich Honecker tritt zu-rück; Egon Krenz wird SED-Generalsekretär.

25. Oktober 1989 Der Sprecher dessowjetischen Außenministeriums, GennadijGerassimow, verkündet die Sinatra-Doktrinin Anlehnung an Frank Sinatras Welterfolg„I did it my way“: Die kommunistischenBruderstaaten dürfen über ihren politi-schen Weg selbst entscheiden.

9. November 1989 Demonstrantenerzwingen die Öffnung der Berliner Mauer.

29. Dezember 1989 Wahl Václav Havelszum Präsidenten der Tschechoslowakei.

11. März 1990Litauen erklärt sich für unabhängig.

30. März 1990Estland erklärt sich zureigenständigen Republik.

4. Mai 1990Lettland deklariert seine Unabhängigkeit.

3. Oktober 1990Deutsche Wiedervereinigung.

8. Dezember 1991Ukraine, Weißrussland und Russlandgründen die Gemeinschaft UnabhängigerStaaten.

25. Dezember 1991 Gorbatschow trittals Präsident der UdSSR zurück.

26. Dezember 1991Abgeordnete des Obersten Sowjet lösendie UdSSR auf.

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Garton Ash: Das stimmt nicht.In Südafrika hat man sich dar-an orientiert, als die Transfor-mation ausgehandelt wurde.Auch in Serbien hat man beimSturz des Milo∆evíc-Regimes2000 der gemäßigten Revolu-tion nachgeeifert. Zwar erwiessich die serbische Variante alsnicht ganz so samten. Die Eier,mit denen die Demonstrantengeworfen haben, waren tief-gefroren und damit hart wieStein. Aber insgesamt hielt sichdie Gewalt der Straße sehr inGrenzen. SPIEGEL: Sie glauben ernsthaft,dass die Ereignisse von 1989 alsModell herhalten können, ob-wohl es den Sowjetkommunismus nichtmehr gibt?Garton Ash: Schauen Sie nach Burma; diedortige Opposition studiert mit großem In-teresse die Ereignisse von 1989. Wir ver-gessen zudem leicht, dass ein Fünftel derMenschheit noch unter einem zumindestformal kommunistischen System lebt. Wennwir uns in 15 Jahren wieder treffen, wird esvermutlich nicht um Krieg gegen den Terrorgehen, sondern um den Aufstieg Chinas zurWeltmacht. Vielleicht erleben auch die Chi-nesen ihr Wunder. Wir Europäer sollten fürdas Modell des friedlichen Systemwechselsviel stärker werben. Die samtene Revolution– das ist der europäische Weg. SPIEGEL: Spielen Sie damit auf den Irak an?Garton Ash: Wenn man einen Umsturz vonoben, mit Gewalt und Krieg beginnt, hatdas Konsequenzen – wie man dort heute inerschreckender Weise sieht. Wenn manhingegen eine samtene Revolution unter-stützt, bekommt man am Ende womöglichbessere Ergebnisse, auch wenn es vielleichtlänger dauert.

SPIEGEL: Aber 1981 wurde dochdas Kriegsrecht verhängt …Garton Ash: … ja, aber es stell-te sich dann heraus, dass auchmit Hilfe von polnischen Pan-zern dieses Land nicht zunormalisieren war. Nach demUngarn-Aufstand 1956 und derNiederschlagung des PragerFrühlings 1968 gelang es denMachthabern, mit Hilfe sowje-tischer Panzer zur diktatori-schen Normalität zurückzu-kehren. In Polen erwies sich dasals unmöglich. SPIEGEL: Die meisten Ostdeut-schen trieb 1989 der Wunschnach Reisefreiheit und west-deutschem Lebensstandard

auf die Barrikaden. Was wollten die Polen?Garton Ash: Wenn Sie so fragen, muss icheinfach antworten: Freiheit. Das Wirt-schaftliche war nicht das Primäre. Spätersprach man von der Rückkehr nach Euro-pa, vom Westen, von Demokratie undnahm an, das sei ein Paket, das sei allesgemeinsam zu haben, inklusive einer flo-rierenden Marktwirtschaft. SPIEGEL: Warum gelang den Polen 1989 alsErsten, was allen anderen Aufstandsversu-chen im Ostblock zuvor versagt blieb?Garton Ash: Die samtenen Revolutionen sinddas letzte Stadium eines großen historischenLernprozesses, der mit dem ostdeutschenAufstand 1953 begann und dessen weitereStationen Ungarn 1956 und Prag 1968 dar-stellen. Auf Grund dieser Erfahrungen setz-ten sich die polnischen Aufständischenselbst gewisse Grenzen. Arbeiter, Intellek-tuelle, Kirche vereinbarten eine gemeinsa-me Strategie, den kommunistischen Staatvon unten zu ändern. Sie waren bereit,dafür mit den Machthabern zu verhandeln

SPIEGEL: Aber Sie können doch nicht denheutigen Nahen Osten mit Zentraleuropavor 1989 vergleichen.Garton Ash: Natürlich sind die Vorausset-zungen andere. Aber nehmen Sie die Ent-spannungspolitik aus der Zeit des KaltenKriegs. Sie sollte gleichzeitig die Staats-führung oben und die gesellschaftlicheDynamik von unten beeinflussen. Und das hat zum Erfolg geführt. Nun nehmenwir das Beispiel Iran. Es gibt dort einenStaat mit Reformern, eine Zivilgesellschaft,kritische Intellektuelle – viele Elemente, wie wir sie aus Mitteleuropa in den acht-ziger Jahren kennen. Da sind dochreichlich Chancen für einen friedlichen Wandel.SPIEGEL: Wann hat sich für Sie das Ende desOstblocks abgezeichnet?Garton Ash: Im August 1980. Der Streik derArbeiter auf der Danziger Lenin-Werftbegann, und das Warschauer Regime ließnicht schießen.

* Mit Arbeiterführer Lech Walesa (Mitte) in Warschau.

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Deutschland

Solidarno£ƒ-Demonstration (1981)*: Verlangen nach Freiheit

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und mühsame Kompromisse einzugehen.Nehmen Sie Bronislaw Geremek, heuteEuropa-Abgeordneter. Der hatte es sofortkapiert, damals auf der Lenin-Werft: „Wirverhandeln, wir müssen auch den Macht-habern etwas geben.“ Die Führung der So-lidarno£ƒ hat die Stellung der sowjetischenMilitärs nie in Frage gestellt. SPIEGEL: Dennoch wäre am Ende allesgescheitert, wenn die Machthaber in Ost-Berlin, Warschau oder Prag wie einst ihreVorgänger gehandelt hätten. Garton Ash: Es hat natürlich auch einenLernprozess der Herrschenden gegeben. SPIEGEL: An wen denken Sie auf deutscherSeite? Doch nicht an Egon Krenz?Garton Ash: Doch, durchaus. Krenz hattenicht diese Härte und diesen revolutionärenGlauben, um im November 1989 wirklichdurchzugreifen. Er war sozusagen schonmindestens zu einem Drittel verwestlicht.SPIEGEL: Woran ist der Sozialismus ge-scheitert? Garton Ash: Das ist eine gewaltige Frage,und ich kann nur einige Elemente nennen.Die Anthropologie des Kommunismusstimmte weder vorn noch hinten. Die Men-schen sind eben nicht alle Engel. Natürlichist es eine faszinierende Idee, das Paradiesauf Erden zu errichten. SPIEGEL: Deren Anziehungskraft freilich im-mer schwächer wurde.Garton Ash: Ja, weil die Wirklichkeit demTraum nicht entsprach. Dann ist natürlichdie Konkurrenz zum Westen zu nennen.Nicht nur im Wirtschaftlichen, sondernauch hinsichtlich der Lebenschancen, desLebensgefühls, selbst im Sozialen fiel der

Wohlstand, sie wollten auchFreiheit.SPIEGEL: Sie haben einige Jah-re in Ostdeutschland gelebt,wie empfanden Sie das SED-Regime?Garton Ash: Vor allem als Dik-tatur, was damals im Westenkeine Selbstverständlichkeitwar. Außerdem als mies, eng,kitschig, spießig. Und gleich-zeitig habe ich in Thüringenund anderswo ein älteres, eingeistiges Deutschland gefun-den, das es in der Bundesrepu-blik nicht mehr gab. Das hatmich fasziniert. SPIEGEL: Wie erklären Sie sichdieses Nebeneinander von dik-tatorischer Enge und intellek-tueller Tiefe?Garton Ash: Es war der paradoxkonservative Charakter desreal existierenden Sozialismus.Außerdem fordern Diktaturenimmer den Geist heraus.SPIEGEL: Die großen Dissiden-ten wie Václav Havel oderBronislaw Geremek warenTschechen oder Polen. Warumhat die ostdeutsche Opposition

keinen Bürgerrechtler dieses Formats her-vorgebracht? Garton Ash: Robert Havemann hätte einesolche Figur werden können, aber er war1989 schon tot. In der Kirche gab es ver-gleichbare Männer, etwa Bischof AlbrechtSchönherr, der aus der Bekennenden Kir-che, also dem Widerstand gegen Hitler,kam, und nun zu den inneren Gegnern derDDR zählte. Ansonsten galt: Die deutschenHavels waren alle im Westen, ausgereist indie Bundesrepublik. SPIEGEL: Sie nennen nicht die typisch deut-sche Perfektion des Repressionsapparatsals Grund?Garton Ash: Die DDR war Frontstaat, undder Apparat reagierte deshalb sicherlichsehr hart. Aber es war ja nicht so, dass sichjeder DDR-Bürger täglich vor der Stasi ge-fürchtet hätte. Es gab viel Duckmäuser-tum, das sich nicht durch die Stasi erklärenlässt. Man sollte nur im Übrigen die Re-pression in Polen oder Ungarn nicht un-terschätzen. Ich erinnere nur an die Er-mordung des Priesters Jerzy Popieluszkodurch polnische Geheimdienstler 1984. SPIEGEL: Fünf Jahre danach regierte in War-schau ein nichtkommunistischer Minister-präsident, in Ungarn tagte der RundeTisch, nur in der DDR tat sich wenig. War-um kam die Wende später als anderswo?Garton Ash: Ich hatte lange Jahre Einreise-verbot und durfte erst im Sommer 1989 wie-der die DDR besuchen. Ich traf Gerd Poppeund andere Dissidenten und erinnere michsehr gut, wie sie alle beteuerten, dass eineEntwicklung wie in Polen unmöglich sei, ge-schweige denn die Öffnung der Mauer.

Osten zurück. In den sechziger Jahren hatman sogar im Westen noch an die Konver-genz der Systeme geglaubt, in den achtzi-ger Jahren war das Versagen offenkundig. Zum Weiteren: Es waren ideologische Re-gime, die von der öffentlichen Lüge undvom semantischen Monopol – wie beiGeorge Orwell beschrieben – lebten. Die-ses Monopol wurde durchbrochen. SPIEGEL: Durchs Fernsehen?Garton Ash: Am Anfang durch den Samis-dat; am Ende durchs Fernsehen. 1989 er-lebten wir die ersten Fernsehrevolutionender Geschichte. In der DDR kam ein wei-terer Effekt dazu: Das Westfernsehen ver-mittelte den Ostdeutschen ein geschöntesBild der Bundesrepublik. Wenn die meis-ten DDR-Bürger die realen Problemegekannt hätten, wären sie wahrscheinlichetwas vorsichtiger gewesen.SPIEGEL: Sie achten die wirtschaftlichenFaktoren erstaunlich gering. Gerhard Schü-rer, der Chef der Plankommission, kam imHerbst 1989 zu dem Schluss, dass der Le-bensstandard in der DDR um fast ein Drit-tel gesenkt werden müsse, wenn man denoffenen Staatsbankrott vermeiden wolle. Garton Ash: Das ist nicht zu bestreiten. Ichwende mich nur gegen die Interpretation,das Materielle sei entscheidend gewesen. SPIEGEL: Und wie deuten Sie dann den sorasch und heftig aufkommenden Ruf derDemonstranten nach der West-Mark?Garton Ash: Die D-Mark war mehr als eine Währung, sie war ein Kürzel für eineganze Lebensweise, die man begehrte. Ich finde es herablassend, wenn manmeint, die DDR-Bürger wollten nur den

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Deutschland

Panzer auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking ( im Juni 1989): „Jahr des Massakers“

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SPIEGEL: Ein verständliches Fehlurteil?Garton Ash: Es war ja klar, wenn die DDRzusammenbricht, bricht das ganze äußeresowjetische Imperium zusammen. Aufdeutschem Boden also würde das letzteGefecht toben. 1989 war auch das Jahr desMassakers auf dem Platz des HimmlischenFriedens in Peking. Niemand in der DDRwusste, wie die sowjetischen Truppen sichverhalten würden. SPIEGEL: Die blieben, anders als bei denAufständen im Ostblock zuvor, in ihrenKasernen. Warum hat Michail Gorba-tschow nicht mit der gleichen Härte rea-giert wie seine Vorgänger? Garton Ash: Gorbatschow ist eine faszinie-rende Figur, weil sich in ihm Realismusund Traumtänzerei mischten, und beideswar nötig. Sein Realismus nährte die Ein-sicht, dass es so nicht weitergehen konnte.Die Illusion lag in seinem Glauben, dassman 1989 noch mit einem Reformkommu-nismus – einem Sozialismus mit mensch-lichem Antlitz – erfolgreich sein und Ost-europa halten könne. Gorbatschow wolltequasi den Prager Frühling nachholen. Vondieser Illusion haben wir alle profitiert. SPIEGEL: Viele Ewiggestrige in Russlandwerfen ihm vor, das Imperium verraten zuhaben.

Garton Ash: Na ja, als ich Gor-batschow danach fragte, hatteer nur eine vage Erinnerung:Irgend so etwas habe Helmutgesagt. Aber der Gesamtein-druck auf dieser Reise – unddas war sicherlich Kohls Werk– war entscheidend für seineReaktion im November. SPIEGEL: Wäre ohne die be-rühmte Pressekonferenz vonGünter Schabowski am frü-hen Abend des 9. Novem-ber die Mauer stehen geblie-ben? Garton Ash: Eine Maueröffnungim Sinne von mehr Reisefrei-heit hätte es gegeben, einenMauerfall nicht. Und das ist einRiesenunterschied. Die Emo-tionen jener Nacht haben dieganze Welt beeindruckt, auchdie politischen Führer. Hier ha-ben Freudentränen Geschich-te gemacht.

SPIEGEL: Wie wäre es denn bei einer büro-kratisch organisierten Grenzöffnung wei-tergegangen?Garton Ash: Es wäre vermutlich alles viellangsamer gekommen. Und der FaktorTempo war entscheidend. Denn wie Hel-mut Kohl immer – und zu Recht – sagt:Das Fenster zur deutschen Einheit war nureine kurze Zeit offen, auf Grund der Lagein der Sowjetunion. Ein langsamerer Pro-zess hätte insofern wahrscheinlich nichtzum gleichen Ergebnis geführt.SPIEGEL: Wie hoch schätzen Sie rück-blickend die Gefahr eines militärischenEingreifens der Sowjetunion ein? Garton Ash: Nicht sehr hoch. Die sowjeti-schen Führer um Gorbatschow wusstennicht, was sie machen sollten, sie wusstenaber, was sie nicht machen wollten. Und derdamalige US-Präsident George Bush agier-te klug und zurückhaltend, was beweist,dass ein Bush durchaus staatsmännisch han-deln kann. Die amerikanische Politik hatentschieden zur Einheit beigetragen. SPIEGEL: Manche sehen in Bush sogar deneigentlichen Vater der Einheit.Garton Ash: Der Erfolg hat bekanntlich vie-le Väter, und die deutsche Einheit auch.Ich glaube zunächst einmal, die Rolle Kohlsist gar nicht zu überschätzen. Ein andererwestdeutscher Politiker hätte möglicher-weise die Chance nicht so entschlossen er-griffen. Dazu kam seine persönliche Gip-feldiplomatie, sein Vertrauensverhältnis zuGorbatschow, der auf Deutschland als Trä-ger der Modernisierung Russlands hoffte.Auch der Papst, die ostmitteleuropäischenDissidenten und natürlich die Ungarn, dieden Eisernen Vorhang zerschnitten, sindMitväter der Wiedervereinigung gewesen.Bush senior war aber ein wichtiger Onkelder deutschen Einheit. SPIEGEL: Herr Garton Ash, wir danken Ih-nen für dieses Gespräch.

Garton Ash: Gorbatschow hat geglaubt, dieso genannte Sinatra-Doktrin (siehe KastenSeite 68) lasse sich auf Ost- und Mittel-europa beschränken, gelte aber nicht fürdie Sowjetunion. Also Selbstbestimmungs-recht für Polen und Ungarn, nicht aber fürBalten oder Ukrainer. Das war sein großerFehler – und ein großes Glück für Europa. SPIEGEL: Was war Gorbatschows Ziel?Garton Ash: Als Sowjetpatriot hat er kühlkalkuliert. Seine Berater sind schon Mitteder achtziger Jahre zu dem Schluss ge-kommen, dass Osteuropa in seiner damali-gen Form auf der Soll- und nicht der Ha-benseite zu verbuchen sei. Gorbatschowwollte aus dem Minus ein Plus machen: einreformiertes Osteuropa als Brücke zumWesten, insbesondere zu Westdeutschland,um die Sowjetunion zu modernisieren, wieeinst Peter der Große. Das war die ent-scheidende Aufgabe, die sozialistischen Sa-tellitenstaaten erschienen als Nebenschau-platz. SPIEGEL: Und Helmut Kohl hat Gorbatschowmit deutscher Wirtschaftskraft geködert? Garton Ash: Denken Sie an den BesuchGorbatschows in Bonn im Sommer 1989.Die damalige deutsche Gorbi-Manie hatauf den Russen, einen gefühlsbetontenMenschen, einen unglaublichen Eindruckgemacht. Und was wurde nicht alles ver-einbart: technische Kooperation, wirt-schaftliche Zusammenarbeit. Außerdemhat Helmut Kohl, so erzählt er es, am Uferdes Rheins zu Gorbatschow gesagt, so wiedas Wasser den Rhein unwiderstehlich hin-unterfließt, so wird auch die deutsche Ge-schichte in der Einheit münden.SPIEGEL: Das hat den Sowjetführer beein-druckt?

* Oben: am 13. Juni 1989, mit den Bundesministern (v. r.)Hans-Dietrich Genscher, Norbert Blüm, Rudolf Seiters;unten: Dietmar Pieper und Klaus Wiegrefe in Garton AshsInstitut in Oxford.

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Deutschland

Garton Ash (M.), SPIEGEL-Redakteure*„Diktaturen fordern den Geist heraus“

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Bonn-Besucher Gorbatschow, Gastgeber Kohl*: „Der Eindruck war entscheidend“

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Geschäftspartner Schalck, Strauß (1984): Kredit gefingert

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SERIE

162 DER SPIEGEL 42/1995

„Wir wollen konsumieren“SPIEGEL-Reporter Hans Halter über das Jahr der deutschen Wiedervereinigung (III)

it beiden Händen warfen dieFlüchtlinge das Geld aus demM Fenster. Wer im Wendeherbst

1989 nach Westen aufbrach, der wolltenie wieder etwas mit den ostdeutschen„Alu-Chips“ zu tun haben. In denFlüchtlingszügen aus Prag und War-schau fiel der Kurs der Ost-Mark aufNull, am Bankschalter auf 1 : 10, 1 : 15,1 : 20.

Die leichten Münzen, verziert mitHammer, Zirkel, Ährenkranz und ei-nem weiteren, vieldeu-tigen Motiv – Eichen-laub? Baggerschaufel?Sägeblatt? –, zeigtenebenso wie die Bank-noten allesamt Strich-zeichnungen aus derWelt der „materiellenProduktion“. Die Ar-beiter kamen sich veral-bert vor. Ihrer festenÜberzeugung nach hat-ten „die da oben“, die„roten Socken“ in Par-tei und Staat der DDR,ihr Leben längst aufWest-Geld gegründet.An dieser Vermutungwar viel Wahres.

Privat koppelten sichdie leitenden Kader inden achtziger Jahrenfast vollständig von derkümmerlichen Waren-welt in ihrer Republikab. In Wandlitz, der imWald versteckten Wohnsiedlung des Po-litbüros, hielt der Supermarkt fast nurWestwaren feil. Den Nachschub organi-sierte die Stasi.

Stasi-Generaloberst Markus („Mi-scha“) Wolf, der seit 1986 offenbar hoff-te, der Arbeiterklasse der DDR als neu-er Partei- oder Regierungschef zu einem„Sozialismus mit menschlichem Antlitz“zu verhelfen, ließ seine Privatwohnungfür 200 000 West-Mark mit importierterKüchentechnik, Unterhaltungselektro-nik, Sauna und Solarium ausstatten. Da-mals verdiente ein Arbeiter durch-schnittlich 800, ein Friedhofsgärtner 375Ost-Mark.

Weiter oben wurde in „Valuta-Mark“gerechnet oder gleich in Dollar. Valuta-Mark nannte man offiziell die West-Mark, das Geld des Klassenfeindes.

Man gab sich viel Mühe, es zu erwer-ben. Für Valuta-Mark verkaufte dieDDR politische Gefangene, alte Brief-marken, historisches Kopfsteinpflasterund echte Rauhfasertapete an den We-sten; jede Genehmigung – die DDR zubetreten, dort Auto zu fahren, einenHund oder sogar ein (versiegeltes!) Au-totelefon mitzuführen – war westgeld-pflichtig. Doch es reichte einfach nicht.

1970 hatte die DDR zwei MilliardenWest-Mark Schulden. 1983 fingerten

Oberschieber Schalck-Golodkowski undCSU-Chef Franz Josef Strauß einen Mil-liarden-Kredit. Die Gesamtverschul-dung blieb streng geheim.

Am 1. November 1989 gestand derneue SED-Chef Egon Krenz demKreml-Herrscher Michail Gorbatschowin Moskau die ganze Wahrheit. Gorba-tschow fiel fast vom Stuhl: „49 Milliar-den Valuta-Mark Auslandsschulden?“fragte er entsetzt. „Ist diese Zahl ex-akt?“ Der Genosse Egon nickte be-schämt. Gorbatschow: „So prekär habeich mir die Lage aber nicht vorgestellt.“

Die schreckliche Zahl hatte Krenz inseinen Notizen dick unterstrichen, fünf-fach. Es hat den „lieben Genossen Mi-chail Sergejewitsch“ nicht getröstet, daßder flotte Egon gleich noch die Zah-lungsbilanz 1989 der DDR bei konver-

tierbaren Devisen nachschob: 5,9 Milli-arden Dollar Einnahmen, 18 MilliardenDollar Ausgaben.

Schulden bei über 400 westlichenBanken; Konkursverschleppung seitmindestens fünf Jahren; keine neuenKreditlinien im westlichen Ausland; ei-ne „vollkommen absurde Geldpolitik“(so später Bundesbankchef Karl OttoPöhl) – die DDR war bankrott.

Egon Krenz sah keinen Ausweg.„Wenn wir real vorgehen und das Le-

bensniveau ausschließ-lich auf die eigene Lei-stung gründen, mußman es sofort um 30Prozent senken“, rech-nete er seinem GroßenBruder vor, aber: „Dasist politisch nicht zu ver-antworten.“ Nur gut,so Krenz laut „strenggeheimem Protokoll“,daß „der Zustand derZahlungsbilanz gegen-wärtig in der DDRnicht bekannt ist“.

Diesen Trost nahmGorbatschow demKrenz. Es sei, sagte derKPdSU-Chef seinemFreund aus Ost-Berlin,vielmehr „notwendig,die ganze Wahrheit aus-zusprechen“ – nun gut,„allmählich“. Krenz hatdas bis heute nicht ge-schafft. Gorbatschow

erledigte die Sache mit einem anderenDeutschen, einem reichen Mann vomRhein.

Ohne Zaudern ließ Helmut Kohl imJahr der Wiedervereinigung die Milliar-den springen. An Geld sollte das Jahr-hundertwerk nicht scheitern. „Nichts istso fest verschanzt, daß Geld es nicht er-obern kann“, hatte schon der kluge Rö-mer Cicero erkannt. Die DDR-Schul-den erbte die reiche Bundesrepublik.

49 Milliarden Mark sind – einerseits –viel Geld. Jede Milliarde hat neun Nul-len, erläuterte der damalige Finanzmini-ster Helmut Schmidt mit Blick auf sei-nen Kanzler Willy Brandt (der das an-geblich nicht wußte). Und um eine Mil-liarde zusammenzubekommen, mußman fast 20 Jahre lang jeden Samstag ei-ne Million im Lotto gewinnen.

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Wahlkämpfer Kohl*: Mehr Zuhörer als jemals zuvor oder danach

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Andererseits: 1989 brauchten diewestdeutschen Bürger gerade einmal ei-ne gute Woche, um ein Bruttosozialpro-dukt von 49 Milliarden Valuta-Mark zuerarbeiten. Damals betrug das privateGeldvermögen 2600 Milliarden Mark,und das westdeutsche Gesamtvermögenwar noch dreimal so hoch. So gesehen,waren die 49 Milliarden Mark Schulden,die der Deutschen Demokratischen Re-publik im 41. Jahr ihres Lebens das Ge-nick brachen, nur Peanuts.

Gorbatschow lernte die Großzügig-keit Kohls bald schätzen, denn ihmselbst stand das Wasser auch bis zumHals: die Staatsfinanzen zerrüttet; sin-kende Produktion in Industrie undLandwirtschaft; die KPdSU zerstrittenüber den Weg aus der Misere; nationaleRivalitäten an allen Rändern des Impe-riums und dann auch noch diese immerfrecher werdenden Rivalen um dieMacht. Wenn nur das Volk ruhig bleibt– ruhig, weil satt.

Am Montag, dem 8. Januar 1990, bit-tet der sowjetische Botschafter in Bonn,Julij Kwizinski, „dringend“ um ein Ge-spräch mit Kohl: Ob die Hilfszusagen anMoskau noch gelten? Ob die Deutschenschnell Fleisch, Fett, Pflanzenöl und Kä-se liefern könnten? Getreide, sonst im-mer Mangelware, sei noch vorhanden.Und ob man einen „Freundschaftspreis“berechnen könne?

Nichts lieber als das. Kohl, mit demTalent gesegnet, Geben und Nehmenals Freundschaft zu zelebrieren, erklärtdie Hungerhilfe zur Chefsache, undschon rollt aus westdeutschen Tiefkühl-hallen der Überfluß gen Osten, 120 000Tonnen. Die Kreml-Küche wird separatbeliefert, mit Schmankerln aus Rhein-land-Pfalz. Nein, kein Saumagen, son-dern Würste.

Die Hilfe soll Michail GorbatschowsReformwerk vorantreiben, dem manch-mal etwas sentimentalen Südrussen abervor allem beweisen, daß die Deutschenvom Rhein ihre Freundschaftsbeteue-rungen ernst meinen. Wahre Freund-schaft sieht nicht auf Rubel oder Mark,sie schaut aufs Herz. „Das deutscheVolk“, sagt Gorbatschow rückschauendim SPIEGEL-Gespräch (40/1995),„kann heute stolz sein, daß es so eineGesellschaft, so einen Staat aufgebauthat.“

Gorbatschow ist und bleibt Deutsch-lands Lieblingsrusse – umjubelt von derheimattreuen CSU im Münchner Hof-bräuhaus, den karnevalesken Rheinlän-dern, den schnoddrigen Berlinern. Oh-ne Gorbatschow und seinen (georgi-schen) Außenminister Eduard Sche-wardnadse hätte es 1990 wohl keineWiedervereinigung gegeben. Die beidenhängen ihr Verdienst daran eher nied-rig: Das sei, erklärt Gorbatschow, doch

* Am 20. Februar 1990 in Erfurt.

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Deutsche Hilfssendung (1991): Die Kreml-Küche separat beliefert

CSU-Gast Gorbatschow*Deutschlands Lieblingsrusse

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„ein objektiv herangereifter Prozeß“ ge-wesen, der Wille der Geschichte.

Dabei hatte Kreml-Herrscher Gorba-tschow die DDR, den sichtbaren Beweisdes russischen Sieges im Großen Vater-ländischen Krieg, nach der mißratenenGeburtstagsfeier am 7. Oktober in Ost-Berlin weder den Westdeutschen nochder Geschichte herausrücken wollen.„Michail Sergejewitsch, verstehen Sie,was die da schreien?“ fragte ihn dersprachkundige polnische ParteichefMieczyslaw Rakowski am Abend derFeier angesichts der Demonstranten,die im Chor „Gorbi, hilf!“ riefen. „Ja,ich verstehe es.“ – „Das ist doch das En-de“, erkannte der Pole.

Hinter Gorbatschows Rücken machtederweil Margot Honecker ihrem Ericheine Szene: Das sei eine Verschwörung,diese Demonstration. Honecker, nachzwei Krebsoperationen so malade wiesein Staat, nahm sich, in Hörweite Gor-batschows, seinen Kronprinzen Krenzvor: „Das hast du organisiert, das lasseich dir nicht durchgehen!“

Mit seinen deutschen Genossen undHilfswilligen verfuhr Gorbatschow fort-an barsch und gnadenlos. Den kleinenChristdemokraten Lothar de Maiziere(IM „Czerny“), der es 1990 noch zum al-lerletzten Ministerpräsidenten der DDRbrachte, stauchte er im Kreml so zusam-men – de Maiziere: „Es krachte ziem-lich“ –, daß der Dolmetscher Gorba-tschows Flüche nur noch in einer ju-gendfreien Fassung übersetzte.

Vergebens hofften die Eliten derDDR, ihr oberster Chef in Moskau,dem sie immer wieder „unverbrüchlicheTreue“ geschworen hatten, werde beiKohl eine allgemeine Amnestie durch-setzen. Erfolglos antichambrierte imFrühjahr 1990 der Stasi-General MarkusWolf – 1939 nahm er als „Mischa“ Wolfdie sowjetische Staatsbürgerschaft an –in Moskau für sich und die Seinen.

Unbeantwortet blieb auch der Briefdes treuen Willi Stoph, Ex-Armeegene-

ral und Ex-Ministerpräsident von Mos-kaus Gnaden, der Gorbatschow zur sel-ben Zeit um politisches Asyl bat. „Rich-te aus“, wurde der Ost-Berliner Sowjet-botschafter aus Moskau angewiesen,„daß Michail Gorbatschow den Briefkennt.“ – „Mehr nicht?“ Nein, mehrnicht.

Genüßlich erzählt Walentin Falin,Deutschlandexperte des Kreml, mitdem entmachteten Gorbatschow aber

über Kreuz, daß die Amnestie für Straf-taten der DDR-Führer und ihrer Hel-fershelfer zwischen Kohl und Gorba-tschow im Sommer 1990 erörtert wor-den sei. Kohl habe vorgeschlagen, dieje-nigen zu benennen, die von Strafverfol-gung verschont bleiben sollten. Das ha-be Gorbatschow abgelehnt, laut Falinmit den Worten: „Mit diesem Problem

* Am 6. März 1992 im Münchner Hofbräuhaus.

werden die Deutschen alleinfertig.“ Seither mahlen dieMühlen der Justiz.

Bonns AußenministerHans-Dietrich Genscherkennt beide Seiten des Mi-chail Gorbatschow aus eige-ner Anschauung. Einerseitsdie mehrdeutige, oft raunen-de Rede von den „kompli-zierten Situationen . . . Pro-zessen . . . Problemen“ undder Notwendigkeit, sie „realzu sehen . . . richtig einzu-schätzen . . . konsequent zulösen“ – bei solchen Gelegen-heiten erweist sich Gorba-tschow als ein Meister dervollendeten Undeutlichkeit.

Aber Gorbatschow kannauch anders. Als Genscher

nach dem Mauerfall, am 5. Dezember1989, nach Moskau reiste, in der Akten-tasche Erläuterungen zu dem modera-ten Zehn-Punkte-Plan seines KanzlersKohl, brüllte der Kreml-Herrscher denDeutschen ohne jede diplomatischeRücksicht an. Hauptvorwurf: Der deut-sche Plan zu einer Annäherung der bei-den deutschen Staaten sei „Herrenmen-schenpolitik“.

Genscher nennt das heute „sehr offenmiteinander sprechen“, „mit großerHärte“. Dem sowjetischen Partei- undStaatschef sei es damals vor allem dar-um gegangen, „mitzuwirken an einemProzeß, den er für notwendig und un-vermeidbar“ hielt. Gorbatschow wollte„Mitspieler, Mitgestalter“ sein. Das istihm gut gelungen. Er persönlich hat da-bei aber verloren – unvermeidlicherwei-se, wie seine Frau Raissa meint.

Für die Großrussen, die ihrem unter-gegangenen Imperium nachtrauern undGorbatschow die Schuld geben, hat dereine Argumentationskette parat, diedieser Diskussion über den Verlust derOstblockstaaten üblicherweise ein Endesetzt: „Na schön, ich habe sie weggege-ben. Aber an wen denn? Polen an diePolen, Ungarn an die Ungarn, die DDRan die Deutschen. Wem hätte es dennsonst gehören, wem hätte ich es dennsonst geben sollen?“

Rückschauend will Gorbatschow andie profanen Gelddinge nicht erinnertwerden. Das sei ein „primitiver, klein-krämerischer Ansatz“. Was nicht heißt,daß der flotte Begriff „umrubeln“ ohneLeben blieb.

Als die West-Gruppe der sowjeti-schen Streitkräfte am 20. Juni 1990 er-kannte, daß die zum 1. Juli geplanteEinführung der West-Mark in Ost-deutschland den Magazineuren der Ar-mee über Nacht jeden Einkauf unmög-lich machen würde, legte sie ihr Vetoein.

Die folgenden 48 Stunden hat der da-malige DDR-Staatssekretär und -Unter-

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händler Günter Krause in schönster Er-innerung. „Es wäre doch wirklichfurchtbar gewesen“, sagt er, wenn am22. Juni „in der Bild-Zeitung gestandenhätte, die Russen sind gegen den Wäh-rungsumtausch“. Krause kennt seinePappenheimer. Dann hätte es „wirklicheine Revolution, vielleicht sogar Blut-vergießen gegeben“.

Deshalb flog er sofort nach Bonn,Kohl öffnete die Schatulle, Krause düste– „top secret!“ – nach Moskau und offe-rierte 1,4 Milliarden Mark. Charascho.

Da war aber noch ein kleines Pro-blem. Die Russen in der DDR besaßenOst-Geld, zusammen rund 400 Millio-nen, pro Kopf also einen Tausender.Strenggenommen waren die 400 Millio-nen Schwarzgeld, der Ertrag vieler klei-ner Privatinitiativen. Beraten vonBonner Experten, gründete die Armeeblitzschnell eine eigene Bank, die Ost-Mark wurden eingezahlt und umgeru-belt in West-Mark. Sähr gutt, otschencharascho.

Diese Lösung, sagt der Bundesbank-Präsident Hans Tietmeyer, „hat funktio-niert“, und sie war, bemerkt er weise,„relativ klug“. Einen neuen Freund läßtman nicht im Regen stehen.

Als die Ostdeutschen „den süßen Kö-der der D-Mark schluckten, war ihrSchicksal besiegelt“, urteilt der russi-sche Diplomat Kwizinski. „Keinerleiverspätete Reform, weder Demokratienoch Glasnost, wird einen Deutschendazu bewegen, weiterhin in der DDR zuarbeiten, wenn er weiter westlich für diegleiche Arbeit das Vier- bis Sechsfacheverdient.“ Ausgenommen vielleicht dieBürgerrechtler, diese „demokratischenPhantasten“, sagt Kwizinski, „die etwasvon Demonstrationen und Hungerstreikverstehen, aber nicht das geringste vonWirtschaftspolitik“.

Im Nu hat das West-Geld BärbelBohleys idealistischer Schar das Wasserabgegraben. „Wir wollten unsere Un-schuld nicht verlieren“, gesteht die Ma-lerin vom Prenzlauer Berg, „wir habennicht begriffen, daß man die Sache nichteinfach Herrn Krause und den anderenLeuten hätte überlassen sollen.“

Herr Krause und die anderen Leutewaren aber die mehreren und die schwe-reren. Kaum war die DDR ins Rutschengekommen – von ihrem Untergang warnoch gar nicht die Rede –, ging das Ge-rangel um die freiwerdenden Führungs-positionen los. Reform-SEDisten er-oberten die Sessel der abservierten Alt-vorderen. Plötzlich wollten auch die so-genannten Blockparteien – vier staats-

„Wir wolltenunsere Unschuldnicht verlieren“

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DDR-Bürger mit D-Mark*: „Geld ist soviel wie geprägte Willensfreiheit“

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Bürgerrechtler am „Runden Tisch“*: „Demokratische Phantasten“

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treue Überbleibsel aus Stalins Zeiten,mit der SED in einer Nationalen Frontvereint – selbständig agieren, allen vor-an die Liberalen von der LDPD und dieChristen der CDU. Der Volksmundnannte sie „Blockflöten“. Man wurdedort Mitglied, weil man seine Ruhe ha-ben wollte oder – häufiger noch – weil soein Stück vom großen Kuchen zu erha-schen war.

Kanzler Kohl, vor 1989 öfter mal pri-vat in der DDR unterwegs, auch weilFrau Hannelore aus Leipzig stammt,hatte einen herzlichen Widerwillen ge-gen Blockflöten, die nun plötzlich zuParteifreunden mutierten. Aber wassollte er machen, er, der Wahlkämpfer?Den „Sozen“ von der SPD das Terrainüberlassen? Dann doch lieber die Block-flöten akzeptieren. Sie brachten jaschließlich neben Wählerstimmen auchHäuser, Telefone und willige Helfer mitin die Ehe. Diese bekam den Namen„Allianz für Deutschland“.

Für den 18. März 1990 waren die er-sten freien Wahlen in der DDR termi-niert. Kohl wartete mit seinem Jawortzur Blockflöten-Allianz bis zum aller-letzten Moment. Erst am 5. Februar bater die Herren aus Ostdeutschland zumLiebesmahl. Geladen waren neueFreunde wie de Maiziere, der Senk-rechtstarter Peter-Michael Diestel (sei-ne Partei hieß DSU – Deutsche SozialeUnion –, der Dienstwagen war schonaus Bayern), auch der Dissidentenpfar-

* Oben: am 1. Juli 1990 vor einer Bank in Ost-Berlin; unten: Reinhard Schult (M.), Ingrid Köppe(2. v. r.) 1990 in Ost-Berlin.

rer Rainer Eppelmann vom „Demokra-tischen Aufbruch“. Getafelt wurde imBerliner Gästehaus der Bundesregie-rung, reichlich und vom Feinsten.

Eigentlich, urteilt Wolfgang Schäubleüber des Kanzlers Gäste, seien das dochMenschen wie wir alle. Sie hätten eben,in harter Zeit, den „notwendigen Tributan die existierenden Verhältnisse gelei-

stet“. Insonderheit habe der GüntherKrause – dessen Bonner Karriere späteram Goldrausch scheiterte – „von seinemganzen Lebensgefühl her, aus seiner Le-benseinstellung heraus mit der DDRnichts im Sinn gehabt“. Dabei war derMann ein erfolgreicher DDR-Karrierist,CDU-Kreisvorsitzender, ein protegier-ter Akademiker.

Krause, mit dem der frühere Finanz-beamte Schäuble von Ende April an dievertraglichen Einzelheiten der Vereini-

gung regelte, hatte jedenfalls ein sehr so-lides Verhältnis zur D-Mark. Die „DM-Stabilität“, erklärte er der Volkskam-mer, sei „mit die wichtigste soziale Errun-genschaft“, ihre Gewährleistung sei des-halb das erste „prinzipielle Ziel“ seinerdeutsch-deutschen Verhandlungen – mit-hin höherrangig als Demokratie oderRechtsstaatlichkeit.

Wie der melancholische russische Ro-mancier Fjodor Dostojewski in seinen„Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“feststellt, ist Geld „soviel wie geprägteWillensfreiheit“. Daran glauben auch im-mer mehr DDR-Bürger. Ohne West-Geld keine West-Reisen, kein West-Au-to, keine West-Jeans. Oskar Lafontaine,1990 Kanzlerkandidat der SPD, nahmkurz vor den Märzwahlen an einemBrainstorming der ostdeutschen Genos-sen teil. Gemeinsam suchte man nach ei-nem griffigen Wahlslogan. Eine jungeFrau schlug die Zeile vor: „Wir wollenkonsumieren.“ Genosse Oskar, einMann im Seidenhemd, fand das damals„so rührend“. Natürlich wurde der Vor-schlag abgelehnt.

„Kommt die D-Mark, bleiben wir –kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr“, riefendie Demonstranten im Chor. Demon-striert wurde überall mit Hingabe. Wehr-pflichtige engagierten sich mit Kerzen inder Hand für die Abrüstung, vor allemdie eigene. Künstler zogen auf die Straße,um ein „Kulturpflichtgesetz“ durchzuset-zen; das sollte Subventionen für Maler,Lyriker, Dramaturgen und so weiter fest-schreiben, verzichtete aber auf eine allge-meine Theaterbesuchspflicht.

Über den richtigen Weg in die Zu-kunft wurde besonders lebhaft am„Runden Tisch“ diskutiert. Der hattesich im Wendeherbst etabliert, mode-riert von Geistlichen. Was anfänglichnur als Ventil für Dissidenten gedachtwar, mauserte sich rasch zu einer ArtNebenregierung. SED-Mann Hans Mo-drow trug dem Rechnung, indem er demRunden Tisch durch einen Beschluß sei-nes Ministerrats „das Gebäude derKreisleitung SED-PDS Berlin-Mitte,

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Propaganda für Volkskammer-Wahl 1990: „Die CDU hat das Geld“

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Friedrichstraße 165 möbliert“ bereit-stellte. Am 5. Februar ernennt die Re-gierung acht Oppositionelle zu Mini-stern ohne Geschäftsbereich. Die Wahl-chancen der Regierenden erhöht dasnicht.

Vom Februar 1990 an nehmen dieBonner den Wahlkampf in ihre erfahre-nen Hände. Willy Brandt – „jetzt wächst

zusammen, was zusammengehört“ –tourt durch das Land, heiser und gut ge-launt. Helmut Kohl zieht mehr Zuhörerauf die großen Plätze als jemals zuvorund jemals danach in seiner Karriere:150 000 in Erfurt und Magdeburg,300 000 in Leipzig. In Hans-DietrichGenschers Heimatstadt Halle kommendie Liberalen am 18. März 1990 auf zehnProzent.

Der große Sieger aber heißt HelmutKohl. Seine „Allianz für Deutschland“fährt 48,1 Prozent ein. „Manhat damals faktisch schon diePersonen aus dem Westen ge-wählt“, erläutert SPD-MannMarkus Meckel. „Man hatKohl gewählt mit dem absur-den Argument, die CDU hatdas Geld, und die werden dasdann schon machen.“

Dabei hatte Meckel AnfangMärz siegesgewiß den PDS-Mi-nisterpräsidenten Modrow auf-gesucht, um mit ihm vorsorg-lich die Übernahme der Re-gierungsgeschäfte zu erörtern.Und nun das: DDR-weit 21,9Prozent für die SPD.

Erfreulicherweise einigtensich die neuen Volksvertretermit den alten Blockflöten aufeine große Koalition. Alle soll-ten und wollten regieren, aus-genommen die PDSler, abge-schmettert mit 16,4 Prozent.Noch heute wundert sich Vol-ker Rühe, damals Generalse-kretär der CDU, wie viele Her-ren Ministerpräsident werdenwollten, „ganz unabhängig von ihrerVergangenheit“.

Bei einigen erledigte sich derWunsch, so bei SPD-Chef Ibrahim Böh-me (IM „Bongartz“) und bei WolfgangSchnur (IM „Dr. Ralf Schirmer“) vomkonservativen Demokratischen Auf-bruch. Ihre Vergangenheit als Stasi-Spitzel ließ sich nicht bagatellisieren.

Mehr Glück hatte der CDU-Chef Lo-thar de Maiziere (IM „Czerny“). Ei-gentlich wollte der Rechtsanwalt denKonsistorialpräsidenten Manfred Stolpe(IM „Sekretär“) als neuen Ministerprä-

sidenten lancieren. Doch kaum warIbrahim Böhme weg vom Fenster, über-nahm der Christ Stolpe, wie von Gei-sterhand gelenkt, eine führende Rolle inder SPD. Unangefochten regiert er seit-her in Brandenburg.

De Maizieres Koalitionsregierung be-stand aus 24 Ministern, einer „Laien-spielschar“, glaubt man dem Urteilwestdeutscher Berufspolitiker. Manchewaren tapfere Dissidenten gewesen, an-dere zu ihrer eigenen Überraschungplötzlich hoch aufs Trockene geworfenworden. Gemeinsam war allen der Wil-le, möglichst lange zu regieren. DieserVorsatz kollidierte jedoch mit der Mehr-heitsmeinung des Volkes, die der DDRein schnelles Ende wünschte. Als Resul-tat ergab sich ein Kuddelmuddel: Jedermacht, was er will, keiner macht, was ersoll, aber alle machen mit.

Die Minister Rainer Eppelmann(Abrüstung und Verteidigung), Peter-Michael Diestel (Inneres) und MarkusMeckel (Äußeres) eroberten jeder erstmal eine schöne große Villa, zum Teilmit Strand oder eigenem Swimming-pool. Andere gingen endlich mal richtig

shopping. Sabine Bergmann-Pohl, zurPräsidentin der Volkskammer gekürt,orderte am Tag nach der Wahl in einerexklusiven Ku’damm-Boutique auf ei-nen Schlag Kleider und Kostüme für30 000 West-Mark. Die Rechnung zahl-te eine liebe Freundin von der CDU.

Nur wenige haben ihren rasantenAufstieg im nachhinein kritisch reflek-tiert, darunter erstaunlicherweise dasRauhbein Peter-Michael Diestel: „1990hatte ich das Gefühl, auf einer Wolke zusitzen, die immer höher steigt und die,entgegen meinen persönlichen Vorstel-

lungen, in eine unfaßbare und mir frem-de Welt entglitten ist.“ Tag und Nachtvon acht Bodyguards bewacht, Shake-hands mit der ganzen TV-Prominenz,Blaulicht, Helikopter, Düsenjets, undam Abend neben Fürstin Gloria sitzen,in Bayreuth bei den Wagners. „Da habeich mir gesagt, Diestel, du mußt ganz,ganz fix wieder aus dieser Scheinweltherauskommen.“ Das ist gelungen.Halb zog es ihn, halb schob man ihn.

Politischen Neigungstätern wie Pfar-rer Meckel ist ein solcher Wunschfremd. Mit seinem Amtsbruder MartinGutzeit (jetzt Stasi-Beauftragter in Ber-lin) hatte Meckel selten in der Bibel undoft bei Hegel nachgelesen, bis sie sicherwaren, daß der Weltgeist dafür sei, eineSDP in der DDR zu installieren. DieKuriosität – zwei Mann gründen eineVolkspartei – war ihnen durchaus be-wußt, aber sie fühlten die Vernunft aufihrer Seite. Deshalb griff Meckel imMärz gleich nach dem Posten des Au-ßenministers.

Der Mann hielt sich nur 131 Tage imAmt. Weil er partout regieren und nichtetwa nur reagieren wollte, sprudelte er

alle paar Tage neue Ideen hervor: ImInteresse des Friedens und wahrer Brü-derlichkeit wollte Meckel in Mitteleuro-pa aus DDR, Polen und Tschechoslowa-kei eine „Pufferzone“ bilden, alle alliier-ten Soldaten sollten Berlin sofort verlas-sen, mit Israel wollte er noch rasch di-plomatische Beziehungen aufnehmen;die deutsche Armee sollte umgehendauf 300 000 Mann reduziert werden.

Munter betrieb Meckel Personalpoli-tik, die Freunde und Familie an seinenhöheren Weihen teilnehmen ließ. Weiler hehre Ziele vor Augen hatte, konnte

Die Ministereroberten erst mal

schöne Villen

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„Zwei plus Vier“-Unterhändler Genscher (3. v. l.), Meckel (2. v. r.)*: „Ein guter Mensch“

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Schäuble, Krause*

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Meckel nicht verstehen, daß er als Au-ßenminister nichts gestalten sollte, son-dern nur abwickeln.

Trotzig erklärte der Intellektuelle am20. Juli 1990, zehn Wochen vor demendgültigen Aus: „Die DDR ist ein sou-veräner Staat, ein Völkerrechtssubjektund wird als solches weiterbestehen.“Jetzt büßt der Hegelianer im fünftenJahr auf einer Bonner Hinterbank.

Im Kreis der Außenminister isolierteGenscher den Landpfarrer Meckelrasch. Die vier alliierten Kollegen hat-ten weder Zeit noch Lust, sich ostdeut-sche Weltverbesserungsvorschläge an-zuhören. Das Eis, auf dem man sich be-wegte, sagt Genscher, „war sehr dünn“.Gorbatschows Machtbasis „war nicht sofest, wie viele glaub-ten“. Deshalb sollte al-les schnell, schnell ge-hen. Runter vom Eis,ehe es bricht.

Innerhalb wenigerMonate handelten dieBonner etliche Jahr-hundertverträge aus,mehr als in den 41 Jah-ren des Bestehens derBundesrepublik. Fest-geschrieben wurdenDeutschlands Gren-zen, halbiert wurde dieZahl seiner Soldaten:Die NVA, im Feldeunbesiegt, wurde auf-

* Oben: mit den Außenmini-stern James Baker (USA),Eduard Schewardnadse(UdSSR), Roland Dumas(Frankreich), Douglas Hurd(Großbritannien) am 5. Mai1990 in Bonn; unten: am24. August 1990 in Bonn.

gelöst und gleichzeitig die Bundeswehrum die NVA-Stärke verkleinert. Allerussischen Truppen verließen das Land;das wiedervereinigte Deutschland wurdeMitglied der Nato – kurzum: Der von denDeutschen begonnene und verloreneZweite Weltkrieg wurde abgerechnetund beendet.

Vor einem Friedensvertrag mit den –zuletzt – 53 Kriegsgegnern drückten Gen-scher und Kohl sich erfolgreich. Gen-scher erklärte, daß „die Zeit über die Fra-ge eines Friedensvertrages hinweggegan-gen“ sei – und damit auch über die Frageder Reparationen. Als der holländischeund der italienische Außenminister ver-suchten sich einzumischen, wurde Gen-scher grob: „This is not your game!“

Die Veranstaltung,das Gespräch der zweideutschen Regierun-gen mit den vier Groß-mächten, hieß vorsätz-lich „Zwei plus Vier“.So sollte der Eindruckvermieden werden, dieDeutschen säßen nuram Katzentisch. So-wjetberater WalentinFalin, der seinem ChefGorbatschow im No-vember geraten hatte,die deutsch-deutscheGrenze sofort und not-falls mit Gewalt zuschließen, fragte im Fe-bruar nach einem Tref-fen Genscher/Sche-wardnadse, wie dennder überraschendeZahlendreher zustandekomme. Man sei dochmit „Vier plus Zwei“

in das Gespräch gegan-gen, und nun sprechedas Kommunique von„Zwei plus Vier“. Dar-auf Schewardnadse:„Genscher hat so sehrdarum gebeten, undGenscher ist ein guterMensch.“

Dessen DuzfreundKohl weiß bis heutenicht, ob er das glaubensoll. Ihn irritierte dergern zur Schau getrage-ne Alleinvertretungsan-spruch seines ehemali-gen Außenministers,der womöglich Reputa-tion und Wählerstim-men kosten würde. Des-halb telefonierte derOggersheimer im Jahr1990 unermüdlich mitBush und der Welt. DerAmerikaner hielt Kohlden Rücken frei. Glück-licherweise hatte der

US-Präsident gerade keine anderen Sor-gen.

Mit den Freunden rund um Deutsch-land kam Kohl selber klar. „Kohls Fä-higkeit, Details unbeachtet zu lassen,hat ihm damals sehr geholfen“, urteiltder Stuttgarter OberbürgermeisterManfred Rommel (CDU). „Ich war mirmit Lothar Späth damals einig: Uns hät-te der Schlag getroffen.“

Wer nicht spurt, der wandert. ImSommer 1990, Kohl macht wie immer inSt. Gilgen am österreichischen Wolf-gangsee Ferien, bestellt er sich denDDR-Freund de Maiziere in sein Ur-laubsquartier. Der hat inzwischen Freu-de am Regieren gefunden: Der Eini-gungsprozeß geht ihm viel zu schnell.Die Nato müsse radikal reformiert wer-den, fordert er, und keinesfalls dürfe dieVereinigung die Erinnerung an dieDDR „auslöschen“.

Derweil geht es in de Maizieres ster-bender Republik drunter und drüber.Die alten Eliten zerschreddern nimmer-müde die belastenden Papiere. Jederdarf seine Kaderakte von allen Bewei-sen unverbrüchlicher Treue zu Parteiund Staat reinigen.

Der Verteidigungsminister, PazifistEppelmann, gewinnt Freude am Pisto-lenschießen und schwänzt wegen desSelbstschutztrainings die Büroarbeit.Die Bauern rollen mit Traktoren nachBerlin, man hat vergessen, ihr Getreideaufzukaufen. Staatssekretär GüntherKrause stellt sich dem Volkszorn. Ihntreffen, er hat mitgezählt, „9 Eier und16 Tomaten“ – schade um seinen neuenauberginefarbenen Anzug. Das war dieModefarbe des Wendeherbstes.

In der Volkskammer kocht das Blut.Welche Abgeordneten gehören zur Sta-

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si? Wann wollen wir der Bundesrepu-blik beitreten? Sofort, fordert mal dierechtsgestrickte Deutsche Soziale Uni-on, mal der linke Bürgerrechtler Kon-rad Weiß. Die Hansestadt Rostock be-schließt, sich notfalls ganz allein derBonner Republik einzugliedern, Para-graph 23 des Grundgesetzes macht’smöglich.

Am Wolfgangsee bringt KanzlerKohl seinem Gast de Maiziere in einerlauen Sommernacht bei, was das heißt:„Richtlinienkompetenz des Bundes-kanzlers“. Der Kanzler, gut informiertüber die Vergangenheit seines neuenParteifreundes, schüttelt den IM„Czerny“ ordentlich durch. Danachgibt es keine Klagen mehr. Die Regie-rung der DDR, sagt Ex-Bundesbank-präsident Karl Otto Pöhl, „hat prak-tisch die Waffen gestreckt“, sie hat„kapituliert“.

Schäuble und dessen „zweites Ich“,wie Pfarrer Meckel den DDR-Unter-händler Krause nennt, sind im Sommerder Einheit mit den Staats-, Wahl- undEinigungsverträgen flott vorangekom-men. Natürlich gibt es anschließendÄrger um Grund und Boden, das ist

immer so nach einer Revolution, und seisie noch so friedlich.

Niemand will freiwillig auch nur einenQuadratmeter herausrücken – dieBonner Regierung als Erbe der DDRnicht die enteigneten Mauergrundstük-ke, auf denen der Todesstreifen planiertworden war, und die Ex-DDRler nichtdie privatisierten Häuser der Ex-DDR-Flüchtlinge. Es gilt der Grundsatz: Waswir haben, haben wir.

„Es ist ungewöhnlich, daß sich einStaat freiwillig aus der Geschichte ver-abschiedet“, erklärte MinisterpräsidentLothar de Maiziere in seiner letztenRundfunk-Rede am Todestag derDDR, dem 2. Oktober 1990. Es war dieFreiwilligkeit eines Bankrotteurs, derzum Konkursrichter geschleppt wird.

De Maiziere war auf 53 Kilo abgema-gert. Das Ende der DDR hatte ihm denAppetit verschlagen, sein Anzug schlot-terte, als habe er monatelang nur Roh-kost essen dürfen.

Kanzler Kohl, der dicke Riese ausOggersheim, am 3. Oktober hoch obenauf der Tribüne vor dem BerlinerReichstag plaziert und vom Feuerwerkder nächtlichen Vereinigungsfeier be-leuchtet, bot ein Bild vollkommener Zu-friedenheit. Er sah aus, als habe er dieDDR ganz allein geschluckt.

ENDE

„Freiwilligaus der Geschichte

verabschiedet“

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Demonstrationen gegen SED-Regime*: Haß auf die Berliner Greise

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„Alle hatten glänzende Augen“SPIEGEL-Reporter Hans Halter über das Jahr der deutschen Wiedervereinigung (II)

ierzig Jahre lang war das „GroßeHaus“ in Ost-Berlin ein Ort der Ru-Vhe und der Kraft. Dort residierten

Politbüro und Zentralkomitee der SED.Teppiche dämpften jeden Schritt. Nie-mals wurde rumgebrüllt oder mit den Tü-ren geknallt. Führen und folgen, befeh-len und gehorchen, so und nicht andersfunktionierte der „demokratische Zen-tralismus“. Bis das Volk kam.

Schon im Morgengrauen drängt dieBasis ins Große Haus. Unangemeldet er-scheinen Parteisekretäre aus der Provinz,begleitet von vorwitzigen Genossen, dieendlich mitreden wollen.

Wie immer in unruhigen Zeiten zieht esauch die Künstler, Schauspieler und Lite-raten zum Auge des Taifuns. Routinemä-ßig bleckt Egon Krenz seine langen Zäh-ne – das soll gute Laune suggerieren, denSchwung der frühen Jahre, als Krenz, derstudierte Lehrer, das Volk ein Lobliedauf die Partei singen lehrte:

Sie treibt alle Bagger und Räder,Im Hochofen facht sie die Glut,Den Mähdrescher drängt sie zur Ernte,

Die Partei führt uns gut,Die Partei führt uns gut.

Denkste. Im dunklen November 1989verzichten die Arbeiter und Bauern ziem-lich plötzlich auf die Führung der Partei.Das Volk geht eigene Wege.

Gut 60 000 Ost-Berliner machen sich inder Nacht vom 9. zum 10. auf den Wegnach West-Berlin, am nächsten Tag zähltdie glitzernde Halbstadt mindestens600 000 Besucher. Die Mauer ist keineGrenze mehr. Egon Krenz, seit drei Wo-chen offiziell Führer von Staat und Partei,sieht blaß aus.

Im Büro des Generalsekretärs laufendie Schreckensmeldungen in schnellemTakt zusammen: Wie die Hasen rennender SED die Mitglieder davon. Noch sindes 2,3 Millionen, aber in den industriellenBallungsgebieten, fernab vom GroßenHaus, treten Hunderte von Parteileitun-gen geschlossen zurück, wegen „Lüge,Volksbetrug und Privilegien“. „Sprung-haft angestiegen“ seien die Parteiaustrit-te, meldet eine geheime „Information“der Abteilung Parteiorgane des ZKdem Generalsekretär. Zwei MillionenSEDisten lösen sich in diesen Wochengleichsam in Luft auf, seither können sich

* Oben: am 2. Dezember 1989 in Ost-Berlin; un-ten: am 4. Dezember 1989 in Leipzig.

die meisten an ihre Parteikarrieren nurnoch dunkel erinnern.

Der Partei fehlen die treuen Mitglie-der, dem Staat die braven Bürger, sei-ner Wirtschaft die Waren. Im BezirkHalle müssen 150 Verkaufsstellenschließen, die Verkäufer sind auf unddavon. In Karl-Marx-Stadt werden Au-

tos mit Berliner Kennzeichen nichtmehr betankt, es sei denn, der Fahrer istbereit, das „DDR “-Schild abzukratzen.In Leipzig gibt es diesen Konflikt nicht,weil der „Vergaserkraftstoff“ Mangel-ware ist, wegen „verstärkter Abkäufe“.

Seit vier Tagen hat die DDR nur nocheine amtierende Regierung, denn SED-

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Verkehrsstau in West-Berlin nach der Maueröffnung*: Dem Volk gehören die Straße und der Supermarkt

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Demonstration gegen SED-Regime*: Revolutionsfeindlicher Reflex

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Ministerpräsident Willi Stoph und seinKabinett sind zurückgetreten. Das Zen-tralkomitee der Partei hat sein Politbürorabiat von 21 auf 11 Mitglieder verklei-nert. Der innerparteiliche Streit gehtjetzt darum, ob man eine Parteikonfe-renz oder gleich einen außerordentli-chen Parteitag einberufen soll.

* Oben: am 18. November 1989 auf der Straßedes 17. Juni; unten: am 4. Dezember 1989 inLeipzig.

Die Russen sitzen Krenz im Nacken.Auf der Mauer am Brandenburger Torhaben sich in der letzten Nacht 3000Berliner amüsiert. Seine Elitetruppenrund um Berlin hat der Generalsekretärheimlich in Erhöhte Gefechtsbereit-schaft versetzt. Doch wie rausfinden ausdem ganzen Schlamassel? Wen um Ratund Hilfe bitten?

In dieser Stunde der Konfusion, amSonnabend, dem 11. November, 10.13Uhr, meldet sich am Telefon ein gro-

ßer, dicker, selbstbewußter Deutscherund weist dem Generalsekretär denWeg.

Das Wortprotokoll ist erhalten, einDialog wie von Kafka. „Herr K.“, sowird der Dicke aus Bonn im Text ge-nannt, lobt „Gen. K.“: „Ich wollte sa-gen, daß ich sehr, sehr begrüße, diesesehr wichtige Entscheidung der Öff-nung.“ Gen. K. über sein Malheur:„Das freut mich sehr.“

So geht es zwischen Kohl und Krenzein Weilchen hin und her. Kohl will kei-ne Flüchtlinge, Krenz will Geld. DerKanzler beruhigt den aufgeregten Se-kretär, der wiederum sieht am Horizontschon die Wiedervereinigung heraufzie-hen und fürchtet sich: „Steht nicht aufder Tagesordnung“, behauptet er.Doch, sagt Herr K., „da sind wir ganzanderer Meinung“, nur ist das „jetztnicht das Thema, das uns im Augenblickam meisten beschäftigt“. Aufatmen.

Herr K. will schon auflegen – „Also,Wiedersehen dann“ –, als dem bravenGen. K. noch etwas einfällt.

Gen. K.: „Herr Bundeskanzler, wiewollen wir mit der Veröffentlichung ver-fahren?“ Herr K.: „Sagen wir jetzt ganzeinfach, wir haben ein intensives Ge-spräch gemacht.“ Gen. K.: „Ein intensi-ves Gespräch.“ Herr K.: „Sie könnenauch ruhig sagen, daß ich begrüßt habe,daß die Grenzen jetzt geöffnet sind.“Gen. K.: „Sie haben begrüßt, daß dieGrenzen geöffnet sind.“ Herr K.: „Dasist ein wichtiger Wunsch von uns. Unddaß wir das Gespräch fortsetzen. Wo esnotwendig ist, telefonisch.“ Gen. K.:„Fortsetzen, telefonisch.“ Herr K.:

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Polen-Besucher Kohl, Gastgeber*: „Jetzt wird Weltgeschichte geschrieben“

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„Daß am 20. Seiters zu Ihnen kommt.“Gen. K.: „Daß am 20. Seiters kommt.“Herr K.: „Daß wir uns dann anschlie-ßend in der DDR treffen. Aber ich mußnoch einmal sagen, nicht in Ost-Berlin.“Gen. K.: „Ja, ist in Ordnung. Daß wiruns in der DDR treffen, und Sie mei-nen, nicht in der Hauptstadt.“ Herr K.:„Ja, ist gut.“ Gen. K.: „Ist in Ordnung.“Herr K.: „Bitte schön.“ Gen. K.:„Danke schön. Wiederhören.“

Herr K. hat Gen. K. nie zu Gesichtbekommen. Nach dem freundlichen Te-lefonat hob Krenz die Erhöhte Ge-fechtsbereitschaft seiner Truppen auf.Der Generalsekretär hielt sich nur noch22 Tage im Amt, am 21. Januar 1990warfen ihn seine Genossen endgültig ausder Partei. Dem Knast ist er bisher ent-gangen; rechtzeitig hat er sich aber er-kundigt, ob ein Jogger wie er im Ge-fängnis „abtrainieren“ könne.

Kohls Telefondiplomatie hat sich imJahr der Wiedervereinigung gut be-währt. Sie half ihm, Richtung und Tem-po des Prozesses zu steuern. Am Endestand er als „Kanzler der Einheit“ inhellem Licht. Dabei ist auch Kohl an-fangs durch tiefes Dunkel getappt.

Für die Chaos-Tage nach der Mauer-öffnung hatte die Bundesregierung keinKonzept. Schon Anfang der siebzigerJahre waren die Bonner Planspiele, wieman das geteilte Deutschland irgend-wann administrativ, finanziell und poli-tisch wieder einigen könnte, eingestelltworden. Die westdeutsche DDR-For-

* Polens Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki(vorn r.) im November 1989 in Warschau; ne-ben Bundeskanzler Kohl dessen Berater HorstTeltschik.

schung fristete ein Mauerblümchen-Da-sein. Verläßliche Daten über den klei-neren deutschen Staat, seine Schulden,Pläne und Machteliten, gab es nicht.

Besonders blöd stellte sich der Bun-desnachrichtendienst (BND) an. DieSchlapphüte aus Pullach hatten seit denfünfziger Jahren keine einzige „Quelle“im DDR-Establishment. Noch 1988schätzten sie die Zahl der hauptberufli-chen Stasi-Mitarbeiter auf rund 30 000(da waren es schon 90 000). Erst als am3. Dezember 1989 der Stasi-Oberst undKoKo-Chef Alexander Schalck-Golod-kowski überlief – vorher hat er im Polit-büro noch ein paar Tränen kullern las-sen –, lichtete sich der Nebel. Schalck,der Goldfinger der Partei, erzählte alles.

Kanzler Kohl saß am Abend des 9.November friedlich bei Polens PräsidentLech Wałesa auf dem Sofa, als dieNachricht aus Berlin eintraf. „Es hieß,

die Mauer sei offen“, erinnert sichKohls Adlatus Horst Teltschik, „sensa-tionell!“ Flink kurbelte Teltschik andem kleinen braunen Kasten, mit demdie Standleitung Warschau–Bonn akti-viert werden konnte. Als die Sensationperfekt war, „brach richtiger Jubel aus“.

Kohl spendierte seiner Begleitung –neben Teltschik noch seine liebe Mitar-beiterin Juliane Weber, der ProfessorWolfgang Bergsdorf und der treue Edu-ard Ackermann – erst mal ein Glas Sekt.„Wir haben angestoßen und begeistertdieses Ereignis gewürdigt“, erinnert sichTeltschik, „wissend, daß sich hier etwasanbahnen kann, das man bis zu diesemZeitpunkt nicht erträumen konnte.“

„Jetzt wird Weltgeschichte geschrie-ben“, freute sich der Oggersheimer we-

nig später vor Journalisten. Damit woll-te er sich aber Zeit lassen. Die deutscheEinheit erwartete Kohl nicht in 329 Ta-gen, sondern in fünf bis zehn Jahren.Zumindest mit dieser Fehlprognose be-findet er sich in guter Gesellschaft.

Im Mai 1868, knapp drei Jahre vorder Reichsgründung, hatte Otto vonBismarck seinen Zeithorizont weit in dieZukunft gedehnt: „Wir alle tragen dienationale Einigung im Herzen“, schrieber, aber: „Erreicht Deutschland sein na-tionales Ziel noch im 19. Jahrhundert,so erscheint mir das als etwas Großes,und wäre es in zehn oder gar fünf Jah-ren, so wäre das etwas Außerordentli-ches, ein unverhofftes Gnadengeschenkvon Gott.“

Mark Twain, der große amerikani-sche Humorist, hatte zur selben Zeitvorausschauende Zeitgenossen drin-gend gewarnt: „Vor Prognosen soll man

sich unbedingt hüten, vorallem vor solchen überdie Zukunft.“ Aber werhört schon auf MarkTwain?

US-Präsident GeorgeBush läßt sich von seinemBonner Botschafter Ver-non Walters die Zukunftdeuten. Dieser Waltersist ein Unikum, keinglattgeschliffener Diplo-mat, sondern ein dicklei-biger Admiral („VierKriege mitgemacht!“),polyglott und hellsichtig.Walters fliegt sofort nachBerlin, stellt sich auf dieGlienicker „Brücke derEinheit“, die Ost undWest seit Jahrzehntentrennt, sieht Dutzendedeutscher Männer weinenund kabelt seinem Präsi-denten: „Ich glaube andie Wiedervereinigung.Wer sich gegen sie aus-spricht, wird politischhinweggefegt werden.“

Bush braucht nur wenige Tage, umWalters’ Sicht zu adaptieren. Der vor-sichtige US-Präsident fürchtet anfangs,der Verlust der DDR werde den Refor-mer Michail Gorbatschow existentiellgefährden. Der glaubt das auch. „ImFalle der deutschen Wiedervereini-gung“, unkt er zu Frankreichs PräsidentFrancois Mitterrand, „wird es eineZwei-Zeilen-Meldung geben, wonachein Marschall meine Position über-nimmt.“

Als Kanzler Kohl seine kurzfristig un-terbrochene Polenreise am 14. Novem-ber beendet, geht der Trubel in Bonnerst richtig los. Alle Welt will den Dik-ken sprechen. Gute Nachrichten emp-fängt Kohl nur vom spanischen Mini-sterpräsidenten Felipe Gonzalez und

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DDR-Regent Krenz*: „Die Partei führt uns gut“

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US-Botschafter Walters (l.)*: „Ich glaube an die Wiedervereinigung“

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dem kanadischen Premier Brian Mul-roney. Die gratulieren Kohl und demdeutschen Volk und sichern jede Unter-stützung zu, ohne Wenn und Aber.

Den anderen Freunden und Verbün-deten ist eher blümerant zumute. Mit-terrand findet zwei deutsche Staatenkommoder als einen. Nur so, sagt erAnfang Dezember zu Gorbatschow,könne die Sicherheit in Europa bewahrtwerden.

Die Eiserne Lady Margaret Thatcherwill kein „Viertes Reich“, hofft 1989aber zuversichtlich, daß bis zur EinheitDeutschlands weitere 10 bis 15 Jahrevergehen werden. Ihr AußenministerDouglas Hurd profiliert sich währendder folgenden Monate als Meister diplo-matischer Überraschungen: Mal will erüber Deutschland nur die vier Welt-kriegsalliierten verhandeln lassen, amEnde mag er den „Zwei plus Vier“-Ver-trag partout nicht unterschreiben, weildie britische Rheinarmee in den neuenBundesländern nicht sofort ins Manöverziehen darf.

Israels Regierung ist gegen die deut-sche Wiedervereinigung, die italienischeebenso. In den Ostblockstaaten und denNiederlanden finden auch die Bürgerkeinen Geschmack anden deutsch-deutschenWiedersehensfeiern. Je-de TV-Station sendet liveaus dem geteilten Berlin:Dem Volk gehören dieStraße und der Super-markt. Alle Wirtshäusersind randvoll, denn: Jetzttrinken wir noch ’neKleinigkeit auf Deutsch-land und die Einigkeit.

So wird das Tempohochgehalten. Die Auto-nomie der kleinen Leute,die einen Speedway zurEinheit fahren, ist allendeutschen Politikern jed-weder Couleur von Her-zen zuwider. Vom No-vember 1989 bis zum Ok-tober 1990 mahnen Kohl& Company immer wie-der zu Ruhe und Beson-nenheit, Modrow und deMaiziere warnen ständig vor „Hatz“ und„Hetze“. Der Ostbürgerrechtler JensReich, ein Arzt, will auf gar keinen Fallmittels „Kaiserschnitt in Narkose“ vonder abgewrackten Partei- und Staatsfüh-rung („PSF“) entbunden werden.

Die kollektive Vernunft der Demon-stranten in allen größeren Städten be-stimmt die Grenzen des Zumutbaren je-desmal neu. Erst heißt der Ruf „Wirsind das Volk!“ Soll heißen: Wir hierunten, die seit Jahrzehnten an Tribünenvorbeilaufen (müssen), auf denen ihr daoben von der PSF die Parade abnehmt,wollen, daß ihr endlich ein paar realso-

zialistische Verspre-chungen über dieGleichheit, die Rotati-on der Leitungskaderund unsere Mitbestim-mung einlöst.

Als die angeschlage-ne SED diesen Zurufüberlegenswert findet,fordern die Demon-stranten mehr – erst-mals bei der LeipzigerMontagsdemonstrati-

on am 20. November.Nun heißt es: „Wir sindein Volk.“ Das ist ganzetwas anderes.

Listigerweise wirdder Ruf nach der Wie-dervereinigung durcheine zweite Parole ausdem eingemottetenFundus der DDR er-gänzt: „Deutschlandeinig Vaterland“ heißtes in der DDR-Natio-nalhymne (siehe Ka-sten Seite 82). Der Rufschallt weit wie Don-nerhall.

Läßt sich die Polizei blicken, wird ihrmahnend im Chor „Keine Gewalt!“ zuge-rufen. Bei der verratenen deutschen Re-volution vom 9. November 1918 hieß dieLosung korrekt: „Brüder! Nicht schie-ßen!“ Was „Keine Gewalt!“ in der Praxisbedeutet, wird durch Schubsen undDrücken jedesmal neu getestet. In Sach-sen und Thüringen, wo der Haß auf dieBerliner Greise besonders groß ist, stür-men Demonstranten die Kreisverwaltun-

* Oben: bei einer Rede in Ost-Berlin am 10. No-vember 1989; unten: mit Generalmajor Haddock,dem amerikanischen Stadtkommandanten vonBerlin, an der Mauer am 2. Dezember 1989.

gen der Stasi, immerzu„Keine Gewalt!“ rufend.So schafft sich das VolkSchwung und Luft.

„Wir lassen uns nichterlauben, was man unsnicht verbieten kann!“steht auf den handgemal-ten Plakaten des Wende-herbstes. Dialektik istTrumpf, frech kommtweiter. In allen größerenStädten der DDR – imSüden zuerst – sammelnsich Demonstranten;100 000 in Dresden,200 000 in Leipzig. „Pri-vilegien für alle!“ heißteine gleichmacherischeParole. Aber auch: „Esgeht nicht um Bananen,es geht um die Wurst.“

Das „Neue Forum“,von der Berliner Malerin

Bärbel Bohley initiiert, hat bis zum Jah-resende rund 200 000 Mitglieder, „alleseingesperrte Leute auf der Suche nacheinem Ausweg aus dem Dilemma“(Bohley). Die denken schon ans nächsteJahr: „Vorschlag für den 1. Mai: DieFührung zieht am Volk vorbei!“

Ist das die Revolution? Oder eine Re-volte, wie Bärbel Bohley meint? Odernichts von beiden?

Im Großen Haus, wo sich die studier-ten Marxisten nicht vor ihresgleichenoder vor Künstlern und Studentenfürchten, sondern nur vor richtigen Ar-beitern, vor deren Wut, Streiks und Ge-

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Hymnen-Mixer de MaiziereWestmelodie und Osttext

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waltbereitschaft, ist man uneins: LautKarl Marx kann es keine Revolutionsein. Denn das Proletariat sei doch, er-gibt die Schriftauslegung, die „herr-schende Klasse“ in der DDR, und siehabe, wie im „Kommunistischen Mani-fest“ 1848 vorausgesagt, den ganzenbourgeoisen „Überbau der Schichten,die die offizielle Gesellschaft bilden, indie Luft gesprengt“.

Nach dem Sieg der „arbeitendenKlasse“ wird es aber, so Marx, „keineeigentliche politische Gewalt mehr ge-ben“, logischerweise auch nie wieder ei-ne Revolution. Diese Prognose hat derPrivatgelehrte aus Trier in einem Auf-satz niedergelegt, dem er zu Recht denTitel gab: „Das Elend der Philosophie“.Die Ost-Berliner Arbeiter nennen KarlMarx, ganz ohne Kenntnis seiner Schrif-ten, gewohnheitsmäßig Charly Murks.

Jurist Wolfgang Schäuble, damals In-nenminister der Bundesrepublik, urteiltrückblickend, im Wendeherbst habe„keine richtige Revolution“ stattgefun-den, sondern eine „unvollendete“: „Siewar bewußt legalistisch und verlief un-blutig.“ Ob eine unblutige Revolutioneine Revolution ist?

Der Tischler August Bebel, 44 Jahrelang Vorsitzender der Sozialdemokra-ten, hatte den Seinen im Sommer 1871

ganz allgemein eine tragfähige Basis ge-zimmert, stabil noch 118 Jahre später:„Die Geschichte aller Perioden zeigt,daß das Volk, wenn es etwas ehrlichwill, auch die Mittel hat, seinen Willendurchzusetzen.“

Gegen Krenz haben schon Umzügenach Feierabend viel bewirkt. Vor denMontagen, wenn in Leipzig und bald

überall die Menschen im Dunkeln zu-sammenkommen, fürchtet sich dasGroße Haus. Lynchen, Plündern undBrandschatzen gelten als die großen Ge-fahren.

Dazu kam es nicht. In allen industriel-len Gesellschaften (auch so marodenwie der DDR ) gibt es offenbar einenrevolutionsfeindlichen „Anti-Chaos-Re-flex“, den der Berliner Politologe Ri-chard Löwenthal als erster beschriebenhat: Weil die Mehrheit von den Dienst-leistungen des Staates und der Kommu-nen existentiell abhängig ist, will sie kei-nen Zusammenbruch des öffentlichenLebens. Überdies haben DDR-Bewoh-ner damals (und abklingend noch heute)ein besonders intimes Verhältnis zumStaat. Er soll nicht Freiräume schaffen,sondern in erster Linie Sicherheit, Brot,Strom, Arbeit und Rente garantieren.

Die Idee vom sorgenden Vater Staat,der alle ernährt, jedermann kleidet, nie-manden ohne Obdach läßt, einte nach40 Jahren Realsozialismus das ganzeVolk der DDR, inklusive ihrer Pfarrer,Dissidenten und Rockgitarristen. DieDDR war ein – zuletzt recht kümmerli-cher – Versorgungsstaat: Ein Brötchen(klein, al dente) kostete fünf Pfennig;die Briefmarke 20 Pfennig (dafür wurdeder Brief auch noch über Wasserdampf

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geöffnet, gelesen und wieder zuge-klebt); das Glas Bier gab es überall für51 Pfennig (EVP, staatlich festgesetzterEndverkaufspreis).

An diesen Preisen wollte niemandrütteln lassen, schon gar nicht die Bür-gerbewegten. Im Neuen Forum sammel-ten sich die, die an der DDR – und man-che, die an sich selbst litten. Der letzteDDR-Ministerpräsident Lothar de Mai-ziere (CDU) beschreibt die Vision derBürgerbewegten zutreffend so: „Siewollten eine neue DDR, klein, beschei-den, ökologisch, pazifistisch, himmlisch-gerecht, also einen kleinen Garten Edenmitten in Europa. Dazu müssen alleMenschen gut sein und müssen erzogenwerden.“ Aber genau das wollten dieWerktätigen aus der „materiellen Pro-duktion“ partout nicht mehr. Sie wuß-ten ja, daß die einen erziehen wollenund die anderen fleißig arbeiten sollen.

„Sozialismus ist ja vielleicht ganzschön“, sagten sich die jungen Arbeiter,„aber warum muß er ausgerechnet anmir ausprobiert werden?“

Das Dilemma – mit Künstlern, Pfar-rern und Filmfritzen kann man vielleichteinen Staat machen, aber bestimmt keinBruttosozialprodukt – begleitete diesterbende Republik bis zu ihrem Able-ben am 2. Oktober 1990. Noch heutegruselt es den letzten DDR-Innenmini-ster Peter-Michael Diestel, wenn er andie „vielen bärtigen Nickelbrillenträger“denkt, die sich damals dem Volk alsFührer und Erzieher anboten. Einer,Diestels Kollege Markus Meckel, Pfar-rer und 130 Tage DDR-Außenminister,trug zum Anzug stets Jesuslatschen,auch das noch.

Meckel und sein Amtsbruder MartinGutzeit hatten am 7. Oktober 1989 dieSDP aus der Taufe gehoben, eine tapfe-re Tat. Erst nach dem 40. DDR-Ge-burtstag, als alles ins Rutschen kam, er-schienen die Paten vom Rhein, adop-tierten den Winzling und gaben ihm denguten alten Namen SPD.

Brandt und die Seinen waren sich ei-nig, daß daraus eines Tages ein kräftigerDDR-Wahlsieger werden würde. Diesenaheliegende Vermutung – Thüringen,Sachsen und Brandenburg waren seitBebels Zeiten SPD-Land, die Bevölke-rung ist ein bißchen evangelisch odergänzlich gottlos – schreckte auch Bun-deskanzler Kohl. Der wollte nicht wieChurchill enden, der einen Weltkriegmitgewann und die Wahlen verlor. Des-halb betrieb der Oggersheimer vomNovember 1989 an permanent Wahl-kampf.

Als erstes setzte er sich und seine Ge-treuen Richtung Osten in Bewegung,das unbekannte Land zu inspizieren.Dagegen konnten Krenz & Co. nichtssagen, hofften sie doch, bald in den pral-len Geldsack des reichen Bruders fassenzu dürfen.

Der Bundesinnenminister WolfgangSchäuble hatte aber nur Gratis-Rat-schläge zu verteilen, als er sich am 3.Dezember in Ost-Berlin mit den kom-menden DDR-Führern traf. Gastgeberwar der evangelische Konsistorialpräsi-dent Manfred Stolpe, der den neuenOst-CDU-Vorsitzenden Lothar de Mai-ziere eingeladen hatte. In dessen Wind-schatten segelte eine schmallippige Da-me herein, „die zunächst keiner kann-te“, wie Schäuble sich erinnert, „die sichdann aber als die damalige Wirtschafts-ministerin der DDR, Christa Luft, her-ausstellte“.

Was Schäuble damals verborgenblieb: Seine drei Gesprächspartner wa-ren alle als Inoffizielle Mitarbeiter(„IM“) des Ministeriums für Staatssi-cherheit registriert.

Der fromme Stolpe schaffte als „IMSekretär“ nebenbei für die Hauptabtei-

lung XX des MfS an, sein dankbarer Mi-nister Erich Mielke hatte ihm 1978 dafürkonspirativ die Verdienstmedaille derDDR verliehen.

Der Rechtsanwalt und Synodale deMaiziere („IM Czerny“) war im Jahres-plan der gleichen Stasi-Filiale für 1990als Spitzel bei Empfängen der StändigenVertretung der BRD eingeteilt. FürWestdeutsche, so die Vermutung desGeheimdienstes, klingt der Name deMaiziere vertrauensvoll, war doch seinOnkel einst Generalinspekteur der Bun-deswehr.

Die Diplom-AußenhandelsökonominChrista Luft hatte sich schon 1963, da-mals 25 Jahre alt und ehrgeizig, schrift-lich der Stasi verpflichtet. Jetzt ist siePDS-Bundestagsabgeordnete und sagt:„Daran erinnere ich mich nicht.“

Schäuble wundert sich noch heute,warum de Maiziere damals die „IM Gi-sela“ mitbrachte, „eine der SED ange-hörende Kollegin“. Daß die drei zur Fir-ma Horch und Guck gehörten, hat er ih-nen verziehen.

Offiziell war das Ministerium fürStaatssicherheit bereits am 17. Novem-ber 1989 aufgelöst worden. Seine Nach-folge trat das Amt für Nationale Sicher-heit („Nasi“) an, gebildet von den glei-chen Männern in den konspirativen Bü-ros. Den Kampf um die Macht gab mannoch lange nicht verloren. Die jüngerenStasi-Generale und -Obristen hofftennach dem Abgang ihres greisen Mini-sters Mielke auf ein Comeback des Ge-heimdienstes. Die Voraussetzungenschienen günstig.

In 40 Jahren hatte das MfS sich zu ei-nem unsichtbaren „Staat im Staate“ ent-

Die Stasi-Generalehofften auf ein Comeback

des Geheimdienstes

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Stasi-Informant Böhme, SPD-Politiker Brandt*: Wiedergeburt Willys

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Stasi-Informanten Gysi, Luft: Die aktive Mitarbeit bestritten

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Stasi-Informant Schnur*: Das Dunkelmänner-Imperium ist angeschlagen

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wickelt, so Erich Honecker mürrischnach seinem Sturz. Es besoldeteschließlich 90 000 hauptberufliche Mit-arbeiter; allein in Ost-Berlin lebtenrund 35 000 MfSler – dreimal mehrGeheimdienstler, als es Polizisten gab.

Das riesige Überwachungsministeri-um war ein komfortables Parallel-Uni-versum mit eigenen Hochschulen (woSchalck und andere ihre Doktortitelabholten), eigenen Kliniken, Erho-lungsheimen, Sonderläden, den Sport-vereinen „Dynamo“ und tüchtigenhauseigenen Klempnern, die sogar eineDachrinne reparieren konnten. Außer-halb des privilegierten MfS war einedefekte Dachrinne in der DDR für ge-wöhnliche Sterbliche auf Dauer irrepa-rabel.

Wie ein Krake zog die geheime Be-hörde immer mehr Spitzel an. Zwi-schen 1985 und 1989 arbeiteten insge-samt 260 000 DDR-Bürger als Inoffi-zielle Mitarbeiter für das MfS; noch1989 waren es 173 000. Das unsichtba-re Netz hatte überall seine Zuträger,nicht nur in Kirche, Rechtspflege undÖkonomie. Spitzel arbeiteten in allenDissidentenzirkeln, oft gab es dortmehr IM als Oppositionelle. Rechtzei-tig hatte die Stasi ihre geheimen Mitar-beiter auch unter den hoffnungsvollenTalenten der Parteien, Verwaltungenund Kulturorganisationen rekrutiert.Das galt es nun zu nutzen.

Spätestens seit 1986 hatte MielkesStellvertreter, der Chef der Auslands-spionage Markus („Mischa“) Wolf,Pläne geschmiedet, um die greiseSED-Führung zu verdrängen. SeineChancen standen nicht schlecht. Wolfwar lebenslang ein Mann der Russen,

* Oben: beim Parteitag der Ost-SPD im Februar1990 in Leipzig; unten: mit Demonstranten undWachhabenden vor dem Stasi-Gebäude in Leipzigam 4. Dezember 1989.

er sprach als einziger DDR-Oberer ak-zentfrei die Sprache der Kremlherren.Anfang 1987 besuchte WladimirKrjutschkow, seinerzeit noch stellver-tretender KGB-Chef, Wolf und dieDDR. In Dresden lernte er Hans Mo-drow kennen, den Ersten Sekretär derSED-Bezirksleitung. Dieses Trio, sagtSED-Insider Günter Schabowski, prä-parierte sich für die Machtübernahme,für die Zeit nach Honecker.

Warum sollte GeheimdienstgeneralWolf denn nicht Parteichef werden? InMoskau war das dem KGB-Chef undGorbatschow-Förderer Jurij Andropowdoch auch gelungen. Und waren nichtGlasnost („Klarheit“) und Perestroika(„Umbau“) im KGB ausgeheckt wordenals letzte Medizin für das sieche Sowjet-imperium? Immerhin: Modrow hat esgeschafft. Am 8. November wählte ihndie Partei in das Politbüro, am 13. No-vember die Volkskammer durch Hand-

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Deutsche Regierungschefs Kohl, Modrow*: Bewährte Stasi-Agenten wurden Minister im neuen DDR-Kabinett

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zeichen bei nur einer Gegenstimme zumneuen Ministerpräsidenten.

Modrow ist der Schmerzensmann derSED, ein hagerer Asket. Jahrzehnte-lang haben ihn seine Parteioberen ge-quält und in die Provinz verbannt. Dortwohnte er, freiwillig, in einer Dreiraum-wohnung, Original Plattenbau. Mit ihman der Spitze, verspricht er öffentlich,soll alles anders werden: „Diese Regie-rung wird eine Regierung des Volkes.“In Wahrheit wurde es eine Regierungdes MfS.

Nachdem der Versuch des Generalse-kretärs Egon Krenz, die prekäre Lagean der Mauer und im Lande durch dieMobilisierung der NVA-Elitetruppen zu

stabilisieren, gescheitert war, traten diegeheimen Stasi-Mitarbeiter in ihr Recht:Von den 27 Ministern des neuen Mo-drow-Kabinetts sind mehr als die Hälftebewährte Agenten des MfS, einge-schworen auf Konspiration. ModrowsStellvertreterin wird die „IM Gisela“,für Kirchenfragen ist der „IM Czerny“zuständig.

Theodor Hoffmann, ein Admiral deruntergehenden Volksmarine, wird neu-er Minister für Nationale Verteidigung.Schon Vater und Stiefmutter standenganztags bei der Stasi in Diensten; 1989,ante finem, wird auch sein Sohn, einLeutnant zur See, hauptberuflichMfSler. Der Minister selbst hat schon1961 als IM angemustert.

Auf IM-Karrieren blicken, fast selbst-verständlich, auch die Minister für Inne-

res, Justiz und Schwerindustrie zurück.Doch selbst die drei Leichtgewichte desModrow-Kabinetts, zuständig für Um-weltschutz, Gesundheitswesen und Tou-rismus, sind als geheime Mitarbeiter desMfS sozialisiert worden. Ihr Chef Mo-drow eilt, nach acht Tagen im neuenAmt, zur Nasi und bittet um Solidarität.Nasi-Chef Wolfgang Schwanitz sitzt alsMinister an seinem Kabinettstisch. Daßdieser Generalleutnant der geheimeHerr der Regierung ist, läßt er sich nichtanmerken.

Seinerzeit will Modrow nichts davongewußt haben, daß selbst die oppositio-nellen Gruppierungen im Lande von er-fahrenen Stasi-Leuten geführt werden.

Chef des „Demokratischen Aufbruch“(DA ) ist der Rechtsanwalt WolfgangSchnur („IM Torsten“, später zu „IMDr. Ralf Schirmer“ geadelt). Der blicktauf 25 Jahre professionelles Spitzeltumzurück; die echten Dissidenten nennenihn vertrauensvoll „Bruder Schnur“.

Sein Kollege de Maiziere („IM Czer-ny“) führt die Blockflöten der CDU indie neue Zeit. Am 9. Dezember 1989wird der muntere Rechtsanwalt GregorGysi neuer Parteivorsitzender derSED/PDS. Papa Klaus Gysi diente derFirma. Sohnemann hat in den MfS-Ak-ten gleich drei Decknamen: „IMGregor“ alias „IM Sputnik“ alias „IMNotar“, bestreitet aber die aktive Mit-arbeit.

* Am 19. Dezember 1989 in Dresden.

Chef der anständigen, zukunftsfrohenSPD ist der charmante Ibrahim Böhme,ein ruheloser Dissident und Spitzel („IMPaul Bongartz“). Schon 1984 hat sein Ar-beitgeber ihn an den aufrechten PfarrerMarkus Meckel herangespielt. „Er warder Sonnyboy der Partei“, erinnert sichder Betrogene an den Betrüger, vor allemdie Bonner SPD-Führer „kapriziertensich auf Böhme“.

Anfang Januar 1990 sorgten dieBonner dafür, daß der neue GenosseIbrahim in ein sicheres und komfortablesRefugium, das West-Berliner Hotel„Seehof“, umzieht. Dort gefällt es ihm sogut, daß er anfängt, die lästige Parteiar-beit schleifen zu lassen. Damit in der

DDR für die SPD nichts anbrennt,schicken ihm die Bonner eine tüchtigePrivatsekretärin.

Wie das Leben so spielt: Die ist auchvon der Stasi.

Nach den bewährten Regeln der Ge-heimdienste ist es ein Fehler, den eige-nen Mann in die erste Reihe zu positio-nieren. Viel gescheiter ist es, den Geg-ner aus der zweiten Reihe zu steuern.Ob das angeschlagene Dunkelmänner-Imperium seinerzeit vorsätzlich die Füh-rung von SED/PDS, SPD, CDU undDA an ihre geheimen Mitarbeiter über-trug? Sicher ist, daß nichts sicher ist,selbst das nicht.

Es kann sein, daß die IM ihren resi-gnierten Führungsoffizieren aus demRuder liefen; viel für sich hat auch dieVermutung, daß ein talentierter IM sein

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Warenangebot im Laden der Prominentensiedlung Wandlitz (1989): „Lieber Genosse Fidel, bitte probier mal“

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Schwimmbad in Wandlitz: Das Volk erschien zur Inspektion

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Ego nur schwer vom Hö-henflug abhalten kann. IMBongartz glaubte am Endeseiner Blitzkarriere, er seidie Wiedergeburt des Wil-ly Brandt. Und sieht IMGregor / Sputnik / Notarnicht ein bißchen so auswie der junge Lenin?

So oder so, der Versuchdes gargantuesken DDR-Geheimdienstes, den Staatund die Partei zu retten,mißlang. Als am 15. Janu-ar das Volk die Riesen-areale des MfS in der Ber-liner Normannenstraßestürmt – Bärbel Bohley:„Ich fand’s wunderbar“ –,gibt es ganz plötzlich imöstlichen Teil Deutsch-lands keine Doppelherrschaft mehr, son-dern gar keine: Die DDR, noch lebendund doch schon dem Tod anheimgege-ben, wird eine herrschaftsfreie Zone, einMachtvakuum.

Der Geheimdienst zerschlagen; dieSED in Auflösung; die Polizisten nir-gendwo mehr zu sehen; die Gefängnissedurch eine großzügige Amnestie geleert;offene Grenzen; eine demoralisierte Ar-mee.

In diesen schönen Monaten der Anar-chie regierte das Gerücht. Ohnehin ver-trauten DDR-Menschen, seit 1933 unterZensur, im Zweifel nicht dem geschriebe-nen Wort, sondern einer zugerauntenBotschaft. Ist Margot Honecker nicht je-de Woche heimlich nach Paris geflogen,um sich die Haare färben zu lassen? LebtLotte Ulbricht gar nicht in Pankow,sondern in der Schweiz? Werden die Ge-neräle nicht doch in West-Mark besol-det?

Und dann erst Wandlitz! Diese gehei-me Wohnsiedlung des Politbüros amNordrand Berlins zog alle Phantasien aufsich. So schnell wie möglich nahmen des-halb Krenz, Schabowski und die anderen

Glasnostis Reißaus, als das Volk zur In-spektion erschien.

Der wahre Luxus war gar nicht zu se-hen: Die 26 Familien des Politbüros hiel-ten sich Personal in feudalistischer Fülle.641 Angestellte, alle von der Firma, um-sorgten die verdorbenen Greise. DieVersorgung war, dank KoKo, perfektwestlich, das Ambiente eher kleinbürger-lich. Honecker bezog seine Anzüge ausdem KaDeWe und die Softporno-Videosvon Schalck.

Sein kleiner Adlatus Hermann Axen,im Politbüro zuständig für die Außenpo-litik, bot bei einer Kuba-Visite seinemGastgeber mitgeführtes Backwerk an:„Lieber Genosse Fidel, bitte probier mal,was für wunderbares Knäckebrot wir inder DDR haben!“ Das Knäckebrot warMarke Wasa, es wurde für Axen allwö-chentlich in West-Berlin gekauft. Daswußte der alte Mann nicht, er merkte esauch nicht, und gesagt hat es ihm keiner.So war das in der DDR, nicht nur beimKnäckebrot.

Wie sollte Modrow dieses Land regie-ren? Kein Geld im Sack und nirgendwoKredit; jeden Tag neue Enthüllungen,

wahre und unwahre: 100Milliarden West-Mark ha-be die KoKo in derSchweiz deponiert, vermu-tet der Volkskammer-Ab-geordnete Gerd Staege-mann, ein Professor fürZahnmedizin, im Dezem-ber, „gehortet auch inForm von Gold- und Sil-berbarren und Platin“ –leider nicht wahr. Andereerzählen, es gebe in undum Berlin Dutzende von„Führungsbunkern“ fürdie SED-Eliten – doch, dasist wahr – und gut 4000konspirative Wohnungen(„KW“) des Geheimdien-stes – auch wahr, sie ste-hen leer.

Diese wilde Mischung aus Gerüch-ten, Illusionen und Horrornachrichtenzerstört die Aufbruchstimmung desWendeherbstes. „Der Herbst ’89 warein einziges Fest“, erinnert sich BärbelBohley, „alle hatten ganz glänzendeAugen.“ Am Jahresanfang 1990 gerätdas Geld in den Blick – bis dahin hatdie Bundesrepublik insgesamt 1,2 Mil-liarden Mark „Begrüßungsgeld“ für diearmen Ostbesucher springen lassen,100 Mark pro Nase. Nun weiß jeder,was das ist: richtiges Geld.

„Wo Geld vorangeht“, sagt das alt-deutsche Sprichwort, „sind alle Wegeoffen.“ Der Kanzler sieht das auch so.

Im nächsten Heft

Kohl schmiedet die „Allianz fürDeutschland“ – Am 18. März 1990 ge-winnt er die ersten freien Wahlen inder DDR – Keine Festung ist so stark,daß Geld sie nicht erobern kann – Gor-batschow stimmt der Wiedervereini-gung zu – Die letzte Regierung derDDR läuft über

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Mauer beim Brandenburger Tor am 10. November 1989: Oben machten es sich die Berliner bei Sekt gemütlich, unten sicherten

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„Am Rande des Bürgerkriegs“SPIEGEL-Reporter Hans Halter über die Zeit vom Fall der Mauer bis zur deutschen Einheit (I)

ls die Mauer gefallen war, nähertensich im Morgengrauen des 10. No-Avember 1989 die dunkelblauen

Volvo-Limousinen früher als gewöhn-lich der Hauptstadt der DDR.

Vor Tau und Tag waren die Genossendes Politbüros der SED aus Wandlitz,ihrer geheimen Waldsiedlung, aufgebro-chen. Egon Krenz, der Generalsekretär,verzichtete auf seinen gewohnten Dau-erlauf. Erich Mielke, Minister fürStaatssicherheit, ging ausnahmsweisenicht schwimmen. Sein Ministerpräsi-dent Willi Stoph, ein Langschläfer,wurde um fünf Uhr aus den Federn ge-holt.

Nach der Nacht der Nächte stellte sichden Herren der Partei die Machtfrage:Was nun, SED? Was tun, DDR?

Angewidert besah sich Krenz im Vor-beifahren die Bescherung. Unordnung,wohin er blickte: übernächtigte Jugend-liche, dekadent kostümiert nach einerdurchzechten Nacht in West-Berlin; ver-störte Vopos, sichtbar in der Defensive;leere Flaschen überall, am Straßenrandunleserliche Parolen auf Pappschildern;und dann diese Trabis, die alle in die fal-sche Richtung fuhren, westwärts.

Im „Großen Haus“, dem Sitz desSED-Zentralkomitees in Berlin-Mitte,wuselte alles durcheinander. Der Gene-ralsekretär war sehr blaß. So fielen dienachtschwarzen Ringe unter seinen Au-gen und die langen Zähne noch mehrauf. Mißtrauisch blickten die alten Ka-der, die Pieck, Ulbricht und Honeckerüberlebt hatten, auf den neuen Mann:

Hatte Egon Krenz, erst seit drei Wo-chen im Amt, schon alles vergeigt? Diekleine deutsche Republik und ihre Par-tei ruiniert?

Unter den Linden fuhren zwei russi-sche Ladas, kenntlich an den kyrilli-schen Buchstaben und dem blutrotenStern der Sowjetarmee, Richtung Bran-denburger Tor.

Die Mauer, hier zwei Meter dick unddrei Meter hoch, stand noch, doch das„Grenzregime“ war zusammengebro-chen. Zu Hunderten hatten Ost- undWest-Berliner in der letzten Nacht dasVorfeld überrannt, die Mauer erklet-tert, es sich oben bei Sekt gemütlich ge-macht. Jetzt sicherte eine Postenketteaus jüngeren Offiziersschülern das Ter-rain.

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Offiziersschüler das Terrain

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Langsam nahmen die russischen Au-tos die Kurve und verschwanden durcheinen Seiteneingang in die Botschaft derUnion der Sozialistischen Sowjetrepu-bliken. Dunkel und drohend, für dieEwigkeit gebaut, beherrscht das 100Meter lange Gebäude die südliche Seiteder Straße Unter den Linden, dicht anMauer und Brandenburger Tor.

Hier, nicht im Großen Haus, war seitJahrzehnten das wirkliche Zentrum derMacht. „Erich, ich sage dir offen“, hattevor Jahren der gewaltige Leonid Bre-schnew seinem kleinen LehnsmannErich Honecker gedroht, „die DDRkann ohne uns, ohne die Sowjetunion,ihre Macht und Stärke, nicht existieren.Ohne uns gibt es keine DDR. Vergißdas nie!“

Kaum war der Genosse Leonid 1982unter der Erde, vergaß Honecker des-sen letzte Warnung. Der kleine Mannaus Neunkirchen/Saarland, ein abgebro-chener Dachdeckerlehrling, plustertesich auf, lehrte auch die Russen Mores.„Der Erich hat sich offenbar für dieNummer eins im Sozialismus gehalten,wenn nicht sogar in der Welt“, diagno-stizierte Michail Gorbatschow am 31.

Oktober 1989, als Honeckers NachfolgerKrenz im Kreml zur Antrittsvisite er-schien.

Krenz war klüger, er wußte, wo derHammer hängt. „Die DDR ist doch in ge-wisser Weise das Kind der Sowjetunion“,schmeichelte er dem Russen Gorba-tschow, „und die Vaterschaft über seineKinder muß man anerkennen.“ An dieserStelle vermerkt das „streng geheime“Protokoll – „Nur für die Mitglieder undKandidaten des Politbüros“ – knapp: Ge-nosse Gorbatschow stimmte dem zu.

Aber würde Genosse Gorbatschowauch die Konsequenzen tragen? Sich fürden lebensschwachen Wechselbalg DDRins Feuer wagen? So wie damals, als am17. Juni 1953 der Arbeiteraufstand mitPanzern niedergeschlagen wurde?

An Waffen fehlte es nicht. Nirgendwoin Europa waren so viele Soldaten, Ge-wehre und Kanonen auf kleinem Raumzusammengedrängt. Die große Sowjet-union unterhielt in der vergleichsweisewinzigen DDR – sie hätte 200mal ins Va-terland aller Werktätigen gepaßt – eine„Westgruppe“ ihrer Streitkräfte, 365 000Mann, alles Elitesoldaten. Gardedivisio-nen, Stoßarmeen, Sturmbrigaden. Die

Nationale Volksarmee (NVA) derDDR zählte im November 1989 noch172 000 Kämpfer, bis an die Zähne be-waffnet und in 42 Minuten in „volleGefechtsbereitschaft“ zu versetzen –Weltniveau.

Die Volkspolizei war 90 000 Mannstark, Erich Mielkes „bewaffnetes Or-gan“, die Stasi, brachte es auch auf90 000 schießfeste Parteisoldaten. ImMinisterium für Staatssicherheit warensogar die Sekretärinnen und Kranken-schwestern bewaffnet. Der Innenmini-ster hatte rund 400 000 Mann Kampf-gruppen unter seinem Kommando.

Zusätzlich gab es bewaffnete Zöll-ner, ferner die armierte Gesellschaftfür Sport und Technik und reichlichZivilverteidiger. Die „Kampfgruppen“der Arbeiterklasse horteten Munitionund Kalaschnikows in den Volkseige-nen Betrieben. Selbst die Berufsfeuer-wehr hatte Pistolen im Schrank. JederMinister der DDR (immerhin 48) führ-te eine Dienstpistole, natürlich auch al-le stellvertretenden Minister (288!).Von den 5 Millionen Männern im Al-ter von 18 bis 60 Jahren, die zwischenRügen und dem Erzgebirge lebten,

Glück, Geld und Gorbatschowwaren die Fundamente der deutschen Wiedervereinigung. Als die DDRam 7. Oktober 1989 mit einer großen Militärparade ihren 40. Geburtstagfeierte, drängelten sich auf dem Territorium der kleinen Republik mehrals eine Million Bewaffneter, eingeschworen auf den Klassenkampf unddie Befreiung vom Imperialismus. Warum fiel trotzdem kein einzigerSchuß? Weshalb gab es keinen Putsch zum Erhalt des SED-Regimes?Wie nahe am Blutvergießen balancierte Deutschland im Jahr der Ein-heit?

Ohne die Zustimmung der Russen konnte es keine Wiedervereini-gung geben. Wer oder was brachte Michail Gorbatschow, den Generalse-kretär der allmächtigen Kommunistischen Partei der Sowjetunion, dazu,erst der staatlichen Einheit der Deutschen und dann auch noch demNato-Beitritt zuzustimmen? Wie viele Milliarden gingen über denTisch?

Fast ein Jahr lang, vom Tag der Maueröffnung am 9. November 1989bis zum offiziellen Beitritt der fünf neuen Bundesländer am 3. Oktober1990, versuchten Politiker jeglicher Couleur den Vereinigungsprozeß zubremsen. Das ging nicht, weil die Bevölkerung der Deutschen Demokra-tischen Republik das Tempo immer neu forcierte: Die einfachen Leutewollten das Millionenheer ihrer Unterdrücker und Parasiten abschütteln,sie wollten für harte Arbeit hartes (West-) Geld verdienen, reisen undWestwaren endlich mit Händen greifen dürfen.

In einer dreiteiligen Serie beschreibt der SPIEGEL die Hintergründeder deutschen Wiedervereinigung, Motive und Ängste der handelndenPersonen in Ost und West sowie bisher unbekannte Fakten: Als in derNacht vom 9. zum 10. November 1989 plötzlich die Mauer fiel, mobilisier-te die SED-Führung heimlich Elite-Einheiten ihrer Armee. Das führte zuheftigem Streit unter den Generälen der Nationalen Volksarmee, demo-ralisierte die SED-Kader und beschleunigte Zug um Zug die Demilitari-sierung ihrer „bewaffneten Organe“. Am Ende hatte nur noch die Volks-polizei Pistolen und lief – gegen das Versprechen der Weiterbeschäfti-gung – geschlossen zum Klassenfeind über.

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Staatsführer Krenz, Gorbatschow*„Die DDR ist doch das Kind der Sowjetunion“

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Botschafter Kotschemassow

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standen, alles in allem, mehr als eineMillion mit dem Gewehr bei Fuß –Weltniveau auch das.

Alle Waffen waren Staatseigentum.Frei zu kaufen gab es nicht einmalGaspistolen. Jede verschwundene Waf-fe wurde – wie ein entlaufener Straftä-ter – offiziell zur Fahndung ausge-schrieben. Die Strafandrohungen fürden „Mißbrauch von Waffen undSprengmitteln“ waren hart, getreu derWarnung Friedrich Engels’: „Waffensind Werkzeuge der Gewalt.“ AusSED-Sicht gehörten sie deshalb auf garkeinen Fall in die Hand des Volkes.

Die Russen kommandierte Armee-general Boris Wassiljewitsch Snetkow,damals 62 Jahre alt, ein Mann zumFürchten. Runder Kopf, dunkle Au-gen, schmale Lippen, dicker Hals. Ei-ne Brust so breit wie ein Hackbrett,seit seinem 15. Lebensjahr Berufssol-dat, ein Hardliner. Den hatte Gorba-tschow fest an die Kette gelegt: DieWestgruppe igelte sich schon im Okto-ber in ihren Kasernen ein; Manöverund Ausgang wurden gestrichen; dieEhefrauen durften nicht mehr einkau-fen gehen. Jede Einmischung in deut-sche Angelegenheiten wurde nochmalsausdrücklich verboten. Auf gar keinenFall dürfe geschossen werden.

„Gehen Sie in sich und erstarrenSie!“ ermahnte der Außerordentlicheund Bevollmächtigte Botschafter in derDDR, Wjatscheslaw Kotschemassow,am Morgen des 10. November seinenGeneral Snetkow auf der abhörsiche-ren Leitung. Später hat der Diplomatsein Tun noch ein bißchen ausge-

* Am 31. Oktober 1989 in Moskau.

schmückt: „Ich be-fahl“, erinnerte ersich, „alle Militärein-heiten unverzüglich inihre Kasernen zuschicken.“

„Der hatte demSnetkow gar nichts zubefehlen“, sagt FritzStreletz, „der durfteihm höchstens etwasraten.“ GeneraloberstStreletz ist jetzt 69, hatinzwischen zweiein-halb Jahre U-Haft we-gen des Schießbefehlsabgesessen und war zuDDR-Zeiten Chef desHauptstabes der Na-tionalen Volksarmee,nach dem Verteidi-gungsminister derranghöchste Soldat.Auf ihn kam es an inden wirren Tagen undNächten des Novem-ber. Streletz komman-dierte die Gewehre:

„Ein Schuß, ein einziger, da wäre sonst-was draus geworden . . .“

Sonstwas, meint Eduard Scheward-nadse, von 1985 bis 1990 Außenministerder Sowjetunion, das hätte über Nachtder „Dritte Weltkrieg“ sein können. „DiePanzermotoren anlassen? An den Gren-zen Divisionen zum Abfangen und Ab-schirmen aufmarschierenlassen?“ Den Georgiergruselt es noch heute:„Ohne Zweifel“, sagt er,„als Ergebnis einer ern-sten Analyse solider Aus-gangswerte“ und ange-sichts der gewaltigen„Konzentration vonTruppen und Waffen“ inder DDR: Jeder Einsatzder Sowjetarmee in die-ser Situation verbot sichwegen des Risikos, dieganze Welt in Brand zusetzen.

Darüber sind sich alleeinig. Der Kanzler undMichail Gorbatschow,die Generäle in Ost undWest, die Geheimdienst-ler, Politiker, Bürger-rechtler. „Ein Schuß, einTropfen Blut“, sagtWolfgang Schäuble, da-mals Innenminister, unddie Einheit wäre Fa-ta Morgana geblieben.„Die Einheit hat es nurgegeben, weil kein Blutvergossen wurde.“

Das ist das Basiswun-der der deutschen Wie-dervereinigung: Es fiel

kein Schuß, kein einziger. Und das, ob-wohl es unter den unzähligen Bewaffne-ten auch Trunkenbolde gab, Fanatiker,Verrückte, Desperados. GemütsarmeMänner ohne jede Furcht und solche mitsehr viel Angst; Männer, bereit zum letz-ten Gefecht.

Ein ganzes Jahr lang, vom 40. Jahres-tag der DDR am 7. Oktober 1989 bis zumTag der Deutschen Einheit am 3. Okto-ber 1990, hielten sie alle still. Schossennicht, putschten nicht, redeten nur. Dasaber ohne Unterlaß, denn der Nachhol-bedarf war groß.

In freier Rede waren die meistenDDR-Menschen ungeübt, sogar GünterSchabowski, Mitglied des Politbüros, deram 9. November vor den surrenden TV-Kameras einer internationalen Presse-konferenz um 18.57 Uhr der DDR liveden tödlichen Schlag versetzte:

„ . . . haben wir uns dazu entschlossen,heute, äh, eine Regelung zu treffen, die esjedem Bürger der DDR möglich macht,äh, über Grenzübergangspunkte derDDR, äh, auszureisen.“

Stimmengewirr, Zurufe, Fragen: „Absofort? Nur mit Paß?“

Schabowski: „Also Genossen, esist mir also mitgeteilt worden, daßeine solche Mitteilung heute schon,äh, verbreitet worden ist. Siemüßte eigentlich in Ihrem Be-sitz sein.“ (Schabowski kramt in Papie-ren.) „Also, Privatreisen nach dem Aus-land können ohne Vorliegen von Voraus-

setzungen, Reiseanläs-sen und Verwandt-schaftsverhältnissen be-antragt werden. Die Ge-nehmigungen werdenkurzfristig erteilt . . .Zuständige AbteilungenPaß- und Meldewesender VP, der Volkspoli-zeikreisämter in derDDR sind angewiesen,Visa zur ständigen Aus-reise unverzüglich zu er-teilen, ohne daß dafürnoch geltende Voraus-setzungen für eine stän-dige Ausreise vorliegenmüssen. Äh, ständigeAusreisen können überalle Grenzübergangsstel-len der DDR zur BRDerfolgen. Damit entfälltdie vorübergehend er-möglichte Erteilung vonentsprechenden Geneh-migungen in Auslands-vertretungen . . . “

Stimmengewirr, Fra-ge: „Und wann?“

Schabowski: „ . . .und die ständige Ausrei-se aus der DDR überDrittstaaten. Äh, diePaßfrage kann ich jetzt

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Pressekonferenz mit Schabowski (Pfeil)*: Der DDR live den tödlichen Schlag versetzt

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Mauerfall in der Bornholmer StraßeAuf eigene Kappe den Schlagbaum geöffnet

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nicht beantworten. Da ist auch eine tech-nische Frage. Ich weiß ja nicht, die Pässe,Pässe müssen ja, damit jeder in den Besitzeines Passes . . . überhaupt erst einmalausgegeben werden. Wir wollten abererst einmal . . .“

Stimmengewirr, Frage: „Wann trittdas in Kraft?“

Schabowski: „Das tritt nach meinerKenntnis . . . ist das sofort. Unverzüg-lich.“

Schabowski kannte den Text. Er hatteihn im Auto auf der Fahrt zur Pressekon-ferenz gelesen. Der Politiker ahnte auchdessen Sprengkraft. Deshalb nahm ersich vor, das Papier erst ganz zum Schlußund en passant zu verlesen. Für Fragensollte keine Zeit bleiben. Aber was sollteSchabowski tun, als doch nachgefragtwurde? Im Zeichen der neuen Ehrlich-keit, unter dem Signum „Glasnost“(Klarheit) angetreten, blieb ihm keineWahl. Er mußte die gefährlichen Wörter„sofort“ und „unverzüglich“ sagen – dassetzte die Lunte am Sprengsatz in Brand.

„Der Schabowski hat uns wegen seinesKnüllers an den Rand des Bürgerkriegsgebracht“, urteilt General Streletz. Diefolgenden Stunden „hatte niemand imGriff. Das hätte nicht passieren dürfen.Es war blamabel für uns als Soldaten undMilitärs“. Schlimmer noch: Es war mör-derisch gefährlich.

Die Bewaffneten an der DDR-Grenzewußten von nichts. Für sie galt die alteBefehlslage, und das hieß: Im Ernstfallwird geschossen. Der Ernstfall kam zuTausenden. Vor und in der Grenzüber-gangsstelle Bornholmer Straße, die von15 Stasi-Männern gesichert wurde,drängten sich gegen 23 Uhr etwa 20 000ziemlich entschlossene Menschen. Dagab die Stasi auf. Die Oberstleutnants

* Am 9. November 1989.

Harald Jäger und Edwin Görlitz ließenum 23.20 Uhr auf eigene Kappe denSchlagbaum öffnen. Alle Kontrollenwurden eingestellt. Die Mauer hatte einRiesenloch, ihr erstes.

Die brüderliche Freude wargroß. Jeder Trabi bekam einenliebevollen Klaps aufs Papp-dach, mitgeführte Alkoholikawurden sozialisiert. Auf seinemFahrrad war Fritz Teufel zurGrenze geeilt, 1968 als „Apo-Clown“ verehrt, dann für sie-ben Jahre als „Terrorist“ instrenger Einzelhaft isoliert.Seither fährt und fährt und fährter Fahrrad. Teufel mußte nichtlange warten, bis der erste ra-delnde Ossi an der BornholmerStraße auftauchte. Den hat erumarmt und ihm versprochen:„Jetzt wird alles wieder gut.“

Im Ministerium für Nationa-le Verteidigung in Strausberg,20 Kilometer östlich von Berlin,sah man die Zukunft eher dü-ster. Schon am 4. Oktober warfür alle Offiziere „erhöhte Füh-rungsbereitschaft“ befohlenworden. Nervös warteten dieGeneräle auf ihren Verteidi-gungsminister Heinz Keßler,damals 69 Jahre alt, Mitglieddes Politbüros, ein persönlicherFreund des schon geschaßtenErich Honecker.

Keßler hatte sein „Kollegi-um“, die 15 höchsten Generäle,zu einer nächtlichen Sitzungeinberufen. Endlich sollten sieerfahren, was das Zentralkomi-tee (ZK) der SED über die Zu-kunft beschlossen hatte. Dar-aus wurde nichts. Das Volk warschneller, es wußte auch mehr.

In Strausberg, im Wartezimmer derMacht, gab es keinen Fernseher. DieGeneräle hatten Schabowski nicht ge-hört. Als gegen zehn Uhr die erstenAlarmnachrichten von der Grenze imNVA-Hauptquartier eintrafen, konnteman die leitenden Kader des Politbü-ros nicht erreichen. Die wurden geradenach Wandlitz kutschiert, und ihre Li-mousinen hatten kein Funktelefon,„dazu war die DDR zu arm“, erinnertsich Streletz.

Während auf dem Ku’damm der Bärlos ist, geraten sich in Strausberg dieGeneräle in die Wolle. Irritiert dar-über, daß der russische Vertreter imKollegium der NVA nicht erschienenist, und genervt von den immer raschereintreffenden Tatarenmeldungen, fal-len die Generäle Joachim Goldbachund Manfred Graetz ihrem langatmigschwafelnden Chef ins Wort. Sie wol-len die aktuelle Lage diskutieren, denndie spitzte sich rasch zu.

„Das muß man sich mal vorstellen“,sagt rückblickend GeneralleutnantHorst Skerra, „das war doch unsereGrenze, unsere Mauer, unser Staatsge-biet . . .“ – und da krabbelt das Volkungestraft einfach drüber, auf und

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DDR-Soldaten am Brandenburger Tor: „Verteidigung der souveränen Grenzen“

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DDR-Generäle Keßler, Streletz: Befehl ist Befehl

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Einsatzbefehle (Ausrisse)*: „Erhöhte Gefechtsbereitschaft“

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davon. Skerra hat geweint in dieserNacht.

Damit Volk und Führung nicht ausein-anderlaufen und „solche Schweinereien“wie der straflose Mauersprung „nichtnoch mal passieren“ (Streletz), eskalie-ren Krenz und Genossen nach der kurzenNacht der Nächte am Morgen des 10. No-vember die Abwehr. Es ergeht der „Be-fehl Nr. 12/89 des Nationalen Verteidi-gungsrats“. Der Vorsitzende Egon Krenzordnet die Bildung einer „OperativenFührungsgruppe“ an. Leitung:Chef des Hauptstabes derNVA, Genosse GeneraloberstStreletz. Mitglieder sind dreiHaudegen der Stasi, des Innen-ministeriums und der Grenz-truppen sowie drei Falken desZK und des Ministerrats.

Für diesen Siebener-Ratkommt es gleich knüppeldick.Um 8.50 Uhr ruft im GroßenHaus Sowjetbotschafter Ko-tschemassow an. Der steht or-dentlich unter Strom, denn imKreml brennt auch schon Licht,und die Drähte glühen. Am Te-lefon ist Egon Krenz – nur leiderkann der nicht richtig Russischund Kotschemassow nicht rich-tig Deutsch. Deshalb muß Stre-letz ran. Das Arbeiterkind hatacht Jahre Rußland hinter sich:vier Jahre als Wehrmachtssol-dat und Kriegsgefangener, vierJahre als Absolvent sowjeti-scher Kriegsschulen, darunterdie Generalstabsakademie. Er

* Vom 10. November 1989.

ist Dipl. rer. mil., Diplommilitärwissen-schaftler.

Kotschemassow kommt ihm sehr vonoben: „Wer hat der DDR das Recht ge-geben, die Grenzen zu öffnen?“ So ge-nau weiß Streletz das auch nicht. „Wirwerden das klären“.

Die Wahrheit ist: niemand.Das Volk hat Schabowskis „Knüller“

auf seine Art interpretiert. Im Kremlhat keiner nachgefragt. Gorbatschow istsehr sauer. So hat er sich die deutsche

Ordnung nicht vorgestellt. Dreimalläßt sein Botschafter telefonisch Dampfab. Um 10.00 Uhr ergeht die „Bitte“,den Generalsekretär der KPdSU tele-grafisch zu informieren, aber dawai.

Das Telegramm, vom Siebener-Rathastig verfaßt, nimmt es mit der Wahr-heit nicht so genau. „Im Zusammen-hang mit der Entwicklung der Lage“ –eine vom Adressaten entlehnte Floskel– habe man zur „Vermeidung schwer-wiegender politischer Folgen“ den„größeren Ansammlungen von Men-schen“ die Ausreise „gestattet“. DieGrundsätze des „Vierseitigen Abkom-mens über Berlin (West)“ seien davon„nicht berührt“.

„Mit kommunistischem Gruß“ bittetder gestreßte Egon seinen „lieben Ge-nossen Michail Sergejewitsch Gorba-tschow“, den wütenden Botschafter un-verzüglich zu beauftragen, die dreiWestmächte zu kontaktieren, „um zugewährleisten, daß sie die normaleOrdnung in der Stadt aufrechterhaltenund Provokationen an der Staatsgrenzeseitens Berlin (West) verhindern“.

Während das begütigende Tele-gramm noch übersetzt wird, gibt Krenzsich einen Ruck. Damals wie heute gilter seinen Genossen als Weichei. Nureinmal, an diesem Vormittag des 10.November, ermannt er sich, zeigt Här-te: Um 11.30 Uhr ordnet der General-sekretär „Erhöhte Gefechtsbereit-schaft“ für die 1. Motorisierte Schüt-zendivision und das Luftsturmregiment40 an. Das sind zwei Eliteeinheiten,gedrillt auf Vorwärtsstrategie, die inPotsdam und Umgebung stationiertsind.

„Erhöhte Gefechtsbereit-schaft“ ist etwas ganz Beson-deres. Seit Ulbrichts Zeitendarf sie nur der SED-Chefauslösen, denn die Parteikommandiert die Gewehre(und sie fürchtet sich vor ih-nen). Erhöhte Gefechtsbereit-schaft gab es nur im Ernstfall:beim Mauerbau 1961, wäh-rend der Kuba-Krise 1962 und1968, als Prag besetzt wurde.Jetzt hält Egon Krenz die La-ge wieder für sehr brenzlig.Seine Nationale Volksarmeesoll die wankende Mauer stüt-zen. Aber wie?

Der brisante Befehl rücktdie denkbare Katastrophe einStückchen näher. Gegen wenwill Krenz Artillerie und Fall-schirmjäger einsetzen? Gegendas Volk? Gegen die fröhlichbesoffenen Mauer-Springer?Will er etwa den Westmächtendrohen? Oder sich Snetkowund Kameraden als Betonkopfempfehlen? Oder soll dieheimliche („gedeckte“) Mobil-

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Mauerbau 1961

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Kuba-Krise 1962 (US-Luftaufnahme)

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Einmarsch in Prag 1968

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Anlässe heimlicher MobilmachungDer Katastrophe ein Stückchen näher

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machung nur seinen ver-schreckten Führungska-dern Mut machen? Ihnensagen: Euer Erster Sekre-tär ist gar kein Weichei?

Befehl ist Befehl. ImGroßen Haus gibt ihn derArmeegeneral Keßlerdem Generaloberst Stre-letz weiter. Das ZK tagtnoch. Die Militärs stehendraußen vor der Tür undgucken mürrisch. AlteGeneräle, sagt GeneralSkerra später, „wollen lie-ber im Frieden gut verdie-nen als im Krieg schlechtfallen“. Das weiß auchWilli Stoph, 75, der Mini-sterpräsident. Er ist ja,nebenbei, Armeegenerala. D. Also läßt der, drau-ßen vor der Tür, der Er-höhten Gefechtsbereit-schaft ein wenig die Luftab: „Nur SPW und Hand-feuerwaffen, keine schwe-re Technik“, interpretierter die Mobilmachung.

SPW sind die allradge-triebenen Schützenpan-zerwagen, bewaffnet miteinem Maschinengewehr,furchteinflößende Unge-tüme, aber eben keinerichtigen Panzer mit ras-selnden Ketten und Kano-nen. Aber wie und wosollen die SPW auffah-ren? Alle Straßen Rich-tung West-Berlin sinddoch total mit Trabis ver-stopft. „Der Befehl warunsinnig und falsch“, ur-teilt rückblickend NVA-General Hans-WernerDeim. „Die Armee desVolkes“, sagt er hoff-nungsfroh, „hätte sichübrigens nie gegen dasVolk gestellt.“

Doch in Potsdam muni-tionierten die Mot.-Schüt-zen auf, Befehl ist Befehl.Um 13 Uhr diktiertOberst Hienzsch demProtokollführer der Divi-sion ins Tagebuch:„Durch CHS (das ist derChef des HauptstabesStreletz) wurde f. d. 1.MSD u. das LStR-40,EG‘ (= Erhöhte Ge-fechtsbereitschaft) ausge-löst.“

Oberst Norbert Priemerversammelt seine Offizie-re im „Führungspunkt“der Division. Die Nach-richtenverbindungen wer-

den überprüft. Draußen rennen dieSoldaten zu den Waffenkammern. Die1. Mot.-Schützen-Division ist eine„Division mit hohem Gefechtswert“,sagt Kommandeur Priemer, „immerstraff geführt“.

Neunzig Minuten vergehen, bangeMinuten. Jede Sekunde können die Si-renen, ferngesteuert vom Hauptquar-tier, die Mobilmachung eskalieren: Ge-fechtsbereitschaft bei Kriegsgefahr(GK) oder gar Gefechtsalarm und vol-le Gefechtsbereitschaft (VG). Zehn-tausend Mann halten den Atem an.

„Verteidigung der souveränen Gren-zen der souveränen DDR “ lautet dieBegründung der Mobilmachung gegen-über den Fallschirmjägern. Jeder Manndieser „Luftsturmtruppen“ ist eindurchtrainierter Einzelkämpfer, nah-kampferfahren, auch im „Ortskampf“geübt. Die Generäle des StrausbergerVerteidigungsministeriums, auch deralte Keßler, lassen ihre Villen seit Jah-ren von den Fallschirmspringern bewa-chen; das sieht einfach gut aus. 300Mann „kämpfende Truppe“ kann Ma-jor Peter Seiffert einsatzbereit melden.Die hätten ihre „Aufgabe erfüllt“, undzwar „bedingungslos“.

Dabei halten sowohl Seiffert alsauch Priemer den Mobilmachungsbe-fehl für falsch, damals schon. Priemer:„Wenn wir mit Kampfeinheiten nachBerlin gefahren wären, wäre die Ge-fahr des Blutvergießens groß gewe-sen.“ Außerdem glaubt Realist Prie-mer nicht, daß es „gelungen wäre, dieGrenze an den Stellen, wo sie geöffnetwurde, wieder zuzumachen“.

Die Vorbereitungen für einen militä-rischen Ernstfall kontrastieren aufmerkwürdige Weise mit der guten Lau-ne, die überall im Lande und an seinenGrenzen herrscht. Rund 600 000DDRler besuchen am 10. NovemberWest-Berlin, am Ku’damm und imKaDeWe herrscht Highlife. Das Ge-dränge an den Grenzübergängen istchaotisch.

An der Invalidenstraße im Zentrumder Stadt regeln West-Berliner Polizi-sten hundert Meter tief im Osten denVerkehr. Ein Kontaktbereichsbeamterverlegt seinen Arbeitsplatz auf denWachturm der Grenztruppen, damitder Funkverkehr zu den Kameradennicht abbricht. Am Ende des Tagesversorgen sich die Uniformierten wech-selseitig mit warmen Getränken. Im in-ternen Polizeiprotokoll wird vermerkt:„Es gab keine Territorialprobleme.“

Die ganze lange Nacht glitzert derHimmel über West-Berlin. Es wirddurchgefeiert. Das Bollwerk am Bran-denburger Tor ist wieder fest in derGewalt ziviler Mauerspechte. Einer hatfür die Vopos Bananen mitgebracht, erwill sie füttern wie die Affen im Zoo.Das kommt bei den Zielpersonen nicht

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so gut an, amüsiert das junge Publikumaber wie Bolle.

„Diese Nacht war sehr gefährlich“,erinnert sich General Streletz, „dieGrenztruppen waren seit 48 Stun-den nicht aus den Stiefeln gekom-men.“ Rund um Berlin ist der militäri-sche Countdown abgeschlossen. AlleMann sind auf Posten, die Offiziere beiihren Truppen, das Gerät betankt undaufmunitioniert. Alles hat geklappt wieam Schnürchen, denn Krenz hat mit der1. Mot.-Schützen-Division der NVAund dem Luftsturmregiment Truppenmobilisiert, deren Generäle die Einnah-me West-Berlins in der Vergangenheitimmer wieder stabsgemäß geübt haben,am Sandkasten.

„Operation STOSS“, später „Opera-tion ZENTRUM“ hieß dieser Angriff,der West-Berlin innerhalb von zwölfStunden vom Imperialismus befreiensollte. Auch ein fertiger Plan zur „Blok-kierung, d. h. dem Schutz der Grenzenach Westberlin“ (Oberst Priemer) lagin Potsdam bereit. Falls jemals„STOSS“ befohlen worden wäre, warals Treffpunkt nach vollbrachter Tat dieKaiserdamm-Brücke ausgeguckt wor-den – auch auf dieser Hauptstraße knat-tern jetzt die ganze Nacht kleine Zwei-takter Marke Trabant, bemannt mit

dem Volk. Von Erhöhter Gefechtsbe-reitschaft kann bei ihm aber keine Re-de sein, eher von erhöhter Lebensfreu-de.

Nach dieser zweiten Nacht der offe-nen Grenzen versammelt sich imStrausberger Ministerium für NationaleVerteidigung am Samstag morgen um9.00 Uhr das „Parteiaktiv“ – 250 Ge-nossen, die Besten der Besten, darun-ter alle Schreibstubengeneräle. DieStimmung ist gereizt. Um 11.00 Uhr

wird die „Aktivtagung“ abgebrochen.Streletz bittet alle Kollegiumsmitgliederund die „Chefs und Leiter“, noch dazu-bleiben. 35 Generäle, die Führungseliteder NVA, stehen im Halbkreis um denChef des Hauptstabes. Jetzt erst weihtStreletz die Kameraden ein: GedeckteEG ist befohlen für die Erste Divisionund die Luftsturmtruppe.

Eigentlich soll sich ein General vorgar nichts fürchten. Aber EG in dieserSituation? Der Schreck fährt allen durchMark und Bein. Nun ist es vorbei mit

der Contenance, jetzt wird Tacheles ge-redet: „Blödsinn!“ „Schwachsinn!“„Wie sollen die denn nach Berlin kom-men, es ist doch alles verstopft!“ „Wassollen die paar Männecken überhauptbewerkstelligen, die werden doch totge-trampelt!“ „Wollen wir die Geschichtewirklich eskalieren?“

Tja, wollen wir? Verteidigungsmini-ster Keßler weiß es offenbar auch nicht.Während seine Generäle streiten, rufter den Generaloberst Horst Stechbarth,damals 64, an. Stechbarth ist Chef derLandstreitkräfte.

Keßler: Bist du bereit, mit zwei Regi-mentern nach Berlin zu marschieren?Stechbarth: Ist das ein Befehl oder ’neFrage? Keßler: Man hat heute nacht dieMauer gestürmt. Das können wir dochnicht zulassen. Stechbarth: Da muß esdoch andere Mittel geben. Das ist dochkeine Aufgabe für die Armee. Keßler:Du kriegst Bescheid.

Um 14.00 Uhr am 11. November – inWest-Berlin drängeln sich eine halbeMillion Ossis, erste Versorgungslückenbei Bier und Sekt entstehen – kriegtStechbarth Bescheid: Die Erhöhte Ge-fechtsbereitschaft ist aufgehoben. Nunwird alles wieder gut.

Bei den Mot.-Schützen und den Fall-schirmjägern wird die Munition einge-

„Das ist dochkeine Aufgabe für

die Armee“

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DDR-Soldaten auf Truppenübungsplatz (1984): „Von der Bundeswehr nicht zu besiegen“

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sammelt. Im ganzenLand verlegen sich diebewaffneten leitendenKader wieder aufs Dis-kutieren: Was muß an-ders werden in derDDR? Wer soll ausdem Amt gedrängtwerden? Gibt es nichtviel zu viele Bewaffneteim Lande? Wie sichereich mir Beruf und Ar-beitsplatz?

Im Speisesaal desMinisteriums des Inne-ren in der BerlinerMauerstraße sitzen diebeiden Fraktionen seitWochen an gegenüber-liegenden Tischfron-ten. Dort die stalinisti-schen Betonköpfe, hierdie Reformer. Alle ha-ben ihre Makarow, Ka-liber 9 mm, durchgela-den. Niemand will sichwehrlos ergeben.

„Das größte Wunderim Jahr nach der Wen-de“, urteilt GeneralLothar Engelhardt, fürzwei Wochen allerletzter Chef der NVAunter Verteidigungsminister Rainer Ep-pelmann und jetzt erfolgreicher Kiesim-porteur, „war, daß es keinen Putsch gab.“

Kein Schuß und kein Putsch. Sterbenfür eine DDR a la Erich Honecker wollteoffenbar niemand. Die alten NVA-Ge-neräle, alle seit vielen Jahrzehnten inUniform, haben in den kritischen Stun-den der Erhöhten Gefechtsbereitschaft –so gut sie das konnten – deeskaliert.Stechbarth, gewöhnt daran, aus demBunker zu führen, ließ sich an der Grenz-übergangsstelle Oberbaumbrücke vor-beifahren und erkannte erleichtert:„Läuft doch alles ganz friedlich.“

Ohnehin waren die verschiedenen„bewaffneten Organe“ der DDR einan-der nicht grün. Militär und Polizei konn-ten die Stasi nicht leiden, scheel beäugtenalle drei die Kampfgruppen.

Daß es mit der „unverbrüchlichenWaffenbrüderschaft“ der ruhmreichenSowjetarmee nicht mehr weit her ist, hat-te Gorbatschow bereits 1985 signalisiert:Kaum an die Macht gekommen, setzteder neue Generalsekretär die alte Bre-schnew-Doktrin – Moskau duldet keineExtratouren, sie werden mit Waffenge-walt korrigiert – außer Kraft. Statt dessengalt nun die Maxime:

„Jede Partei ist für ihre Aufgabenselbst verantwortlich und erfüllt ihre Auf-gaben selbständig. Es dürfen keine Ver-suche geduldet werden, einander nicht zuachten oder sich in innere Angelegenhei-ten des anderen einzumischen.“

Statt Breschnew nun also Frank Sina-tra: „I did it my way“, auch in den Stun-

den der Not. Denn: „Wir haben jetzteine neue Lage.“ Da half es dem be-drängten Krenz wenig, daß er sich inden Novembertagen reuevoll an Gor-batschow heranschmiß: Das „Entschei-dende“, ja „Lebensnotwendige“, be-schwor er den „lieben Michail“, sei es,den „Gleichklang der Herzen mit derKPdSU und der UdSSR wiederherzu-stellen“.

Daraus konnte nichts werden. Nachvier Jahren Glasnost und Perestroika,zwei Jahre vor dem endgültigen Ausfür KPdSU und UdSSR, hörten Krenz

und die Seinen aus dem Osten 1989 nurdissonante Töne. Mit dem Gleichklangim eigenen Ländchen war es auch vorbei.

Obwohl die SED seit 1946 jede Frakti-onsbildung rigoros unterbunden hatte,gab es im Herbst 1989 in der Staatsparteimächtige „Strömungen“: Die Basis der2,3 Millionen Mitglieder wollte mehr-heitlich weder die alte noch eine neue,sondern am liebsten gar keine SEDmehr. Für einen demokratischen „Sozia-lismus mit menschlichem Antlitz“ optier-ten die wenigen Idealisten und die vielenmittleren Kader zuzüglich der Studen-ten, die sich davon das Ende der Grei-senherrschaft und Schwung für ihre eige-nen Karrieren in die Ledersessel erhoff-ten.

Die Führer von Partei und Staat er-koren ihren Jüngsten, den damals52jährigen Krenz, auch deshalb zumErsten Nothelfer, weil sie darauf ver-trauen durften, daß er ihre Privilegiennicht antasten werde: die Villen amSee, den Service aus „Sonderläden“,das gutgedrillte Personal. Noch heutewohnt die ehemalige Generalität derDDR in Villen, deren Zufahrtsstraßenweiterhin rechtsgültig gesperrt sind:„Nur für Anlieger und Versorgungs-Kfz.“

Daß es mit der Versorgung auf Dau-er nicht so weitergehen werde, ahntendie meisten Staatsdiener. Ihre Zahlwar einfach viel zu groß geworden.Außer den hauptberuflich Bewaffnetengab es Legionen von Müßiggängern.Über den Arbeitern, die ironischerwei-se „herrschende Klasse“ genannt wur-den, türmte sich ein ganzes Gebirgevon Faulenzern und Parasiten: Planer,Kontrolleure, Revisoren, Lektoren,Agitatoren; die Funktionäre der diver-sen Parteien und Kulturorganisationen;eine gargantuesk aufgeblähte Akade-mie der Wissenschaften (dort habenAngela Merkel und Wolfgang Thierseihre Kräfte geschont); bezahlte Lyri-ker, Gewerkschaftsfritzen, Weiße-Kra-gen-Täter und steinalte Ehrenjugendli-che aus der FDJ.

„Arbeiter-und-Bauern-Staat ist wirk-lich etwas Schönes“, lautete die zyni-sche DDR-Weisheit, „du darfst nurkein Arbeiter oder Bauer sein.“

Doch, die DDR war wirklich ein Ar-beiter-und-Bauern-Staat. Die Herr-

West-Berlin zu „einerArt Hongkong

oder Singapur“ machen

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schenden stammten nahezu ausnahms-los aus der Arbeiterklasse. Die meistenhatten sogar ein paar Jahre in der„materiellen Produktion“ (so nannteman das) gearbeitet. Bei der erstbestenGelegenheit jedoch ließen sie denDachziegel (Honecker), die Maurerkel-le (Stoph), den Spaten (Streletz), dieSchubkarre (Mielke) und sogar denKuchenteig (Schalck-Golodkowski) fal-len und wurden hauptberuflich Funk-tionär. Wer Hammer und Zirkel derPartei zuliebe aus der Hand gelegt hat-te, mußte nie wieder in die materielleProduktion.

„Stasi in den Tagebau“ – nicht etwa:in den Knast oder an die Laterne –hieß konsequenterweise eine der erstenParolen im Wendeherbst. Richtige Ar-beit galt als die schlimmste Strafe inder DDR – deshalb drückte sich jeder,so gut es ging. „Bei uns wird Hand inHand gearbeitet“, sprach das Proletari-at, „was der eine nicht schafft, läßt derandere liegen.“

Der Genosse Walentin Falin,Deutschlandkenner und seinerzeit Lei-ter der Internationalen Abteilung desZK der KPdSU in Moskau (jetzt wohnter in der Nähe von Hamburg), empfahlAnfang November 1989 seinem Co-Frater von der SED ein Sofortpro-gramm zur Abwendung der ökonomi-schen Katastrophe. Neben einigen na-heliegenden und kuriosen Ideen – zumBeispiel Bonn zahlen lassen, die Schul-den diversifizieren, West-Berlin zu„einer Art Hongkong oder Singapur“machen – riet der Russe dringend zueiner „Verringerung der Bürokratie“und einer „Reduzierung der NVA, der

Polizei- und Sicherheitsorgane und allerähnlichen Institutionen“.

Das sahen die bewaffneten Kräfteauch so. Aber niemand wollte sichselbst, jeder immer nur den anderen ab-rüsten. Die jüngeren Offiziere der Stasifanden die Idee reizvoll, ihre „Firma“offiziell zu liquidieren und mit der Hälf-te der Dunkelmänner anschließend ein„Amt für Nationale Sicherheit“ zu bil-den (amtliche Abkürzung: AfNS, imBürgerrechtler-Jargon: „Nasi“). Nim-mermüde hat die Volkspolizei die Waf-fen der Entlassenen registriert und ab-transportiert, alle in die riesigen Waf-fenkammern der Armee. Dort lagerteKriegsgerät im Wert von gut 100 Milliar-den (West-)Mark.

Mißtrauisch beäugt von den Langhaa-rigen aus den Bürgerkomitees, sammel-ten sich dort nach und nach nun auchnoch die Schützenwaffen der Gesell-

schaft für Sport und Technik, die Panzerder Grenztruppen, Erich Mielkes Artil-lerie, die Pistolen der Zollverwaltungund jedweder Schießprügel der ImesImport-Export GmbH, einer Militaria-Abteilung von Alexander Schalcks Ko-Ko-Reich. Zu Zwischenfällen kam esnicht. Alles ging seinen Gang.

„Zu mir“, erinnert sich der machtbe-wußte Stasi-Kaderchef Günter Möller,„kam der Waffenverantwortliche undbat mich um meine Waffe und die Muni-tion.“ Der Generalleutnant händigte,gegen Quittung, das Schießgerät ausund gab freiwillig noch eine „Geschenk-waffe“ dazu. „Was soll der Hund denMond anbellen?“ fragte er sich. „Wassoll ich noch mit Pistolen?“

Dem Stasi-Minister Mielke nahm Mi-litärstaatsanwalt Frank Michalak gleichdrei Faustfeuerwaffen ab, alles West-Importe: Eine Walther PP, Kaliber 6,35mm; eine Walther PPK, Kaliber 7,65mm; und eine FN-Browning „Baby“,samt mehrerer hundert Patronen. Nachgut 60 Jahren war Mielke das erste Malerfolgreich entwaffnet worden.

Als die Obristen der Stasi zur Jahres-wende 1989/90 begannen, ernsthaft übereinen Putsch nachzudenken, war ihrWaffenarsenal schon bei der NVA ein-gemottet.

Deren Generäle sahen das gern. VierJahrzehnte lang war die Armee von derStasi und ihrer „Verwaltung 2000“(genannt: „Vau Null“) überwacht wor-den, zur Verbitterung der Militärs. „Ichgebe euch noch 24 Stunden“, herrschteim Herbst 1989 der NVA-General En-gelhardt seine „Vau-Nuller“ an, „dannwill ich von euch hier keinen mehr se-hen!“ Ruck, zuck waren seine Kasernenstasifrei.

Nur mit Gänsehaut erinnern sich diePolitiker der Wendezeit an die Ängsteund Gerüchte, die um einen NVA-Putsch waberten. Die Armee, obwohlvon Fahnenflucht, Streikdrohungen undRekruten mit Friedenskerzen in derHand heimgesucht, funktionierte janoch. Daß sie putschen könne, falls siewirklich wolle, hielt MinisterpräsidentLothar de Maiziere monatelang fürmöglich. Sein Staatssekretär GüntherKrause fürchtete sich vor Bürgerkriegund einem NVA-Einsatz, falls „die Rus-sen sich gegen den Währungsumtausch“stellen würden.

DDR-Innenminister Peter-MichaelDiestel, Sohn eines NVA-Offiziers, Bo-dybuilder und stets um den Eindruckbemüht, er fürchte sich vor gar nichts,sieht rückblickend seine „wichtigsteAufgabe“ darin, als Innenminister „fürdiesen bewaffneten Komplex zuständig“gewesen zu sein und diesen seinerzeit„in Ruhe, in Ausgewogenheit, vielleichtsogar in Zuversicht zu wiegen“.

Das ist ihm gut gelungen. „Wenn manihnen von vornherein gesagt hätte, liebe

„Stolz darauf,daß kein einziger Schuß

gefallen ist“

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DDR-Grenzer, West-Berliner Polizisten (am Potsdamer Platz): „Es gab keine Territorialprobleme“

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Freunde, ihr müßt jetzt eure Waffen ab-geben, und mit dem Beitritt werdet ihrdann rentenrechtlich kriminalisiert, wer-det ihr strafverfolgt, werdet ihr auch inder öffentlichen Bewertung deklassiert,dann hätte es den Putsch gegeben.“

So aber hofften die altgedienten Stasi-Männer auf die neue Nasi, der Ost-Grenzwächter und sein Schäferhund aufden westdeutschen Zoll, der NVA-Offi-zier auf die ehrenvolle Übernahme in dieBundeswehr. Doch von den 172 000NVA-Kämpfern sind am Ende ganze3000 Offiziere in die Bundeswehr über-nommen worden, darunter einige braveObristen, aber kein einziger General.

Dabei haben sie doch ihren Beitrag zuFrieden und Wiedervereinigung gelei-stet, sagen sie jetzt, und sind – wie Gene-raloberst Streletz – „stolz darauf, daßkein einziger Schuß gefallen ist“.

Aber: „Die Russen haben uns verra-ten und verkauft“, heißt es. GeneralDeim, ein „politischer Soldat“, der gernHölderlin zitiert und deshalb in der NVAals Querdenker (eigentlich schon alsQuerulant) galt, urteilt: „Wir sind ausge-trickst worden, man hat uns reingelegt.Wir sind in eine historische Falle gelau-fen – das gehört sich nicht unter Solda-ten.“

Denn eines sei doch klar: Die „NVAwar von der Bundeswehr nicht zu besie-gen – jedenfalls nicht in offener Feld-schlacht“.

Die braven Ex-Polizisten der DDRmachen keine großen Worte. Sie haben

sich im Wendejahr völlig bedeckt ge-halten, niemanden verwarnt, verhaftetoder gar verprügelt. Am Ende standensie als einzige Waffenträger da, ein je-der bereit, sich fest auf den Boden dernunmehr freiheitlich-demokratischenGrundordnung zu stellen und diese,für Westgeld und Beamtenstatus, tap-fer zu verteidigen.

Der flotte Wechsel von Standbeinund Schießrichtung liegt im Wesen desdeutschen Staatsdieners. Damit hatteer weder 1945 oder 1918 noch zu Bis-

marcks Zeiten irgendwelche Schwierig-keiten. Otto von Bismarck, der 1871die Deutschen zum vorletzten Mal ineinem Reich vereinigte, wußte, daß dieBeamten in Dienst gehen und imDienst bleiben, um einen „sicherenBroderwerb zu haben, und weil ih-nen das Capital nicht erlaubt, ein an-deres honettes Geschäft anzufan-gen“.

Der Reichskanzler Bismarck hat sei-nen Nachfolgern auch noch andere Le-bensweisheiten hinterlassen, die derHistoriker Helmut Kohl seinen Ge-sprächspartnern im Jahr der Wieder-vereinigung nimmermüde weiterreich-te: „Man soll nur immer darauf ach-

ten, ob man den Herrgott durch dieWeltgeschichte schreiten sieht“, zitiertKohl Bismarcks Erkenntnisse am Vor-abend der Reise in den Kaukasus ge-genüber Kreml-Herrscher Gorba-tschow. Der Pfälzer verrät seinemGastgeber auch den zweiten Teil desZitats, die Handlungsanweisung:„Dann zuspringen und sich an seinesMantels Zipfel klammern.“

Das findet Atheist Gorbatschow einegute Idee, jetzt sei eine „einmalige Ge-legenheit“. Gorbatschow hat den dik-ken Deutschen – der ihn 1986 leicht-fertig mit dem NS-PropagandaministerJoseph Goebbels verglich, im kaltenWinter 1989/90 aber Pfälzer Würste anGorbatschows private Kreml-Kücheschicken ließ – nach dem Mauerfall of-fenbar schätzengelernt: Kohl erwiessich als ein Meister des richtigen Ti-mings, als großzügiger Spender vielerMilliarden und als geschickter Plaude-rer am Telefon. Doch, das kann er.Die überlieferten Wortprotokolle deruntergegangenen SED-Führung bewei-sen es.

Im nächsten Heft

Sind zwei Deutschlands besser als ei-nes? – Das Volk der DDR drückt aufsTempo – Kabinett Modrow: Die Stasiwagt einen letzten Versuch – Der kurzeFrühling der Anarchie – Wo Geld voran-geht, sind alle Wege offen

„Den Herrgottdurch die Weltgeschichte

schreiten sehen“

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Gorbatschow (r.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Ich finde, ich verdiene ein Lob“

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„Schön, ich gab die DDR weg“Michail Gorbatschow über seine Rolle bei der deutschen Vereinigung

SPIEGEL: Michail Sergejewitsch, deramerikanische Präsident Ronald Rea-gan hielt am Brandenburger Tor in Ber-lin am 12. Juni 1987 eine Rede undsprach Sie dabei direkt an. Er sagte: Mr.Gorbatschow, reißen Sie diese Mauerab.Wie fanden Sie damals diese Idee?Gorbatschow: Mir schien das ein typi-scher Propagandatrick zu sein, von de-nen es auch auf unserer Seite genug ge-geben hatte. Manchmal wird daraus Po-litik. Als ich in Reykjavik 1986 Reaganvorgeschlagen habe: Lassen Sie uns alleAtomwaffen um 50 Prozent verringern,und die Mittelstreckenraketen in Euro-pa liquidieren wir zu 100 Prozent, dawaren Reagan und seine ganze Delega-tion irritiert. Und dann wurde doch et-was daraus. Wir fingen an, uns von denideologischen Stereotypen zu entfernenund die Spaltung der Welt zu überwin-den.SPIEGEL: Beim Besuch des Bundesprä-sidenten von Weizsäcker 1987 in Mos-kau haben Sie über die beiden deut-

* Mit Redakteuren Stefan Aust, Jörg R. Mettke(3. v. l.), Dolmetscher Andrej Batrak in der Mos-kauer Gorbatschow-Stiftung.

schen Staaten mit ihren unterschiedli-chen Gesellschaftssystemen gesagt: Wasin hundert Jahren sein wird, solle dieGeschichte entscheiden. Wie lang warenfür Sie damals hundert Jahre?Gorbatschow: Wir alle, sowohl die deut-sche als auch unsere Seite, hatten ver-standen, welch schweres Problem dasgeteilte Deutschland darstellte . . .SPIEGEL: . . . vor allem für die Deut-schen.

Gorbatschow: Auch für die Sowjetuni-on. Realitäten waren Realitäten, aberwir wußten, daß eine solche Situationnicht für immer andauern kann, daßkein Problem für ewig entschieden ist.Dennoch konnte damals niemand eineeindeutige Aussage machen, daß es die-se und jene Etappe geben würde, erstdies geschehe und auf der nächsten Stu-fe jenes, und in der dritten Etappe wür-de dann die deutsche Frage entschiedenwerden.SPIEGEL: Da ließ sich kein Plan ma-chen?Gorbatschow: So wie bei vielen anderenFragen. Wer hätte denn gedacht, daß esdie Sowjetunion nicht mehr geben wür-de? Hat irgend jemand überhaupt dieseMöglichkeit in Betracht gezogen? Nie-mand. Weder im Westen noch imOsten.SPIEGEL: Vor über zehn Jahren, bei Ih-rem Antritt als Generalsekretär des ZKder KPdSU, waren Sie sich mit EduardSchewardnadse einig, das ganze Systemsei morsch.Gorbatschow: Aber wir wollten doch dieSowjetunion erhalten, deshalb warenwir angetreten. Ich finde, Gorbatschowhatte seinerzeit den folgenden Gedan-

Der letzte Präsidentder Sowjetunion ist in Deutschlandheute viel populärer als in seinerrussischen Heimat – weil er denDeutschen die Vereinigung ihresLandes ermöglichte: Die DDR-De-monstranten riefen 1989 nach sei-nem Beistand, er leistete dem zer-brechenden SED-Regime keine Hilfeund regelte mit Kanzler Helmut Kohldie Erbauseinandersetzung. AlsPensionär leitet Michail Gorba-tschow, 64, eine politische Stiftungin Moskau – eine Rückkehr in dieaktive Politik schließt er nicht aus.

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ken recht gut formuliert, dafür verdienter ein Lob: Die Geschichte hat uns diesedeutsche Frage hinterlassen, sie hat sieerzeugt, die Geschichte wird auch dar-über weiter disponieren, vielleicht inhundert, vielleicht auch in zehn Jahren.SPIEGEL: Gelobt sei Gorbatschow. Zurdeutschen Frage haben Sie uns damalsgesagt: Alles fließt. Was aber ließ sichtun?Gorbatschow: Es mußte eine neueStruktur der Beziehungen entstehen, ei-ne Atmosphäre des Vertrauens, wirmußten erkennen, welche riesigen Mög-lichkeiten zur Zusammenarbeit es gibt.Wir haben die Beschränkung der Atom-waffen und konventionellen Waffensy-steme erreicht und damit Europa vonder Konfrontation befreit, wir haben dieBlöcke grundlegend verändert. Wäredas alles nicht passiert, wäre auch ausDeutschland nichts geworden. Wir sindeinen bestimmten Weg gegangen, unddie Geschichte kam in Gang.SPIEGEL: Haben Sie erwartet, das werdein Deutschland zu Ihren Lebzeiten oderin Ihren Regierungszeiten geschehen?Gorbatschow: Es war klar, daß eine An-näherung stattfinden mußte, aber inwelcher Form, das war noch unklar.Entweder ein Währungsverbund, eineWirtschaftsunion oder eine Konfödera-tion oder sonst etwas, aber niemandrechnete damit, daß es sofort ein ein-heitlicher Staat werden würde. Nieman-dem wäre eine solche Idee in den Kopfgekommen! Auch Ihnen, den Deut-schen selbst, nicht. Auch in anderenwestlichen Hauptstädten hätte das nie-mand erwartet. Niemand hat das ge-glaubt.SPIEGEL: Wollten Sie denn ein vereinig-tes Deutschland?Gorbatschow: Wir wollten, daß allessynchron abläuft, der europäische Eini-gungsprozeß gleichzeitig mit dem deut-schen, damit das eine dem anderen nichtschaden könnte. Wir waren sehr vor-sichtig, den deutschen Knoten zu ent-wirren, und wir haben ihn ja gelöst, undzwar sozusagen mit der Filigranarbeit ei-nes Juweliers.SPIEGEL: Wo lagen die Hindernisse?Gorbatschow: Hier stellten meineLandsleute mir bestimmte Forderun-gen, dort in Deutschland wurde vonHelmut Kohl etwas verlangt. Nuancenmußten diskutiert werden, aber im Prin-zip war diese Frage entschieden. Des-halb habe ich zu Weizsäcker gesagt: DieGeschichte wird ihren Lauf nehmen.Und sie hat uns ja auch in eine neue Si-tuation geführt und uns das abgefordert,was eine lebendige Politik erheischt.SPIEGEL: Dazu mußten Sie die sowjeti-sche Gesellschaft verändern.Gorbatschow: Die überkommene Formunserer Gesellschaft hatte sich er-schöpft. Es zeigte sich, daß sie nicht inder Lage war, auf schnelle Veränderun-

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gen im Zeitalter neuer Technologienund der Elektronik zu reagieren. DieKultur, die Bildung unseres Volkeskonnte sich in diesem System nicht ver-wirklichen. Darum war das – historischgesehen – zu Ende.Wir haben dann erwogen, eine Verbin-dung mit der Demokratie zu versuchenund dabei doch die Machtkonzentrati-on in unseren Händen zu nutzen – sowie es die Chinesen machen.SPIEGEL: Mit Gewalt gegen die Mas-sen?Gorbatschow: Eben nicht, deshalb sag-ten wir: mehr Demokratie, mehr Sozia-lismus, dazu noch Glasnost, um dieMenschen aus der Apathie herauszu-führen und ihr Selbstverständnis alsBürger zu wecken. Das haben wir er-reicht.SPIEGEL: Gegen mäch-tigen Widerstand . . .Gorbatschow: Fast diegesamte Nomenklatu-ra geriet in Aufruhr.Da kam ich zu demSchluß, daß wir ei-ne politische Reformdurchführen müßten.Ich habe gespürt, daßdie einzige Macht, dieuns, die Reformer,unterstützen würde,das Volk ist. Deshalbdachte ich, daß es mirgelingen könnte, durchfreie Wahlen die Men-schen in den politi-schen Prozeß einzube-ziehen und dadurchder Nomenklatura un-möglich zu machen,das zu tun, was sie mitChruschtschows und Kossygins Reformgemacht hatte, nämlich sie zu Grabe zutragen.So sind wir 1988 zur Parteikonferenz ge-gangen. Das haben wir öffentlich ge-macht. Es war ein Alptraum, eine ganzeWoche lang: ein Saal mit 5000 Men-schen, der wurde gerüttelt und geschüt-telt wie ein Schiff in einem mächtigenSturm.SPIEGEL: Und alle Sowjetbürger schau-ten im Fernsehen zu.Gorbatschow: Es wurde sehr schwierigfür die Reformgegner, denn die einfa-chen Parteimitglieder standen auf seitender Reformer. Aber wir Reformer undselbst die Radikaldemokraten sind davonausgegangen, das Ziel der Umgestaltun-gen müsse ein Sozialismus mit demokra-tischem Antlitz sein.SPIEGEL: Oder eine soziale Demokratie?Gorbatschow: All die Theorien, die libe-ralen, sozialistischen, sogar konservati-ven Ideen, auch christliche – sie schließeneinander nicht aus, sondern ergänzensich. Diese Werte sind insgesamt notwen-dig als eine Art Baumaterial, damit wir

aus ihnen ein gutes Haus bauen, in demwir in Zukunft leben können.SPIEGEL: So ungefähr sagen es die Sozial-demokraten.Gorbatschow: Ohne deren Einfluß kannman nicht auskommen, aus Erfahrungenmuß man Lehren ziehen, ebenso wieauch aus der sowjetischen Erfahrung.Was ist Kapitalismus? Im heutigenDeutschland haben wir es immerhin miteiner sozial orientierten Wirtschaft zutun.SPIEGEL: Erwarteten Sie, die gesamteNachkriegsordnung, die Teilung derWelt in zwei große Machtblöcke, könntevorbei sein?Gorbatschow: Unbedingt. Zu diesemSchluß bin ich sogar schon früher gekom-men, sonst wäre nicht im Januar 1986 derPlan geboren worden, etappenweise zum

Frieden, zu einer gewaltfreien Welt zugelangen. Das war der Grundstein. Unddas hat es uns ermöglicht, auf der Partei-konferenz 1988 kundzugeben, daß wir,trotz aller Widersprüchlichkeiten in derheutigen Welt, verpflichtet sind, sie alseine Welt anzusehen, die von gegenseiti-gen Abhängigkeiten geprägt und in ei-nem gewissen Grad unteilbar ist. Wir ste-hen vor erdumfassenden ökologischenBürden, vor einer Lösung des Problemsder globalen Sicherheit, der atomarenGefahr für alle, und einer Internationali-sierung der Wirtschaft.SPIEGEL: Rußland sollte sich von derAutarkie verabschieden und dem Welt-markt zuwenden?Gorbatschow: Obwohl wir transnationaleFirmen als imperialistische Methodenzur Unterjochung anderer Völker verun-glimpft haben, stellt sich heraus, daß diesdie Mechanismen der neuen Ökonomiesind.SPIEGEL: In dieser Sicht waren Militär-blöcke in der Tat hinderlich.Gorbatschow: Wir sagten uns von der so-genannten Breschnew-Doktrin los, der

„Ich sagte den Bruderparteien:Dann viel Glück, das ist eure Sache“

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Genossen Gorbatschow, Honecker 1986: „Margot war richtig sauer“

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eingeschränkten Souveränität, übrigensnoch an demselben Tag, an dem ich zumGeneralsekretär gewählt wurde. Ich trafmich aus Anlaß der Beisetzungsfeierlich-keiten für meinen Vorgänger KonstantinTschernenko mit den Führungskräftender sozialistischen Länder und sagte ih-nen in Gegenwart von Premier Tichonowund Außenminister Gromyko, daß wirfortan in unseren Beziehungen gleichbe-rechtigt seien.Jede Partei solle für ihre Politik selbstverantwortlich sein. Wir unterstreichendas Prinzip der Unabhängigkeit jedesStaates, jeder Partei, jedes Volkes.SPIEGEL: Wie reagierten die Chefs derBruderparteien?Gorbatschow: Ich glaube, sie haben dasdamals so gesehen, als hätte ich etwasganz Banales wiederholt, was auch schonandere immerzu heruntergeleiert haben.Später verstanden sie schon, daß wir unsnicht einmischen würden. Die Perestroi-ka gewann an Kraft, wir waren schon sehrweit gekommen, was Demokratie, Glas-nost betraf – freie Wahlen wurden durch-geführt, die Pressefreiheit war durchge-setzt. Aber wir haben das niemandemaufgezwungen. Wir sagten: Wir wollendas bei uns so haben, aber ihr müßt selbstentscheiden, ob ihr das auch so wollt.SPIEGEL: Wie gefiel das den Konservati-ven – zum Beispiel Bulgariens Partei- undStaatschef Schiwkow oder RumäniensCeausescu?Gorbatschow: Schiwkow fand, daß ihrApril-Plenum – in Anspielung auf unserPlenum, die entscheidende, alles wen-dende ZK-Sitzung – bereits im Jahre 1956stattgefunden habe. Und Honecker sag-te: Wir machen bereits seit 17 Jahren Pe-restroika. Das hätten sie bereits hintersich. Und was die Demokratie betrifft, soversicherte Ceausescu: Bei uns gibt es dieallerdirekteste Demokratie. Wir versam-meln Abgesandte der Arbeiterklasse –das haben sie ja wirklich gemacht, so alsDekorum –, das alles hätten sie schon.SPIEGEL: Wie reagierten Sie?

Gorbatschow: Nun, dann viel Glück, dasist eure Sache. Und glaubt uns, wirzwingen niemandem etwas auf.SPIEGEL: Aber es gab doch noch Über-einkünfte, die Abstimmung von Mei-nungen und Vorschlägen.Gorbatschow: In der Verteidigungspoli-tik. Wir haben uns immer auf Konsensgestützt, in allem. Schon als ich michzum erstenmal mit Reagan traf, im No-vember 1985 in Genf, habe ich noch aufdem Rückweg in Prag haltgemacht, wosich alle führenden Genossen versam-melt hatten, und wir haben sie über dieErgebnisse dieses Treffens informiert.Das war eine neue Art partnerschaftli-cher Beziehungen. So lief es auch, als esum die deutsche Frage ging.SPIEGEL: War Ihnen bewußt, daß es mitder DDR vorbei ist, sobald die Mauerfällt?Gorbatschow: Der zentrale Punkt unse-rer Politik des Neuen Denkens war die

Entscheidungsfreiheit für jedes Volk.Daß die Deutschen das nutzen wür-den, war mir vollkommen klar. Undauch, daß sie es tun in Zusammen-arbeit und Absprache mit den Staa-ten, deren Verpflichtungen hinsichtlichDeutschlands aus den Entscheidungenresultierten, die nach Ende des Zwei-ten Weltkriegs getroffen worden wa-ren.Es schien mir ganz klar zu sein, daß esso abläuft. Aber ich bin damals – wiealle anderen, wohl auch Helmut Kohl– davon ausgegangen, das würde einlängerer Prozeß sein.SPIEGEL: Demnach hat von den ver-antwortlichen Politikern niemand dieseArt Vereinigung gewollt oder gar be-trieben?Gorbatschow: In der Geschichte gibt esoftmals Zufälligkeiten. Ich meinenicht, daß Napoleon irgendwo vorbei-ging und ihm ein Dachziegel auf denKopf fiel, sondern eine Fügung im phi-losophischen Sinn: Es waren doch dieMenschen selbst, welche die Mauereingerissen haben – ob man sie nundazu angeregt hat oder ob sie ganzspontan dazu gekommen sind . . .SPIEGEL: Welche Rolle spielte dabeider Zufall?Gorbatschow: Da hat der Berliner Be-zirkssekretär Schabowski gesagt, dieMöglichkeiten zum freien Grenzüber-tritt würden ausgeweitet. Die Deut-schen, als disziplinierte Menschen, ha-ben das so aufgefaßt, daß die Frageentschieden und die Grenze eben offensei. Und das war’s dann, entlang derganzen Grenze begann die Bewegungdes Volkes.SPIEGEL: Entscheidend war dabei, daßdie sowjetischen Streitkräfte in denKasernen blieben.Gorbatschow: Es wäre Abenteurertumgewesen, wenn es jemandem in denKopf gekommen wäre, den militäri-schen Mechanismus in Gang zu setzen.Das hätte unübersehbare Folgen ge-habt. Man mußte die Politik der Situa-tion anpassen. Ich glaube, wir habenadäquat reagiert.SPIEGEL: Sie waren also von der Öff-nung der Mauer auch überrascht?Gorbatschow: Gewiß – daß es auf dieseWeise und an diesem Tag geschah.Wir waren ja bereits im Fahrwasser ei-nes geplanten graduellen Prozesses, ei-ner Annäherung. Wir waren dochschon dabei, eine angemessene Formfür die gegenseitigen Beziehungen zwi-schen den beiden Deutschlands zu fin-den.Daß aber die Menschen so reagierenund die Mauer im Endeffekt überflüs-sig machen würden, das war mir schonvorher im Oktober klar, als ich denFackelzug zum 40jährigen Bestehender DDR gesehen habe. Da habe ichdas bereits gesagt, vor speziell ausge-

„Der militärischeMechanismus wäre

Abenteurertum gewesen“

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Demonstranten in Ost-Berlin*: „Gorbi, hilf uns“

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wählten Vertretern aller Kreise derDDR, auf die man meinte, sich verlas-sen zu können.SPIEGEL: Sie hatten in Ost-Berlin An-fang Oktober 1989 schon das Gefühl,dies könnte das letzte Jubiläum derDDR sein?Gorbatschow: Ich bin ein Mensch, dersich immer gut unter Kontrolle und imZaum halten kann, ruhig und ausgegli-chen. Wir standen beieinander auf derTribüne, Honecker, ich und der polni-sche Präsident Jaruzelski. Hinter unsstand Mieczyslaw Rakowski, der ErsteSekretär der polnischen Bruderpartei.Mieczyslaw spricht gut russisch, unddeutsch versteht er auch und spricht es.Er beugte sich zu mir: Michail Sergeje-witsch, sagte er, verstehen Sie, was dieda schreien? Ich sagte: Ich verstehe es.Und er: Das ist doch das Ende!SPIEGEL: Er selbst berichtet, nach denRufen „Gorbi, hilf uns“ habe er zu Ih-nen gesagt: Es sieht so aus, als ob dieDeutschen von der Sowjetunion erwar-teten, sie solle die Deutschen ein zwei-tes Mal befreien.Gorbatschow: Das Ende der DDR wartatsächlich schon abzusehen. Aber die-ser Prozeß hätte sich auch anders ent-wickeln können. Wenn sich die SEDden Perestroika-Reformen angeschlos-sen, wenn eine Wandlung der Politikwie auch der Politiker selbst stattgefun-den hätte, ein Generationenwechsel,und wenn die neuen Politiker eine neueArt wechselseitiger Beziehung zwischenden beiden Deutschlands vorgeschlagenhätten – dann hätte das auch anders ab-laufen können. Aber was soll ich jetzt

mit Ihnen darüber spekulieren? Die Ge-schichte liebt den Konjunktiv nicht.SPIEGEL: Aber an Kreuzwegen mußman die Möglichkeiten kennen, auch imnachhinein.Gorbatschow: Honecker hat übrigensnach der Oktober-Demonstration demEgon Krenz in meiner Gegenwart ge-sagt: So eine Demonstration hast du or-ganisiert, das lasse ich dir nicht durchge-hen. Und Margot war richtig sauer, ja,sie hat Honecker angemeckert, das seieine Verschwörung.SPIEGEL: Er schloß die Augen vor derMöglichkeit einer Volkserhebung?Gorbatschow: Die Genossen hattenschon verstanden, daß sie versuchenmußten, etwas auf demokratische Weisezu entscheiden. Wie es weitergeht, hatWilli Stoph große Sorgen bereitet, einernsthafter Mann. Und dann Hans Mo-drow, dem man unter der einen Regie-rung Vorwürfe gemacht hat und danachauch unter der anderen.SPIEGEL: Haben Sie noch Kontakte zudeutschen Kommunisten?Gorbatschow: Manchmal bekomme ichBriefe von Modrow, hin und wieder ha-be ich mich mit Krenz getroffen, auchmit Gysi und mit Lothar de Maiziere.Na ja, alle anderen stecken ja bei Ihnenin Untersuchungshaft.SPIEGEL: Nicht mehr, aber Egon Krenz,unter dessen Verantwortung die Mauergeöffnet wurde, steht wegen der Schüssean der Mauer unter Anklage.Gorbatschow: Deutschland sollte weisesein, demokratisch, es muß nach vornschauen und vorwärts gehen und sichnicht mit Hexenjagden aufhalten.

SPIEGEL: Die Mauerwar das konstituieren-de Element der DDR,aber nur solange dieSowjetunion bereitwar, diese Mauer zugarantieren. War esnicht so?Gorbatschow: Nein.Die Mauer war einSymbol und hatte da-mit für sich allein einegroße Bedeutung: Sieverkörperte die Spal-tung nicht nur Euro-pas, sondern der gan-zen Welt, die Konfron-tation und alles des-sen, was daraus resul-tierte.Entscheidend war, daßwir zu diesem Zeit-punkt bereits eine gro-ße Wegstrecke mit derPerestroika in derUdSSR zurückgelegthatten, gigantischeVeränderungen inner-

* Am 4. November 1989.

halb der Sowjetunion selbst abgelaufenwaren, so daß die Gesellschaft bereitwar, solche Entwicklungen zu begreifenund zu akzeptieren.SPIEGEL: Obwohl sich auch heute nochStimmen hören lassen, Sie hätten dieDDR weggegeben . . .Gorbatschow: . . . dazu noch Polen undUngarn. Na schön, ich hab’ sie wegge-

geben. Aber an wen denn? Polen an diePolen, Ungarn an die Ungarn, die DDRan die Deutschen. Wem hätte es dennsonst gehören, wem hätte ich es dennsonst geben sollen?SPIEGEL: Sahen Sie darin Ihren histori-schen Auftrag?Gorbatschow: Mir scheint, daß es diePolitiker dieser Generation, denen dieLösung der globalen Probleme und imZusammenhang damit auch der deut-schen Frage oblag, verdient haben, daßman ihnen sagt, sie hätten eine histori-sche Tat vollbracht – sowohl für ihr eige-nes Volk als auch für Europa und dieganze Welt.SPIEGEL: Michail Sergejewitsch, Sie ha-ben eine historische Tat vollbracht.Gorbatschow: Jetzt ist es wichtig, dasrichtig zu nutzen . . .SPIEGEL: Was hat Sie bewogen, im Fe-bruar 1990 Bundeskanzler Kohl bei sei-nem Besuch in Moskau die Wiederver-einigung zu schenken – war es nur dieschlichte Einsicht, daß der Zug schonabgefahren ist?Gorbatschow: Uns war durchaus be-wußt, daß sich viele Leute wünschten,die Sowjetunion hätte in jenem Augen-blick eine Position eingenommen, diediesen ganzen Prozeß gebremst hätte.Das wäre nicht sehr weitsichtig gewe-sen, obwohl das in vielen Hauptstädtenerwartet und gewünscht wurde. Ein

„Eine historische Tat fürdas eigene Volk, für

Europa, die ganze Welt“

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Ignorieren dieser neuen Situation, dadie deutsche Nation in Bewegung gera-ten war, seitens Moskau und Londonund Washington und Paris, das hätte,denke ich, den gesamten Prozeßder Bewegung zu einer neuen Welt er-schwert.SPIEGEL: Über das deutsch-sowjetischeVerhältnis hinaus?Gorbatschow: Nicht nur in Europa, ins-gesamt auf dem Weg zu einer neuen,globalen Friedensordnung. Dann wärees für die Sowjetunion und Deutschlandschwer geworden, auf fruchtbare Bezie-hungen in der Zukunft zuzählen. Verdachtsmomen-te wären geblieben. DieRealitäten der Politik undder psychologische Zu-stand in dieser Zeit erfor-derten, daß wir sozusageneine Grenze überschrittenund uns in ein neues Zeital-ter begaben.SPIEGEL: Kam die deut-sche Vereinigung nicht so-gar zu spät? Die Menschenwaren einander entfrem-det, die wirtschaftlichenVerhältnisse betoniert, sieaufzubrechen, ein immerteurer werdendes Unter-fangen?Gorbatschow: Die Ent-scheidung war nun erst her-angereift, aber das war je-denfalls klargeworden.Schon zehn Tage vor demTreffen mit Kanzler Kohl,wenn mich mein Gedächt-nis nicht täuscht, saßen wirin engem Kreis zusammen,die leitenden Mitgliederdes Politbüros, das heißt:Ich, der Premier, der Leiter des Komi-tees für Staatssicherheit, der Verteidi-gungsminister, der Innenminister, einTeil meiner Assistenten – da herrschteeinhellig die Meinung, man müsse da-von ausgehen, daß die VereinigungDeutschlands ein objektiv herangereif-ter Prozeß sei.SPIEGEL: Es gab unter Ihren politischenBeratern auch die Auffassung, die in-nerdeutsche Grenze müsse sofort undnotfalls auch mit Gewalt wieder ge-schlossen werden.Gorbatschow: Aber sicher. Einer vondenen sitzt jetzt da bei Ihnen in Ham-burg.SPIEGEL: Wenn man nach der Empfeh-lung des ZK-Abteilungsleiters WalentinFalin Gewalt angewendet hätte, würdees die DDR heute noch geben?Gorbatschow: Das ist eine realitätsferneFrage. Selbst wenn wir scharf reagierthätten, so wäre das eine politische Ant-wort gewesen, sicher nicht verbundenmit Gewaltanwendung und einem Be-fehl an die Streitkräfte, die Grenzen zu

schließen. Wir hätten fordern können,unverzüglich ein Treffen anzuberaumen,entweder zu direkten Verhandlungen mitden Deutschen oder auch mit den vierMächten. Zu dieser Zeit war ja bereits je-ne Brigade von Politikern dran, die müh-sam schon eine neue Politik durchgesetzthatte, welche das Ende des Kalten Kriegsbedeutete.SPIEGEL: Der amerikanische PräsidentBush erklärte, die USA sähen die Sowjet-union nicht mehr als ihren Gegner an.Gorbatschow: Was für eine Erklärung!Vom Imperium des Bösen waren wir so-

zusagen zum Partner avanciert. Das al-les schloß bereits die Möglichkeit desvon Ihnen genannten Konjunktivs aus.Das wäre bereits undurchführbar gewe-sen, und es ist auch niemandem in denKopf gekommen.SPIEGEL: Wenn wir das Verdienst eineseinzelnen Mannes feststellen möchten,müssen wir die Alternative schon malerwägen: Was wäre wenn – zum Bei-spiel noch Leonid Breschnew an derMacht gewesen wäre, Andropow, Usti-now?Gorbatschow: Und Falin, unser Bot-schafter in Bonn? Zumindest wäre dasalles nicht so gekommen. Aber das istdoch Küchengeschwätz. Was vom Bot-schafter Falin geleistet worden war, vonder Regierung Brandt – vielleicht mußman schon bei Adenauer anfangen,denn die Ostpolitik hat ja nicht einer al-lein ausgebrütet: Zu ihrer Zeit hattenmein Freund Willy Brandt und HelmutSchmidt den größten Beitrag geleistet.Ohne all das hätte es wohl kaum denMoskauer Vertrag von 1970 gegeben,

die Abkommen mit Polen und anderenLändern. Die Beziehungen der beidenDeutschlands untereinander hätten an-ders ausgesehen, ausgeblieben wäre derHelsinki-Prozeß, der durch die Chartavollendet wurde.SPIEGEL: Die Wiedervereinigung warein Resultat der Entspannungspolitik?Gorbatschow: Man muß schon gerechtsein. Die christdemokratische Regie-rung von Kohl griff die Ostpolitik auf,sie mußte ja die Stimmung in der Nati-on berücksichtigen. Die Deutschen ha-ben aus der Geschichte gelernt. Dasdeutsche Volk kann heute stolz sein,daß es so eine Gesellschaft, so einenStaat aufgebaut hat.SPIEGEL: Ihre Gegner in Rußland nen-nen Sie verächtlich den besten Deut-schen. Haben Sie die Wiedervereini-gung im Interesse der Deutschen zuge-lassen oder im Interesse der Sowjetuni-on?Gorbatschow: Sowohl das eine als auchdas andere. Für uns wäre sie unan-nehmbar gewesen, wenn man nur vonden Interessen der Deutschen ausge-gangen wäre. Und ich sage sogar: Siewäre dann auch für die Deutschen nichtannehmbar gewesen. Wenn sie im Er-gebnis der Wiedervereinigung ein ihnenfeindlich gesinntes Land bekommenhätten, und dann noch so eines wie dieSowjetunion/Rußland, dann hätte mandie Wiedervereinigung lieber nicht soschnell betreiben sollen. Das hätte denInteressen der Deutschen widerspro-chen.Für die deutsche Nation wurden ihre ei-genen Hoffnungen wahr, die entschei-dende Rolle übten dabei die Sowjetuni-on und ihre Führung aus. Und das warnicht nur für Sie und für uns zugleichvon Vorteil, sondern auch für Europaund für die ganze Welt. Von diesemStandpunkt aus reagiere ich gelassenauf alle möglichen Anschuldigungenoder Vorwürfe.SPIEGEL: Schmerzen Sie die Verdächti-gungen?Gorbatschow: Sie wissen ja, wir sindjetzt ein demokratisches Land. Bislangzwar noch mit einer unlenkbaren De-mokratie, in der alles möglich ist, aberdas macht nichts. Das muß man durch-stehen. Ich bin nun einmal davon über-zeugt, die Sowjetunion und Rußlandhätten verloren, wenn sie Deutschlandzum Feind erhalten hätten.SPIEGEL: Es gibt Leute, die behaup-ten, Sie hätten die DDR einfach ver-kauft, und der Preis sei zu gering gewe-sen.Gorbatschow: Das ist alles Unsinn. Manhat mir berichtet, mein guter Bekann-ter Horst Teltschik habe gesagt, sie sei-en damals mit der Bereitschaft herge-kommen, Gorbatschow die Summe vonangeblich hundert Milliarden Mark an-zubieten. Davon weiß ich nichts. Wenn

„Vom Imperium des Bösenzum Partner avanciert“

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Einheitsstifter Gorbatschow, Kohl*: „Wem hätte ich die DDR denn geben sollen?“

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sie das vorschlagen wollten, dann hättensie es tun sollen – es schmückt sie nicht,so einen Vorschlag dann für sich zu be-halten.SPIEGEL: Das war eine alte Adenauer-Idee.Gorbatschow: Lassen Sie uns mal ernst-haft darüber sprechen. Vor Ihnen sitztja schließlich nicht der Kaufmann Gor-batschow, sondern der Politiker. Ichglaube, eine solche Entscheidung, wiewir sie festgeschrieben haben – die Wie-dervereinigung und unser neues Ver-hältnis –, hat durch die Zusammenarbeitden Fluß von Milliarden Mark nachRußland ermöglicht.SPIEGEL: Es reicht bald heran an hun-dert Milliarden.Gorbatschow: Die Deutschen geben je-des Jahr für die Modernisierung der öst-lichen Bundesländer hundert Milliardenaus . . .SPIEGEL: Viel mehr.Gorbatschow: . . . und wieviel wärewohl notwendig für eine Modernisie-rung Rußlands? Wir haben hier zehn-mal mehr Einwohner als die ehemaligeDDR. Das also löst das Problem auchnicht, es ist ein primitiver, kleinkrämeri-scher Ansatz. Wichtig ist es, die Wirt-schaft Rußlands mit der Deutschlandszu verknüpfen: Rohstoffe, Produktions-kapazitäten, Kultur, Technologien,Wissenschaft – hier gibt es kolossale Re-serven. In Billionenhöhe. Darum gehtes.SPIEGEL: Wir glauben, eher eine Ent-fremdung zu beobachten.Gorbatschow: Manche denken bei Ih-nen, man brauche Rußland nicht insKalkül zu ziehen. Das ist ein gefährli-cher Irrtum. Das kann uns zu einer neu-en Spaltung führen, zu neuen Verdäch-tigungen, neuem Mißtrauen. Wer sich

* Im Juli 1990 im Kaukasus, mit Gorbatschow-Ehefrau Raissa.

mit solchen Spielchen befaßt und im Trü-ben fischt, dessen Zeit ist abgelaufen.Der muß gehen. Man darf nie glauben, eswürde jemandem gelingen, in dieser Weltnoch auf sich allein gestellt zu überleben.SPIEGEL: Sie plädieren für einen grundle-genden Wandel in den Beziehungen zwi-schen Deutschland und Rußland.Gorbatschow: In seiner neuen Rolle kannDeutschland noch mehr eine Kraft sein,die der Sicherung alles Positiven, dasdurch unsere vereinten Bemühungen er-reicht worden ist, dienen kann. Ich den-ke, Deutschland muß ganz entschiedenvon der alten Definition seiner National-interessen Abschied nehmen.In diesen beiden Sätzen trägt jedes Wortbesondere Bedeutung – die Deutschensollten sich Gedanken darüber machen,wie ich das gemeint habe.SPIEGEL: Sie sprechen von der deutschenWestbindung, einer andauernden Tei-lung Europas?Gorbatschow: Ich spreche als Freund, alsein Mensch, der teilhatte an diesen groß-artigen Vorgängen. Es ist meine tiefsteÜberzeugung: Wenn wir an einen stabi-len Frieden denken, an ein neues Euro-pa, so kann das nicht verwirklicht werden

ohne stabile, langfristige Beziehungenzwischen Rußland und Deutschland.SPIEGEL: Erwarten Sie Dankbarkeit fürdie Vereinigung Deutschlands?Gorbatschow: Ich rate, langfristig zudenken und Lehren zu ziehen. Was dieVergangenheit betrifft, so haben wirdiese schwierige Phase in unseren Be-ziehungen überwunden und kehren zu-rück zu den älteren, historischen Pfa-den – denn wir haben ja reiche Erfah-rungen miteinander, eine lange Traditi-on der Zusammenarbeit, und Gott mö-ge verhüten, daß jetzt irgend jemanddamit anfängt, um der Vorteile des Ta-ges willen als Konjunkturritter aufzu-treten und dabei die Perspektive zu ver-lieren.SPIEGEL: Sagen Sie offen, was IhnenSorgen bereitet.Gorbatschow: Daß die Chancen, die wirnach Überwindung des Kalten Kriegsgewonnen haben, nicht richtig genutztwerden. Wir sind bereits in viele neueDinge hineingezogen worden, aber hal-ten an den alten Ansätzen fest. Dasverstehe ich unter Konjunkturdenken.SPIEGEL: Michail Sergejewitsch, wirdanken Ihnen für dieses Gespräch.

„Vor Ihnen sitzt nicht derKaufmann, sondern derPolitiker Gorbatschow“

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Autor Hein„Fürchterliche Destabilisierung“

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Autor Heym„Freibeuterstaat Bundesrepublik“

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Autor Grass„Auschwitz mitdenken“

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KULTUR

236 DER SPIEGEL 40/1995

P o l e m i k

Die Unfähigkeit zu feiernSPIEGEL-Autor Henryk M. Broder über die Schwierigkeiten Intellektueller mit der Wiedervereinigung

ierundsiebzig Millionen Deutscheleben friedlich miteinander verei-Vnigt zusammen mit sieben Millio-

nen Ausländern in einem Staat, der sei-nen Einwohnern individuelle Freiheit,kollektiven Wohlstand und soziale Si-cherheit in einem Maß garantiert, wiedies in einem deutschen Gemeinwesennie zuvor der Fall war. Nirgendwo ha-ben die Arbeitnehmer mehr Urlaubsta-ge, geben die Verbraucher mehr Geldfür Reisen, Körperpflege und Luxusgü-ter aus. Keine Nation leistet sich mehrBühnen und Orchester, gibt mehr Geldfür Kunst und Kultur aus.

Und kein Volk hat in diesem Jahrhun-dert mehr Glück gehabt. Nach zwei ver-lorenen Kriegen ist Deutschland die na-tionale Einheit plötzlich und unerwartetin den Schoß gefallen, die Bonner Re-publik hat sich zur führenden europäi-schen Macht entwickelt, die ihre Nach-barn mit Qualitätsprodukten und gutenRatschlägen versorgt.

So hätten die Deutschen allen Grund,mit sich und dem Schicksal zufrieden zusein. Sie könnten sich entspannt zurück-lehnen, den Otto-Katalog auswendiglernen und darauf warten, daß der La-denschluß aufgehoben und die 30-Stun-den-Woche eingeführt wird. Wenn dabloß nicht „die Vergangenheit“ wäre,die „bewältigt“ werden muß. Denn auchdamit ist Deutschland im Übermaß ge-segnet. Kein anderes Land hat gleichzwei Vergangenheiten, die nicht verge-hen wollen.

Solange die Mauer stand, war sie fürbeide Seiten nützlich. Sie garantierte

das physische Überleben der DDR, undder alten Bundesrepublik diente sie alsProjektionsfläche für alle unerfülltenSehnsüchte: nach Einheit, Frieden inFreiheit und Selbstbestimmung.

Doch als der Ernstfall eintrat, setztenach einer kurzen Phase hysterischerBegeisterung eine schwere Depressionein, wie sie Menschen ereilt, die sichlange auf ein wildes Abenteuer gefreuthaben, nur um hinterher festzustellen,daß Sex mit Fremden nicht immer soschön ist, wie man ihn sich vorgestellthat. Im Ost-Berliner Kabarett „Die Di-stel“ wurde die Lage der Nation im Jah-re 5. n. d. M. so dargestellt: „Die sich imNovember 1989 unbekannterweise inden Armen lagen, liegen sich jetzt be-kannterweise in den Haaren.“

Es scheint allemal einfacher, eineDiktatur zu etablieren, als sie wiederloszuwerden. Kaum war das DritteReich dahin, gab es die ersten postnazi-stischen Zirkel, die sich um eine „objek-tive Sichtweise“ des untergegangenenSystems bemühten. 1989 meldeten sichdie Gesundbeter schon im Laufe derKrise zu Wort. Der Schriftsteller Chri-stoph Hein, der in der DDR zu denjeni-gen gezählt wurde, die auf eigene Ver-antwortung denken, erklärte im Okto-ber 1989 in einem SPIEGEL-Gespräch,daß es bei den oppositionellen Grup-pen, bei der Intelligenz und beim Volkeinen Konsens gäbe, „daß man den So-zialismus in der DDR verändern will“ zueinem, „der wirklich den Namen ver-dient“.

Zu dieser Zeit versuchte die Regie-rung der DDR zu retten, was nicht mehr

zu retten war. Während die Volkspoli-zei Demonstranten niederknüppelte, re-dete die Partei plötzlich von einem„Dialog“, den sie mit dem Volk führenwollte. In dieser Situation wurde Heinvom SPIEGEL gefragt, was er sich wün-schen würde, wenn er drei Wünsche freihätte. Ein gewöhnlicher Bürger derDDR hätte wahrscheinlich geantwortet:Bananen, Orangen und Schokolade, diediesen Namen verdient. Ein Intellektu-eller hätte gesagt: Freie Wahlen, freiePresse, freies Reisen.

Doch Christoph Hein wünschte sichetwas ganz anderes. Erstens: Die Bun-desrepublik möge damit aufhören, Aka-demiker aus der DDR über die inner-deutsche Grenze zu locken. Zweitens:„Man hätte die Zeit nach dem Mauer-bau dazu nutzen müssen, eine Gesell-schaft aufzubauen, die langsam dieMauer überflüssig macht. Das ist nichtgeschehen. Jetzt ist die Mauer am Zer-bröckeln . . . da droht eine fürchterlicheDestabilisierung des Staates.“

Das Bedauern, das Christoph Heinüber die Mauer äußerte, galt nicht denOpfern, die sie gefordert hatte, sonderndem Umstand, daß sie als Mittel derVolkserziehung nicht optimal genutztwurde. Schließlich verriet Hein demSPIEGEL seinen dritten Wunsch: „Dasnächste Interview mit mir, das derSPIEGEL druckt, möge ein Nachdruck– oder auch Vorabdruck – eines ND -In-terviews sein.“

Zur gleichen Zeit, da Christoph Heinnoch die Stabilität der DDR am Herzenlag und er sich nichts sehnlicher wünsch-te, als endlich vom Zentralorgan der

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November-Demonstration in Ost-Berlin 1989: „Hellwach träumen“

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Autorin Wolf„Bleiben Sie bei uns“

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herrschenden Partei interviewt zu wer-den, dachte sein westdeutscher KollegeGünter Grass bereits darüber nach, wasalles schiefgegangen war. Nur eine Wo-che nach dem Fall der Mauer erklärteGrass, Regierung und Volk der DDRhätten die korrekte Ordnung der Dingenicht eingehalten: „Die Reihenfolge derÄnderungen war falsch. Es hätte die in-nere Demokratisierung weiter vorange-trieben, die Öffnung der Grenzen ange-kündigt werden müssen. Die Kommu-nalwahl hätte wiederholt werden müs-sen.“

Wenn der Begriff „intellektueller Ko-lonialismus“ irgendwo angebracht war,dann hier. Während die Ossis alles ver-kehrt machten, sagte ihnen Onkel Gün-ter, wie der Prozeß der inneren Demo-kratisierung hätte vorangetrieben wer-den müssen.

Daß eine Wiederholung der Kommu-nalwahlen so sinnvoll gewesen wäre wieein Nachfüllen von Bremsflüssigkeit,nachdem ein Auto in voller Fahrt ausder Kurve geflogen ist, kam Grass dabeinicht in den Sinn, hatte er doch in vielen

Jahren jene politische Praxis erworben,die den Anfängern im Osten fehlte. Essei, sagte er, „mit keinem Wort bewie-sen, daß der Niedergang dieses Wirt-schaftssystems, das sich zu Unrecht so-zialistisch genannt hat, auch das Experi-ment eines demokratischen Sozialismusin Deutschland beendet hat“.

Auch ostdeutsche Intellektuelle hät-ten gerne weiter in ihrem volkseigenenLabor experimentiert. „Freunde, Mit-bürger!“ rief Stefan Heym am 4. No-vember auf dem Alexanderplatz aus, alswäre Danton auferstanden, „heute habtihr euch aus eigenem freien Willen ver-sammelt, für Freiheit und Demokratieund für einen Sozialismus, der des Na-mens wert ist.“

Christa Wolf sprach von einem Wech-sel, der „die sozialistische Gesellschaftvom Kopf auf die Füße“ stellen würde,und rief die Menschen dazu auf, „mithellwacher Vernunft“ einen Traum zuträumen: „Stell dir vor, es ist Sozialis-mus, und keiner geht weg!“ ChristophHein, der immer noch nicht vom ND in-terviewt worden war, hatte bereits die

Ärmel aufgekrempelt: „Die Strukturendieser Gesellschaft müssen verändertwerden, wenn sie demokratisch und so-zialistisch werden soll . . . Das wird füruns alle viel Arbeit geben, auch vielKleinarbeit. Schlimmer als Stricken.“

Am 9. November, dem Tag, an demdie Mauer aufgemacht wurde, verlasChrista Wolf in der Sendung „AktuelleKamera“ des DDR-Fernsehens einenAppell, den führende Intellektuelle desLandes unterzeichnet hatten, offenbaraus begründeter Sorge, ganz allein mitihren Träumen zurückzubleiben: „Wirbitten Sie, bleiben Sie doch in Ihrer Hei-mat, bleiben Sie bei uns . . . Helfen Sieuns, eine wahrhaft demokratische Ge-sellschaft zu gestalten, die auch die Visi-on eines demokratischen Sozialismus be-wahrt.“

Zwei Wochen später, am 26. Novem-ber, erschien in vielen Zeitungen derDDR, auch im ND , der Aufruf „Für un-ser Land“, den diesmal nicht nur diewortführenden Intellektuellen, sondernauch Egon Krenz und Hans Modrow un-terschrieben hatten. In dem Aufruf hießes, es drohe ein „Ausverkauf unserermateriellen und moralischen Werte“,den es zu verhindern gelte: „Noch habenwir die Chance, in gleichberechtigterNachbarschaft zu allen Staaten Europaseine sozialistische Alternative zur Bun-desrepublik zu entwickeln.“

Plötzlich hatten es alle sehr eilig. Alshätte die DDR nicht 40 Jahre Zeit ge-habt, eine sozialistische Alternative zuentwickeln, mußte nun, eine Minutenach zwölf, der Ausverkauf der mate-riellen und moralischen Werte gestopptwerden, eine Forderung, die von derleicht irrigen Annahme ausging, dieDDR sei im Herbst 1989 noch nichtbankrott gewesen.

Der Weiterbestand der DDR als einer„Alternative zu dem Freibeuterstaat mit

dem harmlosen Namen Bundesrepu-blik“ (Stefan Heym) würde außerdemauch die Sicherheit in Europa garantie-ren, denn, so fragte Heym rhetorischan: „Was für eine Stabilität würde dasdenn wohl sein mit einem neuen Groß-deutschland, dieses beherrscht von

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Autor Jens„Deutschland beging Selbstmord“

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Vordenker Eppler„Berge von Leichen, Berge von Akten“

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Daimler-Messerschmitt-Bölkow-Blohmund der Deutschen Bank?“

Auch Heiner Müller warnte: „Ohnedie DDR als basisdemokratische Alter-native zu der von der Deutschen Bankunterhaltenen Demokratie der BRDwird Europa eine Filiale der USA sein.Wir sollten keine Anstrengung . . .scheuen für das Überleben unserer Uto-pie von einer Gesellschaft, die den wirk-lichen Bedürfnissen ihrer Bevölkerunggerecht wird.“

Die tollkühne Überschätzung derDDR als Garant der europäischen Sta-bilität ging einher mit einer gigantischenÜberbewertung der eigenen Rolle alsFerment der revolutionären Verände-rung. Im Dezember 1989 schrieb Ste-phan Hermlin: „Wir haben die Staats-macht müde gemacht.“ Und ChristophHein, der eben noch für den Sozialismusstricken wollte, traute sich „zum ersten-mal, nach mehr als 40 Jahren“, ein Wortauszusprechen, das er bis dahin „nichtaussprechen konnte: Dieses Land hierwird mein Land“.

So versammelte sich Ende des Jahres1989 ein Nekrophilen-Kränzchen amGrab der DDR, um von der großartigen

Zukunft der Verblichenen zu schwär-men. Man könnte auch sagen: EineRunde von Ärzten, Heilpraktikern undGesundbetern nahm sich des toten Pa-tienten noch einmal an. „Wir haben dichzwar die ganze Zeit falsch behandelt“,sagten sie, „wir haben die falsche Dia-gnose gestellt, die falsche Therapie ver-ordnet und die falschen Mittel verschrie-ben, doch das alles kann nicht bedeuten,daß wir die Behandlung als gescheitertansehen müssen. Wir versuchen es ebennoch einmal. Diesmal sind wir schlau-er.“

Käme so etwas in der Schwarzwaldkli-nik vor, würde Professor Brinkmann dasganze Personal auf der Stelle feuern.Doch im politischen Alltag der Bundes-republik bekommt noch jeder Quacksal-ber die Chance, eine neue Tunke anzu-rühren. Nachdem Günter Grass mit sei-nem Vorschlag, die Ossis sollten ersteinmal die Kommunalwahlen wiederho-len, bevor sie die Grenzen öffnen, kein

Gehör gefunden hatte, hielt er im Fe-bruar 1990 die „Kurze Rede eines vater-landslosen Gesellen“, in der er vor denGefahren eines deutschen Einheitsstaa-tes warnte, denn der war „die früh ge-schaffene Voraussetzung für Ausch-witz“ und: „Wer gegenwärtig überDeutschland nachdenkt und Antwortenauf die deutsche Frage sucht, mußAuschwitz mitdenken.“

Das tat auch Heiner Müller, als er Be-denken gegenüber dem Instrument derfreien Wahlen äußerte und seine Hal-tung mit einem historischen Vergleichbegründete: „Im Gegensatz zu Leninkonnte Hitler seinen Staatsstreich aufeinen Wahlsieg gründen, insofern istauch Auschwitz ein Resultat von freienWahlen, und ich bezweifle, ob es in derBRD unter dem Diktat der Industriefreie Wahlen je gegeben hat.“

Und noch im Dezember 1990, nach-dem die Wiedervereinigung gegen alleWarnungen vollzogen worden war, ver-fügte Walter Jens mit jener ungebroche-nen Autorität, wie man sie in Deutsch-land nur bei Professoren und Parkplatz-wächtern findet, eine Wiedervereini-gung Deutschlands wäre „unmöglich,weil es das alte Deutschland nicht mehrgibt, das hat in Auschwitz Selbstmord

begangen“. Was insofern interessantwar, als bis dahin galt, daß in Auschwitzvor allem Juden und Polen vom Lebenzum Tode befördert wurden.

Man konnte in jenen Tagen, die in-zwischen Geschichte sind, vieles bei denLiteraten finden, nur eines nicht: dieeinfache menschliche Freude darüber,daß ein totalitäres System, das seinenBürgern die elementaren Rechte ver-weigerte, endlich zusammengekrachtwar. Mit Ausnahme von Martin Walserschüttelten sich so gut wie alle Großden-ker vor Entsetzen bei der Vorstellung,die DDR könnte von der politischenLandkarte verschwinden; und als es

Die DDR erhalten alsMahnmal und

Vorsorge-Maßnahme

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Autor Hermlin„Die Staatsmacht müde gemacht“

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Autor Müller„Für das Überleben unserer Utopie“

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dann tatsächlich soweit war, zogen sieihre letzte Trumpfkarte aus dem Ärmel:Auschwitz. Wegen Auschwitz sollte dieDDR bestehenbleiben, als Mahnmalund als Vorsorge-Maßnahme, damitsich die Geschichte nicht wiederhole.

So kamen deutsche Literaten aus Ostund West auf dem kleinsten gemeinsa-men Nenner ihrer nationalen Identitätzusammen. Doch wo Auschwitz alsMaßstab genommen wird, da gibt es kei-ne Maßstäbe mehr, da kann jede Grau-samkeit unterhalb dieser Latte als harm-los weggebucht werden. Niemand, der

seine Sinne zusammen hat, wird dieDDR mit dem Dritten Reich gleichset-zen. Aber auf ein paar systemimmanen-te Ähnlichkeiten und Unterschiede wirdman hinweisen dürfen. War das DritteReich die perfekte Barbarei, ein durch-organisiertes System des Terrors nachinnen und außen, so war die SED-Repu-blik eine Art National-Sozialismus mitmenschlichem Antlitz, eine Diktatur derKleinbürger und Politiker-Darsteller,die sich untereinander darauf geeinigthatten, die Fiktion von der Vision einerUtopie unter dem Titel „Arbeiter-und-Bauern-Staat im real existierenden So-zialismus“ aufzuführen.

Inzwischen buhlen alle demokrati-schen Parteien um die Gunst der ehema-ligen SED-Mitglieder. „Es muß deutlichwerden, daß Loyalität auch in einemUnrechtssystem nicht grundsätzlich alsverwerflich angesehen werden kann“,sagt der Justizminister von Branden-burg, Hans Otto Bräutigam, womit erauf dem Umweg über die SED auch dieKader der NSDAP rehabilitiert.

Und Erhard Eppler, moralisches Ge-wissen der SPD und bis 1991 Vorsitzen-der der Grundwertekommission derPartei, macht dabei auf den entschei-denden Unterschied zwischen der Ge-stapo und der Stasi aufmerksam: „DasNS-Reich hat Berge von Leichen hinter-lassen. Die SED hat Berge von Aktenhinterlassen, unappetitliche oft, abereben Akten.“

Darauf muß man im Zustand schwä-bisch-protestantischer Vollnüchternheiterst mal kommen. Den nationalsoziali-

stischen Leichenbergen gingen erst malAktenberge voraus, auch das DritteReich war ein fleißiger Aktenprodu-zent, ohne diese Akten wäre die Aufklä-rung der Nazi-Untaten unmöglich gewe-sen. Gewiß stellen sechs Millionen toteJuden eine andere Quantität des Hor-rors dar als die 600 Toten, die es alleinan Mauer und Grenze gegeben hat.Nur: Müssen es gleich siebenstelligeZahlen sein, damit von einem „Leichen-berg“ gesprochen werden kann, sind 600Tote nur ein Idiotenhügel, von dem einMoralist der SPD-Grundwertekommis-sion auf dem Hosenboden runter-rutscht, ohne die Miene zu verziehen?

Dieselben kritischen Geister, die sichdagegen wehren, die Verbrechen Hit-lers mit denen Stalins zu verrechnen, be-treiben dasselbe Spiel zum historischenHausgebrauch und in umgekehrterRichtung: Das Dritte Reich war ein sogigantischer Mordapparat, daß dieDDR sich dagegen wie eine illegaleSchnapsbrennerei ausnimmt, sozusageneine Ordnungswidrigkeit gemessen andem vorausgegangenen Kapitalverbre-chen.

Was ist passiert mit den kritischenGeistern im Lande, die jeden Aufruf ge-gen politische Willkür in Südamerikaunterschreiben, ein Unrechtssystem vorder eigenen Haustür aber beharrlich re-lativieren, bis es als ein kleiner Betriebs-unfall dasteht?

Sie leiden am „Caisson“-Syndrom,auch Taucherkrankheit genannt. Bei zuschnellem Aufstieg aus großer Tiefestellt sich ein Schock ein, der letal endenkann. Etwas Ähnliches scheint mit vie-len tonangebenden Literaten passiert zusein: Die Geschichte ist wie eine Flut-welle über sie hinweggerollt, und nungrollen sie der Geschichte hinterher. Erhabe sich am 4. November 1989 über-legt, vertraute Stefan Heym im Jahre1993 einem Interviewer an, ob er nicht

vom Alexanderplatz aus die amtierendeDDR-Regierung für abgesetzt erklärensollte. Doch „die Verantwortung wärezu schwer gewesen“.

Rückblickend bedauerte er, daß am4. November 1989 eine Chance ver-

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DDR-Bürger Honecker, Kant*: Nähe zur Macht

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246 DER SPIEGEL 40/1995

schenkt wurde. „Die Revolution wurdevon Leuten ohne Konzeption gemacht,von Dilettanten.“ Vor den Revolutionä-ren hatten sich schon die Vertreter derstaatlichen Gewalt als ignorante Versa-ger erwiesen: „Der Staat hat das Gegen-teil von dem getan, was ich empfohlenhabe, und dadurch hat er sich selbst zer-stört.“

Die Mischung aus historischem Grö-ßenwahn und politischer Impotenz dis-qualifiziert Heym und Co. nicht als som-nambule Schwätzer, sondern verschafftihnen einen Nimbus von desperater In-tellektualität. Mag Heiner Müller ganzim Ernst erklären, „daß die Terminolo-gie der Nazis häufig jüdisch“, der Natio-nalsozialismus „eigentlich die größte hi-storische Leistung der deutschen Arbei-

terklasse“ war und „das Problem dieserZivilisation“ darin liegt, „daß sie keineAlternative zu Auschwitz hat“, niemandwagt es, an seiner Zurechnungsfähigkeitzu zweifeln oder seine skurrilen Exkurseals das zu bezeichnen, was sie sind: in-tellektuelles Bungee-Jumping.

Deutsche Literaten verzichten lieberzeitweise auf französischen Champa-gner, als daß sie eine Gelegenheit ver-säumen, sich vollmundig zu blamieren.„Mir muß niemand Nachhilfe in Demo-kratie geben“, sagt Günter Grass undbeweist in einem Aufwasch, daß er auchvon totalitären Systemen etwas versteht.„Im Vergleich mit Diktaturen, die es ge-geben hat und die es immer noch gibt,ist die DDR eine kommode Diktatur ge-wesen.“ Und weil die DDR, trotz Mau-er, Stasi und Plattenbau, so „kommod“war, könne man „nicht einfach 16 Mil-lionen Menschen . . .per Federstrich anden Westen anschlie-ßen und ihr Leben wieihre Industrie fürSchrott erklären“.

Was aber ist mitden DDR-Bürgern,die den Staat, in demsie lebten, nicht als„kommod“ empfan-den, die auch gernemal nach Kalkutta stattzum Kap Arkona ge-fahren wären oder der„kommoden Diktatur“am liebsten für immerden Rücken gekehrthätten? Darüber sagtGrass kein Wort, dafür

* 1987 beim Schriftsteller-kongreß in Ost-Berlin.

erfahren wir, daß er Deutschland „alszunehmend anstrengend“, also garnicht kommod, empfindet und „Aus-landsaufenthalte“ benötigt, um zu erle-ben, „daß das, was ich geschrieben ha-be, andernorts Respekt erfährt“, was inDeutschland „in der Regel“ nicht derFall ist.

Respekt also, die Droge der autoritä-ren Seele. Das Verlangen nach Respekttreibt Grass nicht nur ab und zu insAusland, es läßt ihn, wie auch andereIntellektuelle, um ein System trauern,das seine Dichter anerkannte, indem essie entweder mit Preisen schmückteoder mit Publikationsverbot belegte.Was bedeuten schon die Schikanen, de-nen die einfachen Bürger täglich in ei-ner „kommoden Diktatur“ ausgesetztsind, gemessen an dem Respekt, dendie Repräsentanten von Staat und Par-tei ihren intellektuellen Helfern zollen?Welcher westdeutsche Dichter war sonahe an der Machtzentrale wie Her-mann Kant in der DDR? Wer durfteeine so staatstragende Rolle einnehmenwie Johannes R. Becher als Kulturmi-nister im Arbeiter-und-Bauern-Staat?Und mag die DDR in vielem unvoll-kommen gewesen sein – was MarcelReich-Ranicki mit Grass angestellt hat,wäre „drüben“ nicht möglich gewesen.

Melancholie und Resignation ma-chen sich breit. Das Leben in der un-kommoden Demokratie ist öd und fad.Keine Utopie verzaubert den Alltag.Er habe, sagt Heiner Müller, den Nie-dergang von drei Systemen, Weimar,Nazideutschland, DDR, erlebt und fin-de es schade, daß es ihm „vermutlichzeitlich nicht vergönnt sein wird, auchdas vierte sterben zu sehen“. Das magden großen Dramatiker schmerzen,spricht aber doch für das System, dasnach Weimar, Nazideutschland undDDR auf deutschem Boden entstandenist. �

Skurrile Exkurseund intellektuellesBungee-Jumping