vor dem mauerfall: zeitungsberichte von damals

78
HESSISCHE/NIEDERSACHSISCHE ALLGEMEINE HESSISCHE KASSEL 1 P 3713 A ALLGEMEINE UNABHÄNGIG Preis 1,10 DM KASSELER ZEITUNG Nr. 235 • Montag, 9.10. 1989 NICHT PARTEIGEBUNDEN Ruf (05 61) 203-0 Anzeigen 203-3 Karajan-Nachfolge Claudio Abbado gewählt Berlin (dpa). Die Berliner Phil- harmoniker haben Claudio Ab- bado zu ihrem neuen Chefdiri- genten und künstlerischen Lei- ter gewählt. Der 56jährige Ita- liener tritt damit die Nachfolge des im Juli gestorbenen Herbert von Karajan an. Er ist Musikdi- rektor an der Wiener Staatsoper und Generalmusikdirektor in Wien. Frühere Aufgaben waren die musikalische Leitung an der Mailänder Scala und des Lon- don Symphonie Orchestra. Siehe Kulturteil Eishockey Köln verliert Der sechsmalige Meister Kölner EC erlitt in der Eishok- key-Bundesliga mit 5:6 gegen Eintracht Frankfurt seine er- ste Niederlage. Die Tabellenführung er- oberte sich Schwen- ningen mit einem ungewöhnlichen 1:0 gegen Freiburg zu- rück. EC Kassel 8:3-Erfolg in Wesel Mit einem uner- wartet souveränen 8:3(2:0,1:1, 5:2)-Er- folg beim EHV We- sel behauptete der EC Kassel seine Po- sition in der Spit- zengruppe der Eis- hockey-Oberliga. Garant für wenig Gegentreffer war einmal mehr Tor- wart Sepp Kontny. Handball Essener Krise Meister TUSEM Essen steckt in der Handball-Bundesli- ga in einer Krise und kam gegen die SG Wallau-Massen- heim nur zum 23:23-Remis. Über- raschungs-Tabel- lenführer ist der VfL Fredenbeck vor dem Aufsteiger TV Nie- derwürzbach! Rote Karten: Völler, Schuster Fußball-National- spieler Rudi Völler wurde im italieni- schen Spitzenspiel AS Rom - SSC Nea,- pel (1:1) vom Platz gestellt. Ebenfalls „Rot" sah Ex-Natio- nalspieler Bernd Schuster beim spa- nischen Schlager FC Barcelona - Real Madrid (3:1). Golf Doch Langer Der Anhausener Golf-Profi Bernhard Langer gewann das 3. „German Ma- sters" in Stuttgart- Mönsheim. Der 32 Jahre alte Mitorga- nisator schob sich mit einer 68er-Run- de am Schlußtag noch nach vorne und benötigte insge- samt 276 Schläge. WM 1990 Chance für DDR Die Fußball-Na- tionalelf der DDR wahrte ihre Chance auf die Teilnahme an der WM 1990 in Italien. Sie gewann in Karl-Marx-Stadt gegen die UdSSR 2:1, muß aber im letzten Spiel in Österreich ge- winnen, um sich die Tickets zu sichern. Ruf nach Reformen / Hunderte in Haft Größte Proteste in DDR seit 1953 Ostberlin (dpa/AP). Am 40. Jahrestag ihres Bestehens hat die DDR die größten Demonstrationen für demokratische Reformen seit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 erlebt. In Ostberlin und anderen Städten zogen bis in die Nachtstun- den zum Sonntag mehrere zehntausend Menschen durch die Straßen und riefen „Freiheit, Freiheit". Gestern abend ist es erneut zu Auseinandersetzungen gekommen. ' Die amtliche DDR-Nachrich- tenagentur ADN bezeichnete die Proteste in einer knappen Meldung am Sonntag als „ver- suchte Störung" der Volksfeste durch „Randalierer". Diese hät- ten sich „im Zusammenspiel mit westlichen Medien zusammen- gerottet". Viele Pfarrer mahnten Ein Korrespondentenbericht von den Zusammenstößen steht auf „Themen des Tages". gestern in ihren Predigten zur Besonnenheit und zu weiterem Verzicht auf Gewalt. In und um die Gethsemane-Kirche in Ost- berlin versammelten sich ge- stern rund 3000 junge Leute, um sich für Freilassung der Festge- nommenen einzusetzen. Starke Sicherheitskräfte waren aufge- boten; es kam zu Festnahmen. Die Sicherheitskräfte der DI5R waren gegen die Demon- stranten am Samstag nachmittag und in der Nacht zum Sonntag- zum Teil, äußerst brutal vorge- gangen. Über die Zahl der Ver- letzten und der Festgenomme- nen gab es keine genauen Infor- mationen. Nach Einschätzung von Kirchenkreisen wurden ins- gesamt über 1000 Menschen festgenommen. Ein Teil von ih- nen kam gestern wieder frei, während die „Rädelsführer", so eine ADN-Meldung, vor Ge- richt gestellt werden sollen. Korrespondenten und Foto- grafen westlicher Medien wur- den zum Teil gewaltsam an der Berichterstattung gehindert. Verschiedentlich zerstörten Angehörige des Staatssicher- heitsdienstes (Stasi) Filmkame- ras und Fotoapparate. Die Proteste in Ostberlin hat- ten sich am Rande der offiziellen Feier zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung aus einer Kundgebung von nur wenigen hundert Menschen entwickelt. Bald waren es nach Schätzung von Beobachtern über 5000, die zum Sitz der DDR-Volkskam- mer zogen. Ein Großaufgebot der Polizei kesselte die Menge ein und löste die Kundgebung gewaltsam auf. Verletzte waren bei Demon- strationen von mehreren tau- send Menschen auch in Dresden und Leipzig zu beklagen. Fortsetzung nächste Seite Siehe auch „Zum Tage" EINER ÜBERMACHT von uniformierten Beamten sah sich diese junge Ostberlinerin gegenüber, die am Samstagabend mit Tausenden von Gleichgesinnten für mehr Freiheiten in der DDR eintraten. Während die Staatsorgane teilweise brutal vorgingen, riefen die Demonstranten immer wieder: „Keine Gewalt". (dpa-Funkbild) Ostberlin / Für Demokratisierung von Staat und Gesellschaft Sozialdemokraten gründen Partei Flüchtlinge / Seit Freitag Warschau / DDR-Bürger 1846 kamen über Ungarn München (dpa). Der Strom von Flüchtlingen aus der DDR über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik ist am Wochen- ende wieder angeschwollen. Das Bundesgrenzschutzkom- mando Süd in München zählte von Freitag bis zum frühen Sonntag morgen 1846 Übersied- ler. Waren es am Samstag noch 662, so stieg ihre Zahl am Sonn- tag auf. 1184 an. Drei weitere Busse —_ . Von den DDR-Flüchtlingen aus Ungarn passierten am Wo- chenende 899 im eigenen Perso- nenwagen die Grenze. 573 DDR-Bürger kamen in elf Bus- sen und 374 mit der Eisenbahn. Für die Nacht zum Montag wur- den drei weitere Busse mit 150 Personen erwartet. Wieder 400 in Bonner Mission Warschau (dpa). Ungebro- chen ist der Zulauf von Flücht- lingen aus der DDR, die bei der bundesdeutschen Botschaft in Warschau Zuflucht suchen: Seit der letzten Ausreiseaktion am Donnerstag abend haben sich bis Sonntag insgesamt wieder etwa 400 ausreisewillige DDR- Bürger in der Bonner Mission eingefunden. Auch die Neuan- kömmlinge wurden in Ferienan- lagen außerhalb von Warschau untergebracht. Sie werden vom polnischen und Deutschen Ro- ten Kreuz sowie der katholi- schen Caritas betreut. Immer größer wird der Anteil derjenigen, die auf abenteuerli- chen Wegen durch die Neiße oder die Oder schwimmen. Eini- ge Flüchtlinge berichteten, an seichten Stellen des Neiße-Fluß- bettes, die man durchwaten könne, lägen Bretter mit Nägeln. Ostberlin/Bonn (AP). Erstmals seit ihrer Zwangsvereinigung mit den Kommunisten zur SED haben Sozialdemokraten in der DDR wieder eine eigene Partei gegründet. Wie am Sonntag in Ostberlin mitgeteilt wurde, schlössen sich am Samstag 43 Gründungsmitglieder zu einer Sozialdemokratische Partei (SDP) zusammen. Als program- matisches Ziel nennt die Grün- dungsurkunde eine „ökologisch orientierte soziale Demokratie". In Bonn begrüßte die SPD diesen Schritt und erklärte sich mit der neuen Partei solidarisch. Auf einer Versammlung in Schwante in der Nähe von Ber- lin beschlossen die Mitglieder zugleich ein Parteistatut, be- stellten einen 15köpfigen Vor- stand und ernannten den Ost- berliner Historiker Ibrahim Böhme zum Sekretär. In der Ur- kunde heißt es, angesichts „der außen- und innenpolitischen Si- tuation der DDR halten es die Ein Hintergrundbericht auf »The- men des Tages" erläutert, warum die SPD 1946 mit der KPD zwangs- vereinigt wurde. Mitglieder der SDP jetzt für er- forderlich, sich für eine konse- quente Demokratisierung von Staat und Gesellschaft einzuset- zen". Die Sozialdemokraten in der DDR suchten die Zusam- menarbeit „mit allen demokrati- schen Initiativen, Gruppen und Personen in unserem Lande". Der Versammlung vorausge- gangen war am 26. August ein Aufruf zur Parteigründung. Die Bildung fester Parteistrukturen begründeten die Sozialdemo- kraten mit der Absicht, sich „mit inhaltlichen und strukturellen Verbindlichkeiten gegen die zu- nehmende DeStabilisierung un- seres Landes zu verhalten und in dieser Weise an einer demo- kratischen Entwicklung mitzu- wirken". Nach Angaben von Mitgliedern will die SDP in der DDR zunächst keine offizielle Zulassung anstreben. Deutlichere Worte nach Rückkehr in Moskau Gorbatschow setzt DDR unter Reformdruck Berlin/Moskau (dpa). Der so- wjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow hat die DDR öf- fentlich unter Reformdruck ge- setzt. Unmittelbar nach Rück- kehr von den Jubiläumsfeiern zum 40jährigen Bestehen der DDR sagte er am Samstag abend in Moskau, er habe die DDR- Führung unter Staats- und Par- teichef Honecker auf die Not- wendigkeit von Veränderungen hingewiesen. Damit schlug Gorbatschow ei- nen wesentlich deutlicheren Ton an als auch in seinem Gruß- wort beim offiziellen Festakt zum Jubiläum am Freitag in Ost- berlin. Im sowjetischen Fernse- hen unterstrich er, die tiefgrei- fenden Veränderungen des So- zialismus hätten im Zentrum seiner Gespräche in Ostberlin gestanden. Dort fragten sich die Leute jetzt, „was sich ändern soll: Nicht nur in der Wirtschaft und in der sozialen Sphäre, son- dern auch bei den politischen Institutionen." Gorbatschow weiter: „Es gibt kein Land, daß sich nicht so oder so änderte." Während seines Aufenthaltes in der DDR, habe er den Ein- druck gewonnen, daß die „Bür- ger der DDR, die Veteranen, die mittleren Jahrgänge, und vor al- lem die Jugendlichen feurige Be- fürworter der Perestroika in un- serem Lande sind", sagte der Kremlchef.„Sie sind das nicht aber nur aus Solidarität. Auch hier (in der DDR), wo man jetzt die Bilanz von 40 Jahren zieht, fragen sich die Leute, wie es weitergehen soll." Honecker hatte dagegen in seiner Rede allen Reformen eine Absage erteilt. Jom-Kippur-FeSt Zum Tage Die Uhr läuft INlichts dokumentiert die Lage in der DDR deutlicher, als ihre Jubel- feier. Da wurde mit preußischem Stechschritt und aufgepflanzten Bajonetten bei der Militärparade Glanz und Gloria demonstriert. Und nur Stunden später prügelte die Staatsmacht auf ihre Bürger ein, die lautstark nach 40 Jahren Diktatur jene „demokratische Re- publik" einforderten, die bislang nur dem Namen nach in der „sozia- listischen Alternative" zur Bundes- republik existiert. Ihre Hoffnung,,beim Kremlchef Unterstützung zu finden, erfüllte sich immerhin so weit, wie sich das Gorbatschow mit Rücksicht auf die Machthaber des Staates an der Westgrenze des Ostblocks leisten konnte. Ihm gelang der schwierige diplomatische Balanceakt, der DDR-Führung den gebotenen Re- spekt zu erweisen, gleichwohl deutlich daran zu erinnern, daß nie- mand sich ungestraft notwendigen politischen wie gesellschaftlichen Veränderungen verschließt. Die Ereignisse des 7. Oktober 1989 haben gezeigt, daß Ho- necker nicht mehr viel Zeit bleibt, daß er schon mit dem Rücken an der Wand steht. Und das eben macht die Situation in der DDR so brisant. Markige Worte, unzeitge- mäße Wiederyereinigungsdebat- ten und wohlfeile Ratschläge aus der Bundesrepublik sind da wenig hilfreich. Im Gegenteil. Mit Zurück- haltung ist den Menschen in der DDR jetzt am besten gedient. Wolfgang Rossbach Zugang nach Israel versperrt Jerusalem/Nikosia (AP). Die israelischen Streitkräfte haben am Sonntag anläßlich des jüdi- schen Jom-Kippur-Festes den Gazastreifen und das Westjord- anland abgeriegelt und damit den Bewohnern der besetzten Gebiete den Zugang nach Israel versperrt. Nach Angaben eines Vertrauten des PLO-Vorsitzen- den Arafat kam es am Sonntag in den besetzten Gebieten zu schweren Zwischenfällen. Der Gewährsmann sprach von mehr als 100 getöteten und verwun- deten Palästinensern. DDR / Gelder Rühe erneuert Hilfsangebot Bonn (dpa). CDU-Generalse- kretär Rühe hat das Angebot der Bonner Regierungskoalition an die SED-Führung konkreti- siert, bei Reformen in der DDR wirtschaftliche Unterstützung zu leisten. In einem Zeitungsin- terview stellte Rühe „projektge-. bundene Hilfe" beim Ausbau der DDR-Konsumgüterindustrie und bei der gemeinsamen Ent- wicklung und Produktion von Umweltschutztechnologien in Aussicht. Die Ostberliner Füh- rung müsse sich aber generell zu Reformen bekennen. Lotto- und Totozahlen Lotto: 2, 4, 8, 23, 40, 49; Zusatzzahl: 11. Toto: 1, 1, 0, 0, 2, 1, 0, 0, 1, 1, 1. Auswahlwette: 3, 14, 26, 29, 37, 38; Zusatzspiel: 23. Rennquintett: Rennen A: 4, 1, 6. Rennen B: 21, 22, 28. Spie) 77: 4, 1, 9, 6, 2, 8, 9. Süddeutsche Klassenlotterie: Große Lose der Woche mit 2 000 000 DM Losnummer 440 075 und 1 000 000 DM Losnummer 500 928. (Ohne Gewähr)

Upload: hna-online

Post on 13-Jun-2015

3.407 views

Category:

Documents


2 download

DESCRIPTION

20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer haben wir für Sie Zeitungsseiten aus den Ausgaben der HNA vor und nach dem Mauerfall 1989 zusammengetragen.

TRANSCRIPT

Page 1: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSACHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMEINEUNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 235 • Montag, 9.10. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Karajan-Nachfolge

Claudio Abbadogewählt

Berlin (dpa). Die Berliner Phil-harmoniker haben Claudio Ab-bado zu ihrem neuen Chefdiri-genten und künstlerischen Lei-ter gewählt. Der 56jährige Ita-liener tritt damit die Nachfolgedes im Juli gestorbenen Herbertvon Karajan an. Er ist Musikdi-rektor an der Wiener Staatsoperund Generalmusikdirektor inWien. Frühere Aufgaben warendie musikalische Leitung an derMailänder Scala und des Lon-don Symphonie Orchestra.Siehe Kulturteil

Eishockey

Kölnverliert

Der sechsmaligeMeister Kölner ECerlitt in der Eishok-key-Bundesliga mit5:6 gegen EintrachtFrankfurt seine er-ste Niederlage. DieTabellenführung er-oberte sich Schwen-ningen mit einemungewöhnlichen 1:0gegen Freiburg zu-rück.

EC Kassel

8:3-Erfolgin Wesel

Mit einem uner-wartet souveränen8:3(2:0,1:1, 5:2)-Er-folg beim EHV We-sel behauptete derEC Kassel seine Po-sition in der Spit-zengruppe der Eis-hockey-Oberliga.Garant für wenigGegentreffer wareinmal mehr Tor-wart Sepp Kontny.

Handball

EssenerKrise

Meister TUSEMEssen steckt in derHandball-Bundesli-ga in einer Krise undkam gegen die SGWallau-Massen-heim nur zum23:23-Remis. Über-raschungs-Tabel-lenführer ist der VfLFredenbeck vor demAufsteiger TV Nie-derwürzbach!

Rote Karten:

Völler,Schuster

Fußball-National-spieler Rudi Völlerwurde im italieni-schen SpitzenspielAS Rom - SSC Nea,-pel (1:1) vom Platzgestellt. Ebenfalls„Rot" sah Ex-Natio-nalspieler BerndSchuster beim spa-nischen SchlagerFC Barcelona - RealMadrid (3:1).

Golf

DochLanger

Der AnhausenerGolf-Profi BernhardLanger gewann das3. „German Ma-sters" in Stuttgart-Mönsheim. Der 32Jahre alte Mitorga-nisator schob sichmit einer 68er-Run-de am Schlußtagnoch nach vorneund benötigte insge-samt 276 Schläge.

WM 1990

Chancefür DDR

Die Fußball-Na-tionalelf der DDRwahrte ihre Chanceauf die Teilnahmean der WM 1990 inItalien. Sie gewannin Karl-Marx-Stadtgegen die UdSSR2:1, muß aber imletzten Spiel inÖsterreich ge-winnen, um sich dieTickets zu sichern.

Ruf nach Reformen / Hunderte in Haft

Größte Protestein DDR seit 1953

Ostberlin (dpa/AP). Am 40. Jahrestag ihres Bestehenshat die DDR die größten Demonstrationen für demokratischeReformen seit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 erlebt.In Ostberlin und anderen Städten zogen bis in die Nachtstun-den zum Sonntag mehrere zehntausend Menschen durchdie Straßen und riefen „Freiheit, Freiheit". Gestern abend istes erneut zu Auseinandersetzungen gekommen.

' Die amtliche DDR-Nachrich-tenagentur ADN bezeichnetedie Proteste in einer knappenMeldung am Sonntag als „ver-suchte Störung" der Volksfestedurch „Randalierer". Diese hät-ten sich „im Zusammenspiel mitwestlichen Medien zusammen-gerottet". Viele Pfarrer mahnten

Ein Korrespondentenbericht vonden Zusammenstößen steht auf„Themen des Tages".

gestern in ihren Predigten zurBesonnenheit und zu weiteremVerzicht auf Gewalt. In und umdie Gethsemane-Kirche in Ost-berlin versammelten sich ge-stern rund 3000 junge Leute, umsich für Freilassung der Festge-nommenen einzusetzen. StarkeSicherheitskräfte waren aufge-boten; es kam zu Festnahmen.

Die Sicherheitskräfte derDI5R waren gegen die Demon-stranten am Samstag nachmittagund in der Nacht zum Sonntag-zum Teil, äußerst brutal vorge-gangen. Über die Zahl der Ver-letzten und der Festgenomme-nen gab es keine genauen Infor-mationen. Nach Einschätzung

von Kirchenkreisen wurden ins-gesamt über 1000 Menschenfestgenommen. Ein Teil von ih-nen kam gestern wieder frei,während die „Rädelsführer", soeine ADN-Meldung, vor Ge-richt gestellt werden sollen.

Korrespondenten und Foto-grafen westlicher Medien wur-den zum Teil gewaltsam an derBerichterstattung gehindert.Verschiedentlich zerstörtenAngehörige des Staatssicher-heitsdienstes (Stasi) Filmkame-ras und Fotoapparate.

Die Proteste in Ostberlin hat-ten sich am Rande der offiziellenFeier zum 40. Jahrestag derDDR-Gründung aus einerKundgebung von nur wenigenhundert Menschen entwickelt.Bald waren es nach Schätzungvon Beobachtern über 5000, diezum Sitz der DDR-Volkskam-mer zogen. Ein Großaufgebotder Polizei kesselte die Mengeein und löste die Kundgebunggewaltsam auf.

Verletzte waren bei Demon-strationen von mehreren tau-send Menschen auch in Dresdenund Leipzig zu beklagen.Fortsetzung nächste SeiteSiehe auch „Zum Tage"

EINER ÜBERMACHT von uniformierten Beamten sah sich diese junge Ostberlinerin gegenüber, die amSamstagabend mit Tausenden von Gleichgesinnten für mehr Freiheiten in der DDR eintraten.Während die Staatsorgane teilweise brutal vorgingen, riefen die Demonstranten immer wieder:„Keine Gewalt". (dpa-Funkbild)

Ostberlin / Für Demokratisierung von Staat und Gesellschaft

Sozialdemokraten gründen Partei

Flüchtlinge / Seit Freitag Warschau / DDR-Bürger

1846 kamenüber Ungarn

München (dpa). Der Strom vonFlüchtlingen aus der DDR überUngarn und Österreich in dieBundesrepublik ist am Wochen-ende wieder angeschwollen.Das Bundesgrenzschutzkom-mando Süd in München zähltevon Freitag bis zum frühenSonntag morgen 1846 Übersied-ler. Waren es am Samstag noch662, so stieg ihre Zahl am Sonn-tag auf. 1184 an.

Drei weitere Busse—_ .

Von den DDR-Flüchtlingenaus Ungarn passierten am Wo-chenende 899 im eigenen Perso-nenwagen die Grenze. 573DDR-Bürger kamen in elf Bus-sen und 374 mit der Eisenbahn.Für die Nacht zum Montag wur-den drei weitere Busse mit 150Personen erwartet.

Wieder 400 inBonner Mission

Warschau (dpa). Ungebro-chen ist der Zulauf von Flücht-lingen aus der DDR, die bei derbundesdeutschen Botschaft inWarschau Zuflucht suchen: Seitder letzten Ausreiseaktion amDonnerstag abend haben sichbis Sonntag insgesamt wiederetwa 400 ausreisewillige DDR-Bürger in der Bonner Missioneingefunden. Auch die Neuan-kömmlinge wurden in Ferienan-lagen außerhalb von Warschauuntergebracht. Sie werden vompolnischen und Deutschen Ro-ten Kreuz sowie der katholi-schen Caritas betreut.

Immer größer wird der Anteilderjenigen, die auf abenteuerli-chen Wegen durch die Neißeoder die Oder schwimmen. Eini-ge Flüchtlinge berichteten, anseichten Stellen des Neiße-Fluß-bettes, die man durchwatenkönne, lägen Bretter mit Nägeln.

Ostberlin/Bonn (AP). Erstmalsseit ihrer Zwangsvereinigungmit den Kommunisten zur SEDhaben Sozialdemokraten in derDDR wieder eine eigene Parteigegründet. Wie am Sonntag inOstberlin mitgeteilt wurde,schlössen sich am Samstag 43Gründungsmitglieder zu einerSozialdemokratische Partei(SDP) zusammen. Als program-matisches Ziel nennt die Grün-dungsurkunde eine „ökologischorientierte soziale Demokratie".In Bonn begrüßte die SPD diesenSchritt und erklärte sich mit derneuen Partei solidarisch.

Auf einer Versammlung inSchwante in der Nähe von Ber-lin beschlossen die Mitglieder

zugleich ein Parteistatut, be-stellten einen 15köpfigen Vor-stand und ernannten den Ost-berliner Historiker IbrahimBöhme zum Sekretär. In der Ur-kunde heißt es, angesichts „deraußen- und innenpolitischen Si-tuation der DDR halten es die

Ein Hintergrundbericht auf »The-men des Tages" erläutert, warumdie SPD 1946 mit der KPD zwangs-vereinigt wurde.

Mitglieder der SDP jetzt für er-forderlich, sich für eine konse-quente Demokratisierung vonStaat und Gesellschaft einzuset-zen". Die Sozialdemokraten in

der DDR suchten die Zusam-menarbeit „mit allen demokrati-schen Initiativen, Gruppen undPersonen in unserem Lande".

Der Versammlung vorausge-gangen war am 26. August einAufruf zur Parteigründung. DieBildung fester Parteistrukturenbegründeten die Sozialdemo-kraten mit der Absicht, sich „mitinhaltlichen und strukturellenVerbindlichkeiten gegen die zu-nehmende DeStabilisierung un-seres Landes zu verhalten undin dieser Weise an einer demo-kratischen Entwicklung mitzu-wirken". Nach Angaben vonMitgliedern will die SDP in derDDR zunächst keine offizielleZulassung anstreben.

Deutlichere Worte nach Rückkehr in Moskau

Gorbatschow setzt DDR unter ReformdruckBerlin/Moskau (dpa). Der so-

wjetische Staats- und ParteichefGorbatschow hat die DDR öf-fentlich unter Reformdruck ge-setzt. Unmittelbar nach Rück-kehr von den Jubiläumsfeiernzum 40jährigen Bestehen derDDR sagte er am Samstag abendin Moskau, er habe die DDR-Führung unter Staats- und Par-teichef Honecker auf die Not-wendigkeit von Veränderungenhingewiesen.

Damit schlug Gorbatschow ei-nen wesentlich deutlicherenTon an als auch in seinem Gruß-

wort beim offiziellen Festaktzum Jubiläum am Freitag in Ost-berlin. Im sowjetischen Fernse-hen unterstrich er, die tiefgrei-fenden Veränderungen des So-zialismus hätten im Zentrumseiner Gespräche in Ostberlingestanden. Dort fragten sich dieLeute jetzt, „was sich ändernsoll: Nicht nur in der Wirtschaftund in der sozialen Sphäre, son-dern auch bei den politischenInstitutionen." Gorbatschowweiter: „Es gibt kein Land, daßsich nicht so oder so änderte."

Während seines Aufenthaltes

in der DDR, habe er den Ein-druck gewonnen, daß die „Bür-ger der DDR, die Veteranen, diemittleren Jahrgänge, und vor al-lem die Jugendlichen feurige Be-fürworter der Perestroika in un-serem Lande sind", sagte derKremlchef.„Sie sind das nichtaber nur aus Solidarität. Auchhier (in der DDR), wo man jetztdie Bilanz von 40 Jahren zieht,fragen sich die Leute, wie esweitergehen soll."

Honecker hatte dagegen inseiner Rede allen Reformen eineAbsage erteilt.

Jom-Kippur-FeSt

Zum Tage

Die Uhr läuftINlichts dokumentiert die Lage inder DDR deutlicher, als ihre Jubel-feier. Da wurde mit preußischemStechschritt und aufgepflanztenBajonetten bei der MilitärparadeGlanz und Gloria demonstriert.Und nur Stunden später prügeltedie Staatsmacht auf ihre Bürgerein, die lautstark nach 40 JahrenDiktatur jene „demokratische Re-publik" einforderten, die bislangnur dem Namen nach in der „sozia-listischen Alternative" zur Bundes-republik existiert.

Ihre Hoffnung,,beim KremlchefUnterstützung zu finden, erfülltesich immerhin so weit, wie sich dasGorbatschow mit Rücksicht auf dieMachthaber des Staates an derWestgrenze des Ostblocks leistenkonnte. Ihm gelang der schwierigediplomatische Balanceakt, derDDR-Führung den gebotenen Re-spekt zu erweisen, gleichwohldeutlich daran zu erinnern, daß nie-mand sich ungestraft notwendigenpolitischen wie gesellschaftlichenVeränderungen verschließt.

Die Ereignisse des 7. Oktober1989 haben gezeigt, daß Ho-necker nicht mehr viel Zeit bleibt,daß er schon mit dem Rücken ander Wand steht. Und das ebenmacht die Situation in der DDR sobrisant. Markige Worte, unzeitge-mäße Wiederyereinigungsdebat-ten und wohlfeile Ratschläge ausder Bundesrepublik sind da wenighilfreich. Im Gegenteil. Mit Zurück-haltung ist den Menschen in derDDR jetzt am besten gedient.

Wolfgang Rossbach

Zugang nachIsrael versperrt

Jerusalem/Nikosia (AP). Dieisraelischen Streitkräfte habenam Sonntag anläßlich des jüdi-schen Jom-Kippur-Festes denGazastreifen und das Westjord-anland abgeriegelt und damitden Bewohnern der besetztenGebiete den Zugang nach Israelversperrt. Nach Angaben einesVertrauten des PLO-Vorsitzen-den Arafat kam es am Sonntagin den besetzten Gebieten zuschweren Zwischenfällen. DerGewährsmann sprach von mehrals 100 getöteten und verwun-deten Palästinensern.

DDR / Gelder

Rühe erneuertHilfsangebot

Bonn (dpa). CDU-Generalse-kretär Rühe hat das Angebotder Bonner Regierungskoalitionan die SED-Führung konkreti-siert, bei Reformen in der DDRwirtschaftliche Unterstützungzu leisten. In einem Zeitungsin-terview stellte Rühe „projektge-.bundene Hilfe" beim Ausbauder DDR-Konsumgüterindustrieund bei der gemeinsamen Ent-wicklung und Produktion vonUmweltschutztechnologien inAussicht. Die Ostberliner Füh-rung müsse sich aber generell zuReformen bekennen.

Lotto- und TotozahlenLotto: 2, 4, 8, 23, 40, 49; Zusatzzahl:11.Toto: 1, 1, 0, 0, 2, 1, 0, 0, 1, 1, 1.Auswahlwette: 3, 14, 26, 29, 37, 38;Zusatzspiel: 23.Rennquintett:Rennen A: 4, 1, 6.Rennen B: 21, 22, 28.Spie) 77: 4, 1, 9, 6, 2, 8, 9.Süddeutsche Klassenlotterie: GroßeLose der Woche mit 2 000 000 DMLosnummer 440 075 und 1 000 000DM Losnummer 500 928.

(Ohne Gewähr)

Page 2: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 235 Politik Montag, 9. Oktober 1989

Namen undNachrichten

DGB fordert DurchbruchDGB-Chef Ernst Breit hat ange-kündigt, daßsich alle Ge-werkschaftenim nächstenJahr verstärktfür die 35-Stun-den-Wocheeinsetzen woll-ten. „DerDurchbruchkann und mußgelingen", sagteBreit gestern inWürzburg beider Eröffnung des 13. Ordentli-chen Gewerkschaftstages derDGB-Gewerkschaft Holz undKunststoff (GHK). Dies sei imInteresse der Arbeitslosen not-wendig.

EG-Hilfsgüter „umgeleitet"Mehr als 1000 Liter Speiseöl,1000 Kilogramm Mortadellaund andere Lebensmittel, dieaus EG-Mitteln für notleidendeLänder der Dritten Welt zurVerfügung gestellt wurden, sindjetzt in einem Supermarkt inNeapel aufgetaucht. Die Polizeihabe die Nahrungsmittel mitdem Stempel der EuropäischenGemeinschaft „Für bedürftigeLänder" beschlagnahmt, hieß es.

China schränkt Reisen einDienstreisen von führenden chi-nesischen Politikern ins Aus-land sollen künftig drastischeingeschränkt werden. Diessteht in einer neuen Verord-nung, die besagt, daß Auslands-reisen nur noch genehmigt wür-den, wenn es Staats- oder Ar-beitsbesuche im Zusammen-hang mit „wichtigen öffentlichenAngelegenheiten" seien.

Andres gründet ParteiDer abgesetzte Landesvorsit-

T zende der^ rechtsradikalen

Republikanerin Berlin, Bern-hard Andres,hat eine neuePartei gegrün-

| det. Sie nenntjsich „Die Deut-I sehen Demo-Ikraten". In ei-I nem InterviewI begründete An-•dres die Partei-

neubildung damit, daß viele „dieNase voll" gehabt hätten von„Zank, Streit und Querelen" so-wie endlosen Personaldiskus-sionen bei den Republikanern.

Ehrendoktor für SchmidtDer frühere Bundeskanzler Hel-mut Schmidt ist in der Universi-tät von Bergamo mit der Ehren-doktorwürde der Wirtschafts-wissenschaftlichen Fakultätausgezeichnet worden. In sei-nem Vortrag hob Schmidt dieNotwendigkeit des europäi-schen Währungssystems her-vor. Er forderte die zügige Ein-führung einer europäischenZentralbank.

„Maggie-Tour" ein FlopDie britische PremierministerinMargaret That-cher als Touri-stenattraktionhat sich als gro-ßer Flop erwie-sen: Kein einzi-ger Besucherhat bislang aneiner von vie-len LondonerHotels angebo-tenen . Aus-flugsfahrt nachGrantham teil-genommen, der Geburtsstadtvon Frau Thatcher. Ein weiteresAnzeichen für die sinkende Po-pularität der „eisernen Ladybieten die jüngsten Umfragen.So meinten 58 Prozent der Bri-ten, Thatcher sollte vor dennächsten Wahlen 1991 zurück-treten. Ihre konservative Parteiliegt in der Wählergunst 11 Pro-zent hinter der oppositionellenLabour-Partei.

Pretoria: 1 . Mai FeiertagIm jahrelangen Ringen mit denGewerkschaften hat die südafri-kanische Regierung jetzt nach-gegeben und den 1. Mai zumFeiertag erklärt. Vor allemschwarze Arbeitnehmer hattenin der Vergangenheit immerwieder mit Streiks gegen dieHaltung Pretorias protestiert.

Kernenergie Berg-Karabach Erstmals an einem Tisch

WH0 fordert Täglich blutige Sowjet-Generalmehr Sicherheit Konflikte bei Nato-Treffen

Hiroshima (dpa). Die zivileNutzung der Kernenergie erfor-dert nach Ansicht des General-direktors der Weltgesundheits-organisation (WHO), ProfessorNakajima, erhöhte Sicherheits-standards in den weltweit be-triebenen Atommeilern. . Aufdem 9. Internationalen Welt-kongreß der „InternationalenÄrzte zur Verhütung des Atom-krieges" (IPPNW) verwies er indiesem Zusammenhang auf denAnstieg von Blutkrebs bei An-wohnern englischer Atomkraft-werke. Die Erforschung dieserbis heute unerklärbaren Häu-fung von Leukämiefällen sei eingemeinsames Anliegen vonWHO und IPPNW ebenso wieder Kampf für die Abschaffungaller Atomwaffen.

Für das neue IPPNW-Projekt„SatelLife", das den weltweitenAustausch medizinischer Datenmit Hilfe von Satelliten ermögli-chen soll, sagte Nakajima dieUnterstützung der WHO zu.Mit dem Projekt, das demschnelleren Informationsflußzwischen Kliniken und Gesund-heitsbehörden dienen soll, wer-de den Initiativen der WHO zurGesundheitsförderung ein wich-tiges Kommunikationsmittel andie Hand gegeben.

Moskau (dpa). Die Lage imkaukasischen UnruhegebietBerg-Karabach nimmt offenbarimmer mehr bürgerkriegsähnli-che Züge an. Täglich komme eszu blutigen Zusammenstößenzwischen Armeniern und Aser-baidschanern, schrieb am Sonn-tag die amtliche sowjetischeNachrichtenagentur Tass. Es seieine Brücke in die Luft ge-sprengt worden, es würdenHäuser und Autos in Brand ge-steckt.

Die Verbindungen zur Au-ßenwelt seien weiterhin unter-brochen. Wegen des Fehlensvon Medikamenten bestehe dieGefahr einer Hepatitis-Epide-mie. Nur durch den Einsatz derLuftwaffe bei der Versorgungentlegener Gebiete werde der-zeit eine Hungersnot verhin-dert.

Wie Tass weiter berichtete,hätten Jugendliche aus der vonAserbaidschanern bewohntenStadt Schuscha in Berg-Kara-bach am Wochenende ein nahe-gelegenes armenisches Dorf be-schossen. Unter ihnen seienEinwohner der aserbaidschani-schen Hauptstadt Baku gewe-sen, die eigens gekommen seien,um „den Kriegsgeist der örtli-chen Bevölkerung" zu wecken.

Rom (dpa). Erstmals in derGeschichte der beiden Militär-blöcke haben ein Nato-Oberbe-fehlshaber und ein führendersowjetischer General gemein-sam an einer • Diskussion überSicherheitsfragen teilgenom-men. Vor der NordatlantischenVersammlung (NAV), dem so-genannten Nato-Parlament, dasnoch bis heute in Rom tagt, warfder stellvertretende Chef desUdSSR-Generalstabs, WladimirLobow, dem Westen vor, bishernur ungenügend auf die Abrü-stungsinitiativen Moskaus zureagieren. Der Oberbefehlsha-ber der Nato für Europa, US-General John Galvin, kritisiertebei der Diskussion seinerseitsdie nach Ansicht der Nato un-veränderte militärische Stärkedes Warschauer Pakts.

Beide Seiten würdigten dengemeinsamen Auftritt der Mili-tärs vor den Parlamentariernaus 15 Nato-Staaten als „histo-risches Ereignis", das die ge-wandelten Beziehungen zwi-schen Ost und West widerspie-gele. Die 35. Jahrestagung derNAV in Rom geht heute mit ei-ner Plenarsitzung der rund 200Abgeordneten und einer Redevon Nato-GeneralsekretärWörner zu Ende.

ICH FÜHLE MICH AUSGEZEICHNET" und kannes selbst nicht glauben", gestand Bundestagsvi-zepräsidentin Annemarie Renger am Samstagan ihrem 70. Geburtstag. Für die prominenteSPD-Politikerin gaben BundestagspräsidentinSüssmuth und SPD-Chef Vogel in der Godes-berger Redoute einen festlichen Empfang. Bun-despräsident von Weizsäcker und Frau Mari-anne waren unter den Gratulanten (unser Bild).

Glückwünsche aus aller Welt kamen und Bun-deskanzler Kohl würdigte die Oppositionspoli-tikerin als eine „Frau der ersten Stunde", diesich um die Bundesrepublik außerordentlichverdient gemacht hat. Annemarie Renger hatauf Geschenke verzichtet und gebeten: „Spen-den Sie für die Ronald McDonald-Kinderhilfezur Unterstützung krebskranker Jungen undMädchen". (dpa-Funkbild)

Größte Demonstrationen in der DDR / Für West-Touristen:

Ostberlin weiter abgeschottetFortsetzung

Ostberlin blieb auch am Sonn-tag für West-Touristen gesperrt.Die innerstädtischen Übergängekonnten nach wie vor nicht pas-siert werden. Tausende wurdenseit Schließung der Grenzen amDonnerstag zurückgeschickt.Einige Bereiche Ostberlins wur-den zum „polizeilichen Einsatz-gebiet" erklärt und für Presse-vertreter gesperrt.

Die Bundesregierung fordertein einem eindringlichen Appelldie DDR-Führung auf, „friedli-chen Demonstrationen für mehrstaatsbürgerliche Freiheitennicht mit Polizeikräften, son-dern mit Verständnis und Ge-sprächsbereitschaft zu begeg-nen". Nur so könnten die Ursa-

chen tiefgreifender Unzufrie-denheit vieler Einwohner in derDDR dauerhaft beseitig werden,heißt es in der in Bonn veröffent-lichten Erklärung.

Einen „entschiedenen Pro-test" in Ostberlin kündigte derstellvertretende Regierungs-sprecher Vogel für den Fall an,daß sich Meldungen über Miß-handlungen von westlichenJournalisten bestätigen sollten.Die Bundesregierung verwahresich mit Nachdruck gegen dieBehinderung von Pressevertre-tern bei ihrer Arbeit-in Ostber-lin. Dies spreche „allen auch fürdie DDR geltenden Regelungenüber Informationspflicht und In-formationsfreiheit Hohn", sagteVogel. Am Sonntag verweiger-

ten die DDR-Behörden westli-chen Journalisten die Einreisenach Leipzig, da sie an diesemTage „nicht erwünscht" seien.

Gleichwohl hofft Bonn nachBeendigung der 40-Jahr-Feiernin der DDR auf erste Reforman-sätze der SED-Führung. „Ich er-warte, daß nach den Jubelfeiernkünftig Ausreisegenehmigun-gen erheblich großzügiger alsbisher erteilt werden", erklärtedie Bundesministerin für inner-deutsche Beziehungen, Doro-thee Wilms, in einem Interview.Ähnlich äußerte sich Kanzler-amtsminister Seiters. Nach In-formationen von „Bild am Son-tag" plant Ostberlin offenbareine umfangreiche Abschiebe-aktion unbequemer Bürger.

„Tibet ein untrennbarer Teil unseres Landes" / Kritik an Komitee

China über Nobelpreis an Dalai Lama empörtPeking (dpa). Mit Bedauern

und Empörung hat die chinesi-sche Regierung am Wochenen-de zum ersten Mal auf die Ver-leihung des Friedensnobelprei-ses an das im indischen Exil le-bende tibetische Oberhaupt,den Dalai Lama, reagiert. In ei-ner von der amtlichen chinesi-schen Nachrichtenagentur Xin-

hua veröffentlichten Stellung-nahme hieß es, Tibet sei ein„untrennbarer Teil chinesischenTerritoriums". Die Tibetfrage sei„ausschließlich eine interne An-gelegenheit von China", in dieeinzumischen „keine ausländi-sche Regierung, Organisationoder Person" das Recht habe. Inder Äußerung wurde dem No-

belpreis-Komitee „offene Unter-stützung" des Dalai Lama undder „tibetischen Separatisten"vorgeworfen. Die „falsche Ent-scheidung" des Komitees wei-che von dem Zweck ab, Perso-nen auszuzeichnen, die einenBeitrag zur „Harmonie undFreundschaft zwischen den Völ-kern" geleistet haben.

Ungarn /Nach Partei-Umwandlung

Altkommunistengründen neue KP

Budapest (dpa). Ungarns or-thodoxe Kommunisten habenals Reaktion auf die Auflösungder Kommunistischen Parteiund ihre Umwandlung in eineSozialistische Partei die Grün-dung einer eigenen KP beschlos-sen. Dies berichtete am Sonntagder ungarische Rundfunk. DieSelbstauflösung der bisherigenKP mit dem Ziel eines demokra-tischen Neubeginns war amSamstagabend auf dem Parteitagin Budapest mit Billigung vonmehr als 80 Prozent der Dele-gierten beschlossen worden.

Verlierer waren die Vertreterder orthodoxen Fraktionen, dieden radikalen Reformkurs ab-lehnen. Die geplante Gründungeiner neuen kommunistischenPartei beschloß eine Gruppie-rung, die sich nach dem gestor-benen langjährigen ParteichefJanos Kadar nennt. Sie begrün-dete ihren Schritt gestern damit,daß durch die Neugründung dersozialistischen Partei die Kom-munisten ihre politische Basisverloren hätten.

Die neue „Ungarische Soziali-stische Partei" sieht sich zwarals Rechts-Nachfolgerin der

„Ungarischen SozialistischenArbeiterpartei" (USAP), stelltsich jedoch entschieden „gegendie Fehler der Vergangenheitund die Überreste des Stalinis-mus". Sie tritt für Sozialismus,Rechtstaatlichkeit und sozialeMarktwirtschaft ein.

In einer von der Mehrheit derDelegierten gebilligten Stellung-nahme wird ausdrücklich be-tont, daß „in der Geschichte un-seres Landes eine Epoche zuEnde gegangen ist". Das bisheri-ge Konzept des Sozialismus seinicht geeignet, daß Ungarn mitder Entwicklung in der WeltSchritt hält.

Die neue Partei distanziertsich „von den Verbrechen, vonden Prinzipien und Methoden,die sich als falsch erwiesen ha-ben". Der Parteivorsitzende Ny-ers wies auf einen „prinzipiellenKompromiß" aller Strömungenhin. Ohne die neue Sozialisti-sche Partei sei die Herstellungeines rechtsstaatlichen Systemsin Ungarn nicht möglich. Er be-tonte, die neue Partei werde mitder „proletarisch-ideologischenMachtausübung" brechen.Siehe auch Kommentar

Wohnungsnot / 250 000 Menschen

Massenprotest in WashingtonWashington (AP). Bei einer

der größten Protestkundgebun-gen dieser Art seit den 60er Jah-ren haben am Samstag in Wa-shington schätzungsweise250 000 Menschen gegen dieWohnungsnot in den Vereinig-ten Staaten protestiert. Der Pro-testmarsch über die Cönstitu-tion Avenue bildete den Höhe-punkt und Abschluß einer sichüber drei Tage erstreckenden

Kampagne, die „Wohnungenjetzt" genannt wurde.

Die Demonstranten verlang-ten von der Regierung Bush Fi-nanzmittel und ein Programmfür die menschenwürdige Un-terbringung von Obdachlosenund Armen. Der schwarze Pre-diger und Politiker Jesse Jack-son bezifferte die Zahl der Ob-dachlosen in den USA mit dreiMillionen.

Neues Grundsatzprogramm

SPD-Landesverbändewünschen Änderungen

Hamburg (dpa). In den Be-zirks- und Landesverbändender SPD stößt der Entwurf fürein neues Grundsatzprogrammder Sozialdemokraten zuneh-mend auf Kritik. Gleich vier Un-tergliederungen - die Landes-verbände Schleswig-Holstein,Baden-Württemberg und Ham-burg sowie der BezirksverbandHessen-Süd - forderten^ auf Par-teitagen am Wochenende zahl-reiche Änderungen an dem neu-en Programm, das nach seinerVerabschiedung auf einem SPD-Bundesparteitag im Dezembernach 30 Jahren das Godesber-ger Programm ablösen soll.

Die umfangreichsten Ände-rungswünsche formulierte dieSPD in Schleswig-Holstein beimParteitag in TimmendorferStrand. Eine eindeutige Mehr-heit der knapp 200 Delegiertenstimmte für einen vom Landes-vorstand vorgelegten Alterna-tiventwurf zu den wirtschafts-und sicherheitspolitischen The-sen. Die Nato-Strategie der ato-maren Abschreckung wird in

Frage gestellt, da ein atomarerEinsatz in Europa mit den Inter-essen der Bundesrepublik nichtvereinbar sei.

In der Wirtschaftspolitik plä-dierten die Delegierten für wei-tergehende Mitbestimmungs-rechte und ein Mindesteinkom-men auch für diejenigen, die„gesellschaftlich notwendigeArbeit" leisten wie in der Kin-dererziehung.

Die baden-württemöergi-schen Sozialdemokraten forder-ten in Schwäbisch-Gmünd^ imGegensatz zum Bundesentwurfdie bedingungslose Überwin-dung der Atomwaffen.

Die Hamburger wandten sichgegen eine zu weit gehendeAusgestaltung des von der Bun-des-SPD geforderten Volksbe-gehrens.

Rund 200 Einzelanträge mitdeutlicher Detailkritik lagendem Bezirksparteitäg Hessen-Süd vor. Die Genossen wollenvor allem die Passagen zum Um-weltschutz konkreter undschärfer gefaßt haben.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureChef vom Dienst: Horst Kröninger. ChefNachrichten: Rainer Merforth. Politik: Jo-chen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden, Kultur.- Dirk Schwarze, Frauu. Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wie-semann, i. V. Ulrich Fuhrmann. Sonntags-zeit: Frank Thonicke. Kassel Stadt undLand: Wolfgang Rossbach.' Bezirksredak-tionen: Peter M. Zitzmann. Koordination:Helmut Lehnart. Hessen/Niedersachsen:Eberhard Heinemann. Chefreporter: Karl-Hermann Huhn. Sonderthemen: PeterOchs.

Redaktion Wiesbaden: Rolf Effenberger.Redaktion Hannover. Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter: Horst Prehm.Vertriebsleiter: Gerd Lühring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61 / 20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61 / 20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer 05 61 /20 36. Teletex5 618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7 % MwSt. (Postbezugs-preis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen KündigungserJfJä-rung. *>"

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.

Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.

Herstellung Druckhaus Dierichs,Frankfurter Straße 168, 3500 Kassel.

Page 3: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 235 Themen des Tages Montag, 9. Oktober 1989

Beispielin Budapest

D a s Tempo, mit dem in Ungarndie kommunistische Partei in eineNebenrolle auf der Reformbühnegedrängt wird, verblüfft zunächst,macht aber auch besorgt. Schließ-lich ist nicht vergessen, wie Bru-derparteien und Brudervölker 1956reagierten und wie sie 1968 in derCSSR den Versuch ahndeten, Be-wegung in den Block zu bringen.Die Spaltung der kommunistischenPartei ist perfekt - mit dem Ergeb-nis, daß die politische Verantwor-tung für die wirtschaftliche, sozialeund politische Erneuerung desLandes in anderen Händen liegt.

Das ist zweifellos eine Chance.Aber die Chance birgt natürlichauch die Gefahr, daß bei einemScheitern die Schuld nicht mehrbei den Kommunisten festge-macht werden kann. Dennoch istBudapest ein Beispiel, das weiterreicht als aas Wagnis in Warschau,wo ja ebenfalls die Kommunistenum ihre Ausschließlichkeit ge-bracht worden sind. Die Ungarnsind mutiger und auch wohl ent-schlossener, wobei vielleicht ihreim Gegensatz zu Polen periphereLage im östlichen Bündnis einewichtige Rolle gespielt hat.

Hierzulande und sonstwo im We-sten hofft man - keineswegs nuraus humanitären Gründen - , daßdas ungarische Beispiel Schulemacht. Die CSSR, gedrängt durchihre unfreiwillige, Rolle bei demMassenexodus cJer DDR-Bürger,könnte vom Bazillus aus Budapestvielleicht eher infiziert werden, alsdas derzeit noch den Anscheinhat. Doch wird dies entscheidenddavon abhängen, ob es in Ungarngelingt, ein politisches System, inwelchem nicht mehr eine Partei al-lein bestimmt, zu konsolidieren, inwelchem wirklich der „Nutzen desVolkes" gemehrt wird.

Günter Baumann

Presse-EchoMichail Gorbatschow hat in Ostberlineinen schwierigen Drahtseilakt vorsucht, schreibt die

Einerseits sagte er zum 40Jahrestag des Regimes die er-warteten Artigkeiten, die er denBrüdern im Sozialismus trotz al-ler Gegensätze schuldet undrügte auch pflichtgemäß angeb-liche „revanchistische Tenden-zen" in der Bundesrepublik. An-dererseits ließ er sich aber kei-neswegs vor den Karren vonHoneckers Altherrenriegespannen, die nach wie vor in s.orabiater Distanz zu Glasnostund Perestroika verharrt. Ge-sellschaftliche Veränderungen,schrieb er der SED unmißver-ständlich ins Festbuch, zwängenletztlich auch die DDR zu Refor-men.

Die Bürger der DDR, die in ihrem Staatbleiben wollen, fordern ein liberaleresGemeinwesen, meint der Konstanzer

SÜDKURIERSie sehen nicht ein, daß die

Entwicklungen, die in Moskau,Warschau und Budapest die Be-völkerung faszinieren, zu neuenKraftanstrengungen ermuntern,für ihr Land tabu sein sollten.Natürlich ist richtig, daß sichdie DDR, im Gegensatz zu denanderen Staaten Mittel- undOsteuropas nicht aus nationalerIdentität, sondern nur über denSozialismus als Eigenständig de-finieren kann. Aber falsch isteben, daß dies jede Reform aus-schließt. Ob es einen oder zweiStaaten auf deutschem Bodengibt, ist letztlich nicht entschei-dend. Wichtig ist nur, daß, hü-ben wie drüben, die Menschenentscheiden dürfen, wie sie le-ben wollen.

Zum selben Thema die

| OSNABRÜCKES|ZEITÜNO

Entscheidend bleibt Gorba-tschows Versicherung,-daß Fra-gen, die die DDR betreffen, nichtin Moskau, sondern in Ostberlinbeantwortet würden. Damit legtder. Kremlchef die Verantwort-lichkeiten fest. Von HoneckersGarde dürfen indessen keineneuen Impulse mehr erwartetwerden. Die Ansprache desSED-Generalsekretärs läßt sichin zwei Worten zusammenfas-sen: Weiter so. Die Festrede ge-riet zu einer Mischung aus kom-munistischem Eigenlob undVorwürfen an den Westen.

Tausende demonstrierten in Ostberlin für mehr Freiheit

Zugriff im MorgengrauenVon AP-Korrespondent Ingomar Schweiz

Im Morgengrauen des Sonntagsgriffen die Polizeihundertschaf-ten in der Ostberliner Schön-hauser Allee zu: Rund 350 De-monstranten wurden teilweiseunter Gewaltanwendung aufsechs bereitstehende Lastwagenund in zwei Busse verfrachtetund weggefahren. Es war dasEnde einer Massendemonstra-tion, wie man sie seit dem17. Juni 1953 in Ostberlin nichtmehr erlebt hatte. Ausgerech-net am 40. Jahrestages derGründung der DDR entlud sichin einem Protestmarsch Tausen-der aufgestaute politische Unzu-friedenheit.

„Gorbi, hilf uns" rief die Men-ge, die sich am Samstag auf demAlexanderplatz am Rande einesVolksfestes formierte und dannspontan in Richtung „Palast derRepublik" loszog. Dort feiertengeladene Gäste das Staatsjubi-läum. Auch wenn der sowjeti-sche Staats- und Parteichef Gor-batschow, dem die Rufe vor demPalast galten, hätte helfen wol-len, er hätte es nicht gekonnt:Zu diesem Zeitpunkt befandsich die personifizierte Hoff-nung von Millionen von DDR-Bürgern auf demokratische Re-formen bereits auf dem Rückflugnach Moskau.

Volkspolizisten, sichtlich er-staunt über das plötzliche, mas-sive und lautstarke Aufbegeh-ren der zumeist jungen Leute,drängten den Protestzug zurückzum Alexanderplatz. Vor demGebäude der Nachrichtenagen-

tur ADN wurden Rufe wie„Pressefreiheit" und „Demokra-tie" laut. Erstmals schritten JetztMitarbeiter des Staatssicher-heitsdienstes ein, die beim Ver-such, die Menge aufzulösen, De-monstranten wahllos ergriffen,wegzerrten und teilweise blutigschlugen. Offiziere der Volks-polizei sagten zu Demonstran-ten, die um Hilfe riefen: „Hierhaben nicht wir zu bestimmen".Daß die gefürchtete Stasi-Trup-pe das Sagen hatte, wurde nochklarer, als Mitglieder des Wach-regiments „Felix Dzershinski",einer dem Ministerium fürStaatssicherheit unterstelltenEliteeinheit, brutal in die Aus-einandersetzungen eingriffen.Die Menge rief immer wieder:„Keine Gewalt!"

Belagerte Festung

Das Ostberliner Regierungs-viertel glich einer belagerten Fe-stung. Überall waren Lastwagenmit großen Gittern aufgefahren,offenkundig um Massenan-sammlungen zu zerstreuen. ImEinsatz waren auch Mitgliederder betrieblichen Kampfgrup-pen. Die für den Objekt- undPersonenschutz vorgesehenenEinheiten wurden an diesemAbend erstmals in großer Zahlgegen die eigene Bevölkerungeingesetzt. Ihnen und denVolkspolizisten galten die Rufevieler: „Das Volk sind wir, ge-gen wen kämpft ihr?"

Daß die Demonstranten auchbei der Bevölkerung auf Sympa-thie stießen, war klar erkenn-bar. Überall standen auf denBaikonen Zuschauer, die demProtestzug applaudierten. Vielezündeten Wunderkerzen an.

Die immer nervöser werden-den Sicherheitskräfte teiltenschließlich die Menschenmasse,die sich jedoch zum Teil wiederneu formierte und zur Gethse-manekirche weiterging. Dortgibt es seit Beginn dieser Wocheregelmäßig Andachten und eineMahnwache für die politischenGefangenen in der DDR. ImStadtteil Prenzlauer Berg riegel-te die Polizei alle Zufahrtsstra-ßen zur Kirche ab.

Immer mehr Menschenschlössen sich dem Protestzugin der Schönhauser Allee an,der Magistrale in Richtung Nor-den. „Bürger, laß' das Glotzensein, komm' auf die Straße, reih1

dich ein", riefen die Demon-stranten immer wieder Passan-ten und neugierig aus den Fen-stern schauenden Menschen zu.Mancher stieg aus der Straßen-bahn aus, um sich dem Zug an-zuschließen.

Junge Leute mit Kerzen in derHand standen vor der Kirche ei-nem Polizeiaufgebot mit schar-fen Hunden, Schlagstöcken undElektroschockgeräten gegen-über. „Wir lassen uns von denMachthabern nichts mehr sa-gen", schrie ein junger Mann aufdem Kirchplatz. Viele klatsch-ten.

JUNGE MENSCHEN waren es in erster Linie, die sich am Samstagabend am Östberliner Alexander-platz zu einer spontanen Kundgebung formierten. Später wurde daraus die größte Demonstration fürmehr Freiheit seit dem Volksaufstand am 17. Juni 1953. • (dpa-Funkbild)

Demonstrationen in der DDR

Erlaubt ist nur KonformesAllele Bürger haben dasRecht, sich im Rahmen derGrundsätze und Ziele der Ver-fassung friedlich zu versam-meln." Dies bestimmt die DDR-Verfassung in Artikel 28. Dasauf den ersten Blick umfassenderscheinende Grundrechtwird jedoch stark einge-schränkt, nicht nur durch die„Sicherheitsorgane", sondernauch juristisch. Der offizielleKommentar zur DDR-Verfas-sung . sagt nämlich genau,wann wer für was demonstrie-ren darf oder nicht.

Im Katalog der Möglichkei-ten und Verbote heißt es: „DieKundgebungs- und Versamm-lungsfreiheit wird von denWerktätigen wahrgenommen,um zu Grundfragen der Poli-tik, insbesondere von Ereig-nissen im internationalen Le-ben, sowie nationalen und in-

ternationalen Gedenktagender Arbeiterklasse und derfriedliebenden fortschrittli-chen Menschheit den einheit-lichen Willen der Bevölkerungzu manifestieren."

Das sind - so die neue Aus-gabe des Ostberliner „KleinenPolitischen Wörterbuchs" -Massenkundgebungen, „diedie internationale Solidaritätbekunden" und „gegen impe-rialistische Aggressionspolitikgerichtet sind". „Verfassungs-widrig" und das Recht miß-brauchend nennt der Kom-mentar „gegen die Interessender Werktätigen" gerichteteKundgebungen, die, „mit frei-heitlichen und demokrati-schen Losungen getarnt", eine„antisozialistische Tätigkeit"fördern. Was „antisozialisti-sche Tätigkeiten" sind, be-stimmt die SED. (dpa)

1946 Zwangsvereinigung zur SED

Kommunisten warenauf SPD angewiesenVcoller Tatendrang klopftekürzlich in der Bonner SPD-Zentrale ein Rentner aus derDDR an und erbat „grünesLicht" der „Baracke" für eineSPD-Neugründung im Ho-necker-Staat. „Wir können so-fort wieder anfangen! Wir habenauch noch die alten Mitglieder-Karteien", versicherte der agileRentier. Doch die SPD hält sichbedeckt, versichert aber der neuformierten „Sozialdemokrati-schen Partei in der DeutschenDemokratischen Republik"(SDP) ihre Sympathie und Soli-darität.

Nur knapp ein Jahr lang exi-stierte die von den Nazis 1933verbotene und. nach Kriegsendezuerst in der damaligen Sowjeti-schen Besatzungszone (SBZ)wieder aufgelebte SPD. Untermassivem Druck der sowjeti-schen Besatzungsmacht tratenam 21. und 22. April 1946 imOstberliner Admiralspalast dieebenfalls 1945 neugegründeteKommunistische ParteiDeutschlands (KPD) und dieSPD zu einem „Vereinigungs-parteitag" zusammen, aus demdie Sozialistische EinheitsparteiDeutschlands (SED) hervorging.

Wilhelm Pieck von der KPDund Otto Grotewohl (bis dahinSPD), der in scharfem Gegensatzzur SPD in den damaligen West-zonen mit Kurt Schumacher ander Spitze die Zwangsver-schmelzung mit den Kommuni-sten vollzog, waren die erstenSED-Vorsitzenden. Formuliertedie SED zunächst unter Abgren-zung vom Moskauer Modell ei-nen „besonderen deutschen

Weg zum Sozialismus" mit pari-tätisch besetzten Gremien, sorichtete bald die immer stärkervon Ulbricht dominierte SED dieMarschrichtung auf das zentra-listische KPdSU-Vorbild aus.

Schumacher schrieb in seinerBiographie: „Nachdem die Hoff-nung der Kommunisten, sich alsführende Arbeiterpartei etablie-ren und zur einzigen Arbeiter-partei entwickeln zu können,von den Tatsachen so völlig un-möglich gemacht wird, muß sienach dem großen Blutspendersuchen. Das Rezept ist die Ein-heitspartei, die einen Versuchdarstellt, der sozialdemokrati-schen Partei eine kommunisti-sche-Führung aufzuzwingen." :• Vor allem im „roten Sachsen"konnte die SPD rasch Fuß fas-:

sen. Ende4945 zählte die SPD inder sowjetischen Besatzungszo-ne über 600 000 Mitglieder -mehr als in allen drei westlichenBesatzungen. In der heutigenDDR liegen auch die Wurzelnder Sozialdemokratie, die 1875in Gotha zunächst als „Soziali-stische Arbeiterpartei Deutsch-lands" gegründet wurde.

Eine Sonderstellung nimmtdie SPD im Gebiet von Groß-Berlin ein. Nach der Zwangs-vereinigung blieb sie im Ostteilder Stadt aufgrund des Vier-Mächte-Status neben der SEDbestehen. Doch nach dem Bauder Mauer am 13. August 1961verfügte Berlins SPD-Landes-verband die Auflösung der achtKreisverbände im Östsektor.Zugleich behielt er sich dasRecht vor, diese jederzeit neu zukonstituieren. (dpa)

Argentiniens Präsident begnadigt Offiziere und Terroristen

Menem setzt auf AussöhnungVon dpa-Korrespondent Gerd Reuter

Arrgentiniens peronistischerPräsident Carlos Saul Menemhat vor und gleich nach seinemtriumphalen Wahlsieg im Maidieses Jahres keinen Zweifel ge-lassen, daß er das von seinemVorgänger Raul Alfonsin geerb-te „Militärproblem" im Interesseeiner nationalen Aussöhnunglösen werde. Jetzt hat Menem,der in der Vergangenheit selbstunter den Militärs litt und meh-rere Jahre im Gefängnis ver-brachte, 280 Offiziere und ehe-malige Terroristen begnadigt. Erist der Meinung, daß seine Ent-scheidung im Ausland „gut auf-genommen" werde.

Die Maßnahme sei dann rich-tig, wenn Generale nie mehrwieder putschen, sondern dieDemokratie in den kommendenJahren weiter gefestigt werdenkönne, hieß es in Kommentaren.Beobachter meinen, daß dasProblem in der Tat gelöst wer-den: mußte,, denn ArgentiniensStreitkräfte waren während Al-fonsins Amtszeit ein ständigerund bedrohlicher Unruheherdfür die 1983 eingeleitete Demo-kratie. Beinahe jede zweite Fa-milie hat ein Mitglied der Streit-

kräfte in ihren Reihen, und auchviele „Normalbürger" meinen,das Militär habe richtig gehan-delt, als es zwischen 1976 und1983 den organisierten Terro-rismus blutig niederkämpfte.Dabei war von beiden Seiten ge-foltert, gemordet und entführtworden. Mehrere tausend Regi-me-Gegner sind bis heute spur-los verschwunden.

Bekanntgabe in La Rioja

Menem wählte wohl nichtganz unbedacht seine 1200 Kilo-meter von der Hauptstadt Bue-nos Aires entfernte Heimatpro-vinz La Rioja zur Veröffentli-chung des Gnadenerlasses. Da-mit wolle er die politische Be-deutung der Entscheidung rela-tivieren und als nicht so außer-gewöhnlich erscheinen lassen,wie das vor allem von der Aus-landspresse beurteilt werde,hieß es am Sonntag in einemRundfunkkommentar. Schon beiseiner Amtsübernahme hatteMenem erklärt, die Lösung desMilitärproblems sei sicher nichtdie dringlichste Aufgabe seiner

Regierung. Doch verging in dendrei zurückliegenden Monatenkein Tag, an dem er dazu nichtStellung nahm.

Argentiniens Vergangen-heitsbewältigung mit drei verur-teilten Diktatoren im Gefängnisund Rebellen-Offizieren inKompaniestärke in militäri-schem Gewahrsam blieb ein po-litisches Top-Thema. Jetzt war-tet Argentinien auf die zweiteStufe des Gnadenaktes, für dieMenem bisher die „Bevölkerungnoch nicht reif genug" hält. Ver-mutlich noch in diesem Jahr sol-len die übrigen Putschgeneraleund Verantwortlichen fürschwerste Menschenrechtsver-letzungen freigelassen werden.Zu den ersten Männern, die vomGnadenakt profitieren, gehörender ehemalige StaatspräsidentGeneral Leopoldo Galtieri sowiedie Rebellenoffiziere Moham-med Seineldin und Oberstleut-nant Aldo Ricco. Straffrei undohne Furcht vor juristischenKonsequenzen bleiben auch 64Terroristen, in der Mehrheitlinksextremistische Montone-ro-Guerilla, die das Land in den70er Jahren verunsicherten.

„Privatbesuch" des Bundespräsidenten '

Dank und neue BittenVon dpa-Korrespondent Dieter Btislau

Heerr Bundespräsident, wiralle danken Ihnen von ganzemHerzen". Mit Transparenten,lautem Händeklatschen undBlumen begrüßten am Sonntagmittag DDR-Übersiedler Bun-despräsident Richard von Weiz-säcker in der Katastrophen-schutzschule des Bundes inAhrweiler (Rheinland-Pfalz).Von Weizsäcker hat te sichüberraschend zu einem - wie erverlauten ließ - „rein privatenBesuch" - in der Schule, die seitdem vergangenen Donnerstagden Flüchtlingen eine erste Blei-be bietet, angemeldet.

Von Weizsäcker wurde vonden DDR-Bürgern sofort um-ringt; ohne Scheu drückten sieihm Zettel in die Hand, die als„Bittschriften" gelten sollten, er-zählten von Freunden, die ver-haftet worden seien und um diesich von Weizsäcker kümmernsollte. Eine 45jährige Frau be-richtete von ihrem wegen Repu-blikflucht inhaftierten Schwie-gersohn. Zwei Männer, die ihreFrauen und Kinder zurückge-lassen hatten, baten um Hilfe.

Ein 17jähriger strahlte: „Ichbin Bäckerlehrling und habe in

Ahrweiler eine Lehrstelle ge-funden, morgen fange ich an."Der Junge war mit seinem40jährigen Vater in die PragerBotschaft geflüchtet. Der Vatervertraute den Zusagen vonDDR-Rechtsanwalt Vogel, inKürze ausreisen zu dürfen undkehrte nach Hause zurück.

Der Bundespräsident schüt-telte viele Hände, fragte nachNamen und Alter und nach per-sönlichen Schicksalen. „Wirwerden alles tun, damit Sie hierbei uns einen guten Anfang ma-chen können", bekräftigte dasStaatsoberhaupt. A n die Adres -se der DDR-Regierung appel-lierte von Weizsäcker: „An er-ster Stelle muß jetzt die legaleAusreiseerlaubnis stehen". Dieüberwältigende Hilfsbereit-schaft der Bundesbürger seisehr lobenswert. <v

Die zumeist jungen DDR-Flüchtlinge zeigten sich durch-weg optimistisch: Arbeitsplatz-angebote gab es, ebenso Ange-bote für Wohnungen. Überwäl-tigt waren sie von der Gast-freundschaft der Einheimi-schen. Es gab private Einladun-gen in Hülle und Fülle.

Page 4: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSACHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMEINEUNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 236 • Dienstag, 10.10.1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Umweltorganisationen:

„Sanierung derBergtäler jetzt"

München (dpa). Ein Not-standsprogramm für die Sanie-rung der Bergtäler in den Alpenhaben mehrere Umweltorgani-sationen in einem Appell an dieheute beginnende Internationa-le Alpenkonferenz in Berchtes-gaden gefordert. Vor allem derstark angestiegene Autoverkehrbedrohe den alpinen Lebens-raum „wie eine Lawine", unge-heure Mengen von Luftschad-stoffen führten zum Absterbendes Schutzwaldes.Siehe auch Kommentar

Etat 1990

Loch imHaushalt

20,5 MillionenMark Defizit weistder Haushalt 1990der Stadt Kassel auf.Auch aus den Vor-jahren bleibt ein Mi-nus: Seit 1982 ver-größerte sich dasHaushaltsloch auf38 Millionen Mark,Ende 1990 sind esvoraussichtlich 58Millionen. Lokales.

Tass meldet Ufo-Landung

Außerirdische in derSowjetunion gesichtet

Jetzt haben wir esamtlich: Die Erde ist- laut der staatli-chen sowjetischenNachrichtenagen-tur Tass - von Au-ßerirdischen heim-gesucht worden.Als Landeplatzwählten die Besu-cher aus dem All diezentralrussischeStadt Woronesch.

Wissenschaftler be-stätigten laut Tassdie Berichte von Au-genzeugen, die„menschenähnlicheWesen" erkannten.Gefallen hat es de-nen bei den Sowjetsoffenbar nicht. Nacheinem „Spaziergang"düsten sie wieder ab.Näheres auf „Blick indie Zeit".

280 Stellen

VW suchtPersonal

Das VW-WerkKassel braucht „soschnell wie mög-lich" 280 Fachkräfteaus Elektro- undMetallberufen fürdie Produktion. Daswurde gestern imRahmen einer Be-triebsversammlungbekannt. Siehe Be-richt auf der Wirt-schaftsseite.

Medizin/Kxebsforsch ung

Nobelpreis anzwei Amerikaner

Den amerikani-schen GenforschernMichael Bishop undHarold Varmus istgestern der diesjäh-rige Nobelpreis fürMedizin zuerkanntworden. Die beidenWissenschaftler ha-ben grundlegendeMechanismen derKrebsentstehunggeklärt. Sie ent-

deckten, daß Stö-rungen in einer be-stimmten Gruppevon Erbträgern -den sogenanntenOnkogenen - dazuführen können, daßeine normale Zellein eine Krebszelleverwandelt wirdund eine Krebsge-schwulst veranlaßt.Siehe Kultur.

SED zeigt Dialogbereitschaft

Leipzig: 70 000auf den Straßen

Ostberlin/Leipzig (dpa). In Leipzig haben am Montagabend rund 70 000 Menschen für Reformen, demokratischeErneuerung und einen friedlichen Dialog in der DDR demon-striert. Es war die bisher größte nichtstaatliche Demonstra-tion in der DDR außerhalb des Volksaufstandes vom 17. Juni1953. Ein riesiges Aufgebot von Sicherheitskräften schirmtedie Innenstadt ab, hielt sich aber im Hintergrund.

Die Massendemonstrationhatte sich nach Friedensan-dachten in mehreren Kirchender Stadt formiert. Die Men-schenmassen zogen über denRing, der um die Leipziger Alt-stadt führt. Zuvor hatten Mit-glieder von Menschenrechts-gruppen und Kirchenvertreter,darunter auch LandesbischofHempel, sowohl Demonstrantenals auch Sicherheitskräfte zurBesonnenheit und Gewaltlosig-keit aufgerufen.

In einer gemeinsamen Leipzi-ger Erklärung von SED-Bezirks-leitung und Kulturvertreternwurden Dialogbereitschaft undGespräche zugesagt, um, zufriedlichen Lösungen und positi-ven Schritten in der DDR-Ge-sellschaft zu kommen. Diese Er-klärung war vor den Gottes-

diensten vom sogenanten Stadt-funk in Leipzig wiedergegebenworden. Das sind Tonsäulen inder Innenstadt, "die über beson-dere Ereignisse und Veranstal-tungen Auskunft geben. Auchin Dresden hatte es gestern Ge-spräche zwischen Protestieren-den und SED-Kommunalpoliti-kern gegeben.

Bei dem Friedensgebet in dervollen Nikolaikirche in Leipzigwar erneut die Freilassung derzahlreichen Menschen gefor-dert worden, die bei Demonstra-tionen für Reformen inhaftiertworden waren. Am Wochenen-de hatte es in mehreren Städtender DDR Demonstrationen gege-ben. Kirchenkreisen zufolgesind mehrere Hundert festge-nommen und zu Haftstrafen ver-urteilt worden.

Ostberlin: Alles Randalierer

Bonn verurteiltPolizeieinsätze

Ostberlin/Bonn (dpa/AP). DieBundesregierung und alle Bon-ner Parteien haben das massiveVorgehen der DDR-Sicherheits-kräfte vom Wochenende scharfverurteilt.

Nach Auffassung von Bun-deskanzler Kohl ist das gewalt-same Vorgehen Ausdruck „tie-fer Unsicherheit der Verant-wortlichen in Ostberlin". Der

F,in Bericht auf „Themen des Ta-ges" erörtert die Frage nach demNutzen von Finanzhilfen.

Kanzler forderte die DDR-Füh-rung auf, endlich politische undwirtschaftliche Reformen einzu-leiten und auf die Bedürfnisseund- Sorgen ihrer Bürger einzu-ge.hen. Er wiederholte sein An-gebot, der DDR „umfassend undweitreichend" in allen Berei-chen zu helfen, wenn dortgrundlegende politische, sozialeund* wirtschaftliche Reformeneingeleitet würden.

Das SPD-Präsidium appellier-te an die DDR-Führung, ein„Zeichen der Hoffnung" zu set-zen und einen Prozeß der Demo-

kratisierung einzuleiten. FDP-Generalsekretärin Schmalz-Ja-cobsen protestierte dagegen,daß die DDR-Führung meine,ihre Existenzberichtigung er-prügeln zu können. Die Grünenin Bonn forderten die Respektie-rung des Grundrechts auf De-monstrations- und Meinungs-freiheit in der DDR.

Die Ostberliner Zeitungen ta-ten gestern die Demonstrationenals Störungen von Randalierernab. DDR-Staats- und ParteichefHonecker hat zeitgleich denLeiter einer chinesischen Regie-rungsdelegation, das Politbüro-mitglied Yao Yilin, empfangen.Honecker betonte, „daß sich dieSED und die DDR stets den An-forderungen der Zeit gestellt ha-ben".

Der DDR-Staatschef bekräf-tigte: „Jeglicher Versuch desImperialismus, den sozialisti-schen Aufbau zu destabilisie-ren, seine Erfolge und Errun-genschaften zu verleumden",seien jetzt und künftig nichts an-deres, „als das fruchtlose An-rennen eines Don Quichote ge-gen sich unbeirrbar bewegendeWindmühlenflügel".

DDR-Flüchtlinge

50 000 indrei Monaten

München/Bonn/Warschau(AP). In den letzten drei Mona-ten sind fast 50 000 DDR-Flüchtlinge aus Ungarn sowieaus Prag und Warschau in derBundesrepublik eingetroffenDiese Zahl nannte gestern derBundesgrenzschutz in Mün-chen. Von Sonntag bis Montaggelangten erneut 649 Obersied-ler über Ungarn nach Bayern. Inder Bonner Botschaft in War-schau wurden bereits wieder400 neue Flüchtlinge registriert,in, der Vertretung in Prag hielten•steh-20 bis 30 Zufluchtsuchendeauf. In Bonn hieß es, man bemü-he sich in Warschau um einehumanitäre Lösung.Siehe auch „Themen des Tages"

Nach Massenfestnahmen

EINE FESTE DER DDR-OPPOSITION ist die Gethsemane-Kirche imOstberliner Bezirk Prenzlauer Berg. Derzeit treffen sich meistjunge Menschen zur „Fürbitte für die zu Unrecht Inhaftierten". DieFührung der Kirche rief gestern die Demonstranten zur Zurück-haltung auf. Bischof Forck erklärte: „Die beunruhigten Menschenunseres Landes bitten wir dringend, jetzt von nicht genehmigtenDemonstrationen auf den Straßen abzusehen". Der OstberlinerPfarrer Eppelmann hat der DDR-Opposition vorgeschlagen, in dennächsten zwei Wochen alle Formen des Protestes zu unterlassen,die die Gewalt des Staates herausfordern. (dpa-Funkbild)

Haftanstaltensind voll

Ostberlin (dpa). Die Ostberli-ner Haftanstalten und Polizeire-viere sind wegen der Massen-festnahmen offenbar voll. DiePolizeiwagen müssen mit ihrerLadung „Zugeführter" oft langein der Stadt herumfahren, umfreie Kapazitäten zu finden. Be-richten zufolge geht es in denRevieren zum Teil recht ruppigzu. „Das ist ein rechtsfreierRaum. Die können mit uns ma-chen, was sie wollen, ohne daßKonsequenzen drohen", sagtenBetroffene nach ihrer Entlas-sung.

Präsident der DDR-Schriftsteller / Flüchtlingszüge

Kant spricht von „Niederlage"Berlin (dpa). Immer mehr pro-

minente DDR-Bürger äußern öf-fentlich Kritik an den Verhält-

nissen in ihremLand. Man-gelnde Freizü-gigkeit von Ide-en und einen„allwaltendenPädagogismus"beklagte derPräsident desDDR-Schrift-stellerverban-des, Kant(Foto). Ähnli-ches war bis-

lang zu hören von Vorstands-mitgliedern der Ost-CDU undder Ost-Liberalen sowie vomstellvertretenden Kultusmini-ster Höpcke.

Hermann Kant - auch Mit-glied des SED-Zentralkomitees- äußerte erstmals deutlicheKritik an den DDR-Medien. Ineinem am Montag von der FDJ-Zeitung „Junge Welt" veröffent-

lichten „Offenen Brief" sprachKant von „Selbstherrlichkeit imPressewesen" und Unterdrük-kung von Kritik an kritikwürdi-gen Zuständen. Er beklagteauch eine „verordnete Absti-nenz gegenüber Gütern, die an-derswo als Normbestandteiledes 20. Jahrhunderts gelten". Erglaube nicht, daß „unsere der-zeitige Niederlage" einzig aufdas Wirken des „allbösen Klas-senfeindes" zurückzuführen sei.

Schärfsten Widerspruch legeer ein, wenn man den Anscheinerwecke, „ich sei des Glaubens,meines Gegners Kraft allein ver-anlasse junge Frauen, ihre Kin-der über Botschaftszäune zu rei-chen, und dieselbe Kraft bewegejunge Männer, freiwillig Quar-tier in fremden Kasernen zu su-chen". Man sollte in der DDR„weniger vor dem Sumpf da drü-ben warnen", den es gebe, son-dern sich „mehr an die eigeneNase fassen." Freiheit bestehenicht nur in der Abwesenheit

von Arbeitslosigkeit, Kriminali-tät, Elend und Bildungsnot.

Eine Niederlage sei eine Nie-derlage, „und passe sie noch soschlecht in den Vorabend einesgloriosen Feiertages", meinteKant und fügte unter Hinweisauf die Flüchtlingswelle hinzu:„Die Züge, mit denen die Deut-sche Reichsbahn, die einstensLenin aus der Schweiz durchDeutschland nach Rußlandtransportierte, nunmehr Bürgerder Deutschen DemokratischenRepublik via DDR aus War-schau nach Braunschweig ver-frachtet, sind nun einmal wahr-lich keine Siegeszüge. UnseresSieges jedenfalls nicht."

Erstmals gab es auch eine Äu-ßerung einer prominentenSportlerin. Die populäre Eis-kunstlauf-Olympiasiegerin Ka-tarina Witt meinte: „Mir tut essehr weh. Ich bin traurig, daßvor allem so viele junge Leuteihre Heimat verlassen".Siehe auch „Zum Tage"

Zum Tage

ZwischenrufIn geschlossenen politischen Sy-stemen wie dem der DDR wird jedeKritik im System zwangsläufig zueiner Krjtik am System. Das machtdie Menschen stumm. Melden siesich nämlich zu Wort, werden siegeächtet. Dann gehen sie schonlieber gleich, was dem Staat amEnde auch lieber ist. Wer draußenist, kann drinnen nicht widerspre-chen. Das gilt allgemein, aber be-sonders für diejenigen, deren Be-ruf es ist, sich zu äußern, fürSchriftsteller also, Künstler, Intel-lektuelle.

Viele hat die DDR im Laufe derJahre einfach ausgesondert. Siedurften oder mußten gehen. Ande-re läßt sie als opponierende Einzel-gänger gewähren. Mit nicht weni-gen jedoch versteht sie auch sichzu schmücken, indem sie ihnen ei-nen gewissen artistischen Auslaufläßt. Zu ihnen gehört HermannKant, Präsident des Schriftsteller-verbandes, ZK-Mitglied und dazuein brillanter Kopf und Schreiber.

Ob er das in den Augen desRegimes bleiben wird, nachdem ersich in ungewohnt kritischen An-merkungen zur Lage Luft gemachthat, wissen wir nicht. Könnte sogarsein, daß Kant die Diskussion eröff-net hat, zu der die SED sich nundoch gezwungen sieht. Das wäreein Fortschritt und ein gutes Zei-chen allemal. Fast sieht es so aus,als käme etwas in Gang.

Lothar Orzechowski

Unterzeichnung in Bonn

Umschuldungfür Polen

Bonn (dpa). Nach mehrwöchi-ger Verzögerung haben die Re-gierungen von Warschau undBonn gestern die Umschuldungfür 2,5, Milliarden DM polni-scher Zahlungsverpflichtungenunter Dach und Fach gebracht.Mit der Unterzeichnung desdeutsch-polnischen Abkom-mens auf der Basis internationa-ler Vereinbarungen ist zugleichein weiteres Element für gezieltenationale und international ab-gestimmte Hilfen an Polen er-füllt.

Vogel nach Warschau

Eine SPD-Delegation unterLeitung von Partei- und Frak-tionschef Vogel reist heute zuinem dreitägigen Besuch nach

Polen. In Warschau sind unteranderem Treffen mit Staatsprä-sident Jaruzelski, Ministerprä-sident Mazowiecki, führendenVertretern der Solidarität undRepräsentanten der Kirche so-wie der deutschen Minderheitaus Oberschlesien geplant.

Mazowiecki wurde gestern'vom Fraktionschef der Solidar-nosc, Geremek, zu einemschnelleren Reformtempo ge-mahnt. Es seien Änderungenvon geschichtlichem Ausmaßerrungen' worden, sagte Gere-mek, an den Wünschen der Ge-sellschaft gemessen sei dies aber„zu wenig".

Siehe auch Kommentar

Die endgültigen QuotenLotto: Gewinnklasse I 3 718 199,40DM; II 67 603,60 DM; III 7521,60DM; IV 124,50 DM; V 9,70 DM.Toto:Auswahlwette: I. unbesetzt, Jackpot2 015 747,30 DM; II. 90 492,70 DM;II. 8226,60 DM; IV. 124,30 DM; V.1,30 DM. - Ergebniswette: I. 5412,50DM; II. 211,60 DM; III. 20,90 DM.tennquintett:lennen A: Gewinnklasse I 627,80)M; II 143,50 DM.lennen B: Gewinnklasse 1124,- DM;I 49,90 DM.ombinationsgewinn: Kombinations-[ewinn unbesetzt, Jackpot 30 099,20)M.

(Ohne Gewähr)

Page 5: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 236 Themen des Tages Dienstag, 10. Oktober 1989

Ermutigungder ReformerM i t ihrer Bereitschaft, den Re-formprozeß im Ostblock durchwirtschaftliche Hilfen zu unterstüt-zen, macht die Bundesrepublikjetzt ernst. Das deutsch-polnischeUmschuldungsabkommen ist einerster Schritt dazu. Es erleichtertWarschau die Rückzahlung vonLieferkrediten und verschafft derneuen Regierung eine finanzielleAtempause. Damit sind die eigent-lichen Probleme Polens jedoch beiweitem nicht gelöst. Bevor Bun-deskanzler Kohl im Novembernach Warschau reist, wird über dieTilgung des Milliärdenkredits von1975 und über neue Bürgschaftenfür westdeutsche Investitionen ent-gültig zu entscheiden sein.

Finanzielle Hilfen sind nur sinn-voll, wenn sie der Wirtschaft unmit-telbar zugutekommen und damitdie Versorgung der Bevölkerungverbessern. Deshalb will Bonn un-ter alten Umständen vermeiden;daß die gewährten Kredite denpolnischen Staatshaushalt sanie-ren helfen und in öffentlichen Kanä-len versickern. Die Förderung desprivaten Bereichs und die Finanzie-rung gemeinschaftlicher Unterneh-mungen sollen im Vordergrund ste-hen. Diese Politik wird jedoch nurdann erfolgreich sein, wenn diepolnische Regierung sie durchwirtschaftliche Reformen unter-stützt und ergänzt.

Als Gegenleistung erwartetBonn, daß die kulturellen Rechteder in Polen lebenden Deutschengesichert werden. Die RegierungMazowiecki scheint grundsätzlichbereit, den Deutschunterricht för-dern zu wollen, die Gründung vonVereinen zu erlauben und Gottes-dienste in deutscher Sprache zu-zulassen. Von den Kommunistenwird sie deswegen schon der Ver-zichtpolitik beschuldigt. Man mußbefürchten, daß das Gesamtpaketder deutsch-polnischen Vereinba-rungen weder die eine noch die

, andere Seite voll zufriedenstellt.Trotzdem wird es die Reformkräfteermutigen.

Achim v. Roos

Wenig Hoffnungfür die Alpenc-\sx Sennerin auf der Alm werdendie Touristen heute busweise ge-karrt, die „kuhwarme Alpenmilch"und den „guten Käse", die mandort kauft, bringt der Lkw der Mol-kereigenossenschaft in aller Herr-gottsfrühe. Der romantische Traumvon der unberührten Natur existiertnur noch in den Prospekten.

Jahrzehntelang wurde die wirt-schaftliche Ausbeutung der Alpen-region als Fortschritt gepriesen-.Selbst heute noch tun sich die Be-troffenen schwer damit einzuse-hen, welch bleibende Schädenman der Bergwelt schon zugefügthat. Denn beide Seiten haben vondem Tourismus profitiert. Bauernwurden zu Pensions- oder gar Ho-telbesitzern, ihre Kinder verdienenals Skilehrer in wenigen Monatenmehr als in der Landwirtschaft imganzen Jahr. Und die Urlauberfreuen sich auch, wenn sie im Som-mer gut ausgebaute Wanderwegevorfinden und im Winter perfektpräparierte Skihänge, die mög-lichst durch ein ausgeklügeltesLift-System verbunden sind. Natür-lich müssen die Zufahrtsstraßenentsprechend ausgebaut sein, da-mit man sich bei An- und Abreisenicht stundenlang quälen muß.Doch damit noch nicht genug.Auch die Autokarawanen jener Ur-lauber, die das Gebirge nur alslästiges Hindernis auf dem Wegans Mittelmeer betrachten, fügenihm schwere Schäden zu.

Für die Alpen sieht es düsteraus. Die Sieben-Länder-Konferenzin Berchtesgaaen steht vor der un-lösbaren Aufgabe, eine Schutzkon-vention zu verabschieden, die denAlpen und allen betroffenen Staa-ten gerecht werden soll. Wer vomTourismus lebt, wird ihn sich nichtverbieten lassen.

Mehr als die Beschlüsse der Poli-tiker fürchten die Investoren dasWetter. Noch fünf, sechs schnee-arme Winter und regenreiche Som-mer - das wäre ihr Ruin. Wahrlich,eine schwache Hoffnung für dieNatur. Peter Ochs

Das Zitat„Marx ist Murks - wer das nichtbegreifen will, dem ist nicht zu heifen."

Der Würzburger ProfessorHermann von Berg

'ie SED-Führung könnte. ei-gentlich froh sein, daß sichselbst der Klassenfeind wegendes Ausblutens ihrer RepublikSorgen macht und die Lebensbe-dingungen der DDR-Bürgerdurch eine an Reformen gekop-pelte wirtschaftliche Hilfe soweit verbessern will, daß sienicht mehr in Scharen dem Ar-beiter- und Bauernstaat davon-laufen. Bundeskanzler KohlsAngebot an Ostberlin für eineweitreichende Zusammenarbeit,soeben bekräftigt von CDU-Ge-neralsekretär Rühe, erfolgte inso eindringlicher und auch viel-versprechender Form, daß bei-nahe jedes andere Ostblocklandwie etwa Ungarn oder Polen so-fort mit beiden Händen zugrei-fen würde.

Bonns Hilfsangebot an Ostberlin /Reformen ja oder nein?

Das große Dilemma der SEDVon unserem Redaktionsmitglied Jürgen Nolte

Die zwei Risiken

Aber was jenen wie eine Ver-heißung erschiene, wirkt bei denOstberliner Machthabern wieein Kloß im Magen, der ihr all-gemeines Unwohlsein nur nochverschlimmert. Denn das Bon-ner Angebot potenziert ihre Er-kenntnis von dem großen Dilem-ma, in das sie in erster Linie derungeliebte Genosse Gorba-tschow hineinmanövriert hat:Beharren sie als einzige unterden östlichen Bündnispartnernauf dem Sozialismus stalinisti-cher Prägung, droht die Gefahr

einer vollständigen Isolation so-wohl international als auch imeigenen Land, an deren Ende derstaatliche Kollaps stehen kann.Öffnen sie sich dagegen durch-

greifenden Reformen, könntedies zum Verlust der sozialisti-schen Identität führen - die aberist die einzige Rechtfertigung fürdie DDR-Eigenstaatlichkeit.

Das Bonner Hilfsangebot mußda wie eine gewalttätig-gefährli-che Umarmung erscheinen, ausder es, sich einmal ihr hingege-ben, kein Entrinnen mehr gibt.Für die alten Männer in derSED-Führung läuft es auf dieFrage hinaus, ob sie sich denSozialismus Stück für Stück ab-kaufen lassen solle'n.

Der führende DDR-ÖkonomProf. Otto Reinhold beschriebdie Ostberliner Seelenpein so:„Wir können nicht ein Achteloder Viertel Kapitalismus ein-führen und den Rest soziali-stisch organisieren. Wir werdendann gezwungen sein, immermehr marktwirtschaftliche Ele-mente einzuführen." Und nochplastischer formuliert er: „Mankann nicht nur ein bißchenschwanger sein."

In Bonn weiß man natürlichum dieses Dilemma, hütet sichaber, in dieser Wunde noch her-umzustochern. Der Leiter desArbeitsstabes Deutschlandpoli-

tik im Bundeskanzleramt, Dr.Klaus-J. Düsberg, legte gegen-über unserer Zeitung Wert aufdie Feststellung, daß es der Bun-desregierung bei ihrer Initiativeausschließlich um bessere Le-bensverhältnisse für die Men-schen im anderen Teil Deutsch-lands gehe. „Die Menschen inder DDR wollen einen wirt-schaftlichen Wohlstand, der ih-rer Leistung entspricht", hattedazu in der vergangenen WocheBundeskanzler Kohl erklärt.Dann werde auch eine wesentli-che Triebfeder zu Ausreise undFlucht entfallen.

Noch nicht konkret

Hier will die Bonner.Offertezuallererst ansetzen. Düsberg:„Vorrangig sind Reformen in derDDR-Planwirtschaft, denn sonstkann eine effektive Wirtschafts-hilfe nicht greifen." Dies erkläreauch, warum es auf Bonner Seitenoch kein konkretes Vorschlag-spaket gebe,

Daß es im Gefolge erster Libe-ralisierungsmaßnahmen in derDDR-Wirtschaft auch zu denvon der Bevölkerung heiß er-

sehnten politischen Reformenmit dem Ziel von mehr persönli-chen Freiheiten kommt, wird indem Konzept Kohls zunächst alseine eher unausgesprocheneHoffnung gehegt.

Überhaupt keinen Platz habenda Spekulationen, die sich umdas ost-westliche ReizwortWiedervereinigung ranken.Grundbedingung für politischeVeränderungen in der DDR istdie Beibehaltung des territoria-len Status Quo, also die Auf-rechterhaltung der Staatlichkeitder DDR. Diese von Moskauvorgegebene Prämisse hat Bun-deskanzler Kohl, der seit An-fang August mit Beginn derFlüchtlingswelle ständig in tele-fonischem Kontakt mit Gorba-tschow stand, gegenüber demKremlchef bestätigt.

Nach Bonner Informationenhat Moskau aber nicht gesagt,daß dies für alle Zeiten gelte.Am Horizont erscheint hier dieVision Gorbatschows vom „ge-meinsamen europäischenHaus", in dem alle Grenzen ih-ren trennenden Charakter ver-lieren sollen.

Mag die Garantie des sowjeti-schen Staatschefs für den Fort-

bestand der DDR Erich Ho-necker zunächst beruhigen, sogibt ihm die andere Seite derMedaille Anlaß zu höchster Be-unruhigung: Die Sowjetunion,die im Interesse ihrer eigenenUmgestaltungspolitik eine DejStabilisierung ihres deutschenVerbündeten unter allen Um-ständen vermeiden will, fordertimmer drängender Reformenauch im SED-Staat. Damit hatBonn mit seiner Initiative dendenkbar stärksten Bundesge-nossen an seiner Seite - entspre-chende Signale liegen aus Mos-kau vor -, und Ostberlin kann essich wohl kaum leisten, dasHilfsangebot in Bausch und Bo-gen'zu verwerfen. .,•;..

Auch Joint ventures?

Vorgeschlagen wird darin einAusbau der DDR-Konsumgüter-industrie, die gemeinsame Ent-wicklung von Umwellschutz-technologien, eine Zusammen-arbeit in den Bereichen Wissen-schaft und Verkehr - nur, wiesich die Projekte im einzelnendarstellen könnten, hängt vondem Vermögen der DDR-Wirt-schaftsplaner ab, sich von ihrenstarren Grundpositionen zu lö-sen. Zu einer intensiveren Zu-sammenarbeit würden Kredit-bürgschaften, Investitions-schutzabkommen und Joint ven-tures (Gemeinschaftsunterneh-men) mit marktwirtschaftlichenMechanismen gehören, wie siebereits in Ungarn, Polen und derUdSSR mit steigendem Erfojgpraktiziert werden.

Presse-EchoSkepsis darüber, ob die DDR ihre bishe-rige Politik ungeachtet der Widerständeim Land und der Fluchtbewegung ein-fach so fortsetzen kann, und deutlicheKritik am Vorgehen der Sicherheitskräf-te gegen Demonstranten kennzeichnendie Berichterstattung in der internatio-nalen Presse:

ALLGEMEEN DAGBLAD(Rotterdam)

Die Art und Weise, in der dieostdeutsche Polizei die Demon-stranten in den verschiedenenStädten auseinandergetriebenhat, läßt das Schlimmste be-fürchten, nämlich, daß Ho-necker seine früher geäußerteDrohung wahr macht und eine„chinesische Lösung" anstrebt.

EL PAIS

(Madrid)Die Ereignisse beim 40. Jah-

restag zeigen, daß immer mehrGewalt angewendet werdenmüßte, um den jetzigen Zustandaufrechtzuerhalten. Aber dasEuropa von heute läßt kein Ti-ananmen (in Peking) in Berlinzu. Dieser Weg ist Honeckerverbaut.

LA STAMPA(Turin)

Es bewegt sich jedoch etwasin der DDR. Am Sonntag wurdedie Sozialdemokratische Parteigegründet, ohne daß das Regimedie 80 Versammelten bei der Er-öffnungszeremonie störte. DerBesuch von Gorbatschow, derHonecker zur Perestroika auf-forderte, hat seine ersten Früch-te gebracht.

THE GUARDIAN(London)

Probleme scheinen MichailGorbatschow zu begleiten. Wo-hin er auch immer in der kom-munistischen Welt reist, alleinseine Anwesenheit provoziertschon einen Aufstand des Gei-stes mit Zehntausenden, die aufder Suche nach dem bißchenFreiheit, die die sowjetische Ge-sellschaft erfaßt hat, auf denStraßen marschieren,

COBBIEBS DSLLA SEBA(Mailand)

Ungarn weist den Kommunis-mus zurück, während in Berlineine Veranstaltung, die ein Festwerden sollte, wie eine Beerdi-gung endet...

Honecker hat gut daran getan,Bertold Brecht als einen der Vä-ter dieses zerbrechlichen ost-deutschen Vaterlandes zu zitie-ren, denn vielleicht könnte nurer, mit seinem rüden Ge-schmack für das Paradoxe, die-ses zugleich' außerordentlicheund beunruhigende Schauspielbeschreiben, das, in diesen Ta-gen in Osteuropa abläuft...

Honeckers verlängerter Arm (Karikatur: Wolf)

Die Sozialdemokratische Partei (SDP) in der DDR / Grundsatzpapier

Ziel: Parlamentarische DemokratieVon unserem Mitarbeiter Peter Gärtner, Berlin

Aiss sich Ende Juli am Randeeines Menschenrechtsseminarsin Ostberlin die Initiativgruppezur Gründung einer Sozialde-mokratischen Partei in der DDRgründete, da gab es nur wenige,die dieser Gruppierung über-haupt eine Chance einräumten.„Das wird ja eine Pfaffen-Verei-nigung", hieß es spöttisch in op-positionellen Kreisen. Die Kriti-ker bemängelten vor allem „Kir-chennähe", da bei der Geburtder Initiative einige im zweitendeutschen Staat recht bekanntePfarrer wie Martin Gutzeit ausOstberlin und Markus Meckelaus Magdeburg kräftig mithal-fen. Zum Geschäftsführer deram Wochenende aus der Taufegehobenen SDP ist allerdingsein Historiker, Ibrahim M. Böh-me (35), bestellt worden.

Ganz abgeschieden von denFeierlichkeiten zum 40. Jahres-tag der Staatsgründung, aber si-cher vor den Sicherheitsorga-nen, trafen sich - wie berichtet -43 Initiativmitglieder am 7. Ok-tober im kleinen Dorf Schwante,einige Kilometer nordöstlichvon Berlin. In der Gründungsur-kunde heißt es, man wolle aufeine „ökologisch orientierte so-ziale Demokratie" hinwirken.Dafür soll erst einmal eine breiteBasis gefunden werden: „DieMitglieder der SDP suchen dieZusammenarbeit mit allen de-mokratischen Initiativen, Grup-pen und Personen in unseremLande, ungeachtet ihrer Struk-tur, ihrer weltanschaulichenund sozialen Bindung."

Im Gegensatz zur größtenSammlungsbewegung in derDDR, dem „Neuen Forum", hatdie SDP seit Ende August be-reits ein ausformuliertes Grund-satzpapier. Das ehemalige SED-Mitglied Ibrahim M. Böhme er-läuterte auf dem Podium der„Zukunftswerkstatt" („Wie nunweiter DDR?") in der überfülltenOstberliner Erlöserkirche denHintergrund der Positionsbe-stimmung.

Für Gewaltenteilung

Die wichtigsten Forderungender SDP heißen Rechtsstaat undstrikte Gewaltenteilung, eineparlamentarische Demokratiemit einem Mehrparteiensystem,Demokratisierung der vorhan-denen Wirtschaftsstrukturen,soziale Marktwirtschaft undFreiheit für die Gewerkschaften.Wie die anderen neuen opposi-tionellen Sammlungsbewegun-gen tritt auch die SDP nicht füreine Wiedervereinigung beiderdeutscher Staaten ein.

In dem Statutenteil der Partei,das am letzten Sonnabend mitder Gründung in Kraft trat undbis zum ersten Parteitag geltensoll, wird hervorgehoben, daßsich die SDP-Mitglieder „denTraditionen von Demokratie,sozialer Gerechtigkeit sowieVerantwortung für die Bewah-rung der natürlichen Umweltverpflichtet fühlen". Die neuePartei stehe den Traditionen desdemokratischen Sozialismus der

europäischen Sozialisten undSozialdemokraten nahe. Manwolle nun die Mitgliedschaft inder „Sozialistischen Internatio-nalen" (SI) beantragen und auchim eigenen Land versuchen, dieSDP auf legale Füße zu stellen.

Traditionen spielen nicht nurim Statut der SDP eine wichtigeRolle, auf die baut man auch beider jetzt erhofften Eintrittswel-le. Schließlich galt die früheresowjetische Besatzungszonenach der Neuzulassung der SPDin Deutschland nach 1945 als„rote Hochburg". Zwischen Elbeund Oder zählte die Partei kurznach dem Ende des ZweitenWeltkrieges schon wieder über600 000 Mitglieder - mehr als inallen drei westlichenBesatzungszonen zusammenge-nommen. Und in Thüringen undSachsen liegen auch die Wur-zeln der deutschen Sozialdemo-kratie, die 1875 in Gotha zu-nächst als „Sozialistische Arbei-terpartei Deutschlands" gegrün-det wurde. Die wesentlichenProgramme und Richtungsbe-stimmungen wurden in den thü-ringischen Städten Erfurt undEisenach festgeklopft.

Nach der Zwangsvereinigung1946, aus der die SED hervor-ging, blieb die SPD nur auf demGebiet Groß-Berlins aufgrunddes Vier-Mächte-Status derStadt neben der SED bestehen.Erst nach dem Bau der Mauerbeschloß der Westberliner SPD-Landesverband die „vorläufige"Auflösung der OstberlinerKreisverbände.

DDR-Bürger / Warschau

AbenteuerlicheFlucht-AktionenVon Renate Marsch, dpa

J J i e Flucht der DDR-Bürger,die in der Bonner Botschaft inWarschau eintreffen, gleicht im-mer mehr einer Odyssee. Offi-zielle Reisegenehmigungennach Polen sind nur nochschwer zu erhalten. Diejenigen,die doch noch Freunde oderVerwandte'" k jenseits der„Freundschaftsgrenze'' vonOder und Neiße besuchen dür-fen, werden an der Grenze ge-nauesten Kontrollen und oftauch regelrechten Verhören un-terzogen. Dreimal habe sie ihreGeschichte vom Geburtstag derCousine erzählen müssen, be-richtet eine junge Frau. Manhabe sie trotz des bevorstehen-den Wochenendes auch gefragt,warum denn das schulpflichtigeKind mitkomme. Auch die Kin-der wurden getrennt von den El-tern nach dem Reiseziel und derTante in Polen befragt.

Wer irgendwie aufgefallen ist,braucht sich erst gar nicht umeine Reisegenehmigung zu be-mühen: Einem jungen Mannnahm die Kriminalpolizei seinenPersonalausweis ab, weil er ei-nige Tage vorher sein Geld vomKonto abgehoben hatte.' Ver-dächtig macht sich auch, wersein Auto umschreiben läßt,Schenkungsurkunden ausstelltoder wem man Reisegenehmi-gungen nach Bulgarien oder Un-garn verweigert hat. Die Grenz-wachen der DDR filzen die Rei-senden nach Geld und Papieren,aber auch Stadtpläne von War-schau können Anstoß erregen.

So versuchen jetzt immermehr Menschen - oft mit kleinenKindern - sich ohne Ausreisege-nehmigung zur Botschaft nachWarschau durchzuschlagen.Alle berichten von starkenGrenzwachen entlang der Nei-ße. An manchen Stellen sei sieausgebaggert worden, so daßman nicht mehr durchwatenkann. Anderswo lägen Brettermit Nägeln im Flußbett. Vielerobbten sich stundenlang übersumpfiges Gebiet bis zur Grenzevor. Diejenigen, denen es gelun-gen ist, bis zur polnischen Seitezu kommen, sind durchaus nichtin Sicherheit. Die polnischeGrenzpolizei überstellt sie denDDR-Behörden, wenn sie inner-halb des Grenzgebiets ge-schnappt werden.

Sieben junge Leute, darunterzwei Kinder, waren seit Montagauf der Flucht, bis sie am ver-gangenen Samstag in Warschaueintrafen. Sie wateten durch dieNeiße, wobei ihnen das Wasserbis über die Hüften reichte. Amanderen Ufer tappen sie weiter,bis sie einem polnischen Bauernbegegneten, der sie mit nachHause nahm. Dort erhielten siekostenlos Essen und Nacht-quartier. Am nächsten Tagbrachte man sie zum Bahnhof.

Page 6: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSACHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMEINEUNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 237 -Mittwoch, 11.10. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

WHO / Weltweit:

Zehn MillionenAids-Infizierte?

Bonn (dpa). Die Weltgesund-heitsorganisation (WHO)schätzt die Zahl der Aids-Infi-zierten weltweit auf fünf biszehn Millionen Menschen. DieZahl derjenigen, bei denen dieKrankheit bereits ausgebrochenist, betrage vermutlich eine hal-be Million, teilte die WHO ge-stern vor der Enquete-Kommis-sion „Aids" des Bundestages inBonn mit. Gemeldet sind welt-weit aber nur knapp 178 000 Er-krankungen, davon in der Bun-desrepublik 3636 Fälle.

Lilo Pulver 60

Lachender 50er

Denken Sie nochan Piroschka? Damitspielte sich in denfünfziger Jahren Li-selotte Pulver mitburschikosem, la-chenden Charme indie Herzen des Pu-blikums. Heute wirddie SchweizerSchauspielerin(Foto) 60 Jahre alt.Siehe Kultur.

Zimmermann:

Strecke fürTransrapid

Für den Bau einerStrecke Köln-Essenfür das Magnet-bahnsystem Trans-rapid hat sich Bun-desverkehrsmini-ster Zimmermannausgesprochen.Diese Verbindungsei als Flughafenan-bindung denkbar.Siehe auch Wirt-schaft.

Umweltsünder

DrastischeStrafe

Drastische Strafefür den Lkw-Fahrer,der an der Auto-bahn 5000 Literhochgiftiges Kresolaus seinem Tank-lastzug ins Erdreichabließ: Drei JahreHaft, lautet das Ur-teil. Die Richterwollten damit ab-schrecken. Siehe„Blick in die Zeit".

Auf Computer

Viren-Angriff

Computer-Freun-de, seid gewarnt:Experten erwartenfür Freitag, den 13.Oktober, massiveAngriffe von Virenauf Personalcompu-ter. Die heimtücki-schen Schädlingevernichten ganzeDateien. Wie mansich schützt, steht in„Blick in die Zeit".

Handball

Los-Pechfür Essen

Nach der in BaselvorgenommenenAuslosung für dasAchtelfinale desHandball-Europa-pokals spielt Titel-träger Essen gegenRumäniens Rekord-meister Steaua Bu-karest. Bei den Cup-Siegern trifft Groß-wallstadt auf Nimes.Siehe Sport.

SED-Funktionäre bekunden Bereitschaft

Erster Dialog mitDDR-Opposition

Leipzig/Dresden (dpa/AP). Nach den Demonstrationender vergangenen Tage zeichnet sich in der DDR jetzt einDialog zwischen SED-Funktionären und Oppositionellen ab.Die evangelische Kirche in der DDR sprach von erstenzentralen Kontakten.

In Leipzig, wo am Montagabend rund 70 000 Menschenfür Reformen demonstriert hat-ten, ohne daß die Sicherheits-kräfte eingeschritten waren,wurden erste Gespräche ange-kündigt. In Dresden, wo es be-reits ein Treffen zwischen re-formwilligen Bürgern und Ver-tretern der Stadt gegeben hat,wurde eine Fortsetzung der Un-terredung für nächsten Montagvereinbart. f

Der SED-Chef der Stadt Leip-zig, Roland Wötzel, und sein

Warum in den DDR-Hochschulennoch keine Proteste laut wurden,schildert ein Bericht auf „ Themendes Tages".

Chefideologe Jochen Pommertversprachen, „ihre ganze Kraftund Autorität" für „einen freienMeinungsaustausch über dieWeiterentwicklung des Soziali-mus"1 einzusetzen. Er solle nichtner im Bezirk Leipzig, sondernauch „mit unserer Regierung"geführt werden. Diese Erklä-rung, die auch von prominentenKünstlern wie dem Leipziger

Generalmusikdirektor Kurt Ma-sur unterzeichnet wurde, war amMontag abend in mehreren Kir-chen der Stadt verlesen worden.

In Dresden wurden am Mon-tag abend in vier überfüllten Kir-chen die Ergebnisse des erstenGespräches von 20 Bürgern mitOberbürgermeister WolfgangBerghofer mitgeteilt. Berghofersagte zu, daß alle festgenommenDresdner Demonstranten, diekeine Gewalttätigkeiten began-gen haben, noch im Laufe desgestrigen Tages freikommen soll-ten. Ein Kirchenmitarbeiter be-richtete gestern abend in derOstberliner Gethsemanekirche,500 der weit über 1000 in mehre-ren Städten Festgenommen seienwieder auf freiem Fuß.

Berghofer-war bei dem erstenGespräch von Vertretern vonReform- und Kirchengruppenein Neun-Punkte-Katalog vorge-legt worden. Zu gefordertenWahlreformen sagte der Politi-ker nach Angaben einer Bürger-gruppe, auch er sei dafür, daßWahlen wieder „richtige Wah-len" würden.Fortsetzung nächste SeiteSiehe auch Kommentar

Nach friedlicher Demonstration in Leipzig

Bundesregierung sieht„hoffnungsvolle Zeichen"

Bonn (dpa). Die Bundesregie-rung sieht erstmals seit Wochen„hoffungsvolle Zeichen" in derDDR. Kanzleramtsminister Sei-ters (CDU) sagte am Dienstaggegenüber dpa, die Bundesre-gierung habe den friedlichenVerlauf der Demonstration inLeipzig „mit großer Erleichte-rung" aufgenommen.

Dies und die ersten Gesprä-che zwischen den Bürgern unddem Dresdener Stadtrat, sowiedie Erklärung von Sekretärenaus der SED-BezirksleitungLeipzig bewertete Seiters als.^hoffnungsvolle Zeichen".» Bundeskanzler Kohl sagte inseiner Rede zur Eröffnung derFrankfurter Buchmesse, dieDDR-Führung werde den „be-wegenden Ruf nach Freiheit undSelbstbestimmung auf Dauernicht ignorieren können". DenMenschen, die ganz bewußt inder DDR bleiben und sich dortfür Reformen einsetzen, zollte

Kohl „Hochachtung, Sympathieund Solidarität". Deutlich setztesich der Kanzler von einer neu-en Grenzdebatte in der Bundes-republik ab: „Im Europa der Zu-kunft muß es vor allem umSelbstbestimmung und Men-schenrechte gehen, um Volks-souveränität und nicht so sehrum Grenzen oder Hoheitsgebie-te. Denn nicht souveräne Staa-ten, sondern souveräne Völkerwerden den Bau Europa dereinstvollenden." '

Als ein „Zeichen der Hoff-nung" wertete auch SPD-ChefVogel den friedlichen Verlaufder Leipziger Demonstration. Erbetonte, die Menschen in derDDR müßten selbst entscheiden,was für sie richtig sei. Deshalbsollten sich Politiker der Bundes-republik Zurückhaltung bei derErteilung von Ratschlägen aufer-legen. „Wir können helfen, wennwir genauso besonnen bleibenwie die Menschen drüben".

FRANKREICH IST SCHWERPUNKTTHEMA der 41. Buchmesse, die gestern in Frankfurt eröffnetwurde. Unser Bild zeigt vor der Auftaktveranstaltung (von links) Kanzler Kohl, FrankreichsKulturminister Lang und den Vorsteher des Börsenvereins, Christiansen. (dpa-Funkbild)

Frankfurter Buchmesse eröffnet / Menschenrechte

Kohl: Pflicht zur EinmischungFrankfurt (AP/dpa). Im Ringen

um Freiheit, Menschenrechteund Selbstbestimmung gibt esnach Auffassung von Bundes-kanzler Kohl „geradezu diePflicht zur 'Einmischung in in-nere Angelegenheiten"1. Bei derEröffnung der 41. FrankfurterBuchmesse sagte Kohl gestern,die Achtung der unveräußerli-chen Menschenrechte sei „inWahrheit eine Angelegenheitder ganzen Völkergemein-schaft". Da diese Rechte unteil-bar seien, müsse auch „die Soli-darität mit den Verfolgten undUnterdrückten unteilbar sein".

Der französische Kulturmini-ster Lang forderte, alle Völker in

die Kulturen des europäischenKontinents einzubeziehen. Kri-tisch beurteilte er es, wenn die„Bausteine für das gemeinsamekulturelle Haus" nur aus Dallasoder Tokio kämen. Das Mobiliarsollte von europäischer Vielfalt,geprägt, die Fenster weit geöff-net sein gegenüber allen friedli-chen Einflüssen.

Rund 8200 Ausstellern aus 93Ländern nehmen diesmal an derBuchmesse teil, ein neuer Re-kord. Schwerpunktthema istFrankreich.

Zum Messeauftakt warf dieAffäre um das Rushdie-Buch„Die Satanischen Verse" Schat-ten auf die umfassendste Buch-

präsentation der Welt. Die Or-ganisatoren griffen wegen derMorddrohungen islamischerFundamentalisten gegen denAutor, gegen Verleger undBuchhändler zu verstärkten Si-cherheitsmaßnahmen. In einemAppell forderten sie den irani-schen Staatspräsidenten Raf-sandschani auf, den Mordaufrufzurückzunehmen.

Nur wenige ausländischeVerleger haben das umstritteneBuch nach Frankfurt mitge-bracht; die deutschsprachigeAusgabe soll erst nach demMesse,termin erscheinen.Siehe auch „Zum Tage"sowie Bericht im Kulturteil

Polen / „Illegale" DDR-Flüchtlinge

Bald keine Auslieferungmehr an DDR-Behörden?

Warschau/München (dpa). Die polnischenGrenztruppen werden möglicherweise in Kürzevon ihrer bisherigen Praxis abgehen, DDR-Bür-ger, die auf dem Weg zur Bonner Botschaft inWarschau „illegal" in das Land kommen, abzu-fangen und den DDR-Behörden zu übergeben.Dies verlautete am Dienstag aus gut informiertenKreisen der polnischen Hauptstadt. Regierungs-sprecherin Malgorzata Niezabitowska erklärtein einem Interview, diese Frage sei Gegenstandder Sorge von Ministerpräsident Mazowiecki.

Vom 18. September bis zum 5. Oktober hat diepolnischen Grenzpolizei nach eigenen Angaben608 erwachsene DDR-Bürger ausgeliefert, wozunoch eine unbekannte Zahl von Kindern kommt.Diese Praxis beruht auf einem bilateralen Ver-trag mit Ostberlin noch aus dem Jahre 1969.

Unterdessen ebbt der Flüchtlingsstrom aus derDDR ab: In Warschau meldeten sich gestern nuretwa 40 Personen, über Ungarn kamen 480, rund170 weniger als am Vortag.

Anschlag des Verfassungsschutzes

„Celler Loch": Parteienin Bewertung uneinig

Hannover (H.B.). Der vom niedersächsischenVerfassungsschutz initiierte und von Minister-präsident Albrecht (CDU) gebilligte Sprengstoff-Anschlag auf die Außenmauer der Justizvoll-zugsanstalt Celle am 25. Juli 1978 wird von denRegierungs- und Oppositionsfraktionen im nie-dersächsischen Landtag unterschiedlich bewer-tet. Mit dem Anschlag hatte der Verfassungs-schutz vergeblich versucht, Vertrauensmännerin die terroristische Szene einzuschleusen.- Zum Abschluß der Arbeit eines parlamentari-

schen Untersuchungsausschusses, der seit 1986die Hintergründe der bundesweit aufsehenerre-genden Aktion untersucht hat, bezeichneten ge-stern CDU und FDP die Sprengung als „rechtmä-ßig und aus damaliger Sicht notwendig". SPDund Grüne stuften sie dagegen als rechtswidrigein. Sozialdemokraten und Grüne forderten indi-rekt oder direkt den Rücktritt von Albrecht, derdie politische Verantwortung für den Spreng-stoffanschlag übernommen hat.

Zum Tage

Leerer Fleckt r ist nicht auf der Messe, unddoch bestimmt gerade seine Ab-wesenheit den ganzen Verlauf dergrößten Bücherschau der Welt mitgrößerem Nachdruck, als wennRoman und Autor hier ihren Auftrittgehabt hätten. An Salman Rushdiescheiden sich die Geister zwi-schen westlicher Buchvermark-tung, die ihren ungestörten Ge-schäftsablauf gesichert sehen will,und fundamentalistischer islami-scher Kritik ausschließlich am In-halt eines als beleidigende Heraus-forderung empfundenen Romans,dessen literarische Qualitäten oderMängel in diesem Konflikt gar kei-ne Rolle spielen, auch nicht beiseinen Verteidigern im Namen derMeinungsfreiheit.

Der leere Fleck jn den Regalen,wo die deutsche Übersetzung der„Satanischen Verse" hätte stehensollen, und auch die scharfen Si-cherheitsmaßnahmen machen dieunentschiedene Haltung der west-lichen Bücherwelt gegen diesenmassiven Angriff auf ihre vielzitier-te Liberalität deutlich: Auf der ei-nen Seite Appelle zur Zurücknah-me der Drohung, auf der anderender Kompromiß gegenüber eben-dieser Drohung, indem man dasBuch vom Messegelände ver-bannt.

Ob der Iran einen so wenig mora-lisch untermauerten Appell zurKenntnis nehmen wird, scheintfraglich.

Claudia Sandner-v.Dehn

Vorstoß Haussmanns

,40-Std.-Wochewiedereinführen'

München (AP). Für die Wie-dereinführung der 40-Stunden-Woche hat sich Bundeswirt-schaftsminister Haussmannausgesprochen. Die Bundesre-publik könne sich die von denGewerkschaften geforderte wö-chentliche Arbeitszeit von 35Stunden „aus Konkurrenzgrün-den nicht leisten", meinte er ge-stern in einem Interview. Ange-sichts des „totalen Wettbe-werbs", der 1992 durch die Ver-wirklichung des EG-Binnen-marktes bevorstehe, sei es „rea-listischer, statt an die 35-Stun-den-Woche wieder an die 40-Stunden-Woche zu denken.

Zu diesen Aussagen erklärteder stellvertretende DGB-Vor-sitzende und CDU-MitgliedFehrenbach: „Jeder Autome-chaniker muß etwas von Autosverstehen, jede Arzthelferin et-was von Medizin. Warumbraucht eigentlich ein Wirt-schaftsminister nichts von Wirt-schaft zu verstehen?Siehe auch Kommentar

Ärztekongreß / Appell

„Atomtestssofort stoppen"

Hiroshima (dpa). Mit der Ver-abschiedung eines „Appells vonHiroshima und Nagasaki" ist ge-stern der 9. Weltkongreß derVereinigung InternationalerÄrzte für die Verhütung einesAtdmkrieges (IPPNW) in Hiro-shima zu Ende gegangen. Darinrufen die Teilnehmer die Regie-rungen dazu auf, weltweit alleAtomtests sofort einzustellenund in den nächsten fünf Jahrendie Militärbudgets um 50 Pro-zent zu reduzieren. Der Vorsit-zende Prof. LowwfUSA), schlugvor, ein Drittel der eingespartenGelder für soziale und gesund-heitliche Belange, eines für dieEntwicklungsländer und eindrittes für ökologische Vorha-ben einzusetzen.

Page 7: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 237 Politik Mittwoch, 11. Oktober 1989

Namen undNachrichten

Holz-Chef wiedergewählt„Wo gehobelt wird, da fallenSpäne." Insofern ist Horst Mo-rich, der gestern auf dem 13. Ge-werkschaftstag der Gewerk-schaft Holz und Kunststoff(GHK) als Vorsitzender bestä-tigt wurde, auch mit einemschlechteren Ergebnis als vor"vier Jahren (85,3 statt 94,2 Pro-zent) durchaus zufrieden. Unddaß der gelernte Tischler seinHandwerk noch versteht, be-wies Morich unmittelbar nachseiner Wiederwahl.

Wird „112" EG-Notruf?Die EG-Kommission will dieNummer 112 als einheitlichentelefonischen Nötruf einführen,der in allen Ländern der Euro-päischen Gemeinschaft geltensoll. Nach einer Gesetzesinitia-tive, die am Dienstag in Brüsselveröffentlicht wurde, soll 1992mit der Einführung begonnenwerden.

Grüne Finanzen „stabil"Trotz eines deutlichen Mitglie-derschwunds in den beiden letz-ten Jahren ist die finanzielleLage der Bundespartei und derLandesverbände der Grünen„erfreulich stabil". Dies erklärteBundesschatzmeister Axel Vo-gel in Bonn. Ende 1988 verfügtedie Partei über ein Reinvermö-gen von 52 Millionen DM.

„Arbeit statt Sozialhilfe"Die bayerische Staatsregierung

: will Sozialhilfe-' empfänger ver-: stärkt zu Ar-beiten im Um-weltschutz undim Sozialbe-reich einsetzen.Wie der bayeri-sche Minister-präsident MaxStreibl gesternin einem Inter-view sagte,könne so einem

Mißbrauch der Sozialhilfe ent-gegengewirkt werden. Unterdem Motto „Arbeit statt Sozial-hilfe", so Streibl, sollen arbeits-fähige Bürger, die Unterstüt-zung erhalten, von den Kommu-nen für gemeinnützige Arbeitenim Umweltschutz sowie in derKranken- und Altenpflege ein-gesetzt werden.

Gehörlose beklagen sichDie etwa 60 000 Gehörlosen inder Bundesrepublik fühlen sichvon Behörden und Mitmen-schen /vernachlässigt. WenigeTage vor dem Bundestreffen derDeutschen Gehörlosen am14./15. Oktober in Karlsruhe er-klärte der baden-württembergi-sche Landesvorsitzende der Or-ganisation, Huck: „Blindheitund Rollstühle sieht man, Taub-heit sieht man nicht." ZentraleForderung der Gehörlosen isteine bessere finanzielle Förde-rung durch den Staat.

ÖTV für EG-LösungDie ÖTV-Vorsitzende Monika

Wulf-Mathieshat sich für eineinheitliches

i europäisches! Personalrechtim ÖffentlichenDienst ausge-sprochen. DieUnterteilung inArbeiter, An-gestellte undBeamte sei ein

I Relikt des Ob-• rigkeitsstaates,

das in einem neuen Europa kei-nerlei Existenzberechtigungmehr habe, sagte die Gewerk-schaftsvorsitzende in Stuttgart.

Bonn (dpa). Die rechtsradika-len Republikaner sind offenbardie neue Protestpartei gegendas demokratische System.Während nach einer gesternvom Bundesinnenministeriumveröffentlichten Studie knappdrei Viertel der Bevölkerungder Demokratie zustimmten,äußerten sich 58 Prozent derAnhänger der Republikanerunzufrieden.

Dagegen sind die Grünen of-fenbar auf dem Weg zur eta-blierten Partei: Während 1984nur 38 Prozent der Grünen-An-hänger mit der Demokratie derBundesrepublik zufrieden wa-ren, sind es jetzt 60 Prozent,neun Prozent mehr als im ver-gangenen Jahr.

Bei dieser sechsten derarti-gen Umfrage des MannheimerInstituts für praxisorientierteSozialforschung (ipos) wurdenzwischen dem 28. April und

Umfrage / Nur Republikaner überwiegend unzufrieden

Große Zustimmung zur Demokratiedem 13. Mai 2040 repräsentativausgewählte Bürger über ihreEinstellungen zu aktuellen Pro-blemen der Innenpolitik be-fragt. Insgesamt ist danach dieZustimmung zur Demokratieum einen Prozentpunkt von 72auf 73 Prozent gewachsen. Amgrößten ist die Zustimmung mitrund 90 Prozent bei Anhängernder KoalitionsfraktionenCDU/CSU und FDP. SPD-An-hänger äußerten sich zu 72 Pro-zent positiv.

Die erstmals gestellte Fragenach dem Nationalstolz ergab,daß 70 Prozent der ausgewähl-ten Bürger stolz sind, Deut-

scher zu sein. Nur 12,1 Prozentempfanden keinen Stolz, 18Prozent wollten sich nicht fest-legen. Besonders ausgeprägtwar der Stolz bei den Anhän-gern der Republikaner (87 Pro-zent) und der Union (85 Pro-zent).

67 Prozent der Befragten ins-gesamt finden es gut, wenn beibesonderen Anlässen die Na-tionalhymne gespielt wird.

Als wichtigstes politischesZiel nannten bei der Umfrage70 Prozent einen wirksamenUmweltschutz. Danach folgt dieSicherung der Renten (67 Pro-zent), der Kampf gegen das

Rauschgift und die Schaffungvon mehr Arbeitsplätzen (je-weils 66 Prozent) sowie dieVerbrechensbekämpfung (61Prozent). Während für die Re-publikaner die innere Sicher-heit und die Verbrechensbe-kämpfung besonders wichtigsind, steht für die Grünen dieUmwelt sowie die Schaffungneuer Arbeitsplätze im Vorder-grund.

Rund zwei Drittel der Befrag-ten, 65 Prozent, sprachen sichdafür aus, daß die Bundesrepu-blik politisch Verfolgten Asylgewährt. Fast ebenso viele, 64Prozent, meinen jedoch, daß in

jedem Jahr nur eine begrenzteZahl politisch Verfolgter aufge-nommen werden soll. Bei denAnhängern der Republikanersind 54 Prozent gegen das imGrundgesetz verankerte Asyl-recht.

Wie im vergangenen Jahr»sprach sich auch diesmal dieüberwiegende Mehrheit der Be-fragten (81 Prozent) dafür aus,das Wahlrecht in der Bundes-republik mit der Staatsangehö-rigkeit zu verbinden und denhier lebenden Ausländern auchkein kommunales Wahlrechteinzuräumen.

Interessant auch dieserAspekt: Während 61,8 Prozentaller Befragten in einem Ein-wohner der DDR in erster Linieeinen Deutschen und nicht denBürger eines anderen deut-schen Staates sehen, sind diesbei den Anhängern der Repu-blikaner nur 57,9 Prozent.

Tmmwß:l£:^^-H:l^

Demonstranten in Leipzig: „Wir brauchen Freiheit"Nach den Friedensandachten invier Leipziger Kirchen formiertesich am Montag abend in Leip-zig die größte nichtstaatlicheDemonstration in der DDR au-ßerhalb des Volksaufstandesvom 17. Juni 1953. Rund 70 000Menschen zogen über den Ring,der um die Altstadt führt, undriefen: „Keine Gewalt", „Wir-sind das Volk", „Wir wollen Re-formen" und „Honi, mach dieAugen auf". Außerdem wurdedie Zulassung des „Neuen Fo-

rums" gefordert, und es erklan-gen „Gorbi, Gorbi"-Rufe.

Nach 20.30 Uhr löste sich dieDemonstration - unser Foto ent-stand am Hauptbahnhof - lang-sam auf. Auch das Großaufgebotvon Polizisten und Betriebs-kampfgruppen, die Wasserwer-fer in Bereitschaft gehalten hat-ten, zog allmählich ab. Vielfachkam es zu Diskussionen und Ge-sprächen zwischen Demon-stranten und den Sicherheits-kräften.

Auch in Halle hatte sich amMontag abend auf dem Markt-platz eine Demonstration vonmehreren tausend Bürgernfriedlich aufgelöst. Auf Be-triebsversammlungen war zu-vor dazu aufgerufen worden,sich der Protestkundgebungnicht anzuschließen. In Ostber-lin und Plauen waren ebenfallsfriedliche Kundgebungen meh-rerer tausend Menschen ohneZwischenfälle zu Ende gegan-gen. (dpa-Funkbild)

Dialog mit Opposition in DDR / Bilanz der Zusammenstöße

Regierung: 152 VerletzteFortsetzung

Berghofer betonte aber auch,daß er für eine Reihe von Forde-rungen nicht kompetent sei, wienach Zulassung der Bürgerbe-wegung „Neues Forum". Im Be-zirk Dresden ist der ReformerHans Modrow SED-Parteichef.

Angesichts der Zurückhal-tung, die die DDR-Sicherheits-kräfte während der LeipzigerDemonstration übten, sprach derPropst der evangelischen Kirchevon Berlin-Brandenburg, HansOtto Furian, gestern von einem„bemerkenswerten Sinneswan-del" der Staatsführung.. Er er-klärte gegenüber AP, daß es zueiner „positiven Entwicklung imLande" kommen könne, wennsich die neue Linie durchsetze.

Die staatlich gelenkte DDR-Presse berichtete am Dienstagausführlicher über die Massen-

demonstrationen und Zusam-menstöße der vergangenen Tage.Die Bürgerrechtler wurden dabeimeist scharf angegriffen. DieDDR-Nachrichtenagentur ADNveröffentlichte am Abend eineMitteilung des DDR-Innenmini-steriums, wonach bei den Poli-zeieinsätzen in Ostberlin undmehreren Städten der DDR 106Volkspolizisten zum Teil erheb-lich verletzt wurden. Außerdemseien 46 Demonstranten - lautADN „Rowdys" - zu Schadengekommen. Der Einsatz vonOrdnungskräften sei zur „Wie-derherstellung von Ruhe undOrdnung unumgänglich" gewe-sen, hieß es in der Meldung .

Ein 27jähriger Leipziger wur-de Zeitungsberichten zufolgewegen der Teilnahme an einemProtestzug zu zwei Jahren undzwei Monaten Gefängnis verur-teilt.- In wesentlich verschärftem

Ton wurden die bundesdeut-schen Medien für die Protest-kundgebungen verantwortlichgemacht, die es nach einem Be-richt des SED-Zentralorgans„Neues Deutschland" am Wo-chenende in rund einem DutzendDDR-Städte gegeben hat.

Die Parteizeitung der Liberal-demokratischen Partei Deutsch-lands „Der Morgen" veröffent-lichte zahlreiche Leserbriefe, indenen dringend politische undökonomische Veränderungen inder DDR angemahnt werden. DieZeitung der Dresdner CDU „Uni-on" gestand eigene Fehler undVersäumnisse bei der Berichter-stattung über die Demonstratio-nen in der Elbe-Stadt ein. In derZeitung des DDR-Jugendver-bandes „Junge Welt" wird dieKritik einer FDJ-Gruppe an derDDR-Berichterstattung über dieFluchtbewegung wiedergegeben.

CSSR-Parteiorgan druckte unwissentlich Foto und Glückwünsche ab

Bürgerrechtler Havel legte „Rüde Pravo" hereinPrag (AP). An der Nase her-

umgeführt hat, wie jetzt be-kannt wurde, der tschechoslo-wakische Dramatiker und Bür-gerrechtler Vaclav Havel dieZeitung „Rüde Pravo": Das Or-gan der tschechoslowakischenKP veröffentlichte am Wo-chenende nicht nur ein Fotodes international erfolgreichen,in seiner Heimat jedoch nichtveröffentlichten Bühnenautors,es druckte auch noch „vieleGrüße" von Freunden zu Ha-vels 53. Geburtstag am 5. Ok-tober sowie „Wünsche zum Er-

folg seiner Arbeit" ab.Havel hatte „Rüde Pravo" für

die Rubrik „Persönliches" einFoto samt Begleittext mit ansich selbst gerichteten Ge-burtstagsgrüßen geschickt. Ge-gen eine Gebühr von 500 Kro-nen (knapp 100 DM) wurdenBild und Text auch veröffent-licht.

Dabei hatte Havel allerdingsnicht seinen eigenen Namenangegeben, sondern sein Pseu-donym Ferdinand Vanek. Eswar das erste Mal seit dem Ein-marsch der Truppen des War-

schauer Paktes in der CSSR imHerbst 1968, daß Havels Fotoin einer offiziellen tschechoslo-wakischen Zeitung veröffent-licht wurde.

Die tschechoslowakischenBehörden haben Havel bishereine Reisegenehmigung in dieBundesrepublik verweigert,dem am Sonntag in der Frank-furter Paulskirche der diesjäh-rige Friedenspreis des Deut-schen Buchhandels verliehenwerden soll. Bonn bemüht sichnoch in Prag um die Ausstel-lung eines Visums.

Umweltschutzkonferenz in Berchtesgaden

Vier Alpenländer schicktennur Minister-Vertreter

Berchtesgaden (AP). Eine Al-penkonvention als völkerrecht-lich verbindlichen Rahmen fürVereinbarungen über Natur-schutz, Raumordnung, Touris-mus und Verkehr hat Bundes-umweltminister Töpfer gesternin Berchtesgaden gefordert. Beider Eröffnung der ersten inter-nationalen Alpenschutzkonfe-renz erklärte er, notwendig da-für seien vergleichende Infor-mationsgrundlagen.

An der zweitägigen Konferenznehmen Vertreter der Regierun-gen der sieben Alpenländer Ita-lien, Österreich/Frankreich, derSchweiz, der Bundesrepublik,Jugoslawien und Liechtensteinteil. Die erwartete hochkarätigeMinisterrunde kam allerdingsnicht zustande: Nur die Bundes-republik, Österreich und Liech-tenstein entsandten Teilnehmerim Ministerrang, die anderenLändern schickten Stellvertre-

ter. Anwesend sind auch Mit-glieder der Alpen-Arbeitsge-meinschaften, der EuropäischenGemeinschaft, des Europaratesund der Europäischen Freihan-delszone sowie mehrerer Um-weltschutzorganisationen.

Töpfer sagte weiter, zur Erar-beitung einer Alpenkonventionmüßten auch abgestimmte Be-wertungsgrundlagen über dieBelastung der Landschaft beige-bracht werden. Außerdem seiein gleiches Vorgehen bei derPrüfung der Umweltverträglich-keit von Erschließungsprojek-ten notwendig. Vorstellungenüber Entwicklung oder auch„Renaturierung" müßten eben-falls eingebracht werden. End-gültige Antworten könne dieBerchesgadener Konferenznicht geben, aber es sei ihr Ziel,einen klaren Zeitplan und kon-krete Arbeitsaufträge zu verab-reden.

VdK-Präsident

Weishäuplgestorben

Ungarns Parteichef

Nyers ohneStellvertreter

München (dpa). Der Präsidentdes Verbandesder Kriegs- undWehrdienstop-fer, Behinder-ten und Sozial-rentnerDeutschlands(VdK), KarlWeishäupl, istgestern im Al-ter von 73 Jah-ren in Mün-chen gestorben.Weishäupl ge-hörte 1946 zu den Gründern derOrganisation und stand seit1974 an der Spitze des Verban-des. Von Anfang an war er einstreitbarer und engagierter Ver-fechter der sozialen Gerechtig-keit für benachteiligte Bevölke-rungsgruppen.

Von den Vertretern der politi-schen Parteien in Bonn wurdeder Verstorbene gestern als„Anwalt der sozial Schwachen"und „energiegeladener Kontra-hent" gewürdigt. Auch beim po-litischen Gegner genoß der So-zialdemokrat, 1954 bis 1957Staatssekretär in Bayern, Re-spekt.

Budapest (AP). Der Parteitagder aus derkommunisti-schen USAPhervorgegange-nen Ungari-schen Soziali-stischen Partei(USP) ist in derNacht zumDienstag zuEnde gegangen,ohne die beidenim Statut vor-gesehenenstellvertretenden Vorsitzendengewählt zu haben. Der neueVorsitzende Rezsö Nyers (Foto)sagte, der Parteitag sei nicht inder Lage gewesen, sich auf Kan-didaten für seine Stellvertreterzu einigen.

Dagegen sprachen sich die De-legierten dafür aus, daß die bis-herige Aufsicht der Partei überdie Betriebskampfgrupppen demParlament und der Regierungübertragen wird. Aus denKampfgruppen solle eine unbe-waffnete und parteineutrale In-stitution im Dienste der Zivilver-teidigung und des Katastrophen-schutzes gemacht werden.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureChef vom Dienst: Horst Kröninger. ChefNachrichten: Rainer Merforth. Politik: Jo-chen Prater. Blick in die Zeit.- WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden, Kultur: Dirk Schwarze, Frauu. Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wie-semann, i. V. Ulrich Fuhrmann. Sonntags-zeit: Frank Thonicke. Kassel Stadt undLand: Wolfgang Rossbach. Bezirksredak-tionen: Peter M. Zitzmann. Koordination:Helmut Lehnart. Hessen/Niedersachsen:Eberhard Heinemann. Chefreporter: Karl-Hermann Huhn. Sonderthemen: PeterOchs.

Redaktion Wiesbaden: Rolf EffenbergerRedaktion Hannover: Harald BirkenbeulRedaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter: Horst Prehm.Vertriebsleiter: Gerd Lühring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 1ß 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61120 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61 / 20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer05 61 /20 36. Teletex5 618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7% MwSt. (Postbezugs-preis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung. ; .

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg

Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.

Herstellung Druckhaus Dierichs,Frankfurter Straße 168, 3500 Kassel

Page 8: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 237 Themen des Tages Mittwoch, 11. Oktober 1989

Statt Gewaltdas GesprächDafaß in der DDR bereits der Dialogzwischen denen da unten und de-nen da oben in Gang komme, wärewohl zuviel gehofft. Zwiespracheoder Wechselrede setzen eingleich zu gleich voraus, und zwi-schen Regierenden und Regiertenliegt eine tiefe und immer breiterwerdende Kluft. Immerhin dringtdie Einsicht vor, daß Gewalt das,Übel noch vermehrt und die Folgennicht mehr zu kalkulieren sind. Beider Demonstration der 70 000 inLeipzig blieben die Schlagstöckeam Gurt, anders als in Dresdenund Ostberlin verlief der Protestfriedlich. Die Signale rufen nichtzum letzten Gefecht, sondern zueinem ersten Gespräch.

Das erscheint in einem Land,das auseinanderläuft, und in einemStaat, den eine fundamentale Aus-einandersetzung erschüttert, wieein kleines Wunder. Bisher unge-hörte Worte fallen von Machtträ-gern, ungewöhnliche Sätze stehenin den obrigkeitlichen Zeitungen.Wenn sich etwa der DresdnerOberbürgermeister Berghofer da-für ausspricht, künftig wählen statt„falten" zu gehen, ist das eine Re-volte gegen das System. Näher alsdie Vermutung, die Opposition er-fasse auch die Orthodoxen, liegtdabei der Verdacht, daß die Be-schwichtigung von ziemlich weitoben gelenkt wird. Doch auch dieswürde die Bereitschaft zu einemProzeß der Nachdenklichkeit be-deuten.

Über das, was sich Honeckerund Gorbatschow unter vier Augensagten, kann man nur spekulieren.Unverkennbar jedoch sind die An-zeichen von Unruhe bei den Satelli-ten der SED, und jedermann weiß,was in Polen zur Wende führte.Nicht mehr zu bändigen vor allemist der Aufruhr derer, die im Landebleiben wollen und ihre Chance nurnocn in gesellschaftlicher Verän-derung sehen. Das Volk meldetsich, zunehmend mutig und selbst-bewußt, zu Wort. Honecker müßtedes Teufels oder von allen, gutenGeistern verlassen sein, wenn erdie letzte Brücke verbrennt.

Alfred Brugger

SchiefesDenkenWuerdenker sind zur Zeit groß inMode. Sie arbeiten in ihrer Gedan-kenwelt nicht nur voraus, sondernüber bestehende Grenzen linksund rechts hinweg. VernetztesDenken nennt man das bei Mana-gerschulungen und preist -es alsbeispielhaft. Helmut Haussmanngehört nicht zu dieser privilegier-ten Gruppe.Er denkt nicht quer, erdenkt schief.

Was nicht heißt, daß der Mannnicht weiß, wovon er redet. Erspricht mutig Kernprobleme derTarifpolitik an - und nimmt in Kauf,in der Öffentlichkeit für die Äuße-rung seiner extremen Positionenkräftig geohrfeigt zu werden. DasSchlimme ist: Es bleibt einem trotzallem (vernetzten) Nachdenkensnichts anderes übrig, als gleicheszu tun.

Der Wirtschaftsminister, derzeitmehr ein Elefant im Porzellanladender Tarifpartner, gibt mit seinemPlädoyer für die 40-Stunden-Wo-che nicht die Denkrichtung künfti-ger Tarifrunden an. Wichtig istaber nicht was er sagt, sondernwarum er es sagt. Trotz der Forde-rung der 35-Stunden-Woche in derMetallindustrie ist das Thema län-gere Arbeitszeit für Teile der Be-schäftigten , Diskussionsbestand-teil auf der Arbeitgeberseite

Der Hintergrund: Eine pauschaleArbeitszeitverkürzung in allen Be-rufsgruppen ist nicht zu realisieren.Facharbeitermarigel wird haltdurch kürzere Arbeitszeit ver-stärkt. Wer Arbeitskräften mit teu-rer wissenschaftlicher Ausbildungdie Arbeitszeit beschneidet, wirfthochqualifiziertes Know-how aufdie tarifpolitische Müllhalde.

Flexibilisierung der Arbeitszeitist mehr als die Festlegung eigen-williger Schichtpläne. Haussmannhat das Thema der Zukunft ange-deutet, aber nicht angesprochen.Aber vom Schief- zum Querdenkerist es - hoffentlich - nur ein kleinerSchritt. Horst Seidenfaden

Das Zitat„Würde Aphrodite heutzutage auseiner Welle geboren, so käme siemit Furunkeln am Hintern zur Welt".

Jacques Yves Cousteau, fran-zösischer Meeresbiologe, zum

Zustand der umweit

Noch ist es ruhig an den DDR-Hochschulen, aber:

„Unter der Oberfläche gärt es"Von unserem Redaktionsmitglied Ottmar Berbalk

IN icht fern liegt es, dieser TageParallelen zu ziehen zwischenden gesellschaftlichen Entwick-lungen im sozialistischen China

FDJ-Zeitschrift ' „JungesDeutschland". Wenig spätersetzte er sich von der KPD ab,schlug.in den sechziger Jahren

Gegenwehr. Naturwissen- zialismus lehrten, aus Enttäu-schaftler würden sich, nach dem schung über die Kluft zwischenSinn

vor einigen Monaten und den in der Bundesrepublik eine wis-momentanen Ereignissen in derDeutschen Demokratischen Re-publik. Dabei fällt sofort der gra-vierendste Unterschied insAuge, der bereits im Ursprungdes Protestes liegt: Während imMilliarden-Volk China die Uni-versitäten die Keimzelle desWiderstandes bildeten, bleibt esan den Hochschulen und Uni-versitäten des anderen deut-schen Staates ruhig. Kirche,Künstler und Schriftsteller rüh-ren sich, doch Hochschullehrerund Studierende scheinen aufeiner akademischen Insel derGlückseligkeit zu schwimmen.

Täuscht der Eindruck? Her-mann Weber, einer der renom-miertesten bundesdeutschenDDR-Kenner, dazu gegenüberunserer Zeitung: „Noch ist esruhig. Doch unter der Oberflä-che gärt es." Weber lehrt als Po-litikwissenschaftler an der Uni-versität Mannheim und leitetdort den Arbeitsbereich „Ge-schichte und Politik der DDR".Der gebürtige Mannheimer(Jahrgang 1928) war bereits1945 der KPD beigetreten, stu-dierte an der SED-Parteihoch-schule „Karl Marx" in Klein-Machnow bei Berlin und arbei-tete später als Chefredakteurder~ damals auch in West-deutschland erscheinenden

senschaftliche Laufbahn ein undveröffentlichte zahlreiche Bü-cher zur DDR-Geschichte.

„Verschulung"

Den Grund für die äußerlicheRuhe im Hochschulwesen derDDR vermutet das heutige SPD-Mitglied Weber in der „Ver-schulung des Universitätsbe-triebes". Im Gegensatz zu Chi-na, wo nach der Kulturrevolu-tion an den Unis sehr viel politi-scher gearbeitet worden sei,gebe es in der DDR

Presse-EchoWer im Augenblick der DDR helfen will,'sollte sich zurückhalten, meint die

WESTDEUTSCHE

ALLGEMEINEAuch mit dem großen Geld zu

winken, bewirkt nichts. DieDDR-Führung läßt sich Refor-men nicht abkaufen. Daß mitBonner Unterstützung zu rech-nen ist, wenn die Verhältnissesich bessern, weiß man ohnehin.Man sollte hier auch nicht sotun, als beginne die Unterstüt-zung erst, wenn die Führungsich reformbereit zeigt. Die er-folgreiche Politik der kleinenSchritte wäre ohne finanzielleBegleitung jedes kleinen Schrit-tes auch nicht so weit gekom-men. Diese Praxis braucht nurverlängert zu werden.

Zum selben Thema die

OSNABRÜCKESZETTUNO

Es gehört zu den beeindruk-kenden Erfahrungen dieserTage, daß diejenigen, die Refor-men fordern, keine Amokläufersind, sondern auf den friedli-chen Dialog mit der SED-Füh-rung setzen. Sie wollen den so-zialistischen Staat nicht ab-schaffen, sondern sie wollen ihnverbessern. Dieses maßvolleVerhalten wird es den Macht-habern zumindest erschweren,die Oppositionellen als Um-stürzler zu diffamieren und mitletzter blutiger Konsequenz ge-gen sie vorzugehen. Außerdemerhöht es die Chance, daß auchkleine Reformansätze genutztwerden, die für die nahe Zu-kunft wahrscheinlicher sind alseine rasante Entwicklung im Sti-le Ungarns.

Ein gewichtiger - wenn nicht gar dergewichtigste Aspekt der politischenUmwälzung in Ungarn ist indirekter Na-tur, bemerkt die

Saor6cücßcr3cüunflDas, was derzeit in Budapest

abläuft, wird offensichtlich vonder Sowjetunion Gorbatschowsnicht nur geduldet, es findet so-gar die Unterstützung desKreml. Zumindest die Art undWeise, wie gestern in den Me-dien der UdSSR über Verände-rungen im südlichen Bruderlandberichtet wurde - da ist von re-volutionärer Normalität dieRede - legt diesen Schluß nahe.Das aber müßte der altstalinisti-schen Altherrenriege in Ostber-lin eigentlich wie ein Schock indie morschen Knochen fahren.Belegt es doch besser als alleReaktionen etwa auf die Öff-nungsbewegungen in Polen, auswelcher Richtung der Wind inMoskau pfeift.

der ideologischen Schu-lung fragen.

Für die Vermutung, daß sichetwas bewegt unter den ange-henden Wissenschaftlern, hatWeber auch ein persönlichesIndiz. Im März diesen Jahresveröffentlichte er das -Buch„Weiße Flecken der Geschieh- soziale Bindung und Absiche-te", das sich mit dem Schicksal rung des Studierenden „drüben"von KPD-Funktionären be- den Gedanken an Veränderun-schäftigt, die in den Jahren 1936 gen lange Zeit nicht aufkommenbis 1938 in die Sowjetunion emi- ließ. Facharbeiter wüßten dage-grierten, dort jedoch Säuberun- gen um die Chancen im Westen,gen der eigenen Genossen zum Noch wehrt sich der Staat ve-

ipfer fielen. Während dieses hement gegen Änderungen am

Ideologie und Praxis.jedoch ih-;ren Heimatstaat verließen.

Unter den Flüchtlingen gibt esnach Webers Auffassung nur ei-nen verschwindend geringenAnteil von ehemaligen DDR-Hochschülern. Seiner Meinungnach ein Beleg dafür, daß die

Buch in der offiziellen und öf- althergebrachten Unterrichts-fentlichen Berichterstattung stil. So heißt es im September-nicht stattfindet, erreichen ihn Heft von „Geschichtsunterricht

nur eine in diesen Wochen immer wieder und Staatsbürgerkunde" (einemprogrammgemäße Entwicklung. Anfragen von Studierenden, die von zahlreichen Theorieorga-Weber spricht von „Hochschu- das Buch gerne lesen möchten, nen für Lehrer); „Es muß uns

- - • • • - - Schließlich:-Daß sich die DDR " - - -len als Lernschulen". Der Stu-dent sei „sozial stark eingebun-den, fast korrumpiert". Es be-ginnt seiner Meinung nach da-mit, daß alle Studierenden derneun Universitäten und 44 Aka-demien (dazu kommen nochEinrichtungen der SED) Stipen-dien erhalten. Engagieren müs-sen sich alle im JugendverbandFDJ, besonderes Engagementwird entsprechend honoriert.

Jeder Studierende, ob ange-hender Chemiker oder Histori-ker, durchläuft ein marxistisch-leninistisches Grundstudiummit festen Lehrplänen. Dortsieht Weber erste Ansätze einer

auch rein technisch nicht mehrabschotten und ihre Bürger ingeistige Dunkelhaft stoßenkann, potenziert nach Webers \/_._|_;_u.Meinung die Möglichkeit, neue v e r 9 l e i c n

gesellschaftliche Ideen zu re-produzieren und zu finden. Be-kannt sei ja auch im Westen dieVorliebe der DDR-Jugend fürGorbatschows Ideen. Noch läßtdie Führung junge Bildungs-hungrige in Moskau studieren.

Auch der Turm der reinenLehre beginnt zu bröckeln. Sokennt Weber mehrere Dozen-ten, die in der DDR den soge-nannten wissenschaftlichen So-

elingen, in den Köpfen der Stu-denten die sozialistischen Idealezu manifestieren".

nnri

Daß es jedoch auch im Bil-dungswesen der DDR nicht soweitergehen wird, scheint fürPolitikwissenschaftler Weberganz offenkundig. Er vergleichtdie Situation mit den Jahren1956 und 1957, als neben derFDJ schon einmal eine eigeneStudentenvertretung gefordertwurde. Weber: „Darauf wird eshinauslaufen."

Eröffnung der Frankfurter Buchmesse (Karikatur: Wolf)

Henry Kissinger

Ermahnungenan DeutschelJejc frühere US-Außenmi-nister Kissinger sieht in derEntwicklung zwischen denbeiden deutschen Staaten ei-nen Schlüs-sel für dieGestaltungeines neuenEuropas. Ineinem amDienstag in•der „Wa-shingtonPost" veröf-fentlichtenArtikel un-ter dem Titel„Die Super-mächte und das neue Euro-pa" schreibt der gebürtigeFürther, wenn der Zusam-menhalt des Westens ge-währleistet werden solle,müßten die westlichen Ver-bündeten ein plausibles Pro-"gramm ausarbeiten, das .demTrachten Deutschlands ent-spreche, ohne dabei Mittel-europa zu destablisieren. DieBundesrepublik sollte nachMeinung Kissingers zu die-sem Programm beitragen, in-dem sie die derzeitigen Gren-zen Deutschlands als endgül-tig akzeptiert.

Kissinger schreibt: „West-deutsche Politiker sind ver-narrt darin, Deutschlandsangeblich historische Mis-sion in Osteuropa zu wieder-holen - ein erstaunlichesVorhaben, für das die Ge-schichte keine Beweise lie-fert. Westdeutschland könn-te den historischen Fehlerder Selbst-Isolation wieder-holen und das Ziel westli-cher Verdächtigungen und;sowjetischer Versuche wer-den, sich den zentrifugalenStrömungen auf sein Reich,entgegenzustemmen, wennes (Bonn) seine Außenpolitiknicht eindeutig im europai-schen Gesamtrahmen hält >und wenn es seine Sicher-heitspolitik nicht eng mit der• der Nato verbindet, A •< :,,:..,: Die Anerkennung der der-zeitigen Grenzen sei auch die;Vorbedingung für Verhand-lungen über „ein angemesse-nes System freier Wahlen für,Ostdeutschland, vielleichtzuerst nach dem Modell Po-lens". Die beinahe sichere,Folge eines solchen Prozes-ses wäre, so Kissinger, einschrittweises Verschmelzender inneren Strukturen der.beiden deutschen Staaten. In 'jedem Fall sollten Analysennach Auffassung Kissingers.mit der Erkenntnis beginnen,,„daß der Drehpunkt interna-tionaler Spannungen an sei-nen historischen Ursprungim Zentrum Europas zurück-gekehrt ist". (dpa)

US-Truppen bekamen Noriega beim Militärputsch nicht in ihre Hand

Panama-Panne peinlich für BushVon unserem Washingtoner Korrespondenten Siegfried Maruhn

nommen werden müßte. Diesedritte Möglichkeit wurde jedochvon einer ausdrücklichen Er-mächtigung durch den Präsi-denten abhängig gemacht.

IN och bin ich nicht wirklich imFeuer erprobt, in diesem Jobnoch nicht durch die Hölle ge-gangen." So schränkte US-Prä-sident Bush die Halbjahresbi-lanz seiner Amtszeit ein, als erAnfang September vom Fernse-hen interviewt wurde. EinenMonat später werfen ihm Kriti-ker vor, schon bei einer kleinenKrise versagt zu haben. Anlaßwar der Militärputsch in Pana-ma, der Amerika kurzfristig die eine klare Entscheidung mög-

lich zu machen.Was wirklich in Panama vor

sich ging, ist noch lange nichtklar. Die Berater des Präsiden-ten schieben vielmehr ihre Ent-schlußunfähigkeit gerade auf

Die USA hätten „keinen Streitmit der Armee", sondern nur mitNoriega, war seine Parole. Kriti-ker werfen ihm nun vor, daßWashington die Offiziere, diediesem Aufruf folgten, schließ-lich im Stich gelassen habe.Nach bisher noch nicht bestä-

Weder zum einen noch zumanderen kam es jedoch. Die paarStunden, in denen Noriega in tigten Berichten soll Noriega inder Hand von aufständischen einem Wutanfall die Erschie-Offizieren war, erwiesen sich alszu kurz, um den US-Behörden

ßung der Rebellenführer ange-ordnet haben.

Chance gab, General Noriega indie Hand zu bekommen. Reibungen

Schuldzuweisungen In jedem Fall hat der Aufstandgezeigt, daß der Entscheidungs-mechanismus des Weißen Hau-

Seit dem Fehlschlag streiten diesen „Nebel des Krieges", auf ses nicht funktionierte. Dersich die Berater des Präsidenten die Schwierigkeit, zuverlässige Theorie nach sollen der Sicher-mit dem Kongreß und kaum ver-hüllt untereinander darum, werdie Schuld trägt. Heraus kam,daß der amerikanische Befehls-haber in der Kanalzone vomVerteidigungsminister bereitsermächtigt worden war, denDiktator in Gewahrsam zu neh-men, wenn er von den Rebellenausgeliefert werden sollte, odersich seiner zu bemächtighen,wenn es ohne Widerstand mög-lich war. Er sollte auch Pläne fürden Fall vorbereiten, daß derGeneral mit Gewalt gefangenge-

Informationen schnell genug zuerhalten. General Scowcroft,der Sicherheitsberater des Prä-sidenten, schob einen Teil derSchuld auch dem Senat zu, deres der Regierung untersagt hat,sich an irgendeiner Aktion zubeteiligen, die den Mord alsMittel der Politik einschließt.Deshalb sei eine unmittelbareUnterstützung der Rebellen ver-mieden worden.

heitsberater, GeneralScowcroft, und der Stabschefdes Weißen Hauses, Sununu,die Aktivitäten der anderen Be-hörden koordinieren, die Ent-scheidungen des Präsidentenvorbereiten und durchsetzen.Im Fall Panama hat es wohl Rei-bungen zwischen Verteidi-gungs- und Außenministerium,sowohl vor Ort wie in Washing-ton, gegeben. „Unsere Botschaft

Bush hatte jedoch die Armee in Panama und der Komman-Panamas mehrfach aufgerufen,sich des Diktators zu entledigen.

deur unserer Streitkräfte redennicht miteinander", war ein

Punkt der Kritik.Andere behaupten, daß der

Geheimdienst CIA zu den Kri-senberatungen gar nicht heran-gezogen worden war. Die Ent-scheidungswege sollen nunüberprüft, Verbesserungen her-beigeführt werden.

Koordinationsprobleme zwi-schen den einzelnen Ministe-rien dürften auch Entscheidun-gen des Präsidenten in der Frageder Chemiewaffen herbeige-führt haben, die jetzt als proble-matisch empfunden werden.

Bisher richtet sich die Kritikjedoch nicht unmittelbar gegenBush, sondern gegen das „WeißeHaus", also den Beraterstab desPräsidenten. Diesen Mitarbei-tern wird vorgeworfen, daß sie;nicht nur im Fall Panama, son-dern auch sonst zu langsam rea-gieren und sich nicht schnell ge-inug auf überraschende Ereignis-se einstellen können. c.

So war schon beanstandetworden, daß Bush erst nachmehreren Tagen die vom Hurri-kan Hugo schwer betroffenenGebiete aufsuchte. „Der Ter-minkalender hatte Vorrang",meinen die Kritiker. „Sie hättenfrüher kommen sollen", sagteeine Obdachlose, als der Präsi-dent sich sehen ließ.

Page 9: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSACHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMEINEUNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 238 • Donnerstag, 12.10. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Polen / DDR-Flüchtlinge

Auslieferung anDDR gestoppt

Warschau (dpa). DDR-Flücht-linge werden nicht mehr vonden polnischen Grenztruppenkontrolliert und somit auchnicht an die DDR-Grenzbehör-den ausgeliefert. Das erklärtegestern die Regierungsspreche-rin Niezabitowski. Sie versi-cherte, Außenminister Skubis-zewski sei gegen diese Praxis,die abgestellt werde. Wie zu hö-ren war, hat Skubiszewski erstjetzt von der Festnahme undAuslieferung von DDR-Flücht-lingen erfahren.

Niederlande

2:1-Siegin Wales

Mit dem 2:1-Siegin Wales eroberteFußball-Europamei-ster Niederlande inder Qualifikations-gruppe vier vor derDFB-Auswahl dieFührung zurückund hat nun besteChancen zur Teil-nahme an der Welt-meisterschaft in Ita-lien. Siehe Sport.

Buchmesse

Blickauf DDR

Aufgrund der ak-tuellen Vorgängerückte gestern dasAngebot der DDR-Verlage auf derFrankfurter Buch-messe in den Mittel-punkt des Interes-ses. Konkreten Fra-gen zu Reformmög-lichkeiten wichendie Verlagssprecheraus. Siehe Kultur

Schweiz

Gebühr fürLangläufer

Ein Einzelfall? DieSchweizer Skire-gion Obergoms imKanton Wallis willjetzt Ski-Langläuferzur Kasse bitten.Der Eintritt in dieLoipe kostet dreiFranken pro Tag,Saison-Dauerlauf ersind mit 30 Frankendabei. Siehe „Blickin die Zeit".

Langer Abend

Großeholen auf

78 und damit dop-pelt soviele großeWarenhäuser wievor einer Wochewerden heute bun-desweit am „langenDonnerstag" geöff-net haben. Dies er-gab eine Umfrage. InKassel bleiben dieKaufhäuser aberdicht. Siehe Wirt-schaft.

Ökonomie

Preis anNorweger

Dem 78jährigennorwegischen Wis-senschaftler TrygeHaavelmo (Foto) istder Nobelpreis fürWirtschaftswissen-schaften zuerkanntworden. Er gilt alsNestor der empir-schen Prüfung vonTheorien über dieVolkswirtschaft.Siehe Wirtschaft.

FÜR ACHT MILLIONEN DM wurde das Rathaus von Duderstadt(Kreis Göttingen), eines der ältesten und schönsten in Deutsch-land, seit 1980 restauriert. Zur feierlichen Wiedereröffnung desaus dem 13. Jahrhundert stammenden Fach Werkbaus waren auchBundespräsident von Weizsäcker und Niedersachsens Minister-präsident Albrecht gekommen. (dpa-Funkbild)

Reformen in der DDR / Von Weizsäcker:

„Drüben weiterhelfenGebot der Stunde"

Göttingen (jtr). „Wir wollenuns dafür einsetzen, daß dieseGrenze vielleicht einmal in demSinne historisch sein wird, daßsie späteren Generationen nurnoch eine Erinnerung an span-nungsreiche frühere Zeiten be-deutet." Das erklärte Bundes-präsident von Weizsäcker amMittwoch in Duderstadt (KreisGöttingen), wo er an einem Fest-akt zur Wiedereröffnung desHistorischen Rathauses teil-nahm.

Mit Blick auf die „uns tief be-wegende Auseinandersetzung"in der DDR meinte das Staats-oberhaupt, dort seien Kräfte amWerk, die „mit besonnenemMut, mit Klarheit und ihrem fe-sten Bekenntnis zur Gewaltlo-sigkeit" die Führung von derUnaüsweichlichkeit von Refor-men zu überzeugen versuchten.Innen auf diesem Weg zu helfen,hätten Bundesregierung undParteien zugesagt. Dabei geltedas Angebot zu einer stärkerenZusammenarbeit nicht erstdann, wenn Reformen bereitsvollzogen seien, sondern auch,um ihnen „auf den Weg zu hel-fen" . Von Weizsäcker mahnte,

nicht Gespräche mit denen zuverweigern, deren Verhaltenzur Krise geführt habe, sondernmit allen zu reden, deren Mit-wirkung zur Überwindung derKrise notwendig sei.

„Maßstab für alles, was wirvon hier aus diskutieren undtun, muß bleiben, was den Deut-schen in der DDR wirklich hilft,und nicht was in unsere hiesigenalten Debatten gut hineinpaßt",sagte der Bundespräsident undfügte hinzu: „Nicht hier Rechthaben, sondern drüben weiter-helfen ist das Gebot der Stun-de". Es hänge viel von den Deut-schen ab, „damit Europa sich ineinen Zustand des Friedens hin-einentwickeln und zusammen-wachsen kann".

Niedersachsens Ministerprä-sident Albrecht sprach von ei-nem Weg voller Chancen undRisiken, an dessen Ende eineÜberwindung der deutschenTeilung stehen könne. Entspre-chend feierte Bundestagspräsi-dentin Rita Süßmuth das „Herz-stück , Eichsfeldischen Lebens"(so Bürgermeister Lothar Kochüber das Rathaus) als „Symbolfür Freiheit und Einheit".

Auch SED-Chefideologe Hager fordert Reformen

Rücktritt Honeckers wirdnicht mehr ausgeschlossen

Ostberlin/Bonn (dpa/AP). Angesichts derinnenpolitischen Krise in der DDR ist Staats-und Parteichef Erich Honecker in seiner eige-nen Partei offenbar unter heftigen Beschüß

geraten. Aus der Umgebung des SED-Chefsverlautete gestern, ein baldiger Rücktritt des77jährigen könne nicht mehr ausgeschlossen werden.

Honecker lebe an den Realitä-ten vorbei, hieß es laut diesenQuellen. Seine Rede zum 40.Jahrestag der DDR, in der er einüberaus positives Bild des eige-nen Staates gezeichnet hatte, seisowohl in der Bevölkerung alsauch bei den eigenen Parteige-nossen auf Ablehnung und Un-verständnis gestoßen.

Krisensitzung

Das Politbüro der Partei setzteseine am Dienstag begonneneKrisensitzung auch am Mitt-woch fort. Dazu wurden Fach-leute aus dem Zentralkomiteehinzugezogen, was nur in drin-genden Fälle geschieht. „

In einer anschließend imDDR-Fernsehen verlesenen Er-klärung heißt es, man sei betrof-fen über den Flüchtlingsstrom indie Bundesrepublik. Es lasse„uns nicht gleichgültig, wennsich Menschen, die hier arbeite-ten und lebten, von unsererDeutschen Demokratischen Re-publik losgesagt haben... DieUrsachen für ihren Schritt mö;gen vielfältig sein. Wir müssenund werden sie auch bei uns su-chen, wir alle gemeinsam."

Mitglieder des über 160 Mit-glieder zählenden ZK fordertenHonecker laut Informationenaus der SED auf, einen Berichtzur Lage des Staates abzugeben.Dieser verschob unterdessenseinen für den 25. und 26. Okto-ber geplanten Staatsbesuch inKopenhagen. Diplomaten führ-

ten dies auf die angespannte in-nenpolitische Lage zurück.

ZK-Mitglieder haben nachAngaben au,s Parteikreisen Ho-necker in der. erweiterten Polit-bürositzung darauf aufmerksamgemacht, daß sich in' den Betrie-ben Anzeichen zu Streiks mehr-ten. Es dürfe keine Zeit mehrvergeudet werden, verlauteteaus diesen Quellen. Die Parteimüsse jetzt die immer drängen-deren Fragen der Bürger beant-worten, hätte der dringende Ap-pell an Honecker gelautet. Invielen Betrieben würden., sichArbeiter bereits weigern, Über-stunden zu machen.

Proteste bei ADN

Mitarbeiter der DDR-Nach-richtenagentur ADN hätten da-mit gedroht, keine Meldungenmehr zu verfassen, in denenfriedliche Demonstranten als„Randalierer" dargestellt wer-den sollten, hieß es. Sie verwie-sen darauf, daß sie in Betrieben,in denen sie Interviews machen

Weitere Berichte zur Lage in derDDR finden Sie auf „ Themen desTages".

wollten, von Arbeitern wegenunlauterer Berichterstattungbeschimpft würden.' Das Ensemble der Deutschen

Staatsoper in Ostberlin soll ineinem Brief an Honecker damitgedroht- haben, Vorstellungen

platzen zu lassen, falls die vonEnsemblemitgliedern gestelltenAnfragen zu den aktuellen Ge-schehnissen nicht beantwortetwürden. In Karl-Marx-Stadthatten sich diesen Infomationenzufolge Mitglieder von Betriebs-kampfgruppen geweigert, zuÜbungen auszurücken. Arbeiterwürden nicht gegen Arbeiteraufmarschieren, hätten sie argu-mentiert.

Zu Dialog bereit

Inzwischen mehren sich aberauch die Anzeichen, daß dieSED zu einem Dialog mit derOpposition im Lande bereit ist.SED-Chefideologe Hagersprach von der Notwendigkeit,„auf aktuelle Bedürfnisse undStimmungen der Massen zu rea-gieren". Offenbar als Reaktionauf die breiten Proteste der ver-gangenen Tage zitierte derDDR-Rundfunk Hager mit ei-nem vier Tage alten Interviewder sowjetischen Zeitung „Mos-kowski Nowosti". Darin erhobder bisher als „Hardliner" derPartei bekannte 77jährige dieForderung nach einer „präzisenKonzeption für die Verwirkli-chung erforderlicher Erneue-rungen" als Aufgabe der „aller-nächsten Zeit".

Hager sprach sich in dem In-terview auch für eine Verbesse-rung der DDR-Informationspoli-tik aus.Fortsetzung nächste SeiteSiehe auch „Zum Tage"

Anrainerländer streben Konvention an / Ziel:

Verbindlicher Alpenschutz ab '91Berchtesgaden (dpa). Die sie-

ben Alpenstaaten werden un-verzüglich gemeinsame An-strengungen unternehmen, umdie bedrohte Gebirgswelt zu er-halten. Die Länder Österreich,Schweiz, Italien, Frankreich,Jugoslawien, Liechtenstein unddie Bundesrepublik einigtensich am Mittwoch zum Ab-schluß der 1. InternationalenAlpenkonferenz in Berchtesga-den darauf, bis 1991 eine völ-kerrechtlich verbindliche Inter-nationale Alpenkonvention zuerarbeiten. Grundlage dafür isteine gemeinsame Resolution.

Der Vorsitzende der Konfe-renz, Bundesumweltminister

Töpfer (CDU), kündigte an, daßunter Federführung von Öster-reich bis 1991 der Entwurf einerAlpenkonvention mit konkreti-sierenden Protokollen für Na-turschutz, Landschaftspflegeund Raumordnung, für Verkehrund Tourismus vorgelegt wer-den könne. Der erste Schritt seigetan und der weitere Weg vor-gezeichnet. Das Ergebnis derKonferenz - an der auch Um-weltschutzorganisationen teil-nahmen - gebe Anlaß zu „reali-stischem Optimismus".

Alle Staaten waren sich einig,eine bäuerlich geprägte Land-wirtscriaft in den Alpen zu er-halten. Dazu gehörten auch di-

rekte Einkommenshilfen fürökologische Leistungen derBergbauern, die als „Gärtner derAlpen" unbedingt in ihrer beruf-lichen Existenz gesichert wer-den müßten. Gleiche ökologi-sche Bedeutung komme demBergwald zu, dessen Schutz-funktion höchste Priorität ein-zuräumen sei. In Zukunft solltenauch mehr Projekte einer Um-weltverträglichkeitsprüfung un-terzogen werden.

Die Umweltminister und Re-gierungsvertreter sprachen sichdafür aus, Autos ohne geregel-ten Drei-Wege-Katalysator so-bald wie möglich nicht mehr zu-zulassen.

Zum Tage

Späte EinsichtL/er Altkommunist Kurt Hager hatsich nie rühmen können, ein Vor-denker oder gar Querdenker derSED zu sein. Als Chefideologe derPartei sah er seine Aufgabe bishervornehmlich darin, die reine Lehredes Sozialismus gegen alle bürger-lichen Anfechtungen zu verteidi-gen. Daß ausgerechnet er jetzt alserster Spitzenfunktionär grund-sätzliche Veränderungen und Er-neuerungen für notwendig erklärt,läßt auf eine tiefgreifende Verunsi-cherung des Politbüros schließen.Die Front der Betonköpfe bröckeltab. SED-Chef Honecker, der dieDDR eben noch als makellosen so-zialistischen Musterstaat feierte,sieht sich isoliert und gerät zuneh-mend in Beweisnot.

Plötzlich sind die protestieren-den Massen in Ostberlin, Leipzigoder Dresden keine randalieren-den Systemgegner mehr, sondernBürger, auf deren aktuelle Bedürf-nisse und Stimmungen die Parteireagieren muß. Plötzlich sind fürdieMassenflucht nicht mehr west-deutsche Medien und asoziale Ele-mente verantwortlich, sondern dievielen Hindernisse, die der soziali-stische Staat seinen jungen Bür-gern in den Weg legt. In späterSelbsterkenntnis scheint die SEDendlich Besserung geloben zu wol-len. Glaubhaft wird ihr Reformwillejedoch erst, wenn sie auch bereitist, die längst fälligen personellenKonsequenzen zu ziehen.

Achim v. Roos

DDR-Flüchtlinge

56 fuhrenwieder zurück

München/Bonn (dpa/AP). Dieersten DDR-Flüchtlinge kehrenwieder in ihre Heimat zurück.Nach Angaben der Polizei wur-den 5ß DDR-Bürger registriert,die meist aus persönlichenGründen den Westen wiederverlassen haben.

Der Zustrom neuer Flüchtlin-ge reißt jedoch nicht ab: In.Bay-ern kamen gestern 386 Über-siedler an, die über Ungarn ge-flüchtet waren. In der BonnerBotschaft in Warschau wurdenwieder über 500 DDR-Bürgergezählt, in der Botschaft in Pragwaren es 40.

MiG 23/Neue Elektronik

Syrischer Pilotfloh nach Israel

Tel Aviv (dpa). Ein Major dersyrischen Luftwaffe ist gesternmit seinem sowjetischen Kampf-bomber vom Typ MiG 23 nachIsrael geflohen. Vor allem dieneue . Elektronik des erstmals1967 in Dienst gestellten Bom-bertyps ist im Westen bishernur aus geheimdienstlichen In-formationen bekannt. Unmittel-bar nach Bekanntwerden derFlucht flogen Israels Verteidi-gungsminister Rabin und derMilitär-Oberbefehlshaber, Ge-neral Schomron, zu dem Lande-platz, um sich zu informieren.

Das Flugzeug, das über Liba-non in den israelischen Luft-raum eindrang, landete auf ei-nem Sportflugplatz im Nordendes Landes. Der Pilot hat umpolitisches Asyl gebeten. Diesyrische Regierung erklärte hin-gegen, der Pilot sei aus techni-schen Gründen notgelandet.

Lotto am MittwochZiehung A: 3, 24, 27, 36, 40, 46 Zu-satzzahl: 22.Ziehung B: 7, 12, 29, 41, 46, 49 Zu-satzzahl: 9.Spiel 77: 2 7 2 7 9 4 8.

(Ohne Gewähr)

Page 10: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 238 Politik Donnerstag, 12. Oktober 1989

Namen undNachrichten

Griwas bildet RegierungDer Vorsitzende des griechi-schen OberstenGerichtshofs,Griwas (Foto),hat von Staats-präsident Sart-setakis denAuftrag zur Bil-dung.einer neu-en Übergangs-regierung bis zuden Parla-mentswahlenam 5. Novem-ber erhalten.Griwas, dessen Berufung allge-mein erwartet wurde, war seitdem Amtsantritt der Übergangs-koalition von Konservativenund Kommunisten im Juli Vor-sitzender des Obersten Ge-richts.

Stoibers ARD-KritikDer bayerische InnenministerEdmund Stoiber (CSU) hat kriti-siert, daß im ARD-Fernsehen„ein wichtiges Stück öffentlicherMeinungsmacht in den Händendes Westdeutschen Rundfunksin Köln" liegt. Er schlug vor,künftig auch andere ARD-An-stalten mehr über wichtige na-tionale und internationale The-men berichten zu lassen. Dieswäre „ein Gewinn für die ARDund die demokratische und fö-derale Vielfalt".

Gegen GammeldienstDer Wehrbeauftragte des Bun-

destages, Weis-kirch, hat fürdie in der Bun-

jdeswehr üben-| den Reservi-I sten ein „wohl-' durchdachtesProgramm" ge-fordert, das

1 Gammeldienstlausschließt.jLaut Weiskirch[beklagten sich«immer wieder

Bürger bei ihm, die in ihren Re-serveübungen keinen Sinn se-hen und im nachhinein bedauer-ten, den Dienst nicht verweigertzu haben.

Roter Stern erlischtDie Beleuchtung des riesigen ro-ten Sterns, der das Parlaments-gebäude in Budapest krönt, sollam Nachmittag des 23. Oktober,dem Jahrestag des Beginns desUngarnaufstands von 1956, er-löschen. Das berichtete die un-garische NachrichtenagenturMTI. Der 23. Oktober wirdkünftig in Ungarn als nationalerGedenktag gelten.

Ehrlicher DDR-ÜbersiedlerÜberrascht war ein DDR-Über-siedler in Ahrweiler, als er eineKleiderspende des TechnischenHilfswerks für sich und seineFrau genauer betrachtete: In ei-ner Handtasche entdeckte erPfandbriefe im Wert von mehre-ren tausend Mark. Daraufhinbrachte der Mann die zu groß-zügig geratene Spende sofort indie Kleiderausgabe zurück.

Für UNO-UmweltcorpsZum Schutz der von der Ausrot-tung bedrohtenafrikanischenElefanten hatder Vorsitzen-de der JungenUnion, Bohr,den Einsatz ei-nes UNO-Um-weltcorps vor-§eschlagen.

chlecht ausge-rüstete Wild-hüter führtenoft einen aus-sichtslosen Kampf gegen diemodern ausgestatteten Wilde-rerbanden. Nur eine weltweiteZusammenarbeit biete Aussichtauf eine wirksame Unterbin-dung der Wilderei und der Aus-rottung vieler Tierarten.

Reps müssen rausDie Gewerkschaft Holz undKunststoff (GHK) will als ersteDGB-Gewerkschaft Mitgliederder Republikaner ausschließen.Ein GHK-Kongreß beschloßietzt einstimmig, damit ein ein-deutiges politisches Signal zusetzen und allen Tendenzen ei-ner schleichenden Gewöhnungan die Existenz der Partei undderen Verharmlosung entge-genzutreten.

40-Stunden-Woche Mandela nicht dabei Opposition / Ausschüsse

Weiter Kritik Südafrika läßt SPD will Rechtean Haussmann Häftlinge frei festschreiben

Bonn (dpa). Bundeswirt-schaftsminister Haussmann(FDP) hat für seine Forderungnach 40stündiger Wochenar-beitszeit für Fachkräfte auch ge-stern scharfe Kritik von SPDund Grünen geerntet. Das SPD-Präsidium in Bonn warf dem Mi-nister vor, „zur Polarisierungund zur Verhärtung der Frontenin einer ohnehin schwierigenTarifauseinandersetzung" bei-zutragen.

Die Bundesregierung versu-che, die Gewichte in der Tarif-diskussion zugunsten der Ar-beitgeber zu verschieben.

Der Grünen-AbgeordneteWilli Hoss warf Haussmannvor, er habe „keinen • blassenDunst von der Wirklichkeit desArbeitsmarktes", wenn er ange-sichts von zwei Millionen Er-werbslosen von „einem leerge-fegten Arbeitsmarkt" spreche.

FDP-Sprecher Goebel nanntedie Reaktionen „polemisch".SPD, Grüne und Teile der CDUmogelten sich damit „an einerernsthaften Diskussion überpauschale Arbeitszeitverkür-zungen und ihre negativen Fol-gen für Arbeitsmarkt und Ge-samtwirtschaft vorbei".

Johannesburg (dpa). Südafri-kas Präsident de Klerk hat dreiWochen nach seinem Amtsan-tritt die bedingungslose Freilas-sung von acht politischen Häft-lingen angekündigt. Der zucker-kranke Gewerkschaftler OscarMpetha, mit 80 Jahren Seniorder politischen Gefangenen inSüdafrika, wurde am Mittwochals erster auf freien Fuß gesetzt.Mpetha war 1985 wegen Terro-rismus zu fünf Jahren Gefängnisverurteilt worden.

Die anderen verbüßen seit1964 (in einem Fall seit 1963)lebenslange Freiheitsstrafenwegen Sabotage. Mit ihrer Frei-lassung ist nach Angaben vonJustizminister Kobie Coetsee„in ein paar Tagen" zu rechnen.Der prominenteste dieser Grup-pe ist der 77 Jahre alte WalterSisulu, ehemaliger Generalse-kretär der BefreiungsbewegungAfrikanischer Nationalkongreß(ANC).

Der anglikanische Erzbischofvon Kapstadt, Desmond Tutu,kündigte in einer ersten Reak-tion „die Fortsetzung des Kamp-fes" um die Freilassung NelsonMandelas und anderer politi-scher Häftlinge an.

Bonn (dpa). Als Konsequenzaus „Geheimniskrämerei" und„Blockade" durch Vertreter derRegierungsparteien bei der Ar-beit im U-Boot-Untersuchungs-ausschuß des Bundestages for-dern die Sozialdemokraten ein„Untersuchungsausschuß-Ge-setz". Dies soll nach Worten desstellvertretenden Vorsitzendendes Ausschusses, Stobbe, dieRechte der Oppositionsvertre-ter festschreiben.

Bei Vorlage des Zwischenbe-richtes über die Ausschußarbeitaus Sicht der SPD betonte Stob-be am Mittwoch in Bonn, dieArbeit zar Aufklärung der Lie-ferung von U-Boot-Konstruk-tionsplänen nach Südafrika seinoch längst nicht beendet. Inder vergangenen Woche hattenCDU/CSU und FDP erklärt, dieAusschußarbeit könne abge-schlossen werden.

Nach Ansicht des SPD-Ob-manns im Ausschuß, Gansei,gibt es dagegen noch eine Un-zahl ungelöster Fragen. Er siehtes als erwiesen an, daß Südafri-ka mit Know-how für den Bauvon modernen U-Booten ver-sorgt werden sollte.Siehe auch Kommentar

• Ä f e >*»;

SPD-Chef Vogel dringt auf rasche Hilfe für PolenFür unverzügliche Hilfe an Po-len hat sich SPD-Parteichef Vo-gel ausgesprochen. In den kom-menden Monaten falle dort dieEntscheidung auf wirtschaftli-chem Gebiet, ob der Reformpro-zeß gelinge oder scheitere, sagteVogel am Mittwoch in War-schau nach Gesprächen mit Mi-nisterpräsident , Mazowiecki(links) und weiteren Vertreternder neuen Führung. Jedes Pro-jekt helfe Polen jetzt „in seinerschwierigsten Phase". Bei einemweiteren Zögern könne sich derWesten einmal bittere Vorwürfe

machen, „etwas versäumt" zuhaben. Vogel zeigte sich grund-sätzlich zufrieden mit den Er-gebnissen der weitgehend abge-schlossenen Regierungsver-handlungen zwischen Bonn undWarschau. Der Oppositionsfüh-rer überbrachte MazowieckiGrüße des Kanzlers. Auf deutli-che Distanz ging der SPD-Vor-sitzende, der sich am Vortag mitArbeiterführer Lech Walesaund den wichtigsten Vertreternder im Parlament vertretenenSolidarität-Fraktion getroffenhatte, zu der kommunistischen

Polnischen Vereinigten Arbei-terpartei (PVAP), mit der dieSPD eine ständige Arbeitsgrup-pe unterhält. Die „einschneide-nen Veränderungen" in Polengäben Anlaß zu fragen, welcheFolgerungen die SPD daraus zie-hen werde, sagte er. Wenn sichdie Kommunisten in eine sozial-demokratische Richtung ent-wickeln sollten, so würde er diesbegrüßen. Gestern wurde eben-falls bekannt, daß die SPD-naheFriedrich-Ebert-Stiftung inWarschau eine Vertretung er-öffnen wird. (dpa-Funkbild)

SED-Gespräch mit Opposition in Dresden

Teilnahme Modrows gefordertFortsetzung

Die DDR-Kirchenleitung un-ter Vorsitz von Bischof Forckbegann gestern nach Angabendes Berliner Senders RIAS-TVVerhandlungen mit der SED-Führung vorrangig über dieFreilassung der bei den Demon-strationen vom WochenendeFestgenommenen. In Dresdensind offenbar noch nicht alleMenschen, die sich in Polizeige-wahrsam befinden, wieder ent-lassen worden.

In Dresden setzen die Refor-mer offenbar weiter auf SED-Be-zirkschef Modrow, der nach ih-ren Forderungen bei dem näch-sten am 16. Oktober geplantenGespräch mit Bürgervertreterndabei sein soll. Modrow hatte,kürzlich bei seinem Besuch inder Bundesrepublik ebenfallsdie Notwendigkeit von Ände-rungen in der DDR unterstri-chen.

Gesprächsbereitschaft staatli-cher Vertreter mit reformwilli-gen Bürgern zeichnet sich nichtnur in Dresden und in Leipzig,

sondern nun auch in Ostberlin,Magdeburg und in anderenStädten ab. In Ostberlin machte,wie RIAS-TV meldete, die FDJ-Bezirksleitung in der Nacht zumMittwoch den oppositionellenGruppen in der Stadt ein Ge-sprächsangebot.

Der Generalsuperintendentder evangelischen Kirche vonBerlin-Brandenburg, Krusche,sprach gestern von Hinweisen,daß in einigen Bezirken der DDRdie Anerkennung der Bürgerbe-wegung „Neues Forum" kurzbevorstehe.

Hermlin für Zulassung

DDR-Schriftsteller Hermlin,seit Jahren treues SED-Mit-glied, hat sich inzwischen dafürausgesprochen, die Opposi-tionsgruppe „Neues Forum" zu-zulassen: In einem Interviewsagte er, er kenne die Personennicht, die das Manifest unter-zeichnet hätten, „aber warumsollte ich ihnen nicht vertrau-

en?" Hermlin schloß sich derKritik seines Kollegen Kant an,der am Montag die Berichter-stattung der DDR-Medien überdie Demonstrationen anläßlichdes 40. Jahrestages heftig gerügthatte. Die DDR verfüge übereine Presse und ein Fernsehen,„die einer fortgeschrittenen fort-schrittlichen Gesellschaft nichtwürdig sind", sagte Hermlin.

Ein wesentlicher Punkt derKritik am Staat ist offenbar dieInformationspolitik der Regie-rung, die auch Hager erwähnte.Wie es hieß, hat Anfang derWoche die Parteigruppe der Ge-neraldirektion für Unterhal-tungskunst in einer Sonderver-sammlung die „Diskrepanz zwi-schen der Selbstdarstellung un-serer Gesellschaft und subjekti-ven Erfahrungen" zur Diskus-sion gestellt. Von gut unterrich-teter Seite verlautete, da's für dieMedienpolitik verantwortlichePolitbüro-Mitglied JoachimHerrmann (60) sei auch in derobersten Parteiführung nichtmehr unumstritten.

Strenge Kontrolle bei Transport über Grenzen

Bonn unterzeichnetGiftmüllabkommen

Bonn (dpa). Die Bundesregie-rung wird die internationaleKonvention unterzeichnen,durch die der Giftmülltransportüber die Grenzen einer strengenKontrolle unterworfen werdensoll. Dies hat das Bundeskabi-nett am Mittwoch beschlossen.Das im März in Basel von 110Staaten beschlossene Abkom-men soll in erster Linie verhin-dern, daß die Länder der DrittenWelt zur „Müllkippe" der Indu-strieländer gemacht werden.

Wie das Bundesumweltmini-sterium mitteilte, ist nach derKonvention der Import, der Ex-port und der Transit von Abfäl-len nur zulässig, wenn zuvoralle beteiligten Staaten infor-miert wurden und zugestimmthaben. Der Export in Staaten,die nicht die Konvention unter-zeichnet haben, ist grundsätz-lich verboten. Müllexporteureoder ihre Regierungen sind ver-pflichtet, die Abfälle zurückzu-nehmen, wenn der Export illegalerfolgt oder scheitert.

Umweltminister Töpfer (CDU)hat das Übereinkommen als ei-

nen wichtigen Beitrag zur Ein-dämmung des „wuchernden, un-kontrollierten Abfalltourismus"bezeichnet. Mit der Rücknah-meverpflichtung bei illegalenMüllexporten solle verhindertwerden, daß „Abfälle auf denWeltmeeren herumvagabundie-ren". Töpfer unterstrich, daß fürdie Bundesrepublik Abfallex-porte in Länder der Dritten Weltnicht in Frage kämen. Die Bun-desregierung praktiziere diesbereits und werde es bei der Ra-tifizierung der Konvention ge-setzlich festschreiben.

Die Umweltschutzorganisa-tion Greenpeace hat erheblicheKritik an dem Übereinkommengeübt und bemängelt, daß esnicht das von vielen Staaten ge-forderte Exportverbot für Gift-müll in die Dritte Welt enthalte,sondern eine „weltweite Geneh-migung mit gewissen Einschrän-kungen" darstelle. „Mit etwasmehr Papier- und Genehmi-gungsaufwand kann das großeGiftverschiebungsgeschäft alsoweitergehen", heißt es in derGreenpeace-Stellungnahme.

Verfassungsklage gegen Ausländerwahlrecht

Union fürchtet Verlust„nationaler Identität"

Karlsruhe (dpa). Das inSchleswig-Holstein eingeführteKommunalwahlrecht für Aus-länder bedeutet nach Auffas-sung der CDU/CSU die Preisga-be der „nationalen Identität".Der Justitiar der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Langner,sagte am Mittwoch in der münd-lichen Verhandlung vor demBundesverfassungsgericht, dasWahlrecht sei in der. Demokra-tie i,tier entscheidende Integra-tionsfaktor für das Staatsvolk":Demnach könne das Wahlrechtauch nur deutschen Staatsange-hörigen zustehen.

Der Zweite Senat des Karlsru-her Gerichts berät über Verfas-sungsklagen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sowie überihren Antrag, das in Schleswig-Holstein eingeführte Auslän-derwahlrecht mit einer einst-weiligen Anordnung auszuset-zen. Die Union will damit ver-hindern, daß sich Ausländerdort bereits an der nächsten

Kommunalwahl im März 1990beteiligen. Das Bundesverfas-sungsgericht wird seine Ent-scheidung heute verkünden.

Schleswig-Holstein und Ham-burg hatten das Ausländerwahl-recht. - in unterschiedlicherForm - im Februar dieses Jahreseingeführt. Nach der schleswig-holsteinischen Gesetzesnovellehaben nur_ .dänische, irische,niederländische, norwegische,

schwedische und SchweizerStaatsbürger das Wahlrecht, so-fern sie seit mindestens fünfJahren in der Bundesrepublikleben. Das Hamburger Wahl-recht geht erheblich weiter.

Für die Kieler Landesregie-rung wandte sich InnenministerBull (SPD) entschieden gegenden Vorwurf, das Gesetz versto-

• ße gegen das „Prinzip der Volks-souveränität". Dies sei schonschon deshalb unzutreffend,weil das Ausländerwahlrecht inzahlreichen europäischen Staa-ten seit langem anerkannt sei.

Haussmann: Durchbruch Drogenmafia / Zeitung

EG einig über Zwei AngestellteFusionskontrolle erschossen

Luxemburg (dpa/vwd). DieWirtschaftsminister der Euro-päischen Gemeinschaft (EG) ha-ben sich in Luxemburg auf dieGrundzüge einer EG-weiten Fu-sionskontrolle geeinigt. Bundes-wirtschaftsminister Haussmannsprach von einem Durchbruch.Andere Delegationen sehennoch Differenzen. Die EG-Kom-mission soll künftig Ünterneh-mensfusionen kontrollieren,wenn dej Umsatz mehr als zehnMilliarden DM beträgt.

Bogota (dpa). MutmaßlicheMordkommandos der Rausch-giftmafia haben am Dienstag inder kolumbianischen Millionen-stadt Medellin zwei leitendeAngestellte der Zeitung „ElEspectador" erschossen. Bereitsim September dieses Jahres wardas Gebäude der Zeitung bei ei-nem Bombenanschlag schwerbeschädigt worden. Das Blattsetzt sich seit Jahren für energi-sche Maßnahmen gegen dieDrogenmafia ein.

HESSISCHE/NIEDERSACHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureChef vom Dienst: Horst Kröninger ChefNachrichten: Rainer Merforth. Politik. Jo-chen Prater Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik. HorstSeidenfaden, Kultur Dirk Schwarze, Frauu. Reise; Ilse Methe-Huber Sport: Rolf Wie-semann, i. V, Ulrich Fuhrmann Sonntags-zeit: Frank Thonicke Kassel Stadt undLand: Wolfgang Rossbaoh, Bezirksredak-tionen: Peter M Zitzmann. KoordinationHelmut Lehnart Hessen/NiedersachsenEberhard Heinemann Chefreporter' Karl-Hermann Huhn Sonderthemen PeterOchs.

Redaktion Wiesbaden Rolf EffenbergerRedaktion Hannover Harald BirkenbeulRedaktion Bonn Hans Ludwig Lauert

Verlagsleityng . .

Dr Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter•• Horst Prehm.Vertriebsleiter1 Gerd Lütiring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61 / 20 3-0 Tel. Anzeigenan-nahme 05 61 / 20 3-3 Fernschreib-Nr99 635. Telekopierer 05 6T /20 36. Teletex5618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr 29 Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7 % MwSt (Postbezugs-preis 28,50 DM)

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von ^einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen KündigungserMä-rung

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse" Marburg, ..Hersfelder Zeitung"„Werra-Rundschau" Eschwege „Harzku-rier" Herzberg *

Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare

Herstellung Druckhaus DierichsFrankfurter Straße 168 3500 Kassel

Page 11: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr 238 Themen des Tages Donnerstag, 12. Oktober 1989

OptischeTäuschung

A,ch ja, den U-Boot-Untersu-chungsausschuß gibt es auchnoch. Er ist einer von vielen, diesich durch Berge von Papier fres-sen und ihr mühsames Dasein fri-sten. Ginge es nach dem Willender Mehrheit, wäre er bereits sanftentschlafen. Doch die SPD läßtnicht locker und öffnet wieder ein-mal die Luken vor ihren Torpedos.Zeugen der politischen Prominenzsollen aussagen, dieserhalb hatdie Opposition sogar die Karlsru-her Verfassungsschützer angeru-fen. Auf deren Spruch darf mangespannt sein, denn er könnteendlich Bewegung in ein erstarrtesSzenarium bringen.

Glaubt man staatsbürgerlichenHandbüchern, stellt,der Untersu-chungsausschuß ein Kontrollin-strument der Abgeordneten ge-genüber Regierung und Verwal-tung dar. In der Praxis funktioniertes jedoch nur in den seltenen Fäl-len, wo sich die nach dem Partei-erischlüssel zusammengesetztenMitglieder einig sind. Bei der Affäref^arschel war das so und wurdezürn Ereignis. Meistens1' freilichspaltet sich das Gremium in Mehr-heit und Minderheit. Das Sagenund das letzte Wort hat die Mehr-heit. Die Minderheit muß sich mitder Rolle eines kritischen Kommen-tatoren begnügen.

Daß ein Untersuchungsaus-schuß souverän und sachbezogender Regierung entgegentritt, istalso eine optische Täuschung. Wieschon die Mehrheitsfraktionenkommen auch deren Untersucherdem Kabinett zu Hilfe. JüngstesBeispiel für solche Zuarbeit ist, wiedas „Celler Loch" zugemauert wur-de. Einig sind sich die Parteien nurim Unbehagen über die bisherigeÜbung. Mag sein, daß sich dasSelbstgefühl der Parlamentarierregt, vor allem jedoch, weil Mehr-heit nach Wahlen auch zur Minder-heit werden kann. Daher sind Ge-setzentwürfe auf dem Weg, die biszum Ende der Legislaturperiodeerledigt sein sollen. Vielleichtkommt auch dazu aus Karlsruheein klärendes Wort.

Alfred Brugger

Schmerzlich*FragenDie Konservativen in Blackpoolgehen nach der Devise vor: „Busi-ness as usual" - Geschäft wie üb-lich. Der Parteitag läßt sich nichtsanmerken und behandelte am Mitt-woch Umweltfragen und das Dro-genproblem. Dabei ist den Dele-gierten wie den Bürgern klar, daßdie Konservativen an einem Kreuz-punkt angelangt sind. In zentralenPunkten ihrer Politik hat die Regie-rung in letzter Zeit und sogar inden letzten Tagen schwere Rück-schläge hinnehmen müssen. Dasbisher „starke" Pfund, der stolzMargaret Thatchers und ihresSchatzkanzters Nigel Lawson, isterschreckend weich geworden.Die gewohnte Kur schlägt nichtmehr an. Die britische Wirtschaftscheint Einwirkungen von außenschutzlos ausgeliefert zu sein.

Das hat beträchtliche Verwir-rung ausgelöst. Jetzt stellt sich dieFrage, warum Großbritannien nicht(angst dem europäischen Wäh-rungssystem beigetreten ist unddamit die Hilfe seiner Nachbarn inAnspruch nehmen könnte. Was istaus dem stolzen Wort MargaretThatchers geworden, ihre Regie-rung werde dem EWS beitreten,wenn.die Situation „reif" sei. Ist sienun „reif"? Kritik und Selbstzweifelrichten sich aber auch gegen bis-her feste Glaubenssätze. Wie istes möglich, daß die Tory-Regie-rung nach zehn Jahren in dieseKrise geraten konnte, daß sie dieInflation nicht senken und die Han-delsdefizite nicht beseitigen kann?War es wirklich eine Art „Wirt-schaftswunder", das MargaretThatcher bewirkt hat? Oder ist derBoom der vergangenen Jahre mitgefährlichen Mitteln erzielt worden,was sich jetzt rächt? Das sindschmerzliche Fragen, die die ge-genwärtigen Unzufriedenheitenetwa mit dem Zustand des Ge-sundheitswesens und des Ver-kehrssystems potenzieren.

Klaus Kämpgen, London

Das Zitat„Mir sind die Optimisten lieber:Menschen, die alles halb soschlimm und doppelt so gut fin-den."

Heinz Rühmann

DDR / Glasnost?

Was ADNbringt, istnicht mehr tabuVon Ingomar Schweiz (AP)

-L/ie Selbstkritik ist schonungs-los: „Die Information über dieEreignisse der letzten Tage undNächte in Dresdens Innenstadt,die auch unsere Zeitung gesternveröffentlich hat, war einseitigund vermittelte ein falschesBild". Mit diesem Satz distan-zierte sich die Dresdner Ost-CDU-Zeitung „Die Union" voneinem Text, den sie offensicht-lich ungeprüft von staatlichenStellen übernommen hatte. Dar-in waren Demonstranten, dieanläßlich des 40. Geburtstagesder DDR mehr Demokratie ge-fordert hatten, „rowdyhafte,staatsfeindliche und verfas-sungswidrige Aktionen" vorge-worfen worden.

In der DDR ist nach dem run-den Jubiläum der Staatsgrün-dung das Glasnost-Zeitalter an-gebrochen. Zwischen den Zei-tungen in der DDR ist ein Mei-nungsstreit ausgebrochen, Ta-buthemen werden offen disku-tiert, journalistisches Selbstver-ständnis lehnt sich deutlich ge-gen bisher hingenommene Me-diengleichschaltung auf. Derstaatlich gelenkte Informations-fluß findet vor allem in den Zei-tungen der sogenannten Block-parteien des Landes nicht mehrso recht sein Ziel.

Vogel abgeschossen

Am Mittwoch, schoß die„Neue Zeit" der Ost-CDU denVogel ab: Sie druckte eine Mel-dung des „Allgemeinen Deut-schen Nachrichtendienstes"(ADN) über die Folgen der Mas-sendemonstrationen der letztenTage nicht wie üblich im Wort-laut ab, sondern veränderte sieredaktionell und verbreitete siedurchgehend im Konjunktiv.„Volkpolizisten seien tätlich an-gegriffen worden, mit Steinen,Flaschen und Brandsätzen be-worfen worden", schrieb dasBlatt mit Berufung auf die amtli-che Nachrichtenagentur.Gleichzeitig strich die Redakti-on die Bezeichnung der Demon-stranten als „Randalierer, aufge-putschte Störer und kriminelleElemente", wie sie in der vonADN verbreiteten „Informationder Presseabteilung des Mini-sterium des Inneren" genanntwerden.

In der Forderung nach einemDialog zwischen dem Staat undseinen unbequemen Kritikernsind sich alle Blätter einig. Über-all sind Leserbriefe wie der desStadtabgeordneten Gerd Gor-dalla in der „Leipziger Volkszei-tung" abgedruckt: „Wenn wiretwas verändern wollen, unddas wollen wir, dann brauchenwir jetzt eine Atmosphäre, diedurch Dialog und gemeinsamesHandeln geprägt ist".

In der „Neuen Zeit" zeigt sichder Dresdner Otto Wuttke ent-täuscht darüber, daß das Blattzur Massenflucht von DDR-Bürgern in den Westen nur ei-nen ADN-Kommentar abge-druckt habe. In der „Sächsi-schen Zeitung" wird der Genos-se Erwin Lawrenz vom DresdnerKombinat Robotron so zitiert:„Nach meiner Auffassung wärees gut, wenn die Parteiführungeine klare Antwort auf die Er-eignisse geben würde, auf dieFragen und Probleme, die unsbewegen und die von uns immerwieder angesprochen wurden.So tun, als ob es die nicht gäbe,stärkt nicht unsere Reihen, son-dern schwächt sie".

Ungewöhnliche Töne

Ungewöhnliche Töne fürDDR-Zeitungen, die plötzlichselbstkritisch eine offene Me-dienpolitik fordern. In der Zei-tung des Freien Deutschen Ge-werkschaftsbundes (FDGB),„Tribüne", schreibt die Ostberli-ner Schauspielerin Ursula Wer-ner: „Wir sind beunruhigt überden Widerspruch in der Dar-stellung unserer Wirklichkeit inoffiziellen Reden und den Me-dien und der täglich zu ertleben-den Realität". Es sei ein großerVertrauenssschwund eingetre-ten, der Sorgen mache. Ver-schiedene Theater in der DDRhätten das in den vergangenenTagen in Erklärungen ausge-drückt, die in den Foyers aus-hingen, schreibt die Schauspie-lerin.

DDR: Lücken in Betrieben / Warum sie abhauen

Flucht vor ungeliebtem JobVon unserem Mitarbeiter Peter Gärtner, Berlin

LJie seit Wochen anhaltendeFlucht- und Ausreisewelle vorallem junger Menschen aus derDDR hat mittlerweile selbst inden DDR-Medien zu einerselbstkritischeren Haltung ge-führt. Offener als noch vor we-nigen Wochen werden öffent-lich die Verluste beklagt, dieinsbesondere der Wirtschaft zuschaffen machen. Im DDR-Fern-sehen beklagt ein Kombinatsdi-rektor, daß jeder, der in den We-sten gehe, an seinem Arbeits-platz eine Lücke hinterlasse, die„nur durch Mehrleistungen an-derer zu ersetzen" sei.

Das gelingt allerdings längstnicht überall. Vor allem imDienstleistungsbereich undbeim privaten Handwerk sinddie Abgänge im ganzen Land zuspüren: Ein Bäckermeister läßtsich nicht so einfach ersetzen.Im Ostberliner StadtbezirkPrenzlauer Berg haben binnen20 Tagen allein sieben Gaststät-ten zumindest vorübergehendschließen müssen, weil Kellnerund Küchenpersonal in den We-sten gingen.

Dem „Staat der Jugend", wiesich die DDR offiziell gern dar-stellt, den Rücken gekehrt ha-ben auch tausende von Fachar-beitern, die im schlecht bezahl-ten und mit Schichtarbeit ver-

bundenen Transportwesen be-schäftigt waren. Aus Kleinstäd-ten wie Weimar wird berichtet,daß die Busse im öffentlichenNahverkehr seit geraumer Zeitseltener verkehren würden. Der„Deutschen Reichsbahn", wiedie Eisenbahn im anderen deut-schen Staat immer noch heißt,fehlen Lokführer, Rangierer, so-wie Zugbegleiter.

Eine erste Untersuchung aufKombinatsebene (landwirt-schaftliche und industrielleGroßbetriebe) förderte auf-schlußreiche Erkenntnisse zuTage: Danach verließen aus Be-trieben, wo es gut läuft und derPlan regelmäßig erfüllt wird,kaum Arbeiter das Land. Ganzanders sieht es hingegen in Ar-beitsstätten aus, in denen wederdie Rationalisierung noch dievorgegebenen Produktionsan-forderungen halbwegs ihrenGang gehen. Dort seien gleich„scharenweise" Werktätigenicht an ihren Arbeitsplatz zu-rückgekehrt.

Zurückkehren sollen die Aus-gereisten bis auf wenige Aus-nahmefälle allerdings auchnicht - trotz aller Lücken.„Nein", sagte der ideologischeVordenker der SED, das ZK-Mitglied Otto Reinhold gegen-über Journalisten auf eine ent-sprechende Frage vor wenigen

Tagen in Ostberlin. Doch auchbei diesem Problem zeigt sichdie Einheitspartei längst nichtmehr als monolithischer Block:Reinholds Genosse MaxSchmidt, Direktor des Institutsfür Politik und Wirtschaft, istimmerhin noch dafür, allen dieTür zur Rückkehr offenzuhal-ten. Und Beobachter registrie-ren deutliche Anzeichen, daßsich die Position Schmidts wohlin absehbarer Zeit durchsetzenwerde.

Überrascht wurden Woh-nungssuchende DDR-Bürger inder letzten Woche von einerMeldung der Nachrichtenagen-tur ADN, die in allen Tageszei-tungen zwischen Wismar undWeimar zu lesen war: Darinwird berichtet, daß häufig dieFrage gestellt werde, „was mitden freigewordenen Wohnun-gen geschieht, deren bisherigeBewohner illegal die DDR ver-lassen" hätten. Zugleich wirdvon ADN das angebliche Ge-rüchtdementiert, „daß derartigeWohnungen etwa für einenZeitraum von einem Jahr freige-halten würden". Und weiter:„Den örtlichen Organen wirdanheimgestellt, frei gewordeneWohnungen sofort an neue Mie-ter, die daran Interesse haben,zu übergeben."

Stärker als Beton (Aus: Kölner Stadt-Anzeiger / Pielert)

Parteitag in Blackpool wartet auf Rechtfertigungsrede

Bankrotter Schatzkanzler?Von unserem Korrespondenten Klaus Kämpgen, London

nach London geeilt? Führte eretwa in seinem Ministerium Kri-sengespräche?

Reporter und Fotografenspürten ihn schließlich in sei-nem Landhaus auf, in der Ent-fernung von zweieinhalb Stun-den Fahrt. Der Minister feilteseine Rede zurecht, wie immerin letzter Minute. „Lassen siemir meine Ruhe", bat Lawsondie Belagerer. Für ein Foto trater kurz vor die Tür. Fragen be-antwortete er nicht. Dann warzu beobachten, wie er ruheloshinter dem Fenster auf und abschritt. „In seiner Qual", wie ei-ner der Zeugen konstatierte.

Vor den Delegierten trat derParteivorsitzende Kenneth Ba-ker mannhaft für Lawson undseine umstrittene Finanzmaß-nahme ein. „Er scheute nicht vordem zurück, was er tun mußte",erklärte Baker, und in den sichsteigernden Beifall donnerte er:„Manche Leute sagten, er würdeseine Entscheidung bis nachdem Parteitag zurückstellen. Einsolches Verhalten aber wäre be-wußte Täuschung und unver-antwortlich gewesen. Leute, dieso handeln, sind wir nicht."

Baker gab dem Parteitag, waser jetzt hören wollte und riefdazu auf, schon die nächstenWahlen ins Auge zu fassen undsich auf den Gegner, die Labour-Partei, zu konzentrieren. „DerKampf ist schon im Gange", ver-

it nervöser Spannung er-warten die britischen Konserva-tiven die große Verteidigungsre-de von Schatzkanzler NigelLawson, die er heute auf demParteitag in Blackpool hält.Margaret Thatchers Finanzmi-nister ist dem Parteivolk wieauch den Wählern eine ausführ-liche Rechtfertigung für diejüngsten Konsequenzen seinerFinanzpolitik schuldig. Denn dieabermalige Heraufsetzung derZinsen trifft wieder Millionenvon Hauseigentümer.

Dabei scheint die Maßnahmeihren Zweck verfehlt zu haben.Der Wert des Pfundes ist weitergesunken, und nun erwartenalle Briten Lawson-Hinweisedarauf, wie es weitergehen soll.Im Hintergrund drohen steigen-de Inflation, neue Arbeitslosig-keit, vielleicht gar wirtschaftli-cher Niedergang.

Niemand glaubt ernstlich, daßdie Regierung noch einmal ander Zinsschraube dreht. NigelLawson scheint am Ende seinesLateins zu sein. „Der bankrotteSchatzkanzler" verkündete mitgewaltiger Schlagzeile der sonsttreu-konservative „Daily Tele-graph" zum Beginn des Partei-tags. So nervös war die Stim-mung am ersten Tag der Zusam-menkunft in Blackpool, daß dieAbwesenheit Lawsons sofortentdeckt wurde und besorgteFragen auslöste. War er zurück

kündete er. Folgsam wandtensich die Delegierten dem dich-ten Programm und den laufen-den Projekten der Regierungs-politik zu.

Labour hat inzwischen dazu-gelernt, aber bisher war es im-mer so, daß die Parteitage derLabour-Partei Veranstaltungenzur gegenseitigen Zerfleischungwaren, während sich die Torysauf ihren Konferenzen nur derWelt präsentierten, diszipli-niert, wohlgelaunt, Beifall spen-dend und Thatcher-treu. Des-halb verwundert es nicht, daßdie „Krise" während der offiziel-len Sitzungen keinerlei Rollespielt. Diskussionen darüberfanden nicht statt. Die schlim-men Wörter „Zinsrate" und„Pfund" wurden einfach nichtausgesprochen.

In den Nebenfäumen dage-gen, wo die Delegierten zusam-menstanden, heizten sie die Ge-spräche auf. Nigel Lawson warnicht nur Gegenstand der Kri-tik. Viele Konservative vereh-ren ihn in seiner körperlichenMassigkeit, die Selbstvertrauenund Nervenstärke vermutenläßt. Die Entscheidungen Law-sons mögen seit einiger Zeit um-stritten sein, aber der Finanzmi-nister war noch immer so be-liebt, daß sich Frau Thatcher lie-ber nicht von ihm trennte - trotzder Meinungsverschiedenhei-ten, über die man munkelt.

KURT HAGER(dpa-Funkbild)

SED-Chefideologe

Ein „Hardliner"wird weichJVlit seinen 77 Jahrenscheint der Chefideologe und„Hardliner" in der SED, KurtHager, doch noch'beweglich:In einer Art Kehrtwendunghat der gelernte Journalistsich nun für Erneuerungen inder DDR ausgesprochen. Derseit mehr als drei Jahrzehn-ten für Wissenschaft undKultur zuständige SED-Par-teisekretär hatte mit seinerharten, ideologisch „lupen-reinen" Haltung in der Vecrgangenheit bei der Bevölke-rung der DDR bis sogar inseine eigene Partei hineinmitunter Unmut erregt.

Hager ist ein „Kommunistvom alten Schlag": Der ge-bürtige Schwabe war 1930 indie kommunistische ParteiDeutschlands eingetreten.Als Journalist nahm er amSpanischen Bürgerkrieg teil,während des Dritten Reichesarbeitete er in Frankreichund Großbritannien. 1945kehrte Hager nach Ostberlinzurück und wurde Leiter derAbteilung Parteischulung.Seit April 1954 gehört Hagerdem Zentralkomitee (ZK) derSED an. Seit 1963 sitzt erauch im SED-Politbüro unddamit im Machtzentrum derDDR. In-den DDR-Staatsratkam Hager 1976.

Als Chefideologe der Par-tei hat Hager über die „Rein-heit" der Lehre zu wachen.Er hatte sich immer wiedergegen „Abweichungen" jederArt gewandt. Die Bedeutungder neuen Politik in der So-wjetunion für die DDR hatteHager bislang mit einem Bildabgetan: „Würden Sie, wennIhr Nachbar seine Wohnungneu tapeziert, sich verpflich-tet fühlen, Ihre Wohnungebenfalls neu zu tapezieren?"

(dpa)

Presse-Echo

Mit der Kritik an Äußerungen von Mini-ster Haussmann zur Arbeitszeit befaßtsich die in Hagen erscheinende '•"

WESTFALENPOST

Innerhalb weniger Wochenhat sich der Bonner Wirt-schaftsminister Haussmannzweimal zu Dingen geäußert, dieins Hoheitsgebiet der Tarifpart-ner fallen. Schon beim erstenMal ist er auf heftige Kritik ge-stoßen. Aber das war natürlichüberflüssig. Der Wirtschaftsmi-nister darf... sagen, was er ineiner bestimmten Konjunktkur- ]läge für richtig und falsch hält,was seinen Interessen ent-spricht. Unternehmen und Ge-werkschaften werden klug ge-nug sein, in den Verhandlungennicht die Interessen von HerrnHaussmann zu vertreten...

Zur Buchmesse schreibt dieFrankfurter

Neue Presse<?••» i Jüwttr

Neben dem Auto gehört demBuch der größte Salon des Jah-res. Das hat mit dem Flair, demKlatsch, dem Charme der Bran-che zu tun. Auch wer sonstkaum liest, möchte die Protago-nisten leibhaftig sehen. DasBuch kommt in seiner Selbst-werbung schon lange nichtmehr ohne Medienrummelaus ... Die Klagen über Lese-Un-lust, literarischen Analphabe-tismus und Buchhändler-Ster-ben wird man sechs Tage langvergessen. Sechs Tage lang tunwir so, als ernährten wir unsausschließlich von Gedrucktem.

Page 12: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

GEMEINE

H ES SIS KASSEL1 P 3713 A

ALLGEPreis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 239 Freitag, 13.10. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Bürgermeister / Hefsfeld

Weg frei fürBoehmer-Abwahl

Bad Hersfeld (hpn). Die Stadt-verordneten von Bad Hersfeldhaben gestern abend entschie-den, den am 28. September mitden Stimmen von CDU und NPDwiedergewählten BürgermeisterHartmut Boehmer abzuwählen.Entsprechende Anträge vonCDU und Grünen wurden vonder SPD unterstützt. Die dreiNPD-Abgeordneten stimmtendagegen. Am 16. November fin-det der erforderliche zweiteWahlgang für die endgültigeAbwahl statt.

Kinostart

NeuerAsterix

Ein neuer Aste-rix-Film kommtrechtzeitig zum 30.Geburtstag der Co-mic-Serie in die Ki-nos. In „OperationHinkelstein" habenes die unbeugsamenGallier mit einemüblen Scharlatan zutun, der sich als Se-her ausgibt. Kritikim Kulturteil.

IO Metall

Offensivefür Frauen

Die IG Metall willFrauen, die in denuntersten Lohn-gruppen tätig sind,zur besseren Einstu-fung verhelfen. Ge-plant ist es, betroffe-ne Arbeitsplätze inSchwerpunktbetrie-ben den nächstenMonaten zu über-prüfen. Siehe Wirt-schaft.

Deutschland

Immerbeliebter

Das Fremdenver-kehrsgewerbe isthoch zufrieden: Dieheimischen Ferien-gebiete waren 1989so beliebt wie langenicht mehr. Exper-ten sprechen bereitsvon einem neuenTrend zum Urlaubin Deutschland. Sie-he auch „Blick in dieZeit".

Bluttat

3 Totein Ulm

Grausige Bluttatin Ulm: Ein 16jähri-ger schnitt seinerTante und Pflege-mutter sowie derenzwei Töchtern, 11und 14 Jahre alt, dieKehle durch. DasMotiv des jugendli-chen Täters bliebzunächst unklar.Siehe auch „Blick indie Zeit".

Fußball

Freispruchfür Bits

Dieter Eilts vomFußball-Bundesligi-sten Werder Bre-men ist nach seinerroten Karte in derBegegnung beimVfL Bochum amletzten Samstag ge-stern durch dasSportgericht desDFB freigesprochenworden. SieheSport.

SED-Erklärung / Bohley skeptisch*

Bonn: Tatenmüssen folgen

Bonn/Berlin (AP/dpa). Die jüngste Erklärung des SED-Politbüros, in der DDR offen über Probleme zu sprechen undgemeinsam nach Lösungen zu suchen, ist in Bonn und beider DDR-Opposition mit Zurückhaltung und Skepsis aufge-nommen worden.

Die Bundesregierung und dieBonner Parteien machten amDonnerstag deutlich, daß sie zu-nächst abwarten wollen, ob denWorten Taten folgen. Kanzler-amtsminister Seiters sagte, inder Erklärung des Politbüros„klinge erstmals Betroffenheitan - das ist allerdings auch dasMindeste, was man erwartenkonnte". Neben selbstkritischenWorten des Politbüros gebe esauch nach wie vor sehr orthodo-xe Töne.

Auch das SPD-Vorstandsmit-glied Ehmke sagte, zunächstsollte die weitere Entwicklungin Ruhe abgewartet werden.

Wortlautauszüge aus der Erklä-rung des SED-Politbüros auf „The-men des Tages".

Wichtig sei, daß das Politbürozum ersten Mal „Kenntnis vondefi Tatsachen genommen"habe. Der SPD-Politiker Bahrmeinte, es sei in der DDR einProzeß in Gang gekommen, vondem sich noch nicht absehenlasse, wo er enden werde. DieFDP-Generalsekretärin

Schmalz-Jacobsen sagte, einigeDDR-Führungsmitglieder hät-tea eingesehen, daß sich etwasbewegen müsse.

Die Malerin und Mitbegrün-derin der Bürgerrechtsbewe-gung „Neues Forum", BärbelBohley, sprach von „einem zu-nächst nur verbalem Einlen-ken". Die SED-Ankündigungenstellten noch keinen entschei-denden Schritt dar..

Der Konsistorialpräsident derEvangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Manfred Stolpe,würdigte die Politbüro-Erklä-rung dagegen als „Einstieg in ei-nen Gesprächsprozeß". Zwarseien „nicht alle Blütenträumegereift", doch konkrete Ent-scheidungen der Staats- undParteiführung deuteten sich an.

Kurt Hager, SED-Chefideolo-ge, der gestern - für westlicheKreise überraschend - zur Eröff-nung der Kulturtage der DDRnach Moskau gereist war, er-wähnte in einem ZDF-Interviewausdrücklich die Kirche in derDDR als Gesprächspartner beidem angestrebten Dialog mit ge-sellschaftlichen Kräften.Fortsetzung nächste Seite

Keine klare Haltung zu DDR-Flüchtlingen

An Polens Grenze wirdweiter zurückgewiesen

Warschau (dpa). Die polni-schen Grenztruppen müssennach wie vor illegale Grenzgän-ger aus der DDR festnehmenund ausliefern. Ein Sprecher despolnischen Innenministeriumserklärte gestern, die Grenztrup-pen hätten bisher keine Anwei-sung erhalten, ihre bisherigePraxis, die auf einem Abkom-men mit der DDR von 1969 be-ruht, zu ändern. Der Sprecherfügte hinzu, er wisse, daß Au-ßenminister Skubiszewski ver-schiedene Versprechungen ge-macht habe. Er könne sich aberfür dessen Zuständigkeitsbe-reich aber nicht äußern.

Skubiszewski hatte am Vor-tag dem SPD-Vorsitzenden Vo-gel in Warschau offiziell erklärt,daß keine DDR-Flüchtlingemehr gegen ihren Willen an dieDDR-Grenzbehörden ausgelie-fert würden. Beobachter erklä-ren die unterschiedlichen Infor-mationen mit dem Hinweis, daß

die polnischen Sicherheitsbe-hörden noch immer in kommu-nistischer Hand seien.

Der Sprecher erläuterte aberweiter, wenn es illegalen Grenz-gängern gelänge, unentdecktüber den Grenzstreifen zu ge-langen, dann könnten sie unge-hindert zur bundesdeutschenBotschaft nach Warschau fah-ren. Dort ist die Zahl der ausrei-sewilligen DDR-Bürger wiederauf 680 gestiegen. In der PragerBotschaft halten sich derzeit 50DDR-Bürger auf. Auch der Zu-strom von DDR-Flüchtlingenüber die ungarisch-öster-reichische Grenze hält an. DasGrenzschutzkommando Süd re-gistrierte von Mittwoch bisDonnerstag 407 DDR-Bürger.

Die Bundesregierung mahnteunterdessen eine Zusage derDDR an, den über die BonnerBotschaften ausgereisten DDR-Bürgern ordnungsgemäßge Aus-reisepapiere auszustellen.

„ICH BIN MITSCHULDIG, daßman heute jeden Dreck messenkann und die Leute sich darüberaufregen" war gestern das Be-kenntnis des frischgebackenenNobelpreisträgers WolfgangPaul. (dpa-Funkbild)

Physik, Chemie

Nobelpreise fürDeutschen undvier US-Bürger

Stockholm (AP). Der BonnerPhysikprofessor Wolfgang Paulund sein aus Deutschland ge-bürtiger US-Kollege Hans Deh-melt erhalten zusammen mitdem Harvard-Professor NormanRamsey den diesjährigen No-belpreis für Physik. Paul undDehmelt wurden für die Ent-wicklung der Ionenkäfigtechnikausgezeichnet, Ramsey für vonihm entwickelte Möglichkeitenzu unvorstellbar genauer Zeit-messung. Den Nobelpreis fürChemie erhielten zu gleichenTeilen der Amerikaner ThomasCech und der Kanadier SidneyAltman für ihre Arbeit auf demGebiet der Gentechnik.

Der 76jährige Wolfgang Paulund der an der Universität desStaates Washington in Seattlean der US-Westküste tätige67jährige Dehmelt teilen sichdie eine Hälfte des in diesemJahr mit umgerechnet rund882 000 DM dotierten Physi-knobelpreises. Die andere Hälf-te bekommt der an der Harvard-Universität in Cambridge imUS-Staat Massachusetts tätige74jährige Professor Ramsey.Seine Entdeckungen haben dieEntwicklung der Atomuhr miteiner Ganggenauigkeit von einszu zehntausend Milliarden Se-kunden möglich gemacht.

Paul, der seine „Ionen-Falle"in den 50er Jahren „durchNachdenken und Glück" ent-wickelt hatte, war überrascht,daß er nach so langer Zeit nochausgezeichnet wurde. -Siehe „Zum Tage " undBerichte im Kulturteil

Karlsruhe: Einstweilige Anordnung

Ausländer dürfennoch nicht wählen

Karlsruhe (dpa). Das Bundesverfassungsgericht hat diegeplante Beteiligung von Ausländern bei der nächsten Kom-munalwahl in Schleswig-Holstein im März 1990 untersagt.Das Gericht erließ gestern auf Antrag der CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion eine entsprechende einstweilige Anordnung.

Damit wird das schleswig-holsteinische Wahlgesetz, daseine beschränkte Beteiligungvon Ausländern bei der Kom-munalwahl vorsieht, außerVollzug gesetzt. Das Gericht be-tonte in der Entscheidungsbe-gründung jedoch ausdrücklich,daß damit hoch nichts über dieVerfassungsmäßigkeit des Aus-länderwahlrechts gesagt sei.Über diese werde erst im end-gültigen Urteil über die Verfas-sungsklage der Union entschie-den, das für nächstes Jahr er-wartet wird.

Der Vorsitzende des ZweitenSenats,- Mahrenholz, sagte inden Urteilsgründen, ohne dieeinstweilige Anordnung hättendem Gemeinwohl „schwereNachteile" gedroht. Werde dieWahlbeteiligung von Auslän-dern in Schleswig-Holstein zu-gelassen und sollte sich im end-gültigen Urteil deren Verfas-sungswidrigkeit herausstellen,würde die Ausländerbeteiligung„nicht nur eine Verfassungsbe-stimmung verletzten", sondern„das demokratische Prinzipgleichsam vom Fundament herbeschädigen". Dies sei ein derart

schwerwiegender Nachteil, daßder mit der einstweiligen An-ordnung „verbundene Eingriff indie Gestaltungsfreiheit des .Ge-setzgebers als das kleinere Übelhingenommen werden" tnüsse.

Bundesjustizminister Engel-hard (FDP) begrüßte die Ent-scheidung. Gemäß Artikel 20des • Grundgesetzes müsse alleStaatsgewalt - vom deutschenVolke ausgehen. Bundesinnen-minister Schäuble (CDU) sagte,die Entscheidung schütze auchdie Ausländer vor Enttäu-schung. Für sie wäre es nurschwer verständlich, wenn siesich zunächst an den Wahlenbeteiligten und auch Mandateerringen dürften und anschlie-ßend ihre Stimmabgabe für un-gültig erklärt würde.

Schleswig-Holstein und Ham-burg hatten das Ausländerwahl-recht in unterschiedlicher Formim Februar dieses Jahres einge-führt. Die SPD-geführte schles-wig-holsteinische Landesregie-rung bekräftigte gestern ihr Ziel,die Verfassungsmäßigkeit desKommunalwahlrechts bestäti-gen zu lassen.Siehe auch Kommentar

Schweden / Angeblicher Palme-Mörder

Berufungsgericht setztPettersson auf freien Fuß

Stockholm (dpa). Der wegenMordes an Olof Palme in ersterInstanz verurteilte SchwedeChrister Pettersson (Foto) ist amDonnerstag vonder zuständi-gen Kammerdes Stockhol-mer Berufungs-gerichts auffreien Fuß ge-setzt worden.Das Oberlan-desgericht legtesich damit dreiTage nach Ab-schluß des Re-visionsverfah-ren auf einen Freispruch für den42jährigen Pettersson fest. Deram 28. Februar 1986 begangeneMord an Schwedens damaligemMinisterpräsidenten muß nunweiter als unaufgeklärt gelten.

In der von den sieben Mitglie-dern der Kammer veröffentlich-ten Erklärung zu der Entschei-

dung hieß es: „Nach Auffassungdes Oberlandesgerichtes rei-chen die Ermittlungsergebnissein diesem Fall nicht für eineVerurteilung aus. Christer Pet-tersson wird deshalb auf freienFuß gesetzt."

Eine genaue Begründung fürseinen Freispruch veröffentlichtdas Gericht erst bei der für den2. November angekündigten Ur-teilsverkündung. Prozeßbeob-achter erklärten übereinstim-mend, die Kammer habe sichwohl die Zweifel an der Aussagevon Witwe Lisbeth Palme zu ei-gen gemacht. Sie hatte als einzi-ge Augenzeugin Pettersson alsTäter identifiziert. Da dieStaatsanwaltschaft aber techni-sche Beweise nicht vorlegenkonnte und Petterssons Anwaltzwei nicht völlig widerlegte Ali-

.bizeugen präsentierte, hatte dieVerurteilung zu lebenslängli-cher Haft zu Kritik geführt.Siehe auch Kommentar

Zum Tage

Späte EhreWolfgang Paul ist der 20. Deut-sche, der den Physik-Nobelpreiserhält - doppelter Grund zum Ju-beln. Der rüstige Rentner ist überdie späte Ehre sicherlich genausoüberrascht wie die Fachwelt. Dochan der Berechtigung der Auszeich-nung wird wohl niemand Zweifelhegen. Es ist schon öfter dasSchicksal von Grundlagenfor-schern gewesen, daß man dieTragweite ihrer Arbeiten erst er-kannte, als andere Wissenschaftlerbedeutende Anwendungen ent-wickelten. Insofern ehrt es das No-bel-Komitee, wenn es die „Urväter"nicht vergißt.

Mitschuldig sei er, daß man heu-te „jeden Dreck messen kann unddie Leute sich darüber aufregen",sagte Paul selbstkritisch über sei-ne Arbeit. In der Tat, vor Erfindungdes Massenspektrometers er-schien unsere Umwelt noch vielsauberer - die meisten Schadstof-fe ließen sich einfach nicht nach-weisen. Doch Pauls Zweifel sindnicht angebracht, wie man am Bei-spiel des Trinkwassers erkennenkann: Gerade der rechtzeitigeNachweis einer schleichendenVergiftung der Brunnen erlaubt es,Gegenmaßnahmen einzuleiten,bevor diese wichtigste Lebens-grundlage auch späterer Genera-tionen schlimmer verseucht ist.

Segen, nicht Fluch liegt auf die-ser Arbeit. Auch wenn Umweltsün-der ganz anderer Meinung sind.

Peter Ochs

Haussmann-Vorschlag

Union gegen40-Std.-Woche

Bonn (AP). Die von Bundes-wirtschaftsminister Haussmann(FDP) ins Gespräch gebrachteRückkehr zur 40-Stunden-Wo-che ist auch bei der Union aufAblehnung gestoßen. Der so-zialpolitische Sprecher der Bun-destagsfraktion, Horst Günther,sagte gestern zu den von derOpposition bereits heftig kriti-sierten Äußerung, die von„Haussmann geforderte 40-Stunden-Woche ist unreali-stisch". Sie entspreche nichtdem sozialen Fortschritt, dendie Tarifparteien vereinbart hät-ten. Nicht zuletzt der Produkti-vitätsfortschritt habe die Ar-beitszeitverkürzung ermöglicht.

DDR-Flüchtlinge

Minister begrüßtRechtsberatung

Bonn (AP). Bundesjustizmini-ster Engelhard (FDP) hat denVorschlag des Deutschen An-waltsvereins zur kostenlosenRechtsberatung für.. DDR-Flüchtlinge, Aus- und Übersied-ler begrüßt und seinerseits denNeuankömmlingen Informa-tionsmaterial angeboten. „DieMenschen, die als Übersiedlerund Aussiedler zu uns kommen,müssen neben den sozialen auchüber die rechtliche Belange un-serer freiheitlichen Gesell-schaftsordnung informiert wer-den." Sie kämen aus anderenRechtsordnungen, so daß ihnendie hiesigen Regeln vielfachnoch nicht bekannt seien.

Quoten vom MittwochslottoZiehung A: Gewinnklasse I984 630,50 DM; 11 120 661,40 DM;III 3140,80 DM; IV 64,10 DM; V 4,80DM.Ziehung B: Gewinnklasse I unbe-setzt, Jackpot 965 291,60 DM; II60 330,70 DM; III 5080,40 DM; IV76,90 DM; V 5,10 DM.

(Ohne Gewähr)

Page 13: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 239 Politik Freitag, 13. Oktober 1989

Namen undNachrichten

Für Kat-Einbau gibt's GeldUnter dem Motto „Kat sei Dank"hat Bundesum-weltministerKlaus Töpfer(CDU) gesterneine Werbe-kampagne fürden Katalysa-tor gestartet.Ziel der Aktionist, Besitzer äl-terer Autos zubewegen, ihreFahrzeugenachzurüsten.Dafür wird es künftig erheblicheFördermittel geben, bis zu 1100DM pro Auto.

Wieder Messe im KremlIn der Hauptkathedrade desMoskauer Kreml wird heutezum ersten Mal seit 1918 wiederein Gottesdienst gefeiert. Wieder Sprecher des sowjetischenRates für religiöse Angelegen-heiten, > Smirnow, sagte, wurdediese einmalige Feier anläßlichdes 400jährigen Bestehens desrussischen Patriarchats geneh-migt.

Auch DDR schickt PolizeiEin 30 Mann starkes Polizeikon-tingent aus der DDR ist am Don-nerstag in Namibia eingetroffen,um sich der UNO-Friedens-macht Untag anzuschließen undden Unabhängigkeitsprozeß derehemaligen deutschen KolonieSüdwestafrika zu überwachen.Vor vier Wochen waren bereits50 Beamte des Bundesgrenz-schutzes nach Namibia geflo-gen.

SPD-Entwurf findet BeifallDer SPD-Obmann im Rechts-

ausschuß, Hansde With, hat inBonn einen Ge-setzentwurfseiner Fraktionvorgestellt, mitdem das Zeug;nisverweige-rungsrecht vonJournalistenerweitert wer-den soll. DiesesRecht müsseauch selbstre-

cherchierte Unterlagen vor demZugriff der Ermittlungsbehör-den schützen, sagte de With.Die SPD-Initiative wurde vonder IG Medien und dem Deut-schen Journalisten-Verbandeinhellig begrüßt.

Hitler-Feier hat FolgenMit zur Bewährung ausgesetz-ten Freiheitsstrafen von zweiund zweieinhalb Monaten sowiekleinen Geldstrafen hat das Eu-tiner Jugendschöffengerichteine makabre „Hitler-Geburts-tagsfeier" vier junger, inzwi-schen vom Dienst suspendierterPolizeibeamter aus SchleswigsHolstein geahndet. In der „deut-schen Party", mit der die vierAngeklagten im Alter zwischen20 und 22 Jahren im Beisein vonzwei Minderjährigen Ende Aprilbundesweit Schlagzeilen ge-macht hatten, sah das Gerichtden Tatbestand der Aufforde-rung zum Rassenhaß erfüllt.

Parteitag steht zu LawsonMit starkem Applaus haben diebritischen Kon-servativenSchatzkanzlerNigel LawsonUnterstützungfür seine unpo-puläre Anti-In-flationspolitiksignalisiert.Seine Rede aufdem Parteitagder Konservati-ven im BadeortBlackpool wur-de nach fast jedem Satz von Sze-nenapplaus unterbrochen. „Esgibt keine Alternative zu denhohen Zinssätzen, und die Maß-nahmen werden greifen", sagteLawson.

Grünes Licht für BrokdorfNach neuneinhalb MonatenPause darf das AtomkraftwerkBrokdorf an der Elbe wieder an-gefahren werden. Wie die KielerRegierung mitteilte, liegt die Zu-stimmung der Reaktorsicher-heitsbehörde jetzt vor. Aller-dings sei die Genehmigung, denReaktor wiederanzufahren, aneine Reihe Auflagen gebunden.

Ost-Timor Studie / Engelhard: Wohnungsnachfrage

Papst ruft zu „Anwälte keine Am Bau herrschtVersöhnung auf Prozeßhansel" Optimismus

Dili (dpa). Papst Johannes PaulII. hat die 700 000 Einwohnerdes von Indonesien annektier-ten Inselteils Ost-Timor zu Ver-söhnung, Frieden und realisti-schen Zukunftserwartungenaufgefordert. Vor etwa 100 000Menschen auf einem vom Meerund Bergketten umschlossenenPlatz in Dili forderte er auch dieEinhaltung der Menschenrechtesowie religiöse und kulturelleFreiheit. Die für Timor Verant-wortlichen „müssen eine ge-rechte und friedliche Lösung derProbleme finden", sagte er.

Dili und der Schauplatz derMesse wurden von zahlreichenUniformierten streng kontrol-liert. Die Etappe Timor beimfünftägigen Indonesienaufent-halt des Papstes war umstritten..Indonesien hatte vor 13 Jahrenin einem Krieg, bei dem über100 000 Ost-Timoresen getötetwurden, das Land erobert undannektiert. Die katholische Kir-che Indonesiens, mit knapp fünfMillionen Gläubigen unter 180Millionen Bürgern eine Minder-heit, wünscht die Integrationder Diozöse. Es gibt aber auchStimmen, die für die Unabhän-gigkeit plädieren:

Polenbesuch

Bonn (AP). Die steigende Flutvon gegenwärtig jährlich 1,2Millionen Zivilprozessen in derBundesrepublik wird nach An-sicht von BundesjustizministerEngelhard nicht durch Rechts-anwälte verursacht. Sie trügenvielmehr durch außergerichtli-che Konfliktlösüng dazu bei, daßsich nicht noch mehr Bürger vorGericht' in die Haare geratenund die Justiz belasten. Zu die-sem Ergebnis kommt eine vomJustizministerium in Auftraggegebene Untersuchung „Streit-verhütung durch Rechtsanwäl-te", die Engelhard am Donners-tag in Bonn vorstellte.

Die in der Öffentlichkeit häu-fig gehörte Meinung, Rechtsan-wälte seien „Prozeßhansel" oder„Prozeßtreiber" habe«sich nichtbestätigt, erklärte Engelhard. Erwürdigte ausdrücklich die Be-mühungen der 54 000 Anwälteum außergerichtliche Streitver-hütung.

Der Präsident der Bundes-rechtsanwaltkammer, KlausSchmalz, wies darauf hin, daßrund 70 Prozent der in Anwalts-kanzleien gelangenden Zivil-rechtsfälle ohne Anrufung desRichters erledigt würden.

Bonn (dpa/vwd). Die Bauwirt-schaft will vor dem Hintergrundder gestiegenen Wohnungs-nachfrage für* zügige Baufort-schritte sorgen. Für die kom-menden Monate herrsche beiden Baufirmen „unverändertOptimismus vor, sowohl bei derAuftragsentwicklung als auchfür deren Realisierung", berich-tete der Zenyralverband desDeutschen Baugewerbes amDonnerstag nach einer Schnell-umfrage. „Wermutstropfen" sei,daß der Bedarf an Facharbeiterntrotz der steigenden Zahl derÜber- und Aussiedler nichthabe befriedigt werden können.

Neue Forderungen

Bund, Länder und Gemeindenmüssen nach einer Forderungdes Deutschen Mieterbundes(DMB) Geld für jährlich 150 000neue Sozialmietwohnungen be-reitstellen. In Lübeck nannteMieterbund-Direktor HelmutSchlich am Mittwoch abend dieLage in Großstädten und Bal-lungsräumen „verheerend". Be-drohlich sei auch die Entwick-lung der Mieten.

Vogel: Es geht„um Hunger"

Warschau (dpa). SPD-ChefHans-Jochen Vogel ist wegender schlechten Wirtschaftslagetief besorgt über den Erfolg desReformprozesses in Polen. Esgeht auch „um Hunger", sagte eram Donnerstag zum Abschlußseiner Gespräche vor Journali-sten in Warschau. Die Bevölke-rung brauche in nächster Zeitdringend eine bessere Versor-gung mit N.ah.rungspittejn^.,.... ,t

•Der polnische • Reformprozeß'sei seiner Ansicht nach eng ver-.knüpft mit der Entwicklung in*der Sowjetunion, sagte Vogel,der vor dem Abflug mit Staats-präsident Jaruzelski • und KP-Chef Rakowski zusammentraf.Dies sei ihm bei den dreitägigenGesprächen in Warschau nocHdeutlicher geworden. Ein Schei-tern der neuen Führung in War-schau wäre auch ein schwererRückschlag für • den sowjeti-schen Staatschef Gorbatschow.

Vogel kündigte an, er werdeBundeskanzler Kohl „eindring-lich bitten", die von Außenmini-ster Gehscher vor der UNO ab-gegebene Klarstellung zur Dau-erhaftigkeit , der polnischenWestgrenze zu wiederholen.Vogel will den Kanzler auch aufeine Entschädigungsregelungfür die etwa 800 000 in Polenlebenden ehemaligen deutschen .Zwangsarbeiter im zweitenWeltkrieg ansprechen. Mini-sterpräsident Mazowiecki habeihm gesagt,, daß dieses Themafür Polen eine wichtige Bedeu-tung habe.

EINEN SCHECK ÜBER 500 000 DM überreichte gestern Hanne-lore Kohl (links) an die Leiterin der Münchner Hilfsorganisati-on „Mutabor", Margot Wingruber. Die Organisation setzt sichfür die Rehabilitation, Betreuung und Förderung von hirnge-schädigten Menschen ein. Frau Kohl, Präsidentin des Kurato-riums für Unfallverletzte mit Schäden des zentralen Nervensy-stems,; wertet die in München neu eingerichtete ambulanteIntensivförderung für diese Patienten als einen wichtigen Bei-trag, den Hirngeschädigten ein höheres Maß an Lebensqualitätzu ermöglichen'. Jährlich erleiden in der Bundesrepublik 200 00Personen Kopfverletzungen - bei 20 000 kommt es zu langandauernden Schäden. (dpa-Funkbild)

SED-Erklärung / Bischof appelliert'an DDR-Führung

Forck: Auch mit Opposition redenFortsetzung

Auf die Frage nach weiterenesprächspartnern antwortete

Hager ausweichend: „Ge-sprächspartner finden wir im-mer. Wenn sie allerdings unsereGesellschaftsordnung infragestellen wollen, ist das keine Ba-sis für ein Gespräch." Auf dieFrage nach politischen Verän-derungen in der DDR verwies erauf die Erklärung des Politbü-ros, die gestern in großer Auf-machung vom SED-Zentralor-gan „Neues Deutschland" undden anderen DDR-Zeitungenveröffentlicht wurde.

In einem Interview des DDR-Fernsehens kündigte Hager an,der nächste SED-Parteitag wer-de „auf einer großen Ausspra-che über die gesellschaftlichenProbleme bei uns beruhen". Zuden Vorschlägen der SED könn-ten sich dann auch die „Bürgeraus allen Schichten" äußern.Der SED-Chefideologe meintezugleich, der Sozialismus in derDDR werde „weiter . erstarkenund vollkommener werden."

Zu Spekulationen, wonach die

Position von Staats- und Partei-chef Honecker geschwächt sei,erklärte Hager gegenüber demZDF, in der Staats- und Partei-führung der DDR gebe es keineDifferenzen. „Es ist eine einheit-liche Führung und sie wird esauch bleiben, selbst wenn manimmer wieder versucht, Diffe-renzen zu erfinden".

Kulturbund für „Erneuerung"

Die Akademie der Künste derDDR hat „ein neues Verständnisfür den Gebrauch der Medien"gefordert und dazu aufgerufen,„ein umfassendes, offenes undöffentliches Gespräch zu begin-nen". Die DDR-Nachrichten-agentur ADN verbreitete amDonnerstag außerdem ein Kom-munique des Kulturbundes derDDR, in dem das Präsidium eine„unerläßliche Erneuerung unse-rer Gesellschaft" fordert. DerText wurde auch im DDR-Fern-sehen verlesen.

In Ostberlin gibt es nach denGesprächen zwischen Bischof

Forck mit OberbürgermeisterKrack Pläne, eine zwölfköpfigeGruppe kritischer Bürger zu bil-den, die an diesem Dialog betei-ligt werden könnte. In der Geth-semanekirche sagte Forck ge-stern abend vor 4000 Menschen,die DDR-Regierung dürfe sichnicht darauf beschränken, nurmit denen den Dialog zu führen,die in vorhandenen Organisatio-nen seien. Sie müsse auch mitdenen sprechen, die sich in derOpposition versammelt hätten.Forck forderte die Freilassungder verhafteten Demonstranten.

In Leipzig teilten Bürgerrecht-ler mit, Oberbürgermeister Sei-del habe gegenüber Kirchenver-tretern zugesagt, daß alle seitdem 11. September angeklagtenund verurteilten Demonstrantenfreigelassen werden sollen.

Dresdens OberbürgermeisterBerghofer wies unterdessenMeldungen als falsch zurück, erhabe ein neues Wahlrecht gefor-dert. Er habe vielmehr gefragt,ob das gegenwärtige Wahlgesetzvon allen Bürgern „richtig wahr-genommen" werde.

Fachgespräche mit Prager Kollegen

Zimmermann setztsich für Havel ein

Bonn (dpa/AP). Bundesver-kehrsminister Zimmermann(CSU) hat die Prager Regierungaufgefordert, den Dramatiker'Havel zur Entgegennahme desFriedenspreises des DeutschenBuchhandels am Sonntag nachFrankfurt reisen zu lassen. Beieinem Essen mit seinem tsche-choslowakischen KollegenFrantisek Podlena protestierteer gegen die von der CSSR ver-ordneten Reisebeschränkungen,die gegen die allgemein gefor-derte Öffnung der Grenzen ver-stießen. Die Bundesregierungsei über die gegen Havel ver-hängte Ausreiseverweigerung„tief betroffen". In einer Zeit, inder sich Ost und West aufeinan-der zubewegten, sei es beson-ders sinnvoll, einen Friedens-preis entgegenzunehmen. Erhalte es für notwendig, daß dieRegierung ihre Entscheidungnoch einmal überdenke.

Havel hat die mit dem Frie-denspreis verbundenen 25 000DM einem neuen Freundeskreiszugunsten eines freien Verlags-wesens in Osteuropa gestiftet.

Der Verlag soll während derBuchmesse gegründet werden.

Dank für Hilfe

Zimmermann dankte derTschechoslowakei für die„schnelle und unbürokratischeHilfe", die sie den in die Bot-schaft der • Bundesrepublik ge-flüchteten pDR-Aussiedlern beider Ausreise geleistet habe. Siehabe damit ein Zeichen der Hu-manität gesetzt. Hoffen könnendie DDR-Bürger auch auf ihre inPrag zurückgelassenen Autos.Die CSSR sei bereit, soverlaute-te aus der CSSR-Delegation,dieses Problem zu lösen, wennsich die beiden deutschen Staa-ten darüber verständigten.

Bei den Fachgesprächen derbeiden Minister wurde nachMitteilung des MinisteriumsÜbereinstimmung über Schrittezur Verbesserung des Verkehrszwischen beiden Ländern er-zielt. Der AutobahnverbindungNürnberg-Prag wurde besonde-re Bedeutung beigemessen.

Drogenmafia / Sieben Staatschefs

Lateinamerikaner sind zu„frontalem Kampf" bereit

Ica/Peru (dpa). Sieben latein-amerikanische Staatschefs ha-ben bei einem Gipfeltreffen inIca (Peru) ihre Bereitschaft zum„frontalen • Kampf" gegen dieDrogenmafia betont. Die Staats-chefs von Argentinien, Brasi-lien, Peru, Uruguay, Venezuelaund Mexiko versicherten demkolumbianischen PräsidentenBarca ihre Solidarität im „he-roischen Kampf" gegen die Ko-kainbosse. Sie appelliertengleichzeitig an die VereinigtenStaaten und die westeuropäi-schen Länder,: RauschgifthandelwuLKpnsum einzudämmen undso den Kampf der Erzeugerstaa-ten zu unterstützen.

Der venezolanische PräsidentAndres Peres wies zu Beginnder Beratungen in Ica daraufhin, daß das Rauschgiftproblemnicht zuletzt eines von Angebotund Nachfrage sei. Je größer derBedarf in den Verbraucherlän-dern sei, desto mehr werde inLateinamerika produziert. AllePolizeieinsätze seien nutzlos,

solange die Nachfrage in denUSA und Europa nicht sinke.

Im Drogenkrieg ist der Polizeiin Kolumbien die bisher wich-tigste Festnahme gelungen: Ineinem Restaurant der Haupt-stadt Bogota wurde Rafael Abel-lo Silva festgenommen, der als„Nummer vier" des berüchtig-ten Kartells von Medellin gilt.Die USA haben die Ausliefe-rung des 34jährigen beantragt.Außerdem wurde der mutmaßli-che •^Drogenhändler LeonidasVargas gefaßt, der als „ranghö-her"' Angehöriger des Kartellseingestuft wird.

Die~ Kokainmäfia Kolumbienshat inzwischen die Vermittlungder katholischen Kirche gefor-dert, um Präsident Barco zurAufgabe seines Kreuzzuges zubewegen. In einem am Donners-tag veröffentlichten Schreibenan die Zeitung „La Prensa" inBogota bot das Kartell die Ein-stellung aller Drogengeschäftean, wenn Mafiabosse nicht mehran die USA ausgeliefert würden.

Afghanistan

36 Tote beiRaketenangriff

Moskau (dpa). Bei einem derbislang schwersten Raketenan-griffe der Rebellen auf die afgha-nische Hauptstadt Kabul sind36 Menschen getötet und mehrals 80 verletzt worden. Wie derSprecher des sowjetischen Au-ßenministeriums, Gerassimow,am Donnerstag in Moskau er-klärte, geschah der Angriff wäh-rend der Feiern zum Geburtstagdes Propheten Mohammed.1988 seien über 3000 Zivilistenbei Angriffen der Mudschahed-din getötet worden, sagte er.

Polizei / Verkehr

Punkte auch fürAuslandsverstöße?

Münster (dpa). Auch „fürschwere Verkehrsverstöße imAusland sollen deutsche Ver-kehrsteilnehmer demnächstPunkte in der Flensburger Ver-kehrssünderkartei erhalten. Da-für haben sich leitende Polizei-beamte aus der Bundesrepublikin der Polizeiführungsakademiedes Bundes und der Länder(PFA) in Münster ausgespro-chen.

In Skandinavien, so erklärtendie Fachleute, werde heuteschon so verfahren.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureDhef vom Dienst: Horst Kröninger. ChefNachrichten: Rainer Merforth. Politik: Jo-chen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden, Kultur: Dirk Schwarze, Frauu. Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wie-semann, i. V. Ulrich Fuhrmann. Sonntags-zeit: Frank Thonicke. Kassel Stadt undLand: Wolfgang Rqssbach. Bezirksredak-tionen: Peter M. Zitzmann. Koordination:Helmut Lehnart. Hessen/Niedersachsen:Eberhard Heinemann. Chefreporter. Karl-Hermann Huhn. Sonderthemen PeterOchs.

Redaktion Wiesbaden: Rolf EffenbergerRedaktion Hannover- Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleitgr: Horst Prehm.Vertriebsleiter: Gerd Lühring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61 / 20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61/20 3-3. Femschreib-Nr.99 635. Telekopierer 05 61 /20 36 Teletex5618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7 % MwSt. (Postbezugs-preis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserkjä-rung. >

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.

Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.Herstellung Druckhaus Dierichs,Frankfurter Straße 168, 3500 Kassel.

Page 14: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 239 Themen des Tages Freitag, 13. Oktober 1989

Noch nicht dasletzte WortIn Verfassungsfragen steht denKarlsruher Richtern das letzte Wortzu. Mit ihrer einstweiligen Anord-nung gegen das kommunale Aus-länderwahlrecht in Schleswig-Hol-stein haben sie sich das erste Wortgenommen. Noch bevor über dieVerfassungsmäßigkeit des Geset-zes entschieden worden ist, wirdes außer Kraft gesetzt. Ein so har-ter Eingriff in die Kompetenz desParlaments läßt sich nur rechtferti-gen, wenn dadurch schwererSchaden verhindert werden soll.Das haben die Richter des ZweitenSenats plausibel begründet. DerAufschub des Wahlrechts ist ge-genüber der möglichen Aufhebungdas kleinere Übel.

Trotzdem schafft das Bundes-verfassungsgericht durch seinenBeschluß eine unglückliche politi-sche Situation. Die Union fühlt sichbereits als Siegerin, obwohl in derSache selbst nichts entschiedenist. Die betroffenen Ausländer sindfrustiert, weil ihnen das Wahlrechtohne endgültiges Urteil vorenthal-ten wird. Auf das Klima der Kom-munalwahlen in Schleswig-Hol-stein kann sich das nur nachteiligauswirken. Noch schlimmer wärees jedoch gewesen, wenn gewähl-te ausländische Mitbürger ihreMandate nach für verfassungswid-rig erklärten Wahlen hätten zurück-geben müssen.

Entgegen der Siegeszuversichtdes CDU/CSU-Justitiars Langnerist das Ausländerwahlrecht wederjuristisch noch politisch tot. DasBundesverfassungsgericht wirdnämlich im Hauptverfahren nichtnur zu entscheiden haben, ob Aus-länder zum Staatsvolk gehörenoder nicht, sondern auch, ob siesich auf Gegenseitigkeit undRechtsgleichheit in der EG berufenkönnen. Gerade weil das KielerWahlgesetz auf Ausländer be-schränkt ist, in deren Staaten bun-desdeutsche Bürger bereits wäh-len dürfen, muß von den KarlsruherRichtern ein differenziertes Urteilerwartet werden. Achim v. Roos

Richter inStockholmLaut letztem Gerücht ist der so-wjetische Geheimdienst KGB inden Mord an Olof Palme verwik-kelt. Aber nicht solche Spekulationhat zur Freilassung des angebli-chen Attentäters Pettersson ge-führt. Es gibt noch Richter in Stock-holm, die sich auf den Rechts-grundsatz besinnen, daß im Zwei-fel für einen Angeklagten zu ent-scheiden sei. Und Zweifel an derSchuld des Vorbestraften gab esmehr als Beweise; das Gericht inerster Instanz ließ sie nur nicht gel-ten, es wollte einen Täter haben.Der jetzige Straffreiheitsvollzug be-deutet daher eine schwedischeGardinenpredigt für die Übereifri-gen und einen Sieg der Gerechtig-keit aus dem Geist der Toleranz.

Die Frage, ob es der von finste-ren Polizeifotos her weltbekanntePettersson nicht vielleicht doch ge-wesen sein könnte, wäre falsch ge-stellt. Eine Kriminalsache ist keinKriminalroman. In einem Rechts-staat haben die Ermittler Beweisevorzulegen und die Gerichte denNachweis zu führen. Doch in die-sem Fall hagelte es bei der Unter-suchung Pannen und Skandale,und der Schuldspruch beruhte imwesentlichen auf den getrübtenAugen der Witwe des Ermordeten.Daß er nicht zu halten sein würde,hatten damals bereits die beidenBerufsrichter erkannt. Die Mehrheitfreilich ließ sich von Stimmung trei-ben statt von Einsicht leiten.

Ein unrühmliches Kapitel derschwedischen Justiz hat eine not-wendige Korrektur erfahren. Abge-schlossen ist der Fall noch keines-wegs. Zwar mag die Wiedergutma-chung an einem Schuldlosen gelin-gen, soweit es von Geld und einerneuen Identität abhängt. Den Be-hörden und damit einem lang alsMuster der Liberalität geltendenStaat indes haftet der Makel an,gleich doppelt versagt zu haben:Der oder die Schuldigen an einemspektakulären Mord sind weiter un-bekannt, und der angebliche Tätererscheint als Opfer.

Alfred Brugger

Das Zitat„ich habe das Gefühl, daß die Stüh-le immer enger werden. Dieses Ge-fühl muß ich haben, weil ich sonstannehmen müßte, daß ich zu dickbin."

' Peter Ustinov

Presse-EchoViele Zeitungen befassen sich mit mögli-chen Reformen in der DDR

(Freiburg)Es häufen sich die Zeichen,

daß der erste Mann des SED-Staates, der einst für viele in derDDR die Hoffnung auf eine ge-wisse Liberalisierung verkör-pert hatte, der zuletzt die Not-wendigkeit des Wandels zu ei-nem offenen, pluralen Sozialis-mus nicht mehr begreifen konn-te, zum vorzeitigen Abganggezwungen wird. Die Zeichensignalisieren, daß fundamentaleEntscheidungen .bevorstehen,daß die SED zur Änderung ih-rer ... wohl ebensosehr von Ver-folgungsängsten wie von ideolo-gischer Borniertheit geprägtenKonfrontationspolitik bereit ist.

Was kann man dem Spitzen-mann eigentlich schlimmeresvorwerfen, als daß er Illusionund Wunschdenken mit Reali-täten verwechselt und diesen fa-talen Irrtum nicht einmal be-merkt? Kein Zweifel, Erich Ho-necker ist jetzt auch in Ostberlinfür politisch tot erklärt worden.Sein Rücktritt - freiwillig odergezwungen - ist nur noch eineFrage der Zeit.

SÜDWEST PRESSE(Ulm)

Nicht nur die Bevölkerungwar offenkundig von dem Starr-sinn enttäuscht, den Honeckerbei seiner Jubiläumsrede zum40jährigen Bestehen der DDR anden Tag gelegt hatte. Auch eineroße Zahl der Genossen in derIED hat offensichtlich eingese-

hen, daß an Reformen auch inderüDR kein Weg mehr vorbei-führt.

Münchner MerkurMÜNCHNER ZEITUNG

Jubel ob der neuen Töne ausOstberlin wäre verfrüht. Tagszuvor hatte Honecker Lehrenaus den „konterrevolutionärenUnruhen" in China - sprich:dem Blutbad auf dem Platz deshimmlischen Friedens - gezo-gen. Damit stand er im Politbüronicht allein. Auch wenn er jetztunter Druck seiner Gefolgsleutegeraten ist... sollten die neuenSchalmeientöne nicht gar zuvertrauensvoll aufgenommenwerden...

Schlimm wäre es, wenn Ha-gers Schalmeienklänge nur einBeschwichtigungsversuch wä-ren, nach der Maxime: geradesoviele Zugeständnisse, um denAufruhr zu dämpfen. Eine sol-che Taktik des Einlullens würdeohnehin mißlingen, denn die Re-formkräfte in der DDR sindselbstbewußt geworden. Traurigist, daß das Reformsignal so spätrtönt und nicht etwa weiser

Einsicht entspringt, sondern nurunter Druck zustande kam.

Alpen droht Umwelt-Kollaps / Berchtesgadener Konferenz

Die Seilschaft im ZugzwangVon unserem Redaktionsmitglied Jürgen Holte

Vcor gut 50 Jahren faszinierteder Luis Trenker-Film „Der Bergruft" Hunderttausende. Nunruft er wieder, aber um Hilfe. Esgeht um die Bewahrung einesder prachtvollsten Geschenkeder Schöpfung.

Sind die Alpen noch zu ret-ten? Können Massentourismusund Transitverkehr noch recht-zeitig genug zurückgedreht wer-den, um die Bergwelt vor demvölligen Umwelt-Kollaps zu be-wahren? Die schon schrill tö-nenden Warnsignale - die Alpensind nach dem Tropenwald dasam meisten belastete Ökosy-stem der Erde - und das langeZeit unterdrückte, .aber nundoch erwachte schlechte Ge-wissen führten die sieben An-rainerländer endlich zu einerKonferenz zusammen. In Berch-tesgaden beschloß man, bis 1991eine völkerrechtlich verbindli-che Alpenschutzkonvention zuerarbeiten, die mit konkretenMaßnahmen in den BereichenNaturschutz, Landschaftspflegeund Raumordnung dafür sorgensoll, daß es mit den Bergen nichtmehr weiter bergab geht.

Bonns Umweltminister Töp-fer, engagierter Initiator desTreffens, sieht in dem Ergebnis„Anlaß zu realistischem Opti-mismus". Seine österreichischeKollegin Marilies Flemming for-mulierte es so: „Wir stehen amFuß eines Dreitausenders, undTöpfer hat der Seilschaft dasKommando zum Aufstieg gege-ben." Entscheidend wird freilichsein, daß alle am Seil bleibenund sich keiner unterwegs seit-wärts in die absterbendenBaumbestände schlägt.

Die guten Vorsätze vonBerchtesgaden sind vielverspre-chend, aber „die Frage ist, wiedas alles durchgesetzt werdenkann," meinte Bonns Parlamen-

tarischer Staatssekretär Gröblmit einem Anflug von Skepsisnach der Konferenz. Denn dieAlpenkonvention muß, wenn sieauf dem Tisch liegt, erst nochdie Hürden von sieben Parla-menten mit ebenso vielen unter-schiedlichen Interessenlagenüberwinden. Spätestens dannsetzt die Phase ein, in der es zufaulen Kompromissen kommenkann, deren Folgen katastrophalwären.

Alle Länder sind sich .in demGrundziel einig, daß die Überer-schließung und Übernutzungder geschundenen Alpenweltein Ende haben muß. Jahr fürJahr strömen im Sommer undWinter über 100 Millionen Ur-lauber in die Berge, achtmal soviel, wie dort leben. Und damitalle möglichst bequem an ihrZiel gelangen, werden immermehr Straßen und Parkplätzeangelegt. 15 000 Seilbahnen undLifte haben zusammen mit Ski-pisten in einer Gesamtlänge von120 000 Kilometer Länge einengewaltigen Kahlschlag in denBergwald gerissen. Die Folgesind vermehrte Schnee- undErdlawinen (Muren) sowieHochwasser bis in das Flach-land hinein.

Differenzen in Details

Aber in wichtigen Detailfra-gen, wie all dem zu begegnen ist,offenbarte die Konferenz vonBerchtesgaden unterschiedlicheAuffassungen. Das gilt etwa fürdie Frage, welche Freizeitbe-schäftigungen in den Alpen ein-geschränkt oder untersagt wer-den müssen, oder wo die Gren-zen der Belastbarkeit durch denTourismus liegen. Hier muß ab-gewogen werden zwischen dender Natur der Sache nach radi-

kalen Forderungen der Umwelt-schützer und den Interessen derBevölkerung, für die der Frem-denverkehr eine wichtige Exi-stenzquelle darstellt.

Gleichwohl ist Bonn mit „demersten Schritt" sehr zufrieden.„Auf der Konferenz ist mehrherausgekommen, als man an-nehmen durfte," betonte derParlamentarische Staatssekre-tär im Umweltministerium,Gröbl, gegenüber unserer Zei-tung. Es habe positiv über-rascht, daß die Vertreter allerLänder „voll mitgezogen" hät-ten. Der Entwurf für die Resolu-tion sei sogar durchgehend nochverschärft worden, erläuterteGröbl die optimistische Ein-schätzung seines Ministers.

Ganz anders sehen es die Na-turschützer, für die bisher nur„unverbindliche Absichtserklä-rungen" vorliegen. Einer ihrereigenwilligsten und in Bezug aufdie Alpen kompetentesten Spre-cher, Karl Partsch, brachte dasErgebnis des BerchtesgadenerMeetings auf die Formel: „DerBerg kreißte und gebar ein mitt-leres Zwergmäuslein." Partsch,der für die Grünen im Europa-Parlament sitzt, führt bereits seit1975 einen - anfangs einsamen -Feldzug für den Schutz derBergregionen. „Die Alpen wer-den uns auf den Kopf fallen,"warnte er jetzt in drastischerWeise, wenn nicht umgehendein Erschließungsstopp verfügtwerde. Dazu müsse ein interna-tionaler Umwelt-Notstand aus-gerufen werden.

Für einen „ökologischen Mar-schall-Plan" setzt sich die inter-nationale Alpenschutzorganisa-tion Cipra ein. Nach ihren Be-rechnungen sind pro Jahr zehnMilliarden DM erforderlich, umdie bedrohten Natur- und Kul-turwerte zu retten.

y\l, "AÄ MsÄf

„Deutsche Wahlurnen bleiben Ausländern vorerst verschlossen!" (Karikatur: Wolf)

Wortlautauszüge

SED-Politbüro:Wir stellen uns;der DiskussionI n der Erklärung des SED-Politbüros vom Mittwochabend wurde vom höchstenDDR-Führungsgremium un-ter anderem erstmals die Be-reitschaft zu Gesprächen mitoppositionellen Kräften er-klärt. Im folgenden einigeWortlautauszüge:

„Der Sozialismus ...ist dieZukunft der heranwachsen-den Generationen. Geradedeshalb läßt es uns nichtgleichgültig, wenn sich Men-schen, die hier arbeitetenund lebten, von unsererDeutschen DemokratischenRepublik losgesagt haben.Viele von ihnen haben dieGeborgenheit der sozialisti-schen Heimat und eine si-chere Zukunft preisgege-ben... Sie hatten ihre Freun-de, Arbeitskollegen undNachbarn...Die Ursachen fürihren Schritt mögen vielfältigsein. Wir müssen und wer-den sie auch bei uns suchen,jeder an seinem Platz..."

„Gemeinsam wollen wirüber alle grundlegenden Fra-gen unserer Gesellschaft be-raten, die heute und morgenzu lösen sind...Es geht um-wirtschaftliche Leistungsfä-higkeit und ihren Nutzen füralle, um demokratisches Mit-einander und engagierte Mit-arbeit, um gute Warenange-bote und leistungsgerechteBezahlung, um lebensver-bundene Medien, um Reise-möglichkeiten und gesundeUmwelt..."

„Mit der nächsten Tagungdes Zentralkomitees werdenwir unserer Partei und demgesamten Volk im Sinne un-serer strategischen Konzep-tion von Kontinuität und Er-neuerung dafür unsere Vor-schläge unterbreiten. Sie be-ruhen auf den tausendfachgeführten Diskussionen inden Parteiorganisationen derSED, ..auf den Vorschlägenund Überlegungen, die unsvon den Werktätigen aus al-len Teilen der Republik zu-gegangen sind. Alle Mei-nungsäußerungen und Vor-schläge für einen attraktivenSozialismus in der DDR sinddafür wichtig. Wir stellenuns der Diskussion.

Wir haben dafür alle erfor-derlichen Formen und Forender sozialistischen Demokra-tie. Wir rufen auf, sie nochumfassender zu nutzen.Doch wir sagen auch offen,daß wir gegen Vorschlägeund Demonstrationen sind,hinter denen die Absichtsteckt, Menschen irrezufüh-ren und das verfassungsmä-ßige Fundament unseresStaates zu verändern...DerSozialismus auf deutschemBoden steht nicht zur Dispo-sition..." (dpa)

„ Ich freue mich, daß der neueDeutsche Gewerkschafts-Bundeine so schöne Zeitung heraus-ibt. Eines steht fest: Die .Weltler Arbeit' wird bestimmt meine

Zeitung werden. Alle schaffen-den Menschen bitte ich, sieebenfalls zu bestellen". DasGrußwort der DelmenhorsterDelegierten, einer Sortiererinmit dem beziehungsvollen Na-men Bringfriede Osbeck, prang-te auf Seite 1 der Ausgabe Num-mer zwei der Gewerkschaftszei-tung „Welt der Arbeit". DieSonderausgabe war der Grün-dung des Deutschen Gewerk-schaftsbundes (DGB) gewidmet.Heute vor 40 Jahren wurde derneue Dachverband von damalsnoch 16 Gewerkschaften ins Le-ben gerufen. 487 Delegierte (14Frauen) von fünf Millionen Ar-beitnehmern wählten HansBöckler zum ersten DGB-Vor-sitzenden. Nichts kennzeichnetden Wandel in der 40jährigenDGB-Geschichte treffender alsdie Tatsache, daß ausgerechnetder publizistische Hoffnungsträ-ger „Welt der Arbeit" zum run-den Geburtstag nicht mehr aufdem Markt ist. Aus Kostengrün-den wurde das Blatt im vergan-genen Jahr eingestellt.

Der größte Gewerkschafts-kongreß seit dem Verbot der Ar-beiterorganisationen 1933 kon-stituierte nicht nur den DGBund wählte den ersten Vor-

Vor 40 Jahren Gründung des DGB als Gewerkschafts-Dachverband

Beitrag zum sozialen FortschrittVon unserem Redaktionsmitglied Horst Seidenfaden

stand, er hatte auch über denSitz des DGB zu entscheiden:Bei der Wahl zwischen Frank-furt und Düsseldorf siegte dieStadt im Rheinland. Der ersteKongreß entbehrte nicht unge-wöhnlicher Vorkommnisse: Dagelang es dem 34jährigen WilliGinhold, der als Gast kein Man-dat hatte, in den Vorstand ge-wählt zu werden

In den 40 Jahren seines Beste-hens hat der DGB mit seinenEinzelgewerkschaften wesent-lich zum sozialpolitischen Fort-schritt der Bundesrepublik bei-getragen. Kein politisches Feld,das nicht von der Dachorganisa-tion beackert worden wäre.

Allerdings: Die öffentlich-keitswirksamen Akzente setztenicht der DGB als „Gewerk-schafts-Mutter". Dafür sorgten,meist in Tarifauseinanderset-zungen, die Einzelgewerkschaf-ten wie die ÖTV (mit demebenso schwergewichtigen wiemächtigen ehemaligen Vorsit-zenden Heinz Kluncker) und dieIG Metall (lange Jahre mit Eu-

gen Loderer als Ober-Metaller).Doch die Zeit hat auch im Ge-

füge des DGB Spuren hinterlas-sen: Der 40. Geburtstag stehtquasi am Ende einiger krisenrei-chen Jahre. Das Debakel um denGewerkschaftskonzern NeueHeimat, in dessen Verlauf dervöllig absurde Verkauf des Plei-te-Unternehmens für eine DMan den Berliner BrotfabrikantenHorst Schiesser und der Rück-kauf für 14 Mio. DM (für Schies-ser) das Image der Gewerk-schaftsorganisation mächtig an-kratzte, die Beinahe-Pleite desGenossenschaftsunternehmensco op AG, der Ausverkauf dergewerkschaftseigenen Unter-nehmen (Bank für Gemeinwirt-schaft) - all dies machte derZentrale in Düsseldorf mächtigzu schaffen.

Zwar stieg die Mitgliederzahlin den DGB-Gewerkschaften auffast acht Millionen Männer undFrauen an - doch die Gewerk-schaften drückt, der Kosten-schuh. Die Einstellung der„Welt der Arbeit" war nur der

Beginn einer langfristigen Ak-tion. Bis in die Kreisebenen hin-ein setzten die Verantwortli-chen den Rotstift an - von deruntersten Ebene bis hinauf indie Vorstandsetage soll gespartwerden: Im DGB-Führungsgre-mium will man die Zahl der Vor-standsmitglieder von neun aufacht beschränken. Millionenwill man einsparen - und hinterder Strukturreform verbergensich, wie in jedem zum Kürzer-treten gezwungenen Unterneh-men, auch erhebliche Strei-chungen bei den Personalko-sten.

Zum heutigen Jubelfest je-doch startete man in der DGB-Zentrale einen Prominenten-Werbefeldzug. Auf maximalzwei Schreibmaschinenseitensollten Männlein und Weibleinfesthalten, was ihnen zum The-ma DGB als Kommentar einfiel.So manchen der Briefe könnensich die DGB-Oberen getrosthinter den Spiegel stecken.Nicht jeder blieb so an derOberfläche wie die Mutter der

Nation, Inge Meysel: „Danke,daß Du da bist! Auf die nächsten40!" schrieb sie. Arbeitgeber-präsident Klaus Murmann stell-te die Frage, ob nicht die Arbeit-geber die besseren Gewerk-schafter sein und lieferte bezie-hungsreich keine Antwort nach.Bundesarbeitsminister NorbertBlüm lobte zwar die Erfolge, dieGewerkschaften beim Aufbauunseres Staates. Allerdings ver-gesse mancher Funktionär, daßGewerkschaften an „Einflußverliren,.wenn sie zu parteipoli-tischen Filialen umgebogen wer-den."

Bei den Landesvätern war derIdeenreichtum unterschiedlichausgeprägt. Johannes Rau, SPD-Statthalter in Nordrhein-West-falen, lobte die Einheitsgewerk-schaft als Glücksfall undEckpfeiler der Nachkriegsge-schichte. Lothar Späth, Mini-sterpräsident in baden-Würt-temberg, machte sich mehrMühe. Das „Cleverle" brachteseinen Kommentar in Versform:„Gesetzt, etabliert, ein bißchenträge / rechthaberisch und nichtsehr rege / so stellte sich schonmancher dar, /kaum daß er 40geworden war. / So fehlt's jetztauch Dir an Beweglichkeit, / oh,DGB, denk an die Zeichen derZeit. / Die Schlachten von ge-stern sind längst passe, / manschlägt sie dennoch, bei Dir,DGB."

Page 15: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISC KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMUNABHÄNGIG

Preis 1,40 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 240 • Samstag, 14.10.1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Zwei Heimniederlagen

Bochum siegtim RuhrderbyBundesliga

Werder BremenVfB Stuttgart

GladbachHamburger SV

Bor. DortmundVfL Bochum

2. Liga

MSV DuisburgSV Meppen

Fort. KölnBraunschweig

Darmstadt 98SC Freiburg

Letzte Meldung

6:11:30:1

0:00:22:2

Kurseinbruchan Wallstreet

New York (AP). An der NewYorker Börse ist es am Freitagzu dem stärksten Kurseinbruchseit dem Börsenkrach vor fastgenau zwei Jahren gekommen.Der Dow-Jones-Index für 30 In-dustriewerte schloß mit einemMinus von 190,58 Punkten bei2.569,26. Händler führten dieEntwicklung auf stark gestiege-ne Großhandelspreise zurück.

Hannover / Kohl:

»Reformen einHerzenswunsch'

Hannover (lni). BundeskanzlerKohl hat den Vorwurf der SED-Führung, die Bonner Regierungmische sich in innere Angele-genheiten der DDR ein, als „blü-henden Unsinn" zurückgewie-sen. Auf dem Landesparteitagder niedersächsischen CDU inHannover sagte Kohl am Freitagabend, es sei überhaupt nichtdas Interesse der Bundesregie-rung, daß möglichst viele DDR-Bürger in die Bundesrepublikkämen. Ziel seiner Politik sei,daß „Deutsche in Deutschlandin ihrer Heimat bleiben wollensagte Kohl unter dem Beifall der530 Delegierten. Deshalb sei essein „Herzenswunsch", daß sichdie Reformwünsche in der DDRdurchsetzen.

Kohl rief erneut zur Integra-tion der DDR-Übersiedler sowieder deutschen Aussiedler ausOsteuropa auf. Es sei keinChauvinismus, sich ihrer Pro-bleme bei der Eingliederung be-sonders anzunehmen.

Kohl hob vor dem Landespar-teitag auch die bundespolitischeBedeutung der Landtagswahl imkommenden Jahr hervor. DieCDU habe noch acht MonateZeit, um dem Bürger die erfolg-reiche Politik von Ministerprä-sident Ernst Albrecht zu ver-deutlichen. Kohl kündigte an,daß er sich im niedersächsi-schen Wahlkampf besondersengagieren werde.

Interview

Minister suchtArbeit für Ungarn' Kassel (bre). Ungarns Han-

delsminister Tamas Beck hat inKassel an die Bundesrepublikappelliert, seinen LandsleutenArbeit zu geben. Durch Schlie-ßungen von Bergwerken wür-den bald 10 000 Ungarn arbeits-los. Siehe auch Interview auf„Themen des Tages".

Neue Zahlen

Kinder-Mißbrauch

Immer mehr Kin-der in der Bundesre-publik werdensexuell mißbraucht.Laut offizieller Sta-tistik waren es 1988über 13 000 minder-jährige Sexualopfer.Die Dunkelzifferliegt weit höher.Siehe „Zum Tage"und „Blick in dieZeit"

Kokain-Deal

Spur nachKolumbien

Auch in der Bun-desrepublik wollenKolumbiens Dro-genbosse abkassie-ren. Bayerns Polizeisucht einen Kolum-bianer als Drahtzie-her eines geplatztengroßen Kokain-Deals im August, als650 Kilo sicherge-stellt wurden. Siehe„Blick in die Zeit"

Nordhessen

Autofahrenteurer

In Nordhessenwird Autofahrenteurer: Der RaumKassel kommt we-gen des schlechtenSchadensverlaufs indie nächsthöhereRegionalklasse derHaftpflichtversiche-rung. Südnieder-sachsen bleibt fastunverändert. SieheWirtschaft.

Nach Sturz

Turneringelähmt

Nach einem Sturzaufs Genick beimTraining für die ge-stern eröffneteTurn-WM in Stutt-gart ist AdrianaDuffy (Puerto Rico)an beiden Beinengelähmt. Der 18jäh-rigen droht sogareine Querschnitts-lähmumg. SieheSport.

„Der Pate"

DritterTeil

Fortsetzung einesSuper-Kino-Erfolgs:Regisseur FrancisFord Coppola drehtden dritten Teil des„Paten". Den Mafia-Boß Corleone spieltdiesmal SuperstarAI Pacino (Bild).Vorbericht morgenin der.

Sonntagszeit

DDR-Protestaktionen / Einsatz Vogels

Hunderte wiederauf freiem Fuß

Berlin (AP/dpa). Die DDR-Behörden haben gestern fastalle Demonstranten auf freien Fuß gesetzt, die bei denProtestaktionen dervergangenen Tage festgenommen wor-den waren. Die amtliche Ostberliner NachrichtenagenturADN verbreitete am Abend eine entsprechende Mitteilungdes Generalstaatsanwaltes der DDR.

Bundesrats-Neubau steht im ModellDie Neubaupläne des Bundesra-tes sind eine Runde weiter ge-kommen. Aus 121 eingereichtenArchitektenentwürfen hat das

reisgericht für die Länderver-tretung gestern fünf Arbeitenpreisgekönt. Insgesamt werden337 000 DM an Preisgeldernverteilt, auf den ersten Preis desHannoveraner Architektenbü-ros Storch und Ehlers entfallen85 000 DM. Wie der Bundes-ratspräsident und schleswig-holsteinische MinisterpräsidentBjörn Engholm (auf unseremBild mit dem ersten Preis), mit-teilte, sollen die drei besten Ent-würfe überarbeitet werden unddann vor einer endgültigen Ent-scheidung vom Preisgericht be-

gutachtet werden. Vorgabe füralle Pläne ist die Erhaltung desjetzigen, denkmalgeschütztenPlenarsaales des Bundesrates, indem der Parlamentarische Rat1948/49 das Grundgesetz erar-beitet und beschlossen hat. Eng-holm meinte, aus dem histori-schen Saal müsse noch einiger„Plüsch" entfernt werden. ÜberGesamtbaukosten und Terminewollte er sich noch nicht äußern.Er hoffe aber, daß die Bauarbei-ten abgeschlossen sein werden,wenn das Bundesland Schles-wig-Holstein turnusgemäß wie-der den Präsidenten der Länder-kammer stellt - und das ist imJahre 1999.

(dpa-Funkbild)

Die genaue Zahl der Freige-lassenen ist nicht bekannt. NachAngaben. aus Kirchenkreisenwaren jedoch allein in Ostberlin700 Personen inhaftiert.

„Nach Durchführung der er-forderlichen Untersuchungen"seien „^ie wegen Störung derVolksfeste am 7. Oktober sowieim Zusammenhang mit gesetz-widrigen Ansammlungen festge-nommenen Personen aus derHaft entlassen worden", hieß esin der ADN-Meldung. Insge-samt befänden sich noch elf Per-sonen , in Untersuchungshaft.Dem Bericht zufolge werden ih-nen „Begehung von Brandstif-tungen, Plünderungen und Ge-walttätigkeiten sowie Aufwie-gelung zu Gewaltakten" zur Lastgelegt. Sie müssen sich vor Ge-richten verantworten.

Der Honecker-Vertraute undprominente DDR-Anwalt Wolf-gang Vogel hatte sich zuvornachdrücklich für die Freilas-sung all jener Demonstrantenausgesprochen, die bei den Pro-testaktionen keine Gewalttatenbegangen hätten.

Vogel setzte sich in einerüberraschenden und aufsehen-erregenden Stellungnahme auchfür die Freilassung all der DDR-Bürger ein, die wegen Flücht-versuchs über Ungarn, dieCSSR oder Polen verhaftet wor-den sind. Nach Angaben infor-

mierter Kreise beläuft sich dieZahl derer auf rund 3000. In dergestern in Ostberlin verbreite-ten Erklärung betonte Voge(Foto), er sehe sich als Rechts-anwalt in der Pflicht, hier „Kor-

rekturen undrechtsstaatli-che Praktikenanzumahnen".Er unterstrich„Die Freilas-sung der Be-troffenen dul-det keinen Auf-schub. Für sie,die Angehöri-gen und die Ge-sellschaft zähltjede Stunde.

Alles soll ruhig verlaufen." Inder Erklärung heißt es unter an-derem: „Ich sehe in den zahlrei-chen Strafverfahren wegen un-genehmigten Verlassens derDDR via Ungarn, CSSR oder Po-len eine Verletzung des Prinzipsder Gleichbehandlung der Bür-ger vor dem Gesetz, garantiertin Art. 20 der Verfassung, Art. 5Strafgesetzbuch und Paragraph5 Strafprozeßordnung." Es seiunvertretbar, einerseits vomStaat Sonderwege in die Bundes-republik zuzulassen und „ande-rerseits für analoges VerhaltenHaftbefehle zu verkünden".Siehe auch nächste Seiteund „Themen des Tages"

Nach schwierigen Verhandlungen über Wirtschaftshilfe:

Kohl reist am 9. November nach PolenBonn (dpa). Bundeskanzler

Cohl wird seine lange erwarteteleise nach Polen am 9. Novem-)er antreten. Wie Regierungs-iprecher Klein gestern in Bonn»ekanntgab, wird sich Kohl iniegleitung von Außenministerjenscher und einer Reihe wei-erer Kabinettsmitglieder bis;um 14. November in Polen auf-lalten. Er folgt einer Einladung.es neuen polnischen Minister-iräsidenten Mazowiecki.

Die Reise war wegen der Re-gierungsumbildung in Polen undler schwierigen Verhandlungeniber die Wirtschaftshilfe der

Bundesrepublik für das Landmehrfach verschoben worden.Jetzt seien alle Fragen „ausge-tandelt, abgestimmt, verein-iart", sagte Klein. Zu den ab-

schlußreifen Vereinbarungenzählt die Bereitschaft der Bun-desregierung, für Kredite an Po-len zu bürgen. Zahlen wollteKlein nicht nennen, dementierteaber die in Berichten genannteSumme von zwei bis drei Milli-arden DM nicht. Einziger nochoffener Punkt sei, ob für dieseKredite eine Rahmensummevereinbart werde, wie dies vonPolen gewünscht werde. Diessei aber eher eine Frage desVerfahrens. .

Als Gegenleistung akzeptiertPolen unter anderem erstmalsdie Existenz einer deutschenMinderheit mit entsprechendenRechten. Es wird sich auch ander Einrichtung von Gedenk-stätten für Deutsche beteiligen.

Zum Problem der DDR-

Flüchtlinge, die von der BonnerBotschaft in Warschau betreutwerden, sagte Klein, er könnesich denken, daß bis zum ,Kohl-Besuch erneut eine „humanitä-re, pragmatische Lösung" gefun-den werde.

Warnung Genschers

In der Bundesrepublik ist in-zwischen die Diskussion um diepolnische Westgrenze erneutaufgeflammt. AußenministerGenscher wandte sich mit derbisher schärfsten Warnung ge-gen solche Debatten. Einen Tagnach einer Erklärung des Bun-des der Vertriebenen, die Gren-zen von 1937 müßten Ausgangs-punkt für jede friedensvertragli-

che Regelung sein, sagte Gen-scher in Hamburg: „Wer heutebei uns die Westgrenze Polensin Frage stellt oder den Ein-druck erweckt, er wolle sie zu-künftig in Frage stellen, der ge-fährdet den Prozeß der Annähe-rung zwischen West und Ost inEuropa, der gefährdet den Re-form- und Demokratisierungs-prozeß in Mittel- und Osteuro-pa."

Unterdessen forderte Vertrie-benen-Präsident Czaja, die Bun-desregierung müsse „mit demganzen politischen und wirt-schaftlichen Gewicht" dafürsorgen, daß Flüchtlinge von pol-nischen Behörden nicht mehrfestgenommen und in die DDR«zurückgeschickt werden.Siehe auch Kommentar

Zum Tage

Das große TabuDie Anzeigen nehmen zu, überdas große Tabu, das oft buchstäb-lich ein Familiengeheimnis ist, wirdendlich gesprochen. Es warenFrauen aus der amerikanischenFrauenbewegung, die vor wenigenJahren den Stein ins Rollen brach-ten. Indem sie über eigene Erleb-nisse als sexuell mißhandelte Kin-der schrieben und sprachen,durchbrachen sie die Barriere derAngst und Scham.

Es zeigte sich bald, daß diesesvorwiegend inzestiöse Delikt weit-verbreitet ist. Heute-geben bereitsoffizielle Stellen aufklärende Bro-schüren heraus und unterstützenSelbsthilfe-Projekte. Und währendimmer mehr erwachsene Frauenentdecken, daß sie ihr eigenes ver-zweifeltes Kindheitsgeheimnis mitvielen anderen teilen, beginnen sieauch Anzeichen von Verstörungbei ihren Kindern richtig zu deuten.Was dieses Verbrechen an Kin-dern so schlimm macht, ist seindoppelt wirksames Gift: Hier dieverheerenden seelischen Verlet-zungen des Opfers, dort die dunk-le Saat des Mißtrauens: Welchemlieben Vater, Bruder, Großvater,Onkel kann man denn noch trau-en?

Den meisten, Gott sei Dank. Undweil das so ist, darf das Tabuthe-ma auch keines bleiben. Den Op-fern wie den intakten Familien zu-liebe. Nur Offenheit ist heilsam.Aufgebrochene Beulen tun weni-ger weh. Ilse Methe-Huber

Warschau / Flüchtlinge

820 dürfenausreisen

Bonn (dpa). Die rund 820DDR-Flüchtlinge in derWarschauer Botschaft derBundesrepublik könnennach Angaben von Kanzler-amtsminister Seiters (CDU)in Kürze ausreisen. Der stell-vertretende Leiter der Bon-ner DDR-Vertretung, LotharGlienke, habe ihn davon un-terrichtet, daß die DDR be-reit sei, die Zufluchtsuchen-den mit Papieren auszustat-ten, die ihnen die Ausreise inein Land ihrer Wahl ermögli-chen. Seiters äußerte sich zu-frieden darüber, daß sich dieDDR zu einer humanitärenund pragmatischen Lösungbereitgefunden habe.

Nach Informationen der„Bild"-Zeitung sieht die Lö-sung vor, daß die Flüchtlingein der DDR-Botschaft inWarschau vorsprechen undentsprechende Reisepapierebeantragen.

Calden - Mallorca

Vorerst keineCharterflüge

Kassel/Calden (ach). Aus dem^harterflug in den sonnigen Sü-en vom Flugplatz Kassel in3alden wird vorerst nichts: Ausicherheitsgründen gibt es füren ab Mai 1990 geplanten-harterverkehr nach Mallorcaceine Genehmigung. Dies teiltegestern Hessens Wirtschaftsmi-nister Schmidt mit. Als Sicher-

eitsproblem gilt unter anderemie Bundesstraße 7, die, nur 50

vleter vom Ende der Rollbahnentfernt, verlegt werden soll.Der Straßenneubau wird wegender Genehmigungsverfahren je-

och mehrere Jahre dauern.Schmidt betonte den Willen

er Landesregierung, den ge-ilanten Flughafen-Ausbau wei-er zu unterstützen.

Page 16: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 240 Politik Samstag, 14. Oktober 1989

Namen undNachrichten

Reformdiskussion / Honecker traf sich mit Parteivorsitzenden

Keine weiteren Zugeständnisse

Späth stellt EG-Buch vorMit einem neuen Europa-Buch,das nach seinen Worten „ehr-lich und realistisch" sein soll, istBaden-Württembergs Minister-präsident Lothar Späth auf denLiteraturmarkt gegangen. DerTitel „1992, Der Traum von Eu-ropa" wurde gestern auf derFrankfurter Buchmesse vorge-stellt. Späth zeigt in dem BuchPerspektiven auf, die er für denKontinent an der Schwelle zumnächsten Jahrtausend sieht.

Bush billigt GesetzDie Entweihung der.amerikani-schen Nationalflagge kannkünftig mit Geldbuße oder Ge-fängnis bestraft werden. US-Präsident Bush teilte am Freitagmit, er werde eine vom Kongreßgebilligte Vorlage in Kraft tretenlassen.

15 Rubel für ZahnbürsteAuf den Schwarzmärkten vonMoskau klettern die Preise aufRekord-Höhen. Dies berichtetedie Zeitung „Moscow News"und nannte als Beispiele impor-tierte Zähnbürsten für 15 Rubeldas Stück (etwa das dreifache inDM), Jeans für bis zu 400 Rubeloder Frauenstiefel für 1500 Ru-bel.

Urteil lost Befremden ausNach Ansicht/per Ausländerbe-

"•"* ~ T "| aufträgten • derBundesregie-

[ rung, LiselotteFuncke (FDP),hat die Ent-

| scheidung desBundesverfas-sungsgerichtsgegen eine Teil-nahme . von

I Ausländern anI der schleswig-: holsteinischenKommunal-

wahl bei den Betroffenen „Ent-täuschung und Befremden" her-vorgerufen. Die ausländischeBevölkerung habe gehofft, „daßsie als Wähler bei den Politikernmehr Gehör für ihre Anliegen"finde, erklärte Frau Funcke ge-genüber der Presse.

275 Jahre FinanzkontrolleIn einem Festakt im FrankfurterRömer wurde gestern dem275jährige Bestehen der Staatli-chen Finanzkontrolle inDeutschland gedacht. Die Tra-dition der preußischen „Gene-ral-Rechen-Kammer" aus demJahr 1714 setzt heute der Bun-desrechnungshof in Frankfurtfort, dessen Arbeit Bundestags-vizepräsidentin Renger (SPD)und Bundesfinanzminister Wai-gel (CSU) würdigten. Der Rech-nungshof diene auch dem Inter-esse des Steuerzahlers, sagteWaigel.

Staatsbesuch in MarokkoBundespräsident Richard vonWeizsäckerrechnet damit,daß bei seinemStaatsbesuch inMarokko in dernächsten Wo-che der euro-päische Bin-nenmarkt unddie Krisenher-de im NahenOsten Schwer-punktthemenbilden werden.Er bezeichnete es als notwendig,daß sich die EG nach Vollen-dung des Binnenmarktes gegen-über Drittländern offenhält undwies dabei auf die „Brücken-funktion" Marokkos zwischenEuropa und Afrika hin. Weiz-säcker ist der erste Bundesprä-sident, der Marokko offiziell be-sucht.

Ostberlin/Hamburg (dpa).Zum ersten Mal hat sich DDR-Staats- und Parteichef Ho-necker zu den Problemen in sei-nem Land öffentlich zu Wort ge-meldet. Nach einem Treffen mitden Vorsitzenden der anderenDDR-Parteien (Ost-CDU, Libe-

I raldemokratische Partei, Bau-ernpartei und National-Demo-

, kratische Partei) berichtete diej amtliche DDR-Nachrichten-agentur ADN ausführlich überdie Haltung Honeckers, die sichaber fast wortgetreu an der vorzwei Tagen veröffentlichten Er-klärung des SED-Politbüros ori-entiert. Honecker, Abschnittedes Gespräches wurden auch imFernsehen gezeigt, gestand denBlockparteien „eigenständigeBeiträge", zu.

„Reisemöglichkeiten"

Er wiederholte die Ankündi-gung, das Zentralkomitee werdebei seiner nächsten Tagung demgesamten Volk Vorschläge zuden „nicht leichten Herausfor-derungen der 90er Jahre" ma-chen. Es gelte, gemeinsame Ant-worten etwa für die Einheit vonWirtschaft und Sozialpolitik,wirtschaftliche Leistungsfähig-keit, gute Warenangebote, „le-bensverbundene Medien" und

„Reisemöglichkeiten" zu finden.Die Vorsitzenden der anderen

Parteien erklärten ihre volleUnterstützung für die Politbüro-Erklärung, hieß es bei ADN. Diegravierendsten Veränderungenfordert offenbar der Vorsitzendeder Liberalen, Gerlach. Er trat inder Parteizeitung „Der Morgen"dafür ein, Bürgerbewegungenam Dialog teilnehmen zu lassen.

Die Oppositionsgruppe „Neu-es Forum" hat unterdessen er-neut ihre-staatliche Zulassungverlängt. Zudem forderte dieBürgerinitiative juristische Rah-menbedingungen, damit Mei-nungsäußerungen, Bürgerinitia-tiven und Parteien „nicht mit derAnschuldigung der Staats- undVerfassungsfeindlichkeit zumSchweigen gebracht werden".

Vertreter der offiziellen Poli-tik und.der Opposition in derDDR waren sich einig in der Ab-lehnung von Ratschlägen ausder Bundesrepublik zur Bewälti-gung ihrer Probleme. Der Ost-berliner KulturstaatssekretärDietmar Keller, der in Wolfen-büttel war, verbat sich sogar je-den „Nachhilfeunterricht" ausdem Westen, dessen „pure Ge-schwätzigkeit" eine „unsagbareund nicht ertragbare Erschwer-nis für unser Denken und auchfür unsere gemeinsame Zu-kunft" darstelle. Der Ostberliner

Konsistorialpräsident ManfredStolpe nannte die Verbindungvon Reformforderungen undwirtschaftlichen Hilfsangebotensogar eine „Bedrohung".

Während die Demokratiebe-wegung „Neues Forum" die Er-klärung des SED-Politbüros als„erstes Zeichen" bewertete, daßsich die Staatsführung mit ange-stauten, tiefgreifenden Proble-men auseinandersetzen wolle,schlug die SED eine härtereGangart gegenüber der organi-sierten Opposition an. In eineminternen Papier für Mitgliederversuchte die Partei, das „NeueForum" als staatsfeindlicheGruppierung darzustellen. Indiesem Papier, offenbar eine Ar-gumentationshilfe, wird aberauch offen über eine notwendigeÄnderung der Medienbericht-erstattung gesprochen.

Zurückhaltung angemahnt

Bundespräsident von Weiz-säcker und Bundesaußenmini-ster Genscher begrüßten den- inder DDR in Gang gekommenenReformansatz und mahnten zurZurückhaltung. Weizsäcker be-kräftigte seinen Appell: „Nichthier Recht behalten, sonderndrüben weiterhelfen ist das Ge-bot der Stunde".

Bundesdeutscher Flottenverband in Leningrad eingelaufenDrei Schiffe der Bundesmarinesind gestern morgen zum erstenbundesdeutschen Flottenbe-such der Sowjetunion jn Lenin-grad eingelaufen. Der Verbandbesteht aus cfem Zerstörer„Rommel", der Fregatte „Nie-

dersachsen" und dem Versorger„Coburg". Der viertägige Be-such wurde Anfang Mai vomGeneralinspekteur der Bundes-wehr, Dieter Wellershoff, inMoskau vereinbart. Unser Bildzeigt die Begrüßung zwischen

dem Kommandanten der „Nie-dersachsen", Gottfried Hoch(rechts) und dem stellvertreten-den Kommandanten der Lening-rader Marinebasis, Admiral Tu-lin. Siehe Bericht auf „Themendes Tages" (dpa-Funkbild)

Drogen-Krieg Haussmann Terrorismus-Prozeß

Mitterrand: DAG: Amoklauf 253 AngeklagteEG muß helfen stoppen freigesprochen

Bogota (dpa). Der französi-sche Staatspräsident Mitterrandhat bei einem Besuch in Bogotader Regierung Kolumbiens Hilfein ihrem gegenwärtigen Kampfgegen die Drogen-Mafia zuge-sagt. Nach einem zweistündigenGespräch mit dem kolumbiani-schen Staatschef Virgilio Barcoerklärte Mitterrand, Frankreichwerde sich dafür einsetzen, in-nerhalb der EG „Strategien aus-zuarbeiten, die Ländern wie Ko-lumbien helfen".

Er kündigte die Entsendungfranzösischer Experten an, umdie Regierung Kolumbiens imDrogen-Krieg auf den Gebietender Sicherheit und des Perso-nenschutzes zu beraten. Auchjuristische Experten sollen ent-sandt werden. Mitterrand ist in-zwischen nach Paris zurückge-kehrt.

Hamburg (AP). Gegen das„ständige unqualifizierte Hin-einreden von Bundeswirt-schaftsminister Helmut Hauss-mann in die Belange der Tarif-vertragsparteien" hat sich amFreitag der Vorsitzende derDeutschen Angestellten-Ge-werkschaft (DAG), Issen, ge-wandt. Bei der Eröffnung einertarifpolitischen Tagung seinerOrganisation in Hamburg sagteIssen, vom Bundeskanzler müs-se erwartet werden, daß er denAmoklauf seines Wirtschafts-ministers gegen die Tarifautono-mie endlich ein Ende setzen.

„Herr Haussmann entwickeltsich zu einem Störfaktor, dernur dazu beiträgt, daß dieschwierige Tarifrunde des Jah-res 1990 noch zusätzlich bela-stet wird", meinte der DAG-Chef.

Rom (dpa). Mit einem Frei-spruch für alle 253 Angeklagtenendete gestern in Rom einer derletzten Massenprozesse gegenVerdächtige aus dem Kreis derRoten Brigaden. Das Schwurge-richt wies die Anklage wegen«Aufrufs zum bewaffnetenKampf" und „Vorbereitung desBürgerkieges" zurück.

Der im Februar eröffnete Pro-zeß war von Anfang an umstrit-ten. Die Anklage stützte sich aufein selten angewandtes Gesetzaus dem Jahr 1928. Damit soll-ten nicht nur direkt an Gewalt-taten Beteiligte, sondern auchAgitatoren; Kader und„Schreibtischtäter" bestraftwerden können. In der Urteils-begründung heißt es nun, dieAktivitäten der Angeklagtenhätten keine ernsthafte Gefahrfür den Staat bedeutet.

Kiel (dpa). DDR-Flüchtlingesollen in Schleswig-Holstein inden kommenden Monaten ko-stenlos Urlaub machen kön-nen. Der Geschäftsführer desschleswig-holsteinischenFremdenverkehrsverbandes,Gerd Kramer, sagte gestern inKiel, der Verband habe seineMitgliedsgemeinden und dieVermieter im Lande dazu auf-

Schleswig-Holstein

Kostenloser Urlaubfür DDR-Flüchtlingegerufen, „Freiplätze" zur Ver-fügung zu stellen.

Gedacht sei an einen Ur-

laubsaufenthalt nicht unterzehn Tagen. Das Angebot gelteauch für deutsche Aussiedler,die in der Bundesrepublik nochkeinen Urlaub machen konn-ten.

Die Bundesregierung willnach Angaben des Verbandesfür den Transport sorgen undBahnfreikarten zur Verfügungstellen.

Zinspolitik Reformstaaten

Thatcher stützt Vogel für großesSchatzkanzler Hilf sprogramm

Blackpool (AP). In ihrer Redezum Abschluß des viertägigenParteitags der britischen Kon-servativen im Seebad Blackpoolhat sich PremierministerinThatcher gestern mit Nach-druck hinter ihren Schatzkanz-ler Lawson gestellt. Dessenjüngste Entscheidung, die Zins-sätze kräftig zu erhöhen, hattein den Reihen der Partei Unbe-hagen ausgelöst.

Thatcher sagte, sie verstehe,daß höhere Zinssätze bei Haus-besitzern, . Landwirten undKleingewerbetreibenden für Be-unruhigung sorgten. Wie schonfrüher werde die Inflation aberauch diesmal durch höhereZinssätze wieder zum Sinkengebracht werden, sägte sie in ih-rer immer wieder von tosendemBeifall unterbrochenen Rede.

Thatcher, die gestern 64 Jah-re alt wurde, war beim Betretendes Konferenzsaales von denDelegierten mit dem Lied „Hap-py Birthday" überrascht wor-den. In ihrer Ansprache be-zeichnete sie 1989 als „phanta-stisches Jahr für die Freiheit".Noch jahrzehntelang werdeman sich an 1989 als an das Jahrerinnern, in dem die VölkerOsteuropas begonnen hätten,„ihre Ketten abzuwerfen".Siehe auch Kommentar

40-Jahrfeier

Budapest (dpa). Eine konzer-tierte Hilfsaktion Westeuropasfür die Reformbewegungen inUngarn und anderen LändernOst- und Mitteleuropas hatSPD-Chef Vogel vorgeschlagen.Die Bundesrepublik müsse füreine solche Aktion nach demVorbild des amerikanischenMarshall-Plans nach dem Zwei-ten Weltkrieg die Initiative er-greifen, sagte er gestern wäh-rend einer Veranstaltung derFriedrich-Ebert-Stiftung in Bu-dapest. -

Ungarn strebt nach den Wor-ten von ParlamentspräsidentMatyas Szürös eine internatio-nal garantierte Neutralität an.Diese Entscheidung werdeschon bald auf der Tagesord-nung stehen, sagte er im Ge-spräch mit dem SPD-Vorsitzen-den.

Ungarn-Besuch im Herbst

Bei einem Besuch des ungari-schen Außenministers Hörn inBonn kündigte BundeskanzlerKohl gestern an, er werde nochin diesem Herbst nach Ungarnreisen. Auch AußenministerGenscher plant noch für diesesJahr einen erneuten Besuch inUngarn. •

Breit: DGB muß vielleichtnoch politischer werden

Düsseldorf (dpa). Der Deut-sche Gewerkschaftsbund wirdnach Überzeugung seines Vor-sitzenden Breit auch im Jahr2000 als politische Organisationeine gestaltende Kraft in einersich verändernden Gesellschaftsein. Der DGB werde vielleichtnoch politischer werden müssen- nicht im Sinne von Parteipoli-tik, sondern im Sinne des Den-kens und Handelns in gesamtge-sellschaftlichen Zusammenhän-gen, in den Zusammenhängenvon Arbeit und Wohnen, vonArbeit und Kultur, sagte Breitgestern auf der 40-Jahrfeier desDGB in Düsseldorf.

Voraussetzungen für weitereErfolge sieht der im nächstenJahr aus dem Amt scheidendeDGB-Vorsitzende in Offenheit,Dialogfähigkeit und Glaubwür-digkeit. Die Gewerkschaftenmüßten den Menschen ihre Ide-en nahebringen und engagierteMitglieder gewinnen. Vor allemaber müßten die Gewerkschaf-ten auch kampffähig bleiben -und kompromißfähig." Nur

starke Gewerkschaften aber

hätten die Kraft zum Kompro-miß.

Die Gewerkschaften müßten,so Breit weiter, ihre Kompetenzfür die bei ihnen unterdurch-schnittlich , repräsentiertenGruppen von Arbeitnehmernverbessern, ihre Fehler und De^fizite offen darstellen. „Das De-bakel der Gemeinwirtschaft hatuns viel Kredit gekostet - im.buchstäblicher! und übertrage-nen Sinn". — •:'Zur Verleihung des mit

20 000 DM dotierten Hans-Böckler-Preises an den Präsi-denten des Deutschen Evangeli-schen Kirchentages, den frühe-ren BundesverfassungsrichterSimon, meinte Breit, Kirchenund Gewerkschaften träten fürmehr soziale Gerechtigkeit ein.Diese Möglichkeiten seien je-doch noch nicht ausgeschöpft.

Als ein Geschwisterpaar, daseinander braucht und sich er-gänzt, sieht Bundesarbeitsmini-ster Blüm (CDU) die Bundesre-publik und den DGB. Die Ein-heitsgewerkschaften seien allenAlternativen überlegen.

Arbeitsgemeinschaft historischer Fachwerkstädte

Bonn soll DDR bei Sanierung helfenStade (dpa). Bundes- und Lan-

desregierungen sollen in Ver-handlungen mit der DDR übereine bundesdeutsche Wirt-schaftshilfe auch fachliche, tech-nische und finanzielle Unterstüt-zung zur Sanierung der Altstäd-te in der DDR einbeziehen. Dashat die „Arbeitsgemeinschaft hi-storischer Fachwerkstädte inHessen und Niedersachsen" ge-sterngefordert. „Wir beobachtenmit großer Sorge den schleichen-

den Verfall hochrangiger, histo-rischer Altstädte", heißt es in ei-ner ^Resolution der Arbeitsge-meinschaft, der 70 Städte undzahlreiche Landkreise angehö-ren. Mit einer Denkmalschutz-hilfe könne nicht nur das kultu-relle Erbe in der DDR bewahrt,sondern zugleich die Versor-gung der Bevölkerung mit zeitge-mäß ausgestattetem, individuellgestaltetem Wohnraum verbes-sert werden.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

.Verantwortliche Redakteure;hef vom Dienst: Horst Kröninger. Chef

Nachrichten: Rainer Merforth. Politik: Jo-chen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden, Kultur: Dirk Schwarze, Frauu. Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wie-semann, i. V. Ulrich Fuhrmann. Sonntags-zeit: Frank Thonicke. Kassel Stadt undLand: Wolfgang Rossbach. Bezirksredak-tionen: Peter M. Zitzmann. Koordination:Helmut Lehnart. Hessen/Niedersachsen:Eberhard Heinemann. Chefreporter: Karl-Hermann Huhn. Sonderthemen: PeterOchs. . :

Redaktion Wiesbaden: Rolf EffenbergerRedaktion Hannover Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, Wigbert;H. Schacht. Anzeigenleiter: Horst Prehm,Vertriebsleiter: Gerd Lühring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61 / 20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61 7 20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer05 61 /20 36. Teletex5 618110. Pastgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7 % MwSt. (Postbezugs-preis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.

Auflage . „So_nntagszeit" ..über 200 OQQExemplare.

Herstellung Druckhaus Dierichs,Frankfurter Straße 168, 3500 Kassel.

Page 17: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 240 Themen des Tages Samstag, 14. Oktober 1989

VerspäteterDurchbruchINun endlich steht der Termin derPolen-Reise des Kanzlers fest. Im-mer wieder hatte Helmut Kohl sei-nen Besuch in Warschau hinausge-schoben. Erst hieß es, die Kredit-wünsche der Polen seien unerfüll-bar, dann verzögerte die unglückli-che Diskussion über die Oder-Nei-ße-Grenze den Fortgang der Annä-herung, schließlich brachte die pol-nische Regierungskrise den Ter-minplan durcheinander. Der fünf-zigste Jahrestag des deutschenÜberfalls auf Polen verstrich ohneden erhofften Durchbruch. DieChance, ein international beachte-tes, vielleicht sogar historischesZeichen partnerschaftlicher Zu-sammenarbeit zu setzen, war ver-tan.

Will Helmut Kohl sein Engage-ment für Polen auch jetzt noch mitRücksicht auf die Reaktion der Ver-triebenenverbänäe unter Wert ver-kaufen? An der ehrlichen Bereit-schaft der Bundesregierung, denpolitischen Reformprozeß wirt-schaftlich zu unterstützen und da-für tief in die Tasche des Steuer-zahlers zu greifen, kann niemandzweifeln. Aber Informationen überden Umfang der Kredithilfe fließennur spärlich, und Kritik an den revi-sionistischen Äusserungen zur pol-nischen Westgrenze überläßt derKanzler seinem Außenminister.Wenn das so bleibt, wird Kohl mitseiner Reise kaum etwas bewegenoder gar eine neue Ära der Bezie-hungen einleiten können.

Das polnische Volk und die de-mokratische Regierung Mazowiek-ki verdienen unsere tatkräfte Hilfebei der Lösung ihrer Probleme. AlsGegenleistung können wir erwar-ten, daß die Rechte der Deutschenin Polen künftig respektiert und ge-sichert werden. Dazu gehörenauch alle Flüchtlinge aus der DDR,deren völkerrechtswidrige Auslie-ferung beendet werden muß. DerKanzler sollte deren deutschesStaatsbürgerrecht bei seinem Be-such in Warschau auch persönlichbekräftigen.

Achim v. Roos

Maggie gabZuversichtMargaret Thatcher hat zurückge-schlagen. In ihrer mit Spannungerwarteten Rede vor dem Tory-Par-teitag hat sie ihren alten Kampfes-mut sprechen lassen, und das Par-teivolk dankte es ihr damit, daß esseine unverwüstliche „Maggie", diean diesem Tag auch ihren 64. Ge-burtstag beging, triumphal feierte.Nach schweren Tagen schöpftendie Konservativen wieder Zuver-sicht. Dieser Abschluß und Höhe-punkt des Parteitages wirkteschon wie die Eröffnung eines vor-zeitigen Wahlkampfes.

Hätte man es wirklich anders er-warten können? Der Hintergrundwar düster. Die Wirtschaft befindetsich in Schwierigkeiten. Verschie-dene Vorhaben der Regierung sindhöchst unpopulär. Die Labour-Op-position liegt bei Umfragen in Füh-rung. Deshalb haben sich bangeZweifel in den eigenen Reihen er-hoben, und warnende Stimmenwurden laut. Nun: Frau Thatcherhat es gemacht wie vor ihr Schatz-kanzler Lawson, der sich weigerte,von einer „Pfund-Krise" zu spre-chen, und der die eigentlichenSchwachpunkte gar nicht erwähn-te. Sie hat das alles weggewischtund sich nur auf zwei Punkte kon-zentriert. Sie legte selbstbewußtwieder ihre Leistungsbilanz vorund eröffnete einen harten Gegen-angriff gegen die Labour-Partei,die sich soeben in neuem Gewandvorstellte. Der Tenor lautete dabei:alles nur Mache. Nichts hat sichbei Labour geändert.

Frau Thatcher stellte sich nichtals gewandelte, als „neue" Maggievor, wie es ihr verschiedentlich an-geraten wurde. Da würde sie umihre Glaubwürdigkeit fürchten.Margaret Thatcher vertraut auf dieEigenschaften, tür die sie in Groß-britannien und in der Welt bekanntist und die ihr bisher den Sieg ge-bracht haben. Das weiß man jetzt,aber nun muß sich eben zeigen, obdie Briten immerzu ihre alte Mag-gie wiederhaben wollen.

Klaus Kämpgen, London

Das Zitat„Ich glaube, das, was die Men-schen hören wollen, ist Redlich-keit. Auch unangenehme Redlich-keit. Von allem anderen haben siegenug.

Hans-Jürgen Wischnewski

Ungarns Handelsminister im Interview unserer Zeitung:

„Sozialismus hat ausgedient"Von unserem Redaktionsmitglied Ulrich Brehme

O,ptimistisch hinsichtlich ei-nes Beitritts seines Landes zurEuropäischen Gemeinschaft so-wie des gesellschaftlichen Wan-dels weg vom Sozialismus hatsich der ungarische Handelsmi-nister Prof. Tamäs Beck in einemInterview unserer Zeitung geäu-ßert. Dabei nahm er kein Blattvor den Mund. Der Wortlaut:

Herr Minister, die Entwicklung inUngarn erfreut viele Bürger imWesten. Gleichzeitig mehren sichaber Stimmen, die in diesem Zu-sammenhang vor einer Destabili-sierung in Europa warnen. Sinddiese Ängste begründet?

Beck: Zugegeben: Es geht al-les sehr schnell. Aber diese Ge-schwindigkeit ist notwendig.Schließlich gilt es, das verkru-stete Regime hin zu einer plura-listischen Gesellschaft zu ver-ändern. Ich glaube aber nicht,daß Europa durch uns destabili-siert wird.

Wird Ihr Land eines Tages Mit-glied der Europäischen Gemein-schaft sein?Beck: Diese Situation kann ichmir gerade vor dem Hintergrundder Diskussion um einen BeitrittÖsterreichs sehr gut vorstellen.

Sollte Österreich aufgenommen Wirtschaft auch soziale Kompo-werden und wir nicht, wäre das nenten enthalten?sehr schlecht für uns. Grenzen,die jetzt geöffnet wurden, wür-den dann wieder dichter wer-den.

Welchen Termin für die Mitglied-schalt halten Sie für realistisch?Beck: Österreich wird nicht vor1995 aufgenommen. Insoferngehe ich davon aus, daß unserBeitritt in der zweiten Hälfte der90er Jahre möglich ist.

Noch ist Ungarn wirtschaftlich undmilitärisch voll im Osten integriert.Schließt dies nicht einen EG-Beitrittaus?Beck: Nein, beide Mitglied-schaften sind meines Erachtensgleichzeitig denkbar.

Zum Strukturwandel der ungari-schen Gesellschaft. Was ist ihreZielvorstellung?Beck: Der Sozialismus hat aus-gedient. Unser Ziel ist dieMarktwirtschaft. Konkret: Wirwollen das westliche System ko-pieren. Dieses Ziel hoffen wir inzwei bis drei Jahren erreicht zuhaben.

Wird die anzustrebende Markt-

Beck: Selbstverständlich. Dasdeutsche System der sozialenMarktwirtschaft dient uns alsVorbild.

Ein marxistisch geprägtes Ungarnwird es also nicht mehr geben?Beck: Meines Erachtens nicht.Endgültig aber werden das dieWähler im nächsten Jahr ent-scheiden.

Wieviel Geld fehlt Ihnen, um dieungarische Wirtschaft auf Vorder-mann zu bringen?

Beck: Genaue Zahlen kann ichnicht nennen. Tatsache ist esaber, daß wir viel Fremdkapitalbenötigen. Der Wert der ungari-schen Wirtschaft (Gebäude,Maschinen u.a.) ist so etwa auf25 Milliarden bis 30 MilliardenDollar zu taxieren. Der Struk-turwandel benötigt wenigstenszehn bis 15 Prozent dieser Sum-me, f

Sind Ihrer Ansicht nach die Deut-schen zu einer umfangreichen Hil-fe bereit?Beck: Ja, ich bin sehr optimi-stisch. Die Bundesländer Bayern

und Baden-Württemberg sindsehr hilfsbereit. Überhaupt istDeutschland das einzige Land,das nicht nur mit Worten undSolidariätsdeklarationen hilft,

Strukturwandel sind - siehe Polen- mit großen Opfern seitens derBevölkerung verbunden. Kannsich die Sparpolitik auch als Bume-rang erweisen?.Beck: Kleine Streiks haben wirpermanent. Aber die Gewerk-schaften bei uns haben ihre ei-genen Probleme. Generell wer-den die Gewerkschafter bei unsnicht hoch geschätzt, .weil siedie Leute in den letzten 30 Jah-ren nicht gut verteidigt haben.Zugegeben könnte ein großerStreik unsere Lage sehr ver-schlechtern. Ich halte das aberim großen und ganzen für ausge-schlossen.

Wieviel Arbeitslose gibt es in Un-garn?Beck: Nicht viele, so zwischen10000 und 20000. Das sindhäufig Leute, die nicht arbeitenwollen. Das ist so wie inDeutschland.

Wann wird der Forinth, ihre Wäh-rung, konvertibel?

TAMAS BECK (60) ist seit Okto-ber 1988 ungarischer Handels-minister. Bis dahin war der Di-plom-Ingenieur Generaldirek-tor eines Budapester Textilun-ternehmens.

(Foto: Thienemann)

Beck: Wir arbeiten daran. Ichglaube allerdings, daß dies nocheinige Jahre dauern wird.

Hat Ungarn von den in Angriffgenommenen Reformen im Han-del schon profitiert?Beck: Ja sicher. Beispielsweisehat uns der Besuch des US-Prä-sidenten Bush im Sommer wei-tere Türen geöffnet. Mit derBundesrepublik haben wir aus-gezeichnete wirtschaftliche Be-ziehungen, auch mit Österreich.Das bringt uns näher und öffnetuns die Welt.

„Die Spendierhose muß auch mit!"

Ein Hauch von Glasnost zieht durch die Presse

(Karikatur: Wolf)

DDR-Bürger rieben sich die AugenVon dpa-Korrespondent Heinz Joachim Schottes

iele DDR-Bürger rieben sicham Freitag morgen verdutzt dieAugen und konnten kaum glau-ben, was sie in ihren eigenen, oftso geschmähten Zeitungen la-sen. Das, was vor einer Wochenoch von vielen für unmöglichgehalten worden war, schieneingetreten zu sein: Die Blätterwaren neben dem gewohntenLob voll offener Kritik an Zu-ständen im eigenen Land undvoller Nachdenklichkeit überdas Schweigen der Führung.

Nachdem das Politbüro amMittwoch mit einer Erklärungan die Öffentlichkeit getretenwar, in der zum Dialog mit demVolk aufgerufen und beteuertwurde „Wir stellen uns der Dis-kussion", und es gehe um „le-bensverbundene Medien'', rea-gierten die staatlich gelenktenDDR-Medien.

Fehlende Antworten der Füh-rung hätten ein Gefühl der Unsi-cherheit hinterlassen, schreibtErich Augusta in der Öst-,fBerli-ner Zeitung". In einem Kom-mentar heißt es weiter, die Re-dakteure der „Berliner Zeitung"verstünden die Lebensverbun-denheit sehr wohl als Wunsch,„als Forderung der Leser, auchals Ermutigung".

Die Zeitung des staatlichenJugendverbandes FDJ, die„Junge Welt" ist am Freitag volloppositioneller Stellungnah-men. Sie druckt sogar eine„Klarstellung" von Unterhal-tungskünstlern, die die Veröf-fentlichung der Resolution vonüber 3000 Kollegen zur gegen-

wärtigen Lage in der DDR ver-langt. So erfahren die Leser, daßder FDJ-Vorsitzende ErhardAurich die Künstler gebetenhat, auf das öffentliche Verlesender kritischen Resolution zuverzichten. Sie jedoch wolltendem solange nicht entsprechen,bis diese Resolution in denDDR-Medien veröffentlicht ist.Es ist sogar von massiver Behin-derung und Auftrittsverbotensowie Verhaftungen die Rede.

Selbst die spröde TV-Nach-richtensendung, die „AktuelleKamera" ließ am Donnerstagabend einen Bauarbeiter zuWort kommen. Der sprach da-von, daß die Menschen ein biß-chen mehr Bewegungsfreiheitbrauchten und wenn sie frei rei-sen könnten, kämen sie auchwieder zurück. Auch die Ge-schäfte müßten ein bißchen vol-ler sein, dann gebe es solcheProbleme nicht.

Selbstkritische Töne

Die „Junge Welt" druckte fer-ner die Entschuldigung einesRedakteurs der „SächsischenZeitung", dem SED-Bezirksor-gan, an eine Leserin aus Dres-den wegen der Berichterstat-tung ab. Bezugnehmend auf dieDemonstrationen in Dresdenheißt es selbstkritisch: „Aberauch an uns gingen die Ereignis-se der vergangenen Wochenicht spurlos vorüber. Und ir-gendwie faßt man den Stift inAnbetracht stattgefundener Ge-

walt doch fester an: JungeVolkspolizisten mit klaffendenPlatzwunden, von Steinen zer-droschene Bauzäune, ein brutalzerstörter Bahnhof."

In der Gewerkschaftszeitung„Tribüne" wird der Vorsitzende,das Politbüromitglied HarryTisch zitiert. Jeder habe dasRecht, Fragen zu stellen und sei-ne Meinung zu sagen. Kritikmüsse auch zur Kenntnis ge-nommen werden. „Schnelle undumfassende Informationen aufallen Ebenen sowie in den Me-dien" seien für „kühne und muti-ge Entscheidungen" unverzicht-bar.

Soviel „Glasnost" hatten dieDDR-Bürger ihren Medien garnicht zugetraut. Noch vor einerWoche hatte es nicht nach derjetzigen Entwicklung ausgese-hen. Der Druck in den Redaktio-nen scheint überhand genom-men zu haben. Andere schätzen,daß die Zeitungen wegen der Le-serbriefflut die Flucht nach vor-ne angetreten haben.

Eine unrühmliche Ausnahmemacht immer noch das SED-Zentralorgan „Neues Deutsch-land". Am Mittwoch wurde der„Betonkurs" fortgesetzt mit ei-nem Kommentar, in dem Bonnwieder Einmischung in die inne-ren Angelegenheiten vorgewor-fen wird. Am Donnerstag die Po-litbüro-Erklärung, am Freitagwird immerhin auf der Kultur-seite die Erklärung des Präsidi-um der Akademie der Künsteder DDR abgedruckt, in derPressefreiheit gefordert wird.

Bundesmarine / Besuch

21 Schuß Salutvor LeningradLJer erste Besuch eines Flot-tenverbandes der deutschenBundesmarine in dem sowjeti-schen Hafen von Leningrad un-terstreicht nach den Wortenvon Flotillenadmiral Hans-Ru-dolf Böhmer „die gute Nachbar-schaft in der Ostsee". Wie Böh-mer, der den aus der Fregatte•,;Niedersachseri"i dem Zerstörer„Rommel"' sundk.:dem Versor-gungsschiff „Coburg" bestehen-den Verband kommandiert, ge-stern in Leningrad erklärte,wird die sowjetische Marine imkommenden Jahr einen Gegen-besuch in Kiel abstatten.

Beeindruckt äußerte sich derVizekommandeur der Leningra-der Marinebasis Kronstadt,Konteradmiral Kyrill Tulin,über den „hervorragenden äu-ßerlichen Eindruck" und die„moderne Ausrüstung" an Bordder „Niedersachsen''. Tulin hat-te der Fregatte am Morgen einenBesuch abgestattet, nachdemdie Schiffe mit der Flagge dersowjetischen Kriegsmarine amMast im Passagierhafen von Le-ningrad festgemacht hatten.Beim Passieren der Marinebasiswurden von der Festung Kron-stadt 21 Schuß Salut abgegeben.

Historischer Augenblick

Bei der Begrüßung wies Böh-mer auf den „historischen Au-genblick" des ersten Besuchsder Bundesmarine in einem So-wjethafen hin. Sein Verbandwird vier Tage in der Newa-Stadt bleiben. Zum letzten Malhatten im Jahre 1912 deutscheKriegsschiffe im Hafen vonSankt Petersburg angelegt.

Der Admiral unterstrich dieBedeutung der Wahl Leningradsfür den Besuch. Jeder Soldat sei-nes 650 Mann starken Verban-des wisse, daß im Zweiten Welt-krieg die Bevölkerung Lenin-grads „unglaublich gelitten"habe. Bei einer 900 Tage dau-ernden Blockade der Stadt wa-ren mehr als eine Million Ein-wohner durch Artilleriebeschußums Leben gekommen oder ver-hungert. Am Denkmal für dieKriegsopfer will Böhmer mit ei-ner Abordnung von 60 Matro-sen heute ein Blumengebindeniederlegen.

Neben offiziellen Treffen mitVertretern der sowjetischenMarine stehen auch Stadtbe-sichtigungen der Besatzungs-mitglieder sowie sportliche Be-gegnungen deutscher und so-wjetischer Matrosen auf demProgramm. Großer Andrangwird erwartet, wenn die Bevöl-kerung Leningrads heute undmorgen für mehrere Stunden dieMöglichkeit-hat, die drei Schiffezu besichtigen.

(dpa)

Presse-EchoZur Freilassung von Christer Petterssonim Berufungsverfahren um die Ermor-dung des früheren schwedischen Mini-sterpräsidenten Olof Palme schreibt dieschwedische Zeitung

Dagens Nyheter

Daß das OberlandesgerichtPettersson jetzt freigelassen hat,sollte uns weder überraschennoch schockieren. Gerechtig-keit ist geübt worden ... Wenndie Richter von der Schuld desAngeklagten nicht zweifelsfreiüberzeugtlsind,. ist es richtig,daß'er freigelassen Wird ... Den-noch ist die Situation trauma-tisch. Nach dreieinhalb Jahren%t diese unglückliche Mord-kommission*, wieder da, wo siebegann. Die Zeugen können kei-nen neuen Verdächtigen identi-fizieren. Eine Aufklärung setztetwas so Unwahrscheinlichesvoraus wie ein glaubhaftes Ge-ständnis oder zwingende Indi-zien.

Das mögliche Tauwetter in der DDR unddessen Auswirkungen auf das östlicheLager kommentiert die französische Zei-tung

LES ECHOSMehr noch als die schlechten

-Beispiele Polen und Ungarnmüssen die Führer der Tsche-choslowakei berechtigterweisedie geringsten politischen Kon-zessionen fürchten, die ihre ost-deutschen Kollegen machenkönnten. Ihre Furcht ist heu^eumso begründeter, als daß allesdarauf hinweist, daß die ost-deutschen Kommunisten zu ei-ner tiefgreifenden Revisionschreiten, wenn sie Erich Ho-necker nicht sogar ins Aus stel-len. Es steht fest, daß die Tsche-choslowakei über kein einzigesMittel und noch weniger übereine Berechtigung verfügenwürde, das aus der Niederschla-gung des Prager Frühlings von1968 herrührende Regime auf-recht zu erhalten, falls der ost-deutsche Riegel aufspringt.

Wenn Ausländer mitentscheiden wollen,wer und wie hierzulande regiert, sollensie die deutsche Staatsbürgerschaft er-werben, die künftig problemloser alsbisher erteilt werden soll, schreibt der

Münchner MerkurMÜNCHNER ZEITUNG

Damit sind dann allerdingsnicht nur Rechte, sondern auchVerbindlichkeiten verbunden -wie die Wehrpflicht. In den De-batten um Integration steckthäufig mehr Scheinheiligkeit alsechtes Engagement. Manchederjenigen, die sich vehementfür das Ausländerwahlrecht ein-setzen, denken vorrangig an zu-sätzliche Wählerstimmen. Unddas vor dem Hintergrund einerUntersuchung... aus dem Jahre1984 über das zu erwartendeWahlverhalten von Türken undJugoslawen, die laut Studie zv75 Prozent für die SPD votieren..

Page 18: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMEINEUNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

fc-lKASSELER ZEITUNG

Nr. 241 • Montag, 16.10.1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Unfallfreie Autofahrer

Rabatt steigtauf 65 Prozent

Bonn (dpa/vwd). Mit den neu-en Tarifen in der Autohaft-pflicht-Versicherung werdenzum 1. Januar 1990 auch dieSätze beim Schadenfreiheitsra-batt angepaßt. Wie der HUK-Verband der Autoversichereram Wochenende in Bonn mit-teilte, erhalten Autofahrer, die15 Jahre und länger schadenfreigefahren sind, einen Rabatt von65 statt bisher 60 Prozent. Dage-gen vermindert sich der Rabattnach neun Jahren von 60 auf 55Prozent.

Filderstadt

Sabatinigewinnt

Gabriela Sabatinigewann den mit250 000 Dollar do-tierten Tennis-Grand-Prix in Fil-derstadt. Die anNummer eins ge-setzte Argentinierinschlug im FinaleMary Joe Fernan-dez (USA) nach 1:45Stunden mit 7:6(7:5), 6:4.

WM-Pflicht

TurnerNeunte

Die Turner derBundesrepublik lie-gen bei der 25.Weltmeisterschaftin Stuttgart nach derPflicht mit 283,35Punkten auf demneunten Platz. Titel-verteidiger UdSSRliegt mit 293,15Punkten vor derDDR (288,80) undChina (288,75).

Schwenningen

ErsteSchlappe

In der Eishockey-Bundesliga bezogder SchwenningerERC mit 3:5 beimBFC Preusssen Ber-lin die erste Saison-Niederlage undbüßte die Tabellen-spitze an die Düssel-dorfer EG ein, die imRhein-Rivalenduellmit 6:3 beim KölnerEC gewann.

v. d. Groeben

Bronzebei WM

Zum Abschlußder Judo-Weltmei-sterschaft in Belgradholte der 33 Jahrealte Alexander vonder Groeben in derAll-Kategorie Bron-ze. Für den Wolfs-burger war es beiseinem sechstenWM-Anlauf das er-ste Edelmetall über-haupt.

Hockey

FrankfurtMeister

Zum dritten Malnach 1969 und 1970wurde der SCFrankfurt 1880Deutscher Feldhok-key-Meister. Im Fi-nale setzten sich dieFrankfurter mit 3:2im zweiten Sieben-meterschießen beimGastgeber HTC Uh-lenhorst Mülheimdurch.

Galke/Schreiber

WM-Titelgeholt

Das deutscheMeisterpaar Hans-Reinhard Galke undBianca Schreiberwurde in MontrealAmateur-Weltmei-ster in den latein-amerikanischenTänzen vor denEngländern Porter/Gevaert und denSchotten McKech-nie/Rees.

2100 DDR-Bürger kamen über Ungarn

Flüchtlingsstromschwillt wieder an

Budapest/Warschau. Mit Beginn der Herbstferien in derDDR hat am Wochenende der Zustrom von Flüchtlingenüber Ungarn und Polen wieder sprunghaft zugenommen.

Von Samstag früh bis Sonntagfrüh kamen nach Angaben desBundesgrenzschutzes rund2100 DDR-Bürger aus Ungarnüber Österreich in die Bundes-republik. Im Malteser-Lager inCsilleberc bei Budapest warenweitere 400 Ausreisewilligeversammelt, die noch am Sonn-tag mit acht Bussen abreisensollten.

In der polnische HauptstadtWarschau hielten sich gestern1200 DDR-Bürger auf, die aufihre für diese Woche erwarteteAusreise harren. Völlig überra-schend wurde am Wochenendezwischen der DDR und Poleneine „unbefristet gültige" Aus-reiseregelung getroffen. Das be-deutet, daß auch in ZukunftFlüchtlinge, die nach Polenkommen, ausreisen dürfen. Die-se Regelung ähnelt der Praxis inUngarn.

Die Vereinbarung in War-schau wurde während zweitägi-ger Gespräche des stellvertre-tenden DDR-Außenministers

Harry Ott im polnischen Au-ßenministerium getroffen. Ost-berlin machte dabei zur Bedin-gung, daß die Flüchtlinge nichtüber DDR-Gebiet ausreisen. Eswird daher für möglich gehal-ten, daß sie nach und nach ent-weder mit dem Flugzeug oderper Schiff das Land verlassenwerden. Als Zwischenstationauf dem Weg in die Bundesrepu-blik böten sich Österreich oderSchweden an. Mit der Bearbei-tung der Ausreisepapiere sollheute in der DDR-Botschaft inWarschau begonnen werden.

Die Sprecherin der polni-schen Regierung, MalgorzataNiezabitowska, begrüßte die mitder Ostberliner Führung verein-barte „humanitäre Lösung". Siebetonte gleichzeitig, daß in denvergangenen Tagen kein einzi-ger Flüchtling mehr von polni-schen Grenzbeamten festge-nommen und an die DDR-Behör-den ausgeliefert worden sei.

Weiterer Bericht Seite 2

Flüchtlinge / Wirtschaft Affäre Rushdie

DDR-Experte:Hohe Verluste

Berlin (AP) Die Massenfluchtvon Bürgern wird nach den Be-rechnungen eines Experten inder DDR langfristig zu einer er-heblichen Schwächung derWirtschaftskraft des Landesund zu Milliardenverlusten füh-ren. Der Hallenser Professor Pe-ter Thal nannte es am Wochen-ende in einem Zeitungsbetragbesonders kritisch, daß es sichbei den Flüchtlingen meist umjunge Arbeitskräfte handele.

Thal errechnete, daß bei ei-nem Fortgang von 10 000 Be-schäftigten der Verlust bei 0,12Prozent des gesamten Nationa-leinkommens liege. Das sei zu-nächst kein Anlaß zur Panik, er-gebe aber auf Dauer ein „ganzhübsches Sümmchen". Natio-naleinkommen ist eine Rech-nungsgröße der DDR-Wirt-schaft, die mit Einschränkungendem bundesdeutschen Bruttoso-zialprodukt entspricht.

Unter der Annahme, daß dieFlüchtlinge im Schnitt noch 30Arbeitsjähre vor sich hätten, lä-gen die Einbußen bereits jetztbei zehn Milliarden (Ost-)Mark,so der Professor. Dabei seienSchmälerungen durch verloren-gegangene Ausbildungskostennoch nicht mitgerechnet.

Bombendrohungauf Buchmesse

Frankfurt (lhe). Eine anonymeBombendrohung hat am Sonntagauf der Frankfurter BuchmesseBesorgnis ausgelöst. Einen Tagvor dem Ende der Ausstellungwurde offenbar im Zusammen-hang mit der „Affäre Rushdie"gedroht, in der Halle fünf mitbelletristischem Verlagsangeboteinen Sprengkörper zu zünden.

Die Messeleitung, die bereitsseit Dienstag wegen des vonMord bedrohten britisch-indi-schen Autors Salman Rushdieund seinen „Satanischen Ver-sen" verschärfte Sicherheits-vorkehrungen getroffen hatte,mußte keine verstärkten Maß-nahmen einleiten. Bei großemAndrang verlief der Sonntagohne Zwischenfälle.

Persönliche Botschaft

Während einer Solidaritäts-veranstaltung für Rushdie wur-de eine persönliche Botschaftmit Dankesworten des in Groß-britannien versteckt lebendenSchriftstellers verlesen. Er wis-se die Sorge sehr zu schätzen,die man sich in Europa, inDeutschland und in der ganzenWelt um ihn mache.

DER TSCHECHISCHE SCHRIFTSTELLER und Bürgerrechtler Vaclav Havel wurde gestern in derFrankfurter Paulskirche in Abwesenheit mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausge-zeichnet. Havel wurde von dem Schauspieler Maximilian Schell vertreten. Von links: FrankfurtsOberbürgermeister Hauff, Maximilian Schell, Hessens Ministerpräsident Walter Wallmann undBundespräsident Richard von Weizsäcker. (dpa-Funkbild)

Dankesrede verlesen / Friedenspreisträger Havel zur CSSR:

Sozialismus als GummiknüppelFrankfurt (AP). In erzwunge-

ner Abwesenheit des Preisträ-gers hat der deutsche Buchhan-del seinen diesjährigen Frie-denspreis am Sonntag in derFrankfurter Paulskirche demtschechoslowakischen Dramati-ker und Bürgerrechtler VaclavHavel verliehen. Der Schau-spieler und Regisseur Maximili-an Schell nahm die Auszeich-nung stellvertretend entgegen,die Laudatio hielt der französi-sche Philosoph Andre Glucks-mann. Bundeskanzler Kohl, derwie Bundespräsident Richardvon Weizsäcker an der Feierteilnahm, würdigte in einemGlückwunschreiben Havels„kompromißlose Suche nachWahrheit".

Die Bundesregierung hattesich bis unmittelbar vor demFestakt erfolglos dafür einge-setzt, daß die Regierung der

CSSR dem Preisträger die Reisenach Frankfurt gestattet undihm eine Rückkehrgarantie gibt.Der 53jährige Havel, der Mitbe-gründer der Charta 77 ist, er-hielt den mit 25 000 DM dotier-ten Friedenspreis des Börsen-vereins des Deutschen Buch-handels ausdrücklich für seinjahrelanges Engagement in derBürgerrechtsbewegung seinesLandes.

In seiner von Schell verlese-nen Dankesrede wies Havel aufdas Schicksal vieler seinerFreunde hin, die wegen ihrerpublizistischen Tätigkeit im Ge-fängnis säßen, „weil ich in einemLand lebe, wo für das Wort im-mer noch ins Gefängnis gewor-fen wird". Das Wort könne „einLichtstrahl im Reich der Fin-sternis" sein, aber auch ein „tod-bringender Pfeil". In seiner Hei-

mat sei „aus dem Wort .Sozialis-mus' schon längst ein ganz ge-wöhnlicher Gummiknüppel ge-worden".

Andre Glucksmann sagte inseiner Laudatio unter Bezug aufdie anhaltende Massenfluchtaus der DDR: „Wollen Sie wis-sen, was den Schritt dieserFLüchtlinge lenkt? Dann lesenSie Havel." Der 40. Jahrestagder DDR sei „in kultureller undintellektueller Hinsicht zur To-desurkunde geworden" undhabe „die Beerdigung einerüberholten Vergangenheit" an-gekündigt. Havel habe sich im-mer gegen das „Leben in derLüge" gewandt, und die Flücht-linge wie all jene, die in ihrerHeimat blieben und protestier-ten, „widersetzen sich dem lang-sam eintretenden Erstickungs-tod eines Lebens in der Lüge".Siehe „Themen des Tages"

Aus- und Übersiedlerstrom / Sofortprogramm gegen Wohnungsnot

Bonn denkt an Siedlungen in FertigbauweiseFrankfurt (AP). Die Bundesre-

gierung will angesichts des Aus-und Übersiedlerzustroms mit ei-nem Sofortprogramm gegen diedrohende Wohnungsnot an-kämpfen. RegierungssprecherKlein berichtete am Sonntag ineinem Interview über Pläne, denBau von sogenannten Kompakt-wohnungen und 'Wohnsiedlun-gen in Fertigbausweise massivzu fördern. Der Deutsche Mie-terbund und der DeutscherStädtetag hatten zuvor überein-stimmend Maßnahmen der Bun-

desregierung gegen die Woh-nungsnot gefordert. Der Mieter-bund warnte dabei vor einemFehlbestand von einer MillionWohnungen.

Das Sofortprogramm, „das dieAus- und Übersiedler aus Turn-hallen und Barackensiedlungenin eigene vier Wände bringt",solle bereits „in aller Kürze"vorgelegt werden, berichteteKlein. Dabei werde unter ande-rem erwogen, den notwendigenNeubau „ganz normaler Miet-wohnungen" weiter zu erleich-

tern. An den Bau von Traban-tenstädten sei allerdings nichtgedacht", stellte der Regie-rungssprecher klar.

Bundeskanzler Kohl selbsthatte am Wochenende unter-strichen, daß es auch um die zü-gige Bereitstellung von Grund-stücken gehe: „Ich finde, die öf-fentliche Hand tut hier über-haupt nicht genug. Ich nehme daden Bund nicht aus, aber auchLänder und Gemeinden müssenüberlegen, wo Bauland zur Ver-fügung steht."

Zum Tage

BörsenrätselAktionäre, so lautet ein zynischerSpruch in Börsenkreisen, sindnicht nur dumm, sondern auchfrech. Dumm, weil sie Aktien kau-fen, und frech, weil sie dafür auchnoch eine Dividende wollen. Amheutigen Tage sind sie dazu auchnoch ängstlich: Ein „SchwarzerMontag" droht, nachdem letztenFreitag das Börsenbarometer Wall-street in New York auf Hurrikan-Werte fiel, ehe das Wochenendedie Kursstürze bremste.

Dabei kann es die deutschenSpekulanten keineswegs beruhi-gen, daß es Auswüchse wie in denUSA bei uns nicht gibt. Dort wer-den spektakuläre Firmenübernah-men mit hochverzinslichen und risi-koreichen Anleihen finanziert; spä-ter können die erworbenen Firmendann ausgeplündert werden. Sol-che „Schrott-Anleihen" (junkbonds) spielen diesseits des Gro-ßen Teichs zwar keine Rolle. Aberwenn die USA vom Börsenfiebergeschüttelt werden, ist bei derwirtschaftlichen Verflechtung dieAnsteckungsgefahr dennoch groß.

Kommt es heute also zum„Schwarzen Montag"? Wer daraufeine Antwort wüßte, hätte die Ge-heimnisse der Börse enträtselt undwäre der reichste Mann der Welt.Der aber bleibt der Sultan von Bru-nei, und der scheffelt seine Milliar-den mit Öl. Oder ist er etwa derheimliche Super-Junk-Bonds-Drahtzieher?

Rainer Merforth

Gewalt / Weißer Ring:

„Opfer vollentschädigen"

Mainz (dpa). Die Hilfsorgani-sation für Opfer von Gewaltver-brechen, „Weißer Ring", hatumfassende Entschädigungenfür alle Opfer von Verbrechengefordert, deren Täter nicht er-mittelt werden können. Gene-ralsekretär Eppenstein sagtenach einer Tagung in Mainz, der„Weiße Ring" werde noch indiesem Herbst eine entspre-chende Gesetzesinitiative vor-legen. So solle der Staat nichtnur bei Körperschäden Aus-gleich zahlen, sondern auch beiVermögensschäden, sagte Ep-penstein. Auch Schmerzensgeldsollte in den Leistungskatalogaufgenommen werden.

In Sowjet-Häfen

Lebensmittelliegen fest

Moskau (dpa). Insgesamt25 000 Tonnen Lebensmittelund mehrere tausend TonnenWasch- und Reinigungsmittelliegen in sowjetischen Häfenfest. Wie der sowjetische Regie-rungschef Nikolai Ryschkow ineinem Interview des sowjeti-schen Fernsehens sagte, könnendiese Produkte wegen Trans-portschwierigkeiten nicht zuden Verbrauchern geschafftwerden. Die Chefs der Handels-marine und der Eisenbahn seienbereits aufs • schärfste verwarntworden, fügte Ryschkow hinzu.

Lotto- und TotozahlenLotto: 3, 5, 9, 27, 35, 37 Zusatzzahl:23.Toto: 0, 0, 0, 1, 0, 2, 1, 1, 0, 0, 2.Auswahlwette: 10, 35, 39, 40, 41, 45Zusatzspiel: 24.Rennquintett:Rennen A: 13, 7, 8.Rennen B: 21, 29, 23.ipiel 77: 2 2 2 0 9 6 3.

Süddeutsche Klassenlotterie:iroßes Los der Woche mit 2 Millio-

nen DM Losnummer 455 404.(Ohne Gewähr)

Page 19: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 241 Politik Montag, 16. Oktober 1989

Namen undNachrichten

Absagen an WaldheimDie für diese Woche geplantenStaatsbesuchedes österreichi-schen Bundes-präsidentenKurt Waldheim(Foto) in Sene-gal und in derRepublik Elfen-beinküste sindkurzfristig ab-gesagt worden.Nachdem derStaatschef derElfenbeinküste,Houphouet-Boigny, wegen ei-ner Regierungsumbildung umVerschiebung des Staatsbesu-ches ersucht hatte, teilte diePräsidentschaftskanzlei in Wienam Wochenende mit, daß auchWaldheims Besuch in Senegalnicht stattfinden könne. In die-sem Jahr war bereits ein Staats-besuch des wegen seiner Kriegs-vergangenheit umstrittenenehemaligen UNO-Generalse-kretärs in Marokko verschobenworden.

Fuchs: Notfalls mit CSUDie SPD-Bundesgeschäftsführe-rin Anke Fuchs hält es für mög-lich, daß es nach den bayeri-schen Landtagswahlen im näch-sten Jahr zu einer großen Koali-tion aus CSU und SPD im Frei-staat kommt. Dies könne erfor-derlich werden, wenn es darumgehe, die Republikaner aus derRegierung fernzuhalten, meinteFrau Fuchs am Wochenende.

Sacharow-Preis an HörnDer Sacharow-Preis des Euro-

j päischen Parla-ments soll 1989an den ungari-

I sehen Außen-[ minister GyulaHörn (Foto)

j vergeben wer-den. Wie der

I gestern neuge-] wählte Präsi-Ident der Euro-jpa-Union| Deutschland,»Egon Klepsch,

in Hamburg mitteilte, soll damitder Einsatz Horns bei derDurchsetzung der Menschen-rechtsbeschlüsse der Konferenzfür Sicherheit und Zusammen-arbeit in Europa (KSZE) gewür-digt werden. Der Preis trägt denNamen des sowjetischen Frie-densnobelpreisträgers AndrejSacharow.

„Spionageverdacht"Zwei sowjetische Offiziere sindam Wochenende in Westberlinvon den amerikanischen Sicher-heitsbehörden wegen Spionage-verdachts festgenommen unddann abgeschoben worden. Wiedie US-Behörden mitteilten, seiauch ein Angehöriger der ame-rikanischen Luftwaffe in denFall verwickelt.

Lebenszeichen von WaiteDer seit Januar 1987 in Libanon

I entführte Son-I derbeauftrage[der Anglikani-I sehen Kirche,8 Terry Waite(Foto), ist nocham Leben. Ent-sprechende In-formationen

j seien dem Erz-j bischof vonI Canterburyvon einem ira-

1 nischen Ge-währsmann zugegangen, hieß esin London. Auch zwei weitere inLibanon verschleppte Britenseien noch am Leben.

„007" eröffnete Golf platzJames-Bond-Darsteller SeanConnery eröff-nete gesternden erstenGolfplatz in derSowjetunion.Der Schauspie-ler und passio-nierte Golfersollte nach demWillen der Or- *ganisatoren mitseinem erstenSchlag auf derSportanlage inMoskau den in der UdSSR bis-her als Ausgeburt des Kapitalis-mus betrachteten Golfsport po-pulär machen. Connery hältsich zur Zeit zu Dreharbeiten inder Sowjetunion auf.

DDR-Fernsehen: Über Reformen nachdenken

„Aktuelle Kamera" auf Dialog-KursOstberlin (dpa). Erstmals ist

am Sonntag nun auch die DDR-Fernsehnachrichtensendung„Aktuelle Kamera" auf die For-derungen nach Reformen imStaat eingegangen. Anknüpfendan ein Gespräch von Arbeiternder Elbe-Werft Boizenburg mitdem Gewerkschaftsvorsitzen-den Harry Tisch über deren For-derung nach leistungsgerechterEntlohnung ging ein Kommentarauch auf andere Probleme wieReisefreizügigkeit und Spiege-lung der Wirklichkeit in denMedien ein. „Darüber wird mannachdenken müssen, und zwarsehr gründlich", sagte Kommen-tator Michael Illner. „Eben die-ses Nachdenken ist im Gange,und meines Wissens ist keineFrage ausgegrenzt, weder dasLeistungsprinzip noch die sozia-listische Demokratie, weder dasReisen noch die Medien undübrigens auch nicht das ThemaFrieden."

Trotz der neuen Töne haben

sich die Erwartungen nach derErklärung der DDR-Führung, of-fen über Probleme im Lande zusprechen, offenbar nicht erfüllt.So stiegen am Wochenendenicht nur die Flüchtlingszahlenwieder an, sondern auch die Bür-gerinitiativen machten deutlich,daß sie die Diskussion in ihremSinne vorantreiben wollen.

Trotz Warnungen und polizei-licher Vorladungen kamen amSamstag in Ostberlin 120 Ver-treter der Bürgerinitiative „Neu-es Forum" zum ersten DDR-wei-ten Koordinierungstreffen zu-sammen. Zu dem Treffen waren -wie verlautete - Vertreter ausOst-Berlin und den anderen 14DDR-Bezirken erschienen.Nach Berichten aus Karl-Marx-Stadt hat der dortige Oberbür-germeister Vertretern des „Fo-rums" einen Dialog angeboten.In einigen DDR-Städten sei Mit-arbeitern der Bürgerinitiative,die inzwischen mit mit 25 000Unterschriften unterstützt wird,

von Behördenvertretern nahege-legt worden, nicht zu dem Treffennach Ostberlin zu fahren. DieMalerin Bärbel Bohley vom„Neuen Forum" meinte, es müssenoch sehr große Veränderungengeben, wenn das gesamte DDR-System reformfähig werden solle.Sie erwarte einen Wechsel an derSED-Spitze noch vor dem Partei-tag im nächsten Jahr, sagte FrauBohley dem Bonner „General-Anzeiger". Nach ihrem Eindrucksei nur „eine Art Dialog" in Ganggesetzt worden, der in den altenBahnen laufe.

Der sächsische LandesbischofJohannes Hempel, der vor einerWoche in Dresden erfolgreichzwischen Behördenvertreternund vielen tausend Demonstran-ten vermittelt hatte, betonte ineinem Wort an seine Gemeinden,es müsse nun Gespräche gebenauch über die Enttäuschung,Verbitterung und Wünsche derjungen Menschen.Siehe auch Kommentar

Wolff will Hilfe für DDR nicht an Reformen koppelnUnterdessen haben Bundes-kanzler Kohl und andere Politi-ker versichert, die Bundesregie-rung werde sich nicht in die ge-rade begonnene Diskussion inder DDR über mögliche Refor-men einmischen. Kohl sagte ineinem Zeitungsinterview, er sei;egen eine Debatte in der Bun-lesrepublik, die die Diskussion

in der DDR vorwegnehme. Bun-despräsident von Weizsäckerwarnte davor, „das Rechthaben

bei uns" zum Maßstab für eineBonner Hilfe zu machen. Au-ßenminister Genscher bezeich-nete den Weg zu mehr Mitbe-stimmung und Freiheitsrechtenals Sache der Deutschen in derDDR. „Da brauchen sie wederunseren Ratschlag noch gar un-sere Bevormundung". Auch derVorsitzende des Ostausschus-ses der Deutschen Wirtschaft,Otto Wolff von Amerongen,meinte im „Handelsblatt", eine

finanzielle und wirtschaftliche. Unterstützung für die DDR soll-te nicht an Reformzugeständnis-se gekoppelt werden.

Starke Zweifel an der Reform-fähigkeit der DDR äußerte derSPD-Politiker Erhard Eppler, Erfrage sich, ob es nicht „für einereformierte, eine erneuerte, abernoch sozialistische DDR bereitszu spät ist, ob der Zeitpunktnicht verpaßt ist", sagte Epplerim Deutschlandfunk.

Südafrika: Bürgerrechtskämpfer Sisulu freiJohannesburg (AP/dpa). Nach

einem Vierteljahrhundert insüdafrikanischen Gefängnissenund Arbeitslagern ist Walter Si-sulu, eine Symbolfigur desKampfes gegen die Rassentren-nung in Südafrika, am Sonntagauf freien Fuß gesetzt worden.Zusammen mit dem 77jährigenehemaligen Generalsekretär derAnti-Apartheidbewegung Afri-kanischer Nationalkongreß(ANC) wurden sieben weitereschwarze Bürgerrechtskämpferfreigelassen. Die Freilassungwar von Präsident de Klerk inder vergangenen Woche ange-kündigt worden.

Sisulu und vier weitere deracht Freigelassenen waren 1964im sogenannten Sisonia-Prozeßwegen angeblicher Sabotage zulebenslanger Haft verurteiltworden. Damit befindet sich vonden in diesem Prozeß Verurteil-ten nur noch ANC-Führer Nel-son Mandela in Haft, mit dessenbaldiger Freilassung aber ge-rechnet wird.

Pretoria hatte die Freilassungder acht Häftlinge vermutlichdeshalb hinausgezögert, weil siederen Teilnahme an Demonstra-tionen in 17 Städten am Samstagverhindern wollte. Etwa150 000 Schwarze hatten sichan den Kundgebungen beteiligt.

Wenige Stunden nach seinerFreilassung rief Sisulu die weißeRegierung auf, das Verbot desANC aufzuheben. Pretoria müs-se ferner den Ausnahmezustandbeenden.

UNTER DEM JUBEL von mehreren hundert Anhängern traf der ausder Haft entlassene Bürgerrechtskämpfer Sisulu gestern vor sei-nem Haus in der Schwärzen-Siedlung S'oweto ein. (dpa-Funkbild)

Ministertreffen / Anregung Genschers

„Solidarität-Plan" der EGsoll Reform-Ländern helfen

Paris (dpa). Die Außenmini-ster der Europäischen Gemein-schaft (EG) haben am Wochen-ende auf Schloß Esclimont beiParis über eine weitergehendeUnterstützung der Reformen inOsteuropa beraten. Bei demzweitägigen informellen Treffensprach sich Bundesaußenmini-ster Genscher für einen „voll-ständigen Plan europäischer So-lidarität" für die reformwilligenStaaten des Ostblocks aus. Wieaus Kreisen der deutschen Dele-gation verlautete, vertrat Gen-scher die Auffassung, das vomPräsidenten der EG-Kommis-sion, Jacques Delors, ausgear-beitete Hilfsprogramm, dasNahrungs- und Finanzhilfen be-sonders für Polen und Ungarnvorsieht, bedürfe der „Ergän-zung" durch einen umfassendeneuropäischen« Plan.

Die Außenminister, die sichausführlich mit der Lage in Ost-europa befaßten und einen Be-richt Genschers über die jüngsteEntwicklung in der DDR entge-gennahmen, diskutierten in die-sem Zusammenhang über einepolitische Erklärung zu den Ost-West-Beziehungen, die beimnächsten EG-Gipfel am 8./9. De-zember in Straßburg verab-schiedet werden könnte. Die Er-klärung soll das Engagement derEG-Staaten in Richtung auf eine„globale" Hilfe für die reform-freudigen Länder Osteuropassystematisieren.

Delors und der französischeAußenminister Dumas werdenin dieser Woche nach Polen undUngarn reisen, um dort über diewirtschaftliche Lage dieser Län-der und über Hilfsmaßnahmender EG zu beraten.

Fortbildung / Betriebe

Ungelernteschlecht dran

Bonn (dpa). Rund 26 Milli-arden DM jährlich gebendeutsche Unternehmen fürdie berufliche Weiterbildungihrer Mitarbeiter aus. Davonprofitieren vor allem Füh-rungskräfte und kaufmänni-sche Angestellte, während esfür die Un- und Angelerntenim Betrieb kaum Angebotegibt. Zu diesen Ergebnissenkommt das Institut der deut-schen Wirtschaft (IW) in sei-ner jüngsten Studie über die„vierte Säule" des bundes-deutschen Bildungssystemsneben den allgemeinbilden-den Schulen, den Berufs-schulen und den Hochschu-len. Weiteres Ergebnis: DieWeiterbildung in Klein- undKleinstbetriebe ist intensiverals in den Großunternehmen.

Arbeitszeit / IG Metall: Amnesty international:

„FDP-Haltung In vielen Länderndummdreist" Kinder gefoltert

Hamburg (dpa). In der Frageweiterer Arbeitszeitverkürzun-gen ist am Wochenende dieKontroverse zwischen Gewerk-schaften und führenden Vertre-tern der FDP in scharfer Formfortgesetzt worden. FDP-ChefLambsdorff stellte sich in einemdpa-Gespräch ausdrücklichhinter seinen Parteifreund, Bun-deswirtschaftsminister Hauss-mann, der eine Rückkehr zur40-Stunden-Woche befürwortethatte. Vom baden-württember-gischen Bezirksvorsitzendender IG Metall, Riester, wurdedies als „dummdreist" zurück-gewiesen.

Der IG-Metall-Bundesvorsit-zende Steinkühler unterstrich ineinem dpa-Interview, daß seineGewerkschaft die Sicherung desfreien Wochenendes, kräftigeLohnerhöhungen und den letz-ten Sprung zur 35-Stunden-Wo-che in der Tarifrunde 1990durchsetzen will. Höchste Prio-rität bei den 2,6 Millionen Mit-gliedern der größten DGB-Ge-werkschaft habe der arbeitsfreieSamstag und Sonntag.

Lambsdorff meinte dagegen,wegen des leergefegten Fachar-beitermarktes müsse künftigmehr gearbeitet werden „undnicht weniger".

Bonn (dpa). Dutzende vonStaaten verletzen und mißach-ten nach Angaben der Gefange-nenhilfe-Organisation amnestyinternational (ai) tagtäglich diefundamentalen Menschenrech-te unschuldiger Kinder und Ju-gendlicher, ai erklärte zum Auf-takt einer „Woche des politi-schen Gefangenen", in derenMittelpunkt Kinder als Opferstehen, Minderjährige würdenzu Tausenden willkürlich inhaf-tiert, gefoltert, verschleppt odervon Staats wegen umgebracht.

Besonders drastische Fällevon staatlicher Gewalt gegenKinder gibt es, wie die Organisa-tion in einer in Bonn verbreite-ten Erklärung mitteilte, in Süd-afrika, Guatemala und Irak. InSüdafrika mußten demnach seitVerhängung des Ausnahmezu-standes vor drei Jahren rund9800 Minderjährige Tage, Wo-chen und manchmal sogar Mo-nate in Polizeigewahrsam ver-bringen. Diese Kinder wurden invielen Fällen mit Schlägen oderElektroschocks gefoltert.

Die UNO will im Dezembereine Schutzkonvention für Kin-der verabschieden, ai fordertedie Regierungen auf, das Ab-kommen rasch zu unterzeich-nen und ratifizieren zu lassen.

Verhältnis zur UdSSR / „Langfristig denkbar"

Vogel: FinnischesModell für Osteuropa

Bonn (dpa). Der SPD-Vorsit-zende Vogel hält es für denkbar,daß das zwischen der Sowjet-union und Finnland herrschen-de Verhältnis sich dann auf dieBeziehungen Moskaus zu ande-ren Ländern Osteuropas über-tragen würde, wenn die gemein-same europäische Friedensord-nung Wirklichkeit gewordensei. Dann seien die Bündnissevon Nato und Warschauer Paktendgültig entbehrlich, sagte Vo-gel nach seiner Rückkehr vonGesprächen in Warschau undBudapest am Sonntag der Deut-schen Presse-Agentur (dpa).

Bis dahin sei noch ein weiterWeg zurückzulegen. Je rascherund erfolgreicher jedoch die Re-formen in der UdSSR und ande-ren Ländern des WarschauerPakts voranschritten und jeschneller es gelinge, die Bezie-hungen zwischen und innerhalbder Bündnisse zu entmilitarisie-ren, um so eher werde man die-ses Ziel erreichen.

Das neutrale Finnland be-rücksichtigt als Nachbar derUdSSR in der Außenpolitik seitKriegsende die sowjetische In-teressenlage. Dies war der Preisfür die Wahrung der finnischenSouveränität. Der Freund-schaftsvertrag von 1948 sieht

außerdem im Falle eines An-griffs auf eines der beiden Län-der eine Beistandsklausel vor,die jedoch nicht automatisch,sondern erst nach Verhandlun-gen in Kraft tritt.

Vogel riet BundeskanzlerKohl, sich im Blick auf seineReise nach Warschau AnfangNovember zur polnischenWestgrenze genauso klar zu äu-ßern, wie Außenminister Gen-scher dies vor der UNO getanhabe. Kohl dürfe diesen Punktnicht mit Schweigen übergehen,sonst sei dies eine „schwere Hy-pothek" für den Reformprozeßin Polen.

Kohl: Kein Gebietsanspruch

Der Bundeskanzler bekräftig-te am Sonntag abend in der Sen-dung „Bonn direkt" des ZweitenDeutschen Fernsehens, daß dieBundesrepublik keinen Gebiets-anspruch an Polen stelle. „DieBestimmungen des WarschauerVertrages (von 1970) sind gel-tendes Recht - mit all dem, wasrechtlich dazu später auch nochgesagt wurde und verbindlichist", erklärte Kohl. Es gelte aberauch, „daß wir noch keinen Frie-densvertrag haben."

Sowjetunion: Atomtod im ManöverMoskau (dpa). Bei der Explo-

sion einer Atombombe währendeines sowjetischen Truppenma-növers 1954 hat es unter denteilnehmenden Soldaten zahl-reiche Tote und Verletzte gege-ben. „Die letzten 35 Jahre habeich um meine Gesundheit undum meine Würde gekämpft, so

wie die wenigen anderen, die da-mals lebend davonkamen", sagteder damals beteiligte WladimirBenzianow der ""Regierungszei-tung „Iswestija". Das Blatt mach-te jedoch keine Angaben über dieAnzahl der Opfer. Die Bombewurde gezündet, um „die Kampf-kraft der Truppe" zu testen.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureChef vom Dienst: Horst Kröninger. ChefNachrichten: Rainer Merforth. Politik: Jo-chen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden, Kultur: Dirk Schwarze, Frauu. Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wie-semann, i. V. Ulrich Fuhrmann. Sonntags-zeit: Frank Thonicke. Kassel Stadt undLand: Wolfgang Rossbach. Bezirksredak-tionen: Peter M. Zitzmann. Koordination:Helmut Lehnart. Hessen/Niedersachsen:Eberhard Heinemann. Chefreporter.1 Karl-Hermann Huhn. Sonderthemen: PeterOchs.

Redaktion Wiesbaden: Rolf Effenberger.Redaktion Hannover: Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter. Horst Prehm.Vertriebsleiter. Gerd Lührirtg.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61/20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61 / 20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer 05 61 /20 36. Teletex5 618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7 % MwSt. (Postbezugs-preis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.

Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.Herstellung Druckhaus Dierichs,Frankfurter Straße 168, 3500 Kassel.

Page 20: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 241 Themen des Tages Montag, 16. Oktober 1989

Skepsisund Hoffen

In die Diskussionen in der DDR isteine neue Dynamik eingezogen.Das Kanzelwort des sächsischenBischofs Hempei „Ohne Gesprä-che keine Ruhe" drängt über dashinaus, was am Wochenende anersten offenen Dialogen zu regi-strieren war. Wenn da der Indu-striearbeiter die Nachrichtensen-dung „Aktuelle Kamera" nicht se-henswert findet, auch das SED-Blatt-„Neues Deutschland" sichzum Abdruck von zwei Dutzendkritischer Leserbriefe herbeiläßt,dann wirkt das zunächst wie wohl-feile Beispiele altkommunistischerSelbstkritik. Damit wird es nicht ge-tan sein.

Auch wenn die meisten der in-haftierten Demonstranten inzwi-schen wieder frei sind, trauen dieMenschen dem ersten linden Lüft-chen, das nach Reformen riecht,nicht. Die Flüchtlingswelle rollt wei-ter, schwillt wieder an. Wer will undkann, begibt sich auf die sichereSeite. Noch überwiegt die Skepsisdie Hoffnung, sind Enttäuschun-gen für viele stärker als Zuversicht.

Hüben ist das nicht anders alsdrüben. Glücklicherweise hat daseinige Politiker dazu veranlaßt,dem schrillen Wiedervereinigungs-Trara mit gedämpften Tönen zuentgegnen. So ist es gut, daß derEindruck geradegerückt wurde,die Bundesrepublik wolle Refor-men in der DDR durch Wirtschafts-hilfe gewissermaßen erkaufen:Geld für Perestroika - das würdeden DDR-Verdacht westlicher Ein-mischung nur bestätigen.

Die ersten Beispiele ungewohn-ter Kritik, zögerliche Eingeständ-nisse von Staat und Partei machendie Menschen ungeduldig. Jetztdrängen die demokratischen Kräf-te mit neuen Forderungen nach.Diese Dynamik wird nicht aufzuhal-ten sein, weil sie im Konzert desOstblocks stattfindet. Daß aus Re-formen auch eine demokratischeRevolution würde • wer wünschtees nicht!

Peter M. Zitzmann

Presse-EchoZum Dienstleistungsabend schreibt die

OFFENBACH POST

Wer es sehen wollte, bemerktepulsierendes Leben... Es gibt imübrigen eine Reihe von Dienst-leistungen, die zu genießen unsmittlerweile so selbstverständ-lich geworden ist, daß nicht ein-mal diejenigen darüber nachdenj

ken, die sich eifrig gegen denDienstleistungsabend sträuben.Wer wollte schon - nach 18.30Uhr - auf den Kneipenbesuchoder das Menü im Restaurantverzichten? Oder auf das. TV-Programm, das im Schnitt bisnach Mitternacht läuft? Undwehe, wenn am Montagmorgendie Tageszeitung nicht pünktlichim Briefkasten liegt! Von Bus,Bahn und Taxis gar nicht erst zureden. Die Liste ließe sich belie-big fortsetzen. Hoffen wir weiter,daß eines Tages der verkaufsof-fene Donnerstagabend zu einerselbstverständlichen Dienstlei-stung wird.. Und wie schön wärees, wenn Ämter und Behördenirgendwann einmal genausodächten.

Mit Kohls Polenreise befaßt sich die

FrankfarterRimdschaii

Er reist tatsächlich! Am 9.November. Jahreszeitlich undhistorisch auch kein bequemesDatum. Aber was ist im Verhält-nis zwischen Deutschen und Po-len schon bequem? Nachdemfeststeht, daß Kohls immer wie-der aufgeschobener offiziellerBesuch in Warschau zustande-kommt, soll man sich nicht beialten Querelen aufhalten. Auchnicht bei den vielfältigen Aus-flüchten, mit denen sich CDUund CSU bisher um die Aner-kennung der Tatsache herumge-drückt haben, daß man im Euro-pa des Jahres 1989 vieles in Fra-ge stellen kann, nur eines ebennicht: Die Existenz Polens in sei-nen heutigen Grenzen. Auchder Bund der Vertriebenen, deram Samstag sein 40jähriges Be-stehen feiert und dazu als Fest-redner den Kanzler gebeten hat,sollte dieses politische Faktumendlich akzeptieren. Andern-falls werden „40 Jahre Arbeitfür Deutschland und die deut-schen Heimatvertriebenen" - sodas von BDV-Präsident HerbertCzaja (CDU) ausgegebene Mot-to - für die Katz sein.

Der neue Friedenspreisträger Vaclav Havel

Seit dem Prager Frühling UnpersonVon AP-Korrespondent Hans-Jürgen Moritz

ir begann seine Arbeit amTheater als einfacher Kulissen-schieber, doch inzwischenfürchtet die Regierung in Pragseine Stimme so sehr, daß sie ihnmit einem Veröffentlichungs-verbot zum Statisten degradie-ren möchte: Der Dramatiker Va-clav Havel ist seit dem PragerFrühling nach offizieller Lesarteine „Unperson". Sein Fototauchte seit 1968 in keiner ein-zigen offiziellen Zeitung derCSSR auf - bis Freunde kürzlich

ausgerechnet dem Parteiorgan„Rüde Pravo" einen selbstver-faßten Geburtstagsgruß unterju-belten. Für sein politisches undkünstlerisches EngagementspTach der Börsenverein desDeutschen Buchhandels ihmden diesjährigen Friedenspreiszu.

Havel wurde am 5. Oktober1936 in Prag geboren. Daran er-innerten seine Freunde die„Rüde Pravo" kurz nach demGeburtstag mit einem genialen

Was der „Friedenspreis" bedeutetDe'er Friedenspreis des Deut-schen Buchhandels, der seit1950 verliehen wird und seit1979 mit 25 000 Mark dotiertist, gilt als eine der bedeutend-sten Auszeichnungen in derBundesrepublik. Der Frie-denspreis geht auf eine Stif-tung von Buchhändlern undVerlegern zurück und wirdPersönlichkeiten zuerkannt,die „in hervorragendem Maßevornehmlich durch ihre Tätig-keit auf den Gebieten der Lite-ratur, Wissenschaft und Kunstzur Verwirklichung des Frie-densgedankens beigetragenhaben". Mit der Auszeichnungsollten nach dem Ende des

Krieges neue geistige und poli-tische Werte verankert wer-den.

Der Friedenspreis des Deut-schen Buchhandels wird je-weils zum Abschluß und Hö-hepunkt der FrankfurterBuchmesse in der Paulskircheverliehen. Erster Preisträgerwar 1950 der nach Norwegenemigrierte Autor Max Tau. Zuden weiteren prominentenPersönlichkeiten, die geehrtwurden, gehören AlbertSchweitzer (1951), HermannHesse (1955), Theodor Heuss(1959), Ernst Bloch (1967),Max Frisch. (1976) und Sieg-fried Lenz (1988). (dpa)

Streich: Sie schickten der Zei-tung für die Rubrik „Persönli-ches" ein Foto samt Begleittextmit an ihn gerichteten Grüßenzu seinem 53. Geburtstag. Ge-gen eine Gebühr von 500 Kro-nen (knapp 100 Mark) wurdenBild und Text auch veröffent-licht, allerdings unter dem Na-men Ferdinand Vanek. Das isteine von Havel erfundene Figurmit autobiographischen Zügen.

Es ist nicht nur Havels satiri-sche Ader, die den Unmut derRegierenden in Prag erregt. DerSchriftsteller gehörte zu den ak-tivsten Verfechtern der Refor-men des Prager Frühlings, dieschließlich an der Interventiondes Warschauer Paktes schei-terten. Er war auch einer derersten Sprecher der Bürger-rechtsgruppe Charta 77. Am 16.Januar dieses Jahres wurde erzu acht Monaten Haft verurteilt,weil er an einer nicht genehmig-ten Gedenkveranstaltung fürden Studenten Jan Palach teil-genommen hatte, der sich 1969aus Protest gegen den Ein-marsch der Verbündeten selbstverbrannt hat. Am 17. Mai wur-de Havel vorzeitig aus der Haftentlassen. Schon 1979 war er zueiner Gefängnisstrafe von vier-einhalb Jahren verurteilt wor-den, die 1983 „aus Gesundheits-gründen" ausgesetzt wurde.

Die Anklage gegen die Will-kür von Machtapparaten zieht

sich auch durch Havels drama-tisches Werk. Mit seinem 1963erschienenen Stück „Das Gar-tenfest" lenkte er auch im We-sten Aufmerksamkeit auf sich.Er schildert darin bürokrati-schen Stumpfsinn und Regle-mentierungswahn. Auch andereseiner Stücke widmeten sichdiesem Thema. Neben satiri-schen nahm er auch absurdeElemente in seine Bühnendich-tung auf.

Seine Arbeit am Theater be-gann Havel als Kulissenschie-ber. Er stieg dann zum Beleuch-ter, Lektor und schließlich zumDramaturgen auf. Um sein Ab-itur zu erlangen, besuchte erwährend seiner Lehre einAbendgymnasium. Ein techni-sches Studium schloß sich an.Seiner wahren Neigung konnteer erst später nachgeben undstudierte Dramaturgie. Havel istauch als Essayist hervorgetre-ten.

In der Begründung für diePreisvergabe liegt die Betonungauf Havels politischer Arbeit:„Er hat nie Zweifel daran gelas-sen und oft genug bewiesen, daßer persönlich, selbst'unter Ver-lust seiner Freiheit, für seineÜberzeugung einsteht." Ausge-zeichnet wird denn auch nichtnur der Dramaturg und Essay-ist, sondern mindestens genauso

VACLAV HAVEL(dpa-Funkbild)

der Politiker und BürperrechtlerHavel, der von sich selbst sagt,die Regierung in Prag habe ihnals „politischen WidersacherNummer eins" auserkoren. ;

Auch die Prämie für den Frie-denspreis will Havel für seinenKampf gegen die Unbelehrbar-keit der Machthaber in Pngverwenden, die ihn nicht zurPreisverleihung nach Frankfurtreisen lassen , wollten. Die25 000 Mark sollen der Unter-stützung des freien Verlagswe-sens in seiner Heimat dienen.Dazu rief Havel den Genossen-schaftsverlag „Atlantis" ins Le-ben, an dem sich fast alle unab-hängigen Autoren beteiligen,die in der Tschechsolowakei miteinem Publikationsverbot belegtsind.

Memoiren

Nancy Reaganschlägt zurückVon Siegfried Maruhn

•s war 1985 in Genf. NancyReagan war nervös. Zum erstenMal sollte sie mit Raissa Gorbat-schowa, der Frau des General-sekretärs der sowjetischen KPzusammentreffen. Worübersollte sie mit ihr reden? „Baldmerkte ich, daß ich mir unnötigeSorgen gemacht hatte. Vom er-sten Augenblick an redete sieund redete und redete - so viel,daß ich kaum ein Wort einwer-fen konnte. Vielleicht war sieunsicher, aber während rund ei-nem Dutzend Begegnungen indrei verschiedenen Ländern wares mein Haupteindruck vonRaissa Gorbatschow, daß sieniemals zu reden aufhörte. Oderzu belehren, um genau zu sein."

Das ist für ausländische Leserwahrscheinlich die interessan-teste, wenn auch nicht geradeaufregende Enthüllung aus demersten, 13seitigen Vorabdruckaus Nancy Reagans Memoiren.Das Buch selbst soll, umgebenvon einem „Medien-Blitz-Krieg", am Monatsende mit ei-ner Erstauflage von 400 000 Ex-emplaren auf den Markt kom-men. Zwei Millionen Dollar hatder Verlag, Random House, an-geblich dafür an die Frau desehemaligen Präsidenten gezahlt.

„My Turn" (etwa: Jetzt bin ichan der Reihe) ist der Titel, unterdem die ehemalige First Ladymit ihren Feinden im WeißenHaus abrechnen will. Amschlimmsten hatte die First Ladydie Enthüllung des ehemaligenStabschefs im Weißen Haus,Donald Regan, getroffen, daß sievor wichtigen Terminen den Rateiner Astrologin einholte.

Regan hatte das Weiße Hausverlassen müssen, wie er be-hauptet, weil er sich gegen dasNebenregiment der First Ladywehrte. Nancy stellt es jetzt sodar, als seien eigentlich alle, derdamalige Vizepräsident Busheingeschlossen, dafür gewesen,Regan zu feuern. Bush habe sichfreilich nicht getraut, das auchihrem Mann zu sagen.

So wie Bush, bekommen auchandere noch tätige Politiker, soAußenminister Baker, ein paarSeitenhiebe ab. Im übrigen be-müht sich die frühere Präsiden-tenfrau, Vorwürfe zu entkräf-ten, die einst unliebsames Auf-sehen erregten. Die Astrologin,so Nancy jetzt, war eine Freun-din und eine Art Therapeutin,die ihr nach dem Mordanschlagauf ihren Mann beistand.Ebenso gibt sie zu, daß sie sichvon Modemachern teure Klei-der leihen ließ, findet das frei-lich als „gängige Praxis" okay.

„Was? Ach, die Feier! Ja, ja, Mädel, die war schön..."

Bundesdeutscher Flottenbesuch in Leningrad

(Karikatur: Wolter)

„Kämpft zu Hause für den Frieden"Von dpa-Korrespondent Friedhelm Schachtschneider

Diie Schwester, Oma, der Bru-der, Mutter - sie sind alle tot,und ich bin übrig geblieben."Fünf kleine Tagebuchseiten sinddie erschütternde Hinterlassen-schaft eines damals elfjährigenMädchens. Eines von über einerMillion Opfern der 900-tägigenBelagerung Leningrads durchdeutsche Truppen im ZweitenWeltkrieg.

„Ich bin sehr bewegt. Ich binfroh, daß viele meiner jungenSoldaten mit mir hier sind. Wirsollten aus der Vergangenheitlernen, um die Zukunft friedlichzu gestalten", sagte Flottillenad-miral Hans-Rudolf Boehmer amSamstag nach einer Kranznie-derlegung am Mahnmal derBlockadeopfer auf dem Piskar-jowskojer Gedenkfriedhof. Un-ter dem Kommando von Admi-ral Boehmer hatte am Freitag einVerband zum ersten Flottenbe-such der Bundesmarine in einemLand des Warschauer Pakts inder sowjetischen Ostseestadtfestgemacht.

Sehr beeindruckt

„Jeder Soldat meines Verban-des weiß, daß gerade die Bevöl-kerung Leningrads durch die in-humane deutsche Kriegsfüh-rung sehr gelitten hat", betonteder Admiral. „Sehr beein-

druckt" von der Zeremonie zwi-schen den mehr als 250 Rasen-hügeln, unter denen Hundert-tausende von namenlosen Op-fern liegen, war Sven Bremer.„Ich bringe aus Leningrad dasWissen mit, daß so etwas nichtmehr passieren darf", meinte derObergefreite vom Zerstörer„Rommel".

Die Schatten der Vergangen-heit spielten keine Rolle beimKontakt der jungen bundesdeut-schen Marinesoldaten mit Be-wohnern der Fünf-Millionen-Metropole. Wenn Gruppen der650 Besatzungsmitglieder durchdie Stadt bummelten, wurdensie „freundlich auf Deutsch be-grüßt". Den Kontakt mit den„hilfsbereiten Russen" behin-derte allenfalls die Sprachbar-riere. Die Herkunft der Matro-sen war allerdings nicht immerbekannt. „Ein Tourist aus derDDR las am Mützenband .Zer-störer Rommel' und fragte, obwir aus Rostock sind", erinnertsich der Matrose Dominik Mau-rer. '

Auch Kontakt mit sowjeti-schen Soldaten habe sich beiStadtrundgängen schon erge-ben, sagt ein Wehrpflichtigervom Versorgungsschiff „Co-burg". „Bundesmarine zum An-fassen" gab es für die Leningra-der am Wochenende, als Sams-

tag und Sonntag für jeweils vierStunden die Schiffe aus Kiel undWilhelmshaven besichtigt wer-den konnten.

Nach den Erfahrungen briti-scher und amerikanischer Flot-tenbesuche in der UdSSR hattedie Bundesmarine rund 20 000Neugierige erwartet. 11,25 Ton-nen Prospekte, Aufkleber undSouvenirs lagen bereit. Am er-sten Tag waren bei regneri-schem Wetter allerdings we-sentlich weniger Besucher alserwartet zur Pier am Leningra-der Passagierhafen gekommen.

Menschentrauben

Schnell bildeten sich an Bordder Fregatte „Niedersachsen"Menschentrauben, wo unterden Klängen des Marsches „Wirsind vom K.u.K.-Infanterieregi-ment" Informationsmaterial ver-teilt wurde. „Schön ist es beieuch", freute sich der 63jährigeSergej Tungan. Historisches Er-eignis? Marinesoldaten aus derBundesrepublik Deutschland inLeningrad? „Warum ist dasnoch eine Besonderheit? Denjungen Leuten darf man dochnicht die Verbrechen ihrer Vä-ter anlasten. Kämpft zu Hausefür den Frieden, und ihr seid im-mer bei uns willkommen", sagteder Rentner.

Papstreise / Kondition

AllzeitbereitVon L. Trankovits (dpa)

Johannes Paul II. wird zuwei-len als „reisewütiger Papst" kri-tisiert. Kaum eine Reise zuvoraber hat deutlicher gemacht,welch Ungeheure Strapazen dasOberhaupt von rund 700 Millio-nen Katholiken auf sich nimmt,um seine Ortskirchen zu besu-chen, als die jüngste Reise desgeistigen Hirten zu seinen weit-verstreuten Schafen in Südko-rea, Indonesien und auf Mauriti-us.

Angesichts eines fast immerhellwachen, konzentrierten undfreundlichem Papstes,'der uner-müdlich den Kontakt zu denGläubigen suchte, fragten sichselbst manche vatikanischeWürdenträger im Troß des Pap-stes nach den Geheimnissen derpäpstlichen.Physis. Schließlichist der Heilige Vater auch nurein Mensch und im Fall von Ka-rol Woityla bereits 69 Jahre alt.

Während der elf Tage legte erauf 15 Flügen 39 047 Kilometerzurück. Der Bischof von Romhielt 28 längere Reden, Anspra-chen und Predigten vor bis zueiner Million Menschen. Neun-mal zelebrierte der Papst zumTeil unter tropischer Sonne undbei extremer Luftfeuchtigkeitmehrstündige Messen.

Eisern hielt der Papst dabei anseinem Rhythmus fest. Der69jährige begann fast jeden Taggegen 5.30 Uhr Ortszeit. Wäh-rend die meisten der den Papstbegleitenden Kurienmitgliederund Geistliche sowie die etwa50 Journalisten fast überall inerstklassigen Hotels unterge-bracht waren, besteht JohannesPaul II. darauf, immer im Gäste-zimmer des Hauses des jeweili-gen Nuntius oder Ortsbischofszu nächtigen.

Der 69jährige trinkt nach An-gaben aus seiner Umgebungzum Essen durchaus auch ein-mal ein Glas Wein, wiewohl erSäfte bevorzuge. Auf den langenFlügen lese er theologische oderphilosophische Texte, bete oft,entspanne sich zuweilen - schla-fe aber kaum.

Weder bereite sich der Papstvor einer Reise mit besondersviel Ruhezeiten auf die Strapa-zen vor, noch werde nach seinerRückkehr etwas an dem stetsvollen Tagesplan des Kirchen-oberhaupts geändert, versi-chern Vatikan-Mitarbeiter.Wer ein Geheimnis der päpstli-chen Energie suche, werde dieswohl - neben einer gesundenKonstitution - allein in seinemGlauben finden, in dem eisernenWillen, die Botschaft Christi zuverbreiten.

Page 21: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMEINEUNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 242 • Dienstag, 17.10. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

DDR-Medien berichteten

Über 100 000demonstriertenin Leipzig

Leipzig (dpa/AP). Bei dergrößten nicht-staatlichen De-monstration in der Geschichteder DDR sind gestern abendmehr als 100 000 Demonstran-ten für Reformen, demokrati-sche Erneuerung und Gewaltlo-sigkeit durch die Leipziger In-nenstadt gezogen. Beobachtersprachen sogar von 120 000DDR-Bürgern, die nach den tra-ditionellen Friedensandachtenin fünf Kirchen der Messestadtmit Transparenten und Sprech-chören friedlich protestierten.Polizei und Sicherheitskräftehielten sich im Hintergrund. Eskam zu keinen Zwischenfällen.

Erstmals berichteten dieHauptnachrichtensendung imDDR-Fernsehen und die Nach-richtenagentur ADN aktuellüber die Demonstration von„zehntausenden Bürgern". Der„Zurückhaltung der Sicher-heitskräfte und der eingesetztenOrdnungskräfte ist es zu dan-ken, daß es zu keinen Aus-schreitungen kam", hieß es.

„Wir werden mehr"

Nach den Andachten, bei de-nen das Hirtenwort von Landes-bischof Hempel mit dem Aufrufzur Gewaltlosigkeit verlesenworden war, schob sich die rie-sige Menschenmenge durch dieLeipziger Altstadt. Die Demon-stranten riefen: „Junge Leute andie Macht" und „Wir werdenmehr, wir werden mehr". InSprechchören wurde derWunsch nach Visafreiheit fürReisen in die CSSR und „Ökolo-gie statt Ökonomie" laut.

Wie gestern bekannt wurde,haben am Sonntag in Halle undin Plauen jeweils bis bis zu20 000 Menschen demonstriert.Weiterer Bericht nächste Seite

Berufungsrichter

Atlantis kannheute starten

Cape Canaveral (dpa). GrünesLicht für den heutigen Start derUS-Raumfähre „Atlantis" mitder Jupiter-Sonde „Galileo": EinBerufungsgericht in Washing-ton bestätigte die Entscheidungeines Richters aus der vergan-genen Woche und lehnte einvon Anti-Atom- und Umwelt-schutzgruppen beantragtesStartverbot ab. Auch die Tech-niker und Wetterbeobachtersind zuversichtlich. Die Um-weltschüutzer befürchten,daßbei einem Unglück die atomarenBatterien von „Galileo" Radio-aktivität in die Atmosphäre ab-geben könnten.

Die fünf Astronauten an Bordder Fähre, darunter zwei Frau-en, sollen die Jupitersonde imAll absetzen. „Galileo" soll am7. Dezember 1995 in seine Um-laufbahn um den größten Plane-ten des Sonnensystems ein-schwenken.

Die endgültigen QuotenLotto: Gewinnklasse I 590 151,10DM; II 69 745,10 DM; III 5254,70DM; IV 92,70 DM; V 7,50 DM.Toto:Auswahlwette: I. unbesetzt, Jackpot2 577 728,05 DM; II. 8028,20 DM;III. 412,70 DM; IV. 22,40 DM; V.3,50 DM. - Ergebniswette: I.14 058,60 DM; II. 687,50 DM; III.69,20 DM.Rennquintett:Rennen A: Gewinnklasse I 289,70DM; II 77,90 DM.Rennen B: Gewinnklasse 186,20 DM;II 28,60 DM.Kombinatjonsgewinn: unbesetzt,Jackpot 41 398,40 DM.

(Ohne Gewähr)

Schauspieler

Ungeheuergestorben

Im Alter von 63Jahren ist GüntherUngeheuer (Foto)gestorben. Derdurch zahllose Kri-mi-Rollen bekanntgewordene Schau-spieler war auch amDeutschen TheaterGöttingen und beiden Hersfelder Fest-spielen engagiert.Siehe Kultur

Goethe-Institut

Deutschgefragt

Das Interesse amErlernen der deut-schen Sprache ist imAusland wieder ge-wachsen. Diese er-freuliche Bilanz desGoethe-Institutswird allerdingsdurch die Sparpoli-tik des Bundes über-schattet. SieheKommentar Seite 4und Kultur.

Super Plus

Geldsparen

Viele Autofahrertanken unnötig ver-bleiten Superkraft-stoff. Mit umwelt-freundlichem, blei-freiem Super Pluskönnte die nationaleBenzinrechnungtäglich um eine Mil-lion Mark entlastetwerden, errechnetedie Esso AG. SieheWirtschaft.

Autohaftpüicht

Plänegeändert

Autofahrer, dieeinen Schaden ver-ursacht haben, wer-den von ihrer Haft-pflichtversicherungnicht mehr so starkzurückgestuft wieursprünglich ge-plant. Laut ADAChaben die Versiche-rer damit auf Prote-ste reagiert. SieheWirtschaft.

DFB

„Kaiser"Manager

Die Entscheidungist noch nicht offi-ziell, doch Zweifelgibt es kaum noch:Teamchef „Kaiser"Franz Beckenbauerwird nach der WM1990 in Italien DFB-Generalmanager,Berti Vogts über-nimmt das Amt desB.undestrainers. Sie-he Sport.

Kurseinbrüche an den Aktienbörsen

Schwarzer Montagin Frankfurt

Frankfurt/New York (AP/dpa). Der Kürssturz am NewYorker Aktienmarkt hat die Börsen rund um den Globus mitWucht getroffen. Die Frankfurter Börse erlebte am Montagden schwersten Kursrückgang ihrer Geschichte. Dennochsieht Bonn keinen Grund zur Panik. Die westlichen Industrie-staaten seien „robust", hieß es.

Die Einbußen um durch-schnittlich 12,8 Prozent übertra-fen sogar den „Schwarzen Mon-tag", mit dem vor fast genau zweiJahren der bisher größte Börsen-krach begann. Die Zentralban-ken der westlichen Industrie-staaten erwogen bereits möglicheKrisenmaßnahmen. Wegen derschweren Turbulenzen sackteauch der Dollarkurs um knappsechs Pfennig auf 1,84 DM.

Die New Yorker Aktienmärk-te holten gestern bei hohen Um-sätzen fast die Hälfte ihres Ver-lustes vom Freitag wieder auf.Der Dow-Jones-Durchschnittfür 30 führende Industrietitelschloß 88,12 Punkte höher bei2657,38, nachdem er am Freitag190 Punkte eingebüßt hatte. Ins-gesamt wechselten 420 Millio-nen Papiere an der Wall Streetden Besitzer. Am „schwarzenMontag" im Oktober 1987, alsder „Dow" 508 Punkte gefallenwar, hatte der Umsatz 604,8Millionen Stück betragen.

Eine Flut von Verkaufsaufträ-gen verzögerte den Handel an derFrankfurter Börse um 25 Minu-

ten. Vor allem Kleinanleger ver-kauften zum Teil ihre gesamtenAktienbestände, die Kurse vonStandardwerten purzelten imfreien Fall in die Tiefe. Um alleAufträge bewältigen zu können,wurde die offizielle Börsenzeitum eine Stunde bis 14.30 Uhrverlängert. Bis zu diesem Zeit-punkt fiel der Deutsche Aktien-index um 203,56 Punkte oder

Hintergründe des Börsenkrachs auf„Themen des Tages"

12,8 Prozent. Mit am stärkstenbetroffen waren die Spitzenwer-te Daimler (minus 111 DM) undDeutsche Bank (minus 87,30DM). Am „Schwarzen Montag"1987 war der Index um 9,4 Pro-zent abgesackt.

Auch die übrigen europäi-schen Börsen tendierten sehrschwach. Nicht so drastisch ver-lief die Entwicklung in Tokio.Dort stabilisierte sich der Ein-bruch bei 1,9 Prozent.Siehe „Zum Tage"Fortsetzung nächste Seite

Gespräch im Auswärtigen Amt / Israel-Protest

Bonn empfängt Vertrautenvon PLO-Chef Arafat

Bonn (dpa). Die Bundesregie-rung hat gestern mit dem Emp-fang eines hochrangigen PLO-Funktionärs im Bonner Auswär-tigen Amt ihre Arbeitskontaktemit der Palästinensischen Be-freiungs-Organisation „aufge-wertet". Bei dem Gespräch desAußenamts-StaatssekretärsSudhoif mit Bassam Abu Sharif,einem Berater und engen Ver-trauten des PLO-VorsitzendenArafat, würdigte Bonn gleich-zeitig die „maßvolle Haltung"der PLO im israelisch-arabi-schen Konflikt.

Das Gespräch war gleichzeitigder offiziell höchstrangige Kon-takt Bonns mit der PLO-Füh-rung. Vorangegangen waren imJuli ein Empfang des BonnerPLO-Vertreters Abdallah Fran-gi im AA und im März ein infor-melles Treffen des damaligenEntwicklungs-Ministers undheutigen RegierungssprechersKlein mit PLO-Vertretern in Tu-nis.

Die Bundesregierung hattemit Rücksicht auf Israel langemit der Aufnahme offiziellerKontakte zur PLO gezögert.Eine Lockerung zeichnete sichnach der Sitzung des Palästinen-sischen Nationalrates (Exil-Par-lament) im November 1988 inAlgier ab, wo die PLO Israel in-direkt anerkannte und eineZwei-Staaten-Lösung in Palästi-na akzeptierte.

Israel protestierte gegen denEmpfang des Arafat-Vertrautenim Auswärtigen Amt. „Wir be-dauern zutiefst, daß das Aus-wärtige Amt es für richtig hielt,einen hochgestellen Vertretereiner Terror-Organisation zuempfangen", erklärte die israeli-sche Botschaft in Bonn. „DerZeitpunkt ist besonders un-glücklich, da in diesen Tagenwichtige und schwierige Frie-densbemühungen im Gangesind."Siehe auch Kommentar

Zum Tage

KRÄFTIG NACH UNTEN fiel gestern der deutsche Aktienindex ander Frankfurter Wertpapierbörse. Händler verzeichneten nachdem Aktiensturz in New York am Freitag nachmittag regelrechtePanikverkäufe. (dpa-Funkbild)

Bevölkerungswachstum nicht zu stoppen

23 Millionen Babys in ChinaPeking (dpa). Trotz strikter

Geburtenkontrolle in denStädten wird das Bevölke-rungswachstum in China indiesem Jahr wieder alarmie-rende Ausmaße annehmen.Wie die Zeitung „China Daily"gestern berichtete, werde Chi-na bis zum Jahresende eine

Bevölkerungszahl von 1,11Milliarden Menschen haben.Allein 1989 würden in China23 Millionen Babys geborenwerden. Die Rate des Bevölke-rungswachstums werde in die-sem Jahr bei 15 pro TausendEinwohner - um 0,8 pro Tau-send höher als 1988 - liegen.

Börsen-GezitterFür Börsenguru Andre Kostolanywar die Suche nach den Schuldi-gen des letzten Börsencrashs vomOktober 1987 eine kurze Um-schau: Börsenfritzchen, Zittrigeund Nichtskönner machte er alsVerursacher allen Übels aus - sichselbst natürlich ließ das Großmaulunter den Börsenexperten vor-nehm außen vor. Bei der Analyseder gestrigen Ereignisse als Folgedes Kurssturzes an der Wall Streetam vergangenen Freitag muß mansich jedoch zwangsläufig an diederben Worte des Altmeisters derCharts erinnern: Den Kursverfallam Frankfurter Markt, dem viert-wichtigsten der Welt, lösten dieKleinaktionäre aus. InstitutionelleAnleger traten kaum in Aktion.

Die Reaktion der um ihr sauerErspartes bangenden, breit ge-streuten Kundschaft ist plausibel:Der Schock des Oktober 1987 sitztnoch tief in den Knochen. Rettesich, wer kann, lautete gestern dieDevise - aber eigentlich gibt eskeinen Grund zu solch panischemHandeln. Die Konjunktur floriert mitgesicherter Zukunft, die Unterneh-mensgewinne sprudeln wie nie zu-vor - und dennoch genügt einleichtes Beben an der Wall Street,um rund um den Globus die Kursepurzeln zu lassen. Aber auch dienervöse Reaktion der Hobby-Spe-kulanten kann böse Folgen haben:Investmentsfonds haben in der Re-gel Kurs-Untergrenzen in ihren An-lageprogrammen. Werden sie un-terschritten, wird verkauft. Massivund auf breiter Basis. Dann gingees mit den Kursen erst recht berg-ab. Und die Zittrigen wären malwieder dran schuld.

Horst Seidenfaden

Wiens Nachtfahrverbot

Bonn in EGohne Mehrheit

Luxemburg (dpa). In der Euro-päischen Gemeinschaft herrschtangesichts des österreichischenNachtfahrverbots für Lkw zu-nehmend Ratlosigkeit. Bundes-verkehrsminister Zimmermann(CSU) konnte sich gestern imEG-Ministerrat mit seiner For-derung nach Gegenmaßnahmennicht durchsetzen. LediglichItalien und Dänemark äußertenVerständnis für die Bonner Hal-tung. Das Nachtfahrverbot sollam 1. Dezember in Kraft tretenund von 22 bis 5 Uhr auf allenTransitrouten für Lkw über 7,5Tonnen gelten.

Bundeskanzler Kohl bat un-terdessen den Präsidenten derEG-Kommission, Delors, sichpersönlich in die Verhandlun-gen einzuschalten.

In Warschau warten 1400 DDR-Bürger / Ausreiseweg noch offen

Erste Flüchtlinge ausgebürgertWarschau/Bonn (AP/dpa). Die

ersten 50 von 1400 ausreisewil-ligen DDR-Bürgern sind gesternin Warschau in ihrer Botschaftausgebürgert worden. Jubelndverließen sie am Nachmittag dasGebäude und schwenkten einBanner mit der Aufschrift „Wirsind frei". Sie bekamen eine Ur-kunde mit der Entlassung ausder DDR-Staatsbürgerschaft so-wie eine Identitätsbescheini-gung ausgehändigt. Diese Aus-reiseregelung ist bisher zeitlichnicht begrenzt.

Eine der ausgebürgertenFrauen in Warschau sagte, dieDDR-Beamten seien „sehrfreundlich" gewesen. Sie habevor zwei Jahren die Ausreisebeantragt, aber keine Hoffnungmehr gehabt. Die 50 Ausgebür-gerten, meist Mütter und Kin-

der, wurden zunächst in die La-ger zurückgebracht, wo sie Bun-despässe erhalten sollten.

Welche Form der Ausreisedie Flüchtlinge in Warschauwählen - per Flugzeug oderSchiff - ist nach Angaben vonRegierungssprecher Klein „zurStunde noch offen". Wie Kleingestern in Bonn zu verstehengab, wird mit einer Ausreise aufdem Schienenweg nicht gerech-net, da Ostberlin die Beförde-rung der aus der DDR-Staats-bürgerschaft entlassenenFlüchtlinge über DDR-Gebietnicht mehr akzeptiert.

Von diplomatischer Seite ver-lautete, jeden Tag träfen neueFlüchtlinge in der Bonner Bot-schaft in Warschau ein. Alleinüber das Wochenende seienwieder 200 bis 300 Menschen

gekommen, und weitere hättenam Montag morgen die Bot-schaft der Bundesrepublik umUnterstützung gebeten.

Über Ungarn sind laut Kleinseit vergangenem Freitag rund3800 DDR-Flüchtlinge in dieBundesrepublik gekommen. Al-lein von Sonntag auf Montagpassierten 1877 die Grenze,knapp 400 mehr als in den 24Stunden zuvor. Die gestiegene

. Zahl hänge offenkundig mit denbegonnenen Herbstferien in derDDR zusammen. Die Zahl derFlüchtlinge in der bundesdeut-schen Botschaft in Prag ist nachAngaben eines Sprechers desAuswärtigen Amtes in Bonn in-zwischen auf rund 60 gestiegen.Auch dort werde weiterhin aneiner Lösung gearbeitet.Weiterer Bericht nächste Seite

Page 22: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 242 Politik Dienstag, 17. Oktober 1989

Namen undNachrichten

Syse löst Brundtland abEine bürgerliche Dreier-Koali-tion mit demkonservativenParteichef JanSyse (Foto) alsRegierungschefhat gestern inNorwegen dieRegierungsge-schäfte über-nommen unddamit fünf Wo-chen nach denParlaments-wahlen im Sep-tember die sozialdemokratischeMinderheitsregierung Brundt-land abgelöst. Für die Realisie-rung ihres Koalitionsprogrammsist die aus Konservativen,Christlicher Volkspartei undZentrumspartei bestehendeKoalitionsregierung auf die Un-terstützung der rechtspopulisti-schen Fortschrittspartei ange-wiesen, da sie nur über 62 von175 Mandaten verfügt.

ASU auch für Kat-Autos?Autos mit Drei-Wege-Katalysa-tor sollen nach Ansicht desFDP-FraktionsgeschäftsführersWolfgramm ebenfalls in die Ab-gassonderuntersuchungspflicht(ASU) eingebunden werden. Dasich die Zahl dieser Fahrzeugerasch erhöhe, so Wolfgramm inBonn, sei auch für sie eine regel-mäßige Abgaskontrolle notwen-dig. Der alternative Verkehrs-club der Bundesrepublik (VCD)hat die FDP-Initiative begrüßt.

,Kaum Zugang zur Jugend'Junge Menschen finden sich mitihren Anliegen bei den großenParteien kaum noch wieder.Dies ist die Einschätzung desVorsitzenden der Jungen Uni-on, Bohr. Seit dem Abebben derJugendprotestwelle Anfang der80er Jahre hätten die Parteienden Zugang zu den Jugendli-chen „fast vollkommen verlo-ren". ••• -

Chefankläger wird 90Die Verfolgung und Verurtei-

lung von Nazi-Verbrechernbestimmte dengrößten Teil desLebens von Ro-bert W. Kemp-ner, der heute90 Jahre altwird. Der inFreiburg gebo-rene Jurist hatsich als wich-tigster Anklä-ger bei den

Nürnberger Prozessen (1946)einen Namen gemacht.

Tiefflüge bedrohen InnuDie Gesellschaft für bedrohteVölker in Göttingen hat dieBundesregierung aufgefordert,die angestrebte Verlagerung derTiefflüge nicht einem der letztenJägervölker, den Innu auf derkanadischen Halbinsel Labra-dor, aufzubürden. Dieses nurzehntausend Menschen zählen-de Volk könne sich nicht dage-gen wehren.

Christa Wolf sagte abDie Ostberliner SchriftstellerinChrista Wolfkann nicht zurEntgegennah-me der ihr ver-liehenen Eh-rendoktorwür-de der Hoch-schule in Hil-desheim reisen.Die Autorinnannte „fami-liäre Gründe",die eine Anrei-se unmöglichmachten. Die Hochschule Hil-desheim wollte Wolf für ihreherausragenden literarischenLeistungen würdigen.

„Rabiate Methoden"Vor einem Mißbrauch der Pres-sefreiheit durch Sensationsjour-nalismus hat der FDP-Vorsit-zende Lambsdorff gewarnt.„Wenn einige Journalisten zubesonders rabiaten Methodengreifen, die weit über ihre be-rufsbedingte Informationspflichthinausgehen, gefährden sie dasAnsehen der Presse insgesamtund das Verständis in der Ge-sellschaft für eine der wesentli-chen Grundfreiheiten", sagteLambsdorff gestern in Bonn.

DDR / Schriftsteller, Studenten, Theaterschaffende

Rufe nach Reformen immer lauterBerlin (AP/dpa). Der Druck

auf,die SED-Führung, endlicheine Reformpolitik einzuleiten,wird immer größer. Gestern riefder DDR-Schriftstellerverbanddie Staatsführung gestern öf-fentlich zu „revolutionären Re-formen" auf. Besorgte Äußerun-gen dürften jetzt „nicht mehrunterdrückt und kriminalisiert"werden. Zugleich rügten dieAutoren die „unerträgliche Ig-noranz" der Medien und forder-ten den „sofortigen Beginn" desDialogs über „Gleichgültigkeit,Verantwortungslosigkeit, Miß-wirtschaft und Bevormundung".

Gewerkschaftschef Tisch sag-te in einem Interview: „Die Stim-mung unter den Kollegen hatsich verändert. Darauf müssenwir reagieren. Wenn wir .dasnicht tun, machen es andere." Erwarnte allerdings vor über-stürztem Handeln, sonst „kanndas Schiff stranden".

In Ostberlin nahmen amSonntag abend zwischen 3000und 4000 Menschen an einem„Konzert gegen Gewalt" in derErlöserkirche teil. Dabei wurde

auch ein Brief an den Rektor derHumboldt-Universität verlesen.Er wurde aufgefordert, die ange-drohten Entlassungen von Stu-denten zurückzunehmen, die anden Protesten für demokrati-sche Reformen teilgenommenhatten.

Jurastudenten .. verlangtenbeim Konzert eine Überprüfungaller DDR-Gesetze auf ihre Ver-fassungsmäßigkeit. Eine unab-hängige Untersuchungskom-mission solle das Verhalten derDDR-Sicherheitskräfte bei denMassenprotesten prüfen. DieStudenten kündigten an, einenautonomen Studentenbund zugründen.

Demo soll angemeldet werden

Ein Sprecher des DDR-Ver-bands der Theaterschaffendenerklärte in der Erlöserkirche,sein Verband wolle zum 4. No-vember eine Demonstration fürPressefreiheit im anderen deut-schen Staat beantragen.

Vertreter der Sektion Rock

des Verbandes der Unterhal-tungskünstler wurden gesternbei FDJ-Chef Eberhard Aurichvorstellig. Sie berichteten überRepressionen des Staates gegenKünstler, die die kritische Un-terhaltungskünstler-Resolutionfür Reformen unterschriebenhaben.

Zugleich wurde kritisiert, daßfestgenommene Bürgerinnenund Bürger nach den Demon-strationen Anfang des Monatsgezwungen wurden, stunden-lang, zum Teil unbekleidet, be-wegungslos mit dem Gesicht zurWand zu stehen. „Dieses Vorge-hen widerspricht völlig denNormen sozialistischer Rechts-staatlichkeit," hieß es.

Nach Informationen der„Bild"-Zeitung haben inzwi-schen 13 der 15 SED-Bezirks-chefs die Ablösung des gesam-ten Politbüros mit Erich Ho-necker an der Spitze gefordert.Zugleich setzten sie sich fürweitreichende Reformen in derDDR ein, berichtet „Bild" unterBerufung auf „wohlinformierteSED-Kreise".

Brandt für „Recht auf nationalen Zusammenhalt"Moskau (dpa). Politische Re-

formen und das „Recht auf na-tionalen Zusammenhalt" hat derVorsitzende der sozialistischenInternationale (SI), Brandt, ge-stern in Moskau angemahnt, umdem' Massenexodus von Bür-gern der DDR und anderen Staa-ten Osteuropas in den Westenzu begegnen. „Wenn nicht über-all in Europa dem Anspruch derBürger auf Teilhabe und Mit-sprache Rechnung getragenwird, dann - so ist zu befürchten

- werden wir Wanderungswel-len erleben, die alles in denSchatten stellen, was wir schonerfahren mußten", sagte der Eh-renvorsitzende der SPD vor Stu-denten und Professoren derMoskauer Lomonossow-Uni-versität, die Brandt die Ehren-doktorwürde verliehen hatte.

Indessen brachte der für in-ternationale Fragen zuständigeZK-Sekretär Falin vor Journali-sten seine Überzeugung zum

Ausdruck, daß in der DDR baldEntscheidungen zugunsten vonReformen gefällt werden könn-ten. „Die Entwicklung ist sehrdynamisch, was die DDR an-geht", sagte er im Anschluß andie Festveranstaltung mitBrandt. „Eine Gesellschaft, diesolide Grundlagen besitzt, wirdeinen kreativen Ausweg aus derSituation finden. Die Entschei-dungen werden nicht lange aufsich "warten lassen", fügte erhinzu.

/

*'- f.'

ZWEI REGIERUNGSDIREKTORINNEN teilen sich Elke Nellessen (rechts) zu Hauptdezernentin-eine leitende Funktion in der Behörde des Köl- nen für Schulrecht, Schulverwaltung und Kir-ner Regierungspräsidenten. Behördenchef chensachen. Beide Frauen arbeiten wegen fami-Franz-Josef Antwerpes machte Elke Heine und lären Verpflichtungen halbtags. (dpa-Funkbild)

„Dämpfer für Übernahmehysterie nicht unwillkommen"

Bonn beruhigt: Wirtschaftliche Daten stimmenFortsetzungDer internationale Kursrutschwird von der Bundesregierungnur als kurzfristiges Phänomeneingestuft. Sowohl in der Bun-desrepublik als auch in anderenwichtigen Industrieländern sei-en die ökonomischen und fi-nanzwirtschaftlichen Daten sorobust, daß die Anleger keinenGrund zum Ausstieg hätten, er-klärten die Bonner Staatssekre-täre Schlecht (Wirtschaft) undTietmeyer (Finanzen) gestern inBonn.

Nach Angaben Schlechtskönnte es zu dem „nicht unwill-kommenen Nebeneffekt kom-men, daß die Übernahmehyste-rie einen kleinen Dämpfer er-hält". Er spielte damit auf diemassiven Firmenaufkäufe in denUSA und die dadurch ausgelö-ste neue Baisse an. Als störendnannte er die Beobachtung, „daßda jetzt einige Kleine aus Sorgenaussteigen und die professionel-len Cleveren anschließend dieGewinne machen". Da die wirt-schaftlichen Daten aber stimm-

ten und auch der Rentenmärktin guter Verfassung sei, gebe esfinanz- und geldpolitisch keinenGrund zum Gegensteuern,meinte Tietmeyer.

US-Präsident George Bush istüber die Entwicklung an den in-ternationalen Börsen ebenfalls„nicht besorgt". Bush verwiesam Montag auf entsprechendeFragen darauf, daß die US-No-tenbank, der Finanzministerund die Börsenaufsicht die Ent-wicklung beobachteten.

Vermutlich Killerkommando der kolumbianischen Drogenmafia

Autobombe vor Verlagshaus tötet vier MenschenBogota (dpa). Ein mutmaßli-

ches Killerkommando der Dro-genmafia hat am Montag mit ei-nem Bombenanschlag auf dasGebäude der Zeitung „ Vanguar-dia liberal" in der kolumbiani-schen Stadt Bucaramanga meh-

rere Menschen getötet. Nachersten Informationen kamendurch die Bombe, die in einemvor dem Gebäude geparktenAuto hochging, mindestens vierMenschen ums Leben. Zehn sei-en verletzt worden.

Das Gebäude der Tageszei-tung, die den Kampf der kolum-bianischen Regierung gegen dasDrogenkartell im Land ener-gisch unterstützt, wurde nachAngaben des Verlagsdirektorszu 80 Prozent zerstört.

Ägypten, Libyen

Gipfel zurVersöhnung

KSZE-Treffen/Bulgarien

Bonn tritt fürBürgerrechte ein

Kairo (AP/dpa). Mit einer de-monstrativen Geste habenÄgyptens Staatschef Mubarakund Libyens RevolutionsführerGaddafi gestern zum Ausdruckgebracht, daß nach jahrelangemschweren Zerwürfnis ein neuesKapitel in den Beziehungen bei-der Länder beginnt. Mubarak,der Gaddafi in dem ägyptischenMittelmeer-Badeort Mersa Ma-truh am Vormittag herzlichempfangen hatte, wird heutenach. Libyen reisen, wo imGrenzort Tobruk die Beratun-gen fortgesetzt werden.

Nach sechsstündigem Aufent-halt Gaddafis in Mersa Matruhwar die erste Phase der Gesprä-che abgeschlossen worden. Eswar das erste ägyptisch-libyscheGipfeltreffen seit 17 Jahren. DieBeziehungen hatten sich ver-schlechtert, weil Ägypten sichweigerte, mit Libyen einen Staa-tenbund einzugehen. 1977 kames sogar zu einem fünftägigenGrenzkrieg. Auch das entspann-te Verhältnis Ägyptens zu Israelist Gaddafi ein Dorn im Auge.

Sofia/Bonn (dpa). Die Bundes-regierung hat die Situation derMenschenrechte in Bulgarienund Rumänien kritisiert. „DieLage der türkischen Minderheitin Bulgarien gibt Anlaß zur Sor-ge", sagte Umweltminister Töp-fer am Montag in der bulgari-schen Hauptstadt Sofia. Ersprach zur Eröffnung des erstenUmwelttreffens der 35 Länderder Konferenz über Sicherheitund Zusammenarbeit in Europa(KSZE). Gleichzeitig mahnte erauch das Recht bulgarischerBürger an, sich in Vereinen undGruppen selbstständig zusam-menschließen zu dürfen, was ih-nen bisher verweigert wird.

Töpfer traf am Rande der Kon-ferenz zu einer 90minütigen Un-terredung mit seinem DDR-Kol-legen Reichelt zusammen. Wiedas Bonner Umweltministeriummitteilte, hätten beide Ministerin dem Ziel übereingestimmt, inSofia eine Rahmenkonventionüber den Schutz grenzüber-schreitender Gewässer zu ver-abschieden.

Koalitionsspekulationen

Bayerns SPD überAnke Fuchs verärgert

München (dpa). Mit deutlicherVerärgerung hat Bayerns SPD-Chef Rudolf ..Schc-ftierger amMontag auf Äußerungen vonSPD-BundesgeschäftsführerinAnke Fuchs reagiert, die nachden Landtagswahlen 1990 inBayern zur Abwehr der Repu-blikaner eine große Koalitionaus CSU und SPD für möglichhält. Schöfberger forderte FrauFuchs auf, „ihre Spekulationenunverzüglich einzustellen".SPD-Fraktionschef Karl-HeinzHiersemann, Spitzenkandidatbei der Landtagswähl, verbatsich die „Einmischungsversu-che der Bundesgeschäftsführe-rin in bayerische Angelegenhei-ten" und stellte die Frage, „obFrau Fuchs nichts anderes zutun hat".

Die Koalitionsdiskussion zumjetzigen Zeitpunkt kommt derSPD-Spitze zwar ungelegen, beider Basis der Partei aber wirdein Bündnis CSU/SPD offenbarweniger negativ bewertet. Fürden Fall, daß die FDP dem Land-tag im Oktober 1990 wieder

nicht angehören wird und dieCSU ihre absolute Mehrheitverliert, befürworten nach einerjüngsten Umfrage der BonnerParteiführung in Bayern etwavier Fünftel der SPD-Anhängereine Große Koalition.

Auch bei den CSU-Anhän-gern sind nach der jetzt in Teilenbekanntgewordenen, aber vonder SPD noch nicht veröffent-lichten Umfrage bei dieser Kon-stellation rund zwei Drittel fürdie Große Koalition.

Wären jetzt Wahlen in Bay-ern, würde äte CSU nach derSPD-Umfrage erstmals seit 24Jahren mit 48 Prozent ihre abso-lute Mehrheit knapp verlieren.1986 kam sie noch auf 55,8 Pro-zent. Die SPD würde ihr Ziel,stärker zu werden, verfehlenund wieder nur 27 Prozent er-reichen. Die Grünen blieben mitsieben-Prozent auch in etwagleich, die FDP käme mit sechsProzent knapp ins Parlament,und die Republikaner würdenmit zehn Prozent erstmals in denbayerischen Landtag einziehen.

NRW / Bürgermeister im Oberbergischen

Grüne wählten CDU-Mann mitHückeswagen (dpa). Zum er-

sten Mal in Nordrhein-Westfa-len ist ein CDU-Kandidat mitden Stimmen der Grünen zumBürgermeister gewählt worden:17 Gemeinderäte votierten imoberbergischen Hückeswagenfür den alten und neuen Bürger-meister Manfred Vesper.

Im Rat hat die CDU 14 Sitze,die SPD zwölf, die Grünen drei,die FDP zwei und eine Unabhän-gige Wählergemeirischaft zweiSitze. Grünen-FraktionschefWolfgang Herr sagte, die Grü-nen hätten geschlossen für Ves-per gestimmt.

Der Wahl war ein tagelanges

Tauziehen zwischen der lokalenCDU und der nordrhein-westfä-lischen Landespartei vorausge-gangen, in das sich auch CDU-Landeschef Blüm eingeschaltethatte. Nach den Kommunal-wahlen am 1. Oktober hattensich CDU und Grüne daraufverständigt, daß die Union - mitden Stimmen der Grünen - denPosten des Bürgermeisters unddie Grünen - mit den Stimmender CDU - den Vorsitz des Um-weltausschusses bekommensollten. Dagegen pochte die Lan-des-CDU in Düsseldorf auf denUnvereinbarkeitsbeschluß, derBündnisse mit Grünen und Re-publikanern ausschließt.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureChef vom Dienst: Horst Kröninger. ChefNachrichten: Rainer Merforth. Politik: Jo-chen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden, Kultur: Dirk Schwarze, Frauu. Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wie-semann, i. V. Ulrich Fuhrmann. Sonntags-zeit: Frank Thonicke. Kassel Stadt undLand: Wolfgang Rossbach. Bezirksredak-tionen: Peter M. Zitzmann. Koordination:Helmut Lehnart.' Hessen/Niedersachsen:Eberhard Heinemann. Chefreporter' Karl-Hermann Huhn. Sonderthemen: PeterOchs.

Redaktion Wiesbaden: Rolf EffenbergerRedaktion Hannover. Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter: Horst Prehm.Vertriebsleiter. Gerd Lühnng.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61/20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61 / 20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer 05 61 /20 36. Teletex5 618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7 % MwSt. (Postbezugs-preis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.

Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.Herstellung Druckhaus Dierichs,Frankfurter Straße 168, 3500 Kassel.

Page 23: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 242 Hessen Dienstag, 17. Oktober 1989

Gemeinsame Richtlinien für Polizei und Staatsanwaltschaften

Hessen will in StrafverfahrenZeugen künftig besser schützenVon unserer Wiesbadener Redaktion

Wiesbaden (Eff). Zum Schutz von Zeugen in Strafverfahren hat Hessen als erstesBundesland gemeinsame Richtlinien für Polizei und Staatsanwaltschaften erlassen. Dasteilten gestern Innenminister Müde (CDU) und Justizminister Koch (CDU) mit.

Die planmäßige Einschüchte-rung von Zeugen durch organi-siert vorgehende und gewalt-bereite Täter dürfe in einemRechtsstaat nicht tatenlos hin-genommen werden, erklärtendie beiden Minister. In Ermitt-lungsveriahren gegen Schwer-kriminelle weigerten sich näm-lich zunehmend.Zeugen aus be-gründeter-Angst vor Repressa-lien, ihr-Wissen preiszugeben.

Die Zeugenschutzregelungensehen u. a. vor, daß die zustän-dige Dienststelle von Polizeioder Staatsanwaltschaft in Fäl-len schwerer Kriminalität künf-tig eigene Gefahrenermittlungenanstellt und die konkrete Ge-fährdungslage für Zeugen, zudenen auch das Opfer einerStraftat zählen könnte, beurteilt

und die entsprechenden Schutz-maßnahmen festlegt.

Sie können nach Angaben derMinister von der Beratung desBetroffenen über Vorkehrungenin seinem gewohnten Umfeld undbei Gerichtsverhandlungen biszu tiefgreifenden Änderungen impersönlichen Leben reichen.„Gefährdete Zeugen sollen wis-sen, daß Polizei und Justiz zuihrem Schutz bereit und in derLage sind", betonten beide.

Über die Möglichkeiten desLandes zu praktischem Zeugen-schutz hinaus forderten Kochund Milde den Bundesgesetz-geber auf, in rechtsstaatlich ein-wandfreier Weise Möglichkeitenzur Verbesserung des Zeugen-schutzes in Strafverfahren zuprüfen. In Ausnahmefällen müs-

se das so weit gehen, daß Zeugenihre Identität gegenüber Ange-klagten und deren Sympathisan-ten nicht preisgeben müßten.

Grüne haben Bedenken

Erhebliche Bedenken gegendiese Richtlinien äußerte der in-nenpolitische Sprecher derLandtagsfraktion der Grünen,v. Plottnitz. Polizeiliche Schutz-maßnahmen könnten das Aus-sageverhalten der Betroffenen„auch vor Gericht in ganz er-heblicher Art und Weise beein-flussen". VerfassungsrechtlicheEinwände hat er auch gegenLandesregelungen. Für dieStrafprozeßordnung sei nämlichder Bund zuständig.

Das traditionelle Lullusfest begann in Bad HersfeldMit dem Anzünden des Lullus-feuers auf dem Marktplatz hat amMontag das älteste deutscheVolksfest, das Lullusfest, in BadHersfeld begonnen. Das Fest, dasseit 852 in der Woche um den

16. Oktober gefeiert wird, eröff-nete Erster Stadtrat Tilo Scheur-mann (SPD) in Vertretung des inder vorigen Woche zum ersten-mal abgewählten BürgermeistersBoehmer mit der ,fLollsrede", in

der er auf kommunale Ereignissedes Jahres einging. In dem Fest-zug unter dem Motto „Was ihrwollt und wie es euch gefällt" zogauch Stadtgründer Abt Lullus(Foto) mit. (dpa-Funkbild)

,Sozialen Mietwohnungsbestand absichern" Viele Verspätungen Revisionsfall lag einem unzuständigen Senat vor

DGB Hessen fordert Bauvon 48 000 Wohnungen

Frankfurt (lhe). Der DGB-Lan-desbezirk Hessen hat am Mon-tag in Frankfurt ein Wohnungs-bauprogramm für Hessen gefor-dert. Im einzelnen verlangte derDGB-Chef Jungmann den Bauvon mindestens 48 000 Woh-nungen in den nächsten drei bisvier Jahren; davon 25 000 im so-zialen Wohnungsbau. Die dafürnotwendigen Mittel müßten imkommenden Doppelhaushalt1990/91. bereitgestellt werden;auch Bund und Kommunenmüßten sich an der Finanzie-rung beteiligen. Jungmann

schätzt den Fehlbestand in Hes-sen auf 150 000 Wohnungen.

Die Gewerkschaften fordernParteien und Gesetzgeberaußerdem auf, für eine dauer-hafte Absicherung des sozialenMietwohnungsbestands, für dieFestlegung einer sogenanntenFehlbelegungsabgabe und fürein Verbot von „Mieterverdrän-gung per Zweckentfremdungund Luxusmodernisierung vonWohnungen" zu sorgen. Auchdürften Mieterhöhungen nichtüber den allgemeinen Preis-steigerungen liegen.

Blick über die GrenzeAuch bei Veranstaltungen in der Provinz

Rege Diskussionen überFluchtwelle aus der DDR

Weimar (k). DieFluchtwelle aus derDDR wird jetztauch zum Themabei offiziellen Ver-anstaltungen in derDDR-Provinz: BeiEinwohnerver-sammlungen inWeimar gab es eine„rege Diskussion"darüber, warum soviele junge Bürgerdas Land verlassen.

Nach Angabender thüringischenRegionalpresse sei-en sich die Versam-

Wartburg

Preisgestiftet

Eisenach. DieWartburg-StiftungEisenach hat einenEhrenpreis für her-vorragende Ver-dienste um diePflege und Erhal-tung der Wartburgsowie um die wei-tere Erhöhung ih-rer nationalen undinternationalenAusstrahlung ge-stiftet.

Er kann an Ein-zelpersonen, Kol-lektive und Betrie-be verliehen wer-den und ist mit5 000 Mark dotiert.Das Preisgeldkommt aus demKulturfonds derDDR.

melten darin einiggewesen, einen öf-fentlichen Dialogauf breiter Ebene zusuchen.

Der Sekretär fürKultur und Bildungder SED-Kreis-leitung stand beider VersammlungRede und Antwort.Er sagte, den „geg-nerischen Positio-nen müsse man„die erfolgreicheEntwicklung derRepublik entgegen-halten".

Gebäude

KeineReparaturen

Sondershausen.Der VolkseigeneBetrieb (VEB) Ge-bäudewirtschaft inSondershausen - erverwaltet den kom-munalen Woh-nungsbestand - istdurch chronischenArbeitskräfteman-gel nicht in derLage, dringend er-forderliche Repara-turen auszuführen.

Es fehlen Mau-rer, Klempner,Dachdecker undOfenbauer. ManhabeB nur zehnMaurer, müsseaber z. B. allein 400Balkons erneuernund 390 Schornst-einköpfe sanieren.

Auf einer ande-ren Diskussions-veranstaltung kriti-sierten Weimarerin Anwesenheit desOberbürgermei-sters, daß ihr kom-munalpolitischesEngangementdurch Behördenbehindert werde.Aktivitäten wie dasHerrichten einesverwahrlostenGrundstücks zueinem Spielplatzseien an der Büro-kratie gescheitert.

Zierpflanzen

Zentrum derForschung

Erfurt. Ein Wis-senschaftlichesZentrum der Zier-pflanzenforschungnimmt in Erfurt sei-ne Arbeit auf. Essoll zu einem besse-ren Zierpflanzen-angebot in der DDRbeitragen.

Neue Sorten

Schwerpunkt solldie AnwendungbiotechnologischerMethoden zurZüchtung neuerSorten sein.

In Erfurt,hat derGartenbau eine250jährige Tradi-tion.

Nebel legteFlughafen lahm

Frankfurt (lhe). Frühnebel hatam Montag den Flugverkehr aufdem Frankfurter Flughafen er-heblich behindert. Auf demVorfeld herrschte zeitweise eineSicht von unter 125 Metern. Diedichte Nebelwand, die sich inder Nacht über die Rhein-Main-Ebene gelegt hatte, hielt 20 Ma-schinen mit Ziel Frankfurt be-reits auf den Abflughäfen amBoden, teilte eine Flughafen-Sprecherin mit.

Von Frankfurt aus konnten23 Maschinen wegen der„Waschküche" nicht starten.21 Flugzeuge wurden wegen dergeringen Sicht auf Rhein-Mainnach Köln, Nürnberg und Stutt-gart umdirigiert. Betroffen vomNebel waren vor allem Maschi-nen kleinerer Fluggesellschaf-ten ohne Instrumentenlande-system. Nach einer Zwangs-pause konnten sie allerdings amspäteren Vormittag ihren Flugnach Frankfurt fortsetzen. DieSicht war gegen 10.45 Uhr wie-der ausreichend.

Trotzdem gab es bis in denspäten Nachmittag Verspätun-gen als Folge der Umleitungenund Flugstreichungen.

Straßenverkehr ungestört

Den Autoverkehr ließ der Ne-bel dagegen kalt. Auf den hessi-schen Autobahnen und Fern-straßen kam es nach Darstellungder Fernmeldeleitstelle der Poli-zei nur zu leichten Störungen.Staus an den „neuralgischenPunkten" im Großraum Frank-furt bewegten sich im „montags-üblichen Rahmen" und hättennichts mit dem Nebel zu tun ge-habt, erklärte ein Beamter.

BGH verschiebt Sare-VerhandlungKarlsruhe (lhe). Die für Mitt-

woch geplante Revisionsver-handung im Fall des 1985 beieiner Demonstration in Frank-furt tödlich verletzten GünterSare ist vom Bundesgerichtshofüberraschend auf unbestimmteZeit verschoben worden. Wieder Bundesgerichtshof am Mon-tag mitteilte, hat sich ergeben,daß der Fall einem unzuständi-gen Senat vorgelegen habe. Zu-ständig sei nicht der 2., sondern

Frankfurt / Drogen

der für Straßenverkehrsdeliktezuständige 4. Strafsenat beimBundesgerichtshof.

Das Landgericht Frankfurthatte im März 1988 nach neun-monatiger Verhandlung zweiPolizeibeamte vom Vorwurf frei-gesprochen, den 36jährigenGünter Sare mit einem Wasser-werfer bei einer Anti-NDP-Demonstration am 28. Septem-ber 1985 überfahren und damitfahrlässig getötet zu haben. Das

Gericht hatte sich dabei vor al-lem auf ein Tatortfoto gestützt,das die Angeklagten ursprüng-lich erheblich belastet hatte, vondem sich jedoch später heraus-stellte, daß die dort abgebildetePerson nicht Günter Sare gewe-sen sein konnte.

Gegen das Urteil der 31. Straf-kammer haben sowohl die An-wälte der Angehörigen Sares alsauch die Staatsanwaltschaft Re-vision eingelegt.

Verbrennungsanlage Spenden für Übersiedler

Schon mehr Anhörung DRK: Alle LagerTote als 1988 beginnt heute sind randvoll

Frankfurt (lhe). Die Todes-spirale in der FrankfurterRauschgiftsszene dreht sich im-mer schneller: Am Sonntag er-höhte sich die Zahl der Drogen-toten auf 61 in diesem Jahr, teil-te die Polizei am Montag mit.

Damit forderte der Drogen-mißbrauch in der Stadt schonjetzt genauso viele Opfer wie imganzen Jahr 1988. Bis MitteOktober 1988 hatte die Polizei„lediglich" 47 Drogentote regi-striert.

Bei dem letzten FrankfurterDrogentoten handelt es sich umeinen 36jährigen Mann, den amSonntagnachmittag Bekannte inseiner Wohnung im FrankfurterOstend tot auffanden. Der36jährige hatte sich ebenso wiesein 23jähriger Mitbewohnerkurz zuvor eine Dosis Heroingespritzt. Neben der Leichefanden Beamte frisch benutztesFixergeschirr.

Frankfurt (lhe). Für die neueRückstandsverbr^mungsanlageder Hoechst AG beginnt heutein Frankfurt das öffentliche An-hörungsverfahren. Nach Aus-kunft des Darmstädter Regie-rungspräsidiums gibt es gegendiese Anlage mehr als 2500 Ein-wendungen. Karlheinz Tro-bisch, der für das Ressort Um-welt beim Hoechst-Konzern zu-ständig ist, sagte am Montag, dieAnlage sollte dennoch „soschnell wie möglich aus Um-weltschutzgründen" gebautwerden.

Die Rückstandsverbren-nungsanlage soll eine Kapazitätvon rund 60 000 Tonnen Müllpro Jahr haben. Zusammen mitder seit 1977 laufenden erstenMüllverbrennungsanlage desKonzerns können nach Dar-stellung von Trobisch dannjährlich rund 100 000 Tonneneigener Müll verbrannt werden.

Frankfurt (lhe). Die Welle derHilfsbereitschaft für DDR-Über-siedler stellt das Rote Kreuz zu-nehmend vor Organisationspro-bleme. Die Lagerkapazitäten derDRK-Kreisverbände sind bis andie Decke mit Sachspenden, vorallem Möbeln, gefüllt.

„Besser Geld spenden"

Da die meisten Flüchtlingeaber noch keine Wohnung hät-ten, könnten die Spenden derzeitnicht weitergegeben werden,teilte der Landesverband amMontag mit. Auch die Kleider-kammern seien zur Zeit „gut aus-gestattet". Die Hilfsorganisationrät daher hilfsbereiten Bürgernvon Sachspenden ab.

Am besten, so das DRK, könneden Neubürgern aus der DDRmit einer Geldspende geholfenwerden.

Neue Kreisverbände Tagung in der Evangelischen Akademie Hofgeismar

„Graue" planenzügigen Ausbau

„Kirche ohne Diakonie ist keine Kirche"Wiesbaden/Offenbach (lhe).

Die Partei der Grauen will ihreOrganisationsstruktur in Hes-sen zügig ausbauen. Innerhalbder nächsten vier Wochen sol-len Kreisverbände in Wiesba-den, Darmstadt und Kassel so-wie in der Stadt Offenbach insLeben gerufen werden. Das kün-digte ein Sprecher der „Grauen"am Montag in Offenbach an.

Am Wochenende hatten sich- wie berichtet - Mitglieder ausHessen zu einem Landesver-band zusammengeschlossen.Zur Vorsitzenden der „GrauenHessen" wurde Ruth Wellbrock(64) aus Dieburg gewählt, teilteder stellvertretende LandesVor-sitzende Kurt Müller mit. Mül-ler, viele Jahre SPD-Mitgliedund in den 70er Jahren Bürger-meister der Gemeinde Hausen(Kreis Offenbach), hatte die SPDbereits im Sommer verlassen.

Die „Grauen" wollen schonbei der nächsten Bundestags-wahl kandidieren.

Hofgeismar. Die Kirche recht-fertigt sich vor den Kirchen-steuerzahlern überwiegend mitihrer sozialen Arbeit in der Dia-konie. Gleichzeitig wird abergerade dieser Bereich zu einemwesentlichen Teil mit öffent-lichen Geldern finanziert.

Über die Stellung der Diako-nie zwischen ihrem kirchlichenProfil und den durch die Fremd-finanzierung erwachsendenVorgaben und Anforderungendiskutierten jetzt bei einer Ta-gung der Evangelischen Akade-mie Hofgeismar Synodale, Mit-glieder der Kirchenleitung undRaupt- und ehrenamtlich in derDiakonie Tätige. Die Tagungsollte der Vorbereitung der imDezember stattfindenden Syn-ode der Ev. Kirche von Kur-hessen-Waldeck dienen.

Der enorme Ausbau derkirchlichen Sozialarbeit in denletzten Jahrzehnten wäre ohnedie breite staatliche Förderungfür die Freie Wohlfahrtspflegenicht möglich gewesen, gleich-

wohl führt die staatliche Sozial-planung zu immer engmaschige-ren Regelungen, die die Wohl-fahrtsverbände einengen.

Während für die stationärenEinrichtungen über zugesicher-te Pflegesätze der Kostenträgereine relative finanzielle Absi-cherung besteht, ist dies im am-bulanten Bereich oft nicht derFall. Wie Günter Grosse, Ge-schäftsführer des DiakonischenWerks Kassel-Stadt, -Land undKaufungen, anmerkte, muß erfür seine Einrichtungen mit41 verschiedenen Stellen überZuschüsse verhandeln, die oftals sogenannte freiwillige Lei-stungen, jederzeit gekürzt wer-den können.

Auch wenn viele Aufgabenzwischen den Kommunen undder Diakonie gleichermaßen an-erkannt werden, scheitert ihreAusführung doch oft an fehlen-den Mitteln. Auf die „öffentlicheArmut" vieler Gemeinden undStädte wies Anneliese Wolf,Leiterin des Kasseler Sozial-

amts, hin. Durch die Belastungder Kommunen mit den Folgender Arbeitslosigkeit in Form vonSozialhilfeleistungen, bleibehier nur ein enger Spielraum.

Zur Durchsetzung aller So-zialrechtsansprüche gegenüberder öffentlichen Hand forderteDr. Heribert Renn, Jurist imDiakonischen Werk Hessen-Nassau, die Kirchen auf. Diessei insbesondere im Bereich derambulanten Dienste notwendig,um für die soziale und rechtlicheSicherung von alten, pflege-bedürftigen und sozial benach-teiligten Menschen nachhaltigeinzutreten.

Auf die weiter bestehende Be-deutung der Diakonie für dieArbeit der Kirche verwiesLandespfarrer Jürgen Gohdevom Diakonischen Werk inKurhessen-Waldeck hin. „Kir-che kann ohne Diakonie nichtKirche sein, denn sie verliertsonst die Bedürftigen aus denAugen", sagte Gohde.

Claus-Dieter Suß

Page 24: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMEINEUNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 243 • Mittwoch, 18. 10. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Wohnen/Sport

EndlichFrieden?

Sportliche Aktivitä-ten sollen auch künf-tig in Wohngebietenmöglich sein. Bei derRichterwoche desBundessozialgerichtskündigte Innenmini-ster Schäuble (Foto)noch für diese Legisla-turperiode bindendeRegelungen für Ge-richte und Verwal-tung an. Siehe Sport.

Altstadt gesperrt

Chaos inMünchen

In München ist demAuto in der Innen-stadt der Kampf ange-sagt worden. Gesternwurden die letztenSchleichwege durchdie Altstadt gesperrt.Die Folge: ein Ver-kehrschaos. 10 000Autofahrer standenim Stau. Siehe „Blickin die Zeit" und Kom-mentar.

Gefäßsport

Gehenüben

Neuartige Hilfe fürMenschen mit Arte-rienverschlüssen inden Beinen bietet eine„Gefäßsportgruppe",die in Kassel vomSpezialisten Prof.Gruß in Zusammen-arbeit mit der GhKeingerichtet wurde.Betroffene trainierendort ihre Gehfähig-keit. Lokales.

Scannerkassen

Irrtummöglich

Auch Computer-kassen sind fehlbar.Das stellten die Ver-braucherverbändefest, als sie Scanner-kassen in 80 Läden-überprüften. Man-gelnde Preisauswei-sung an den Regalenerschwere dem Kun-den zudem die Kon-trolle. Siehe Wirt-schaft.

Musiktage 1989

Mozartin Kassel

1991 feiert alleWelt Mozart zum200. Todesjahr. Kas-sel, genauer: die Kas-seler Musiktage vom26. bis 29. Oktober,tun es schon 1989 un-ter dem Motto „Mo-zarts letztes Jahr".Die Oper „La clemen-za di Tito" und dasRequiem sind die Hö-hepunkte. Kultur.

Wochenendjobs

Metallersagen nein

In einer gesternveröffentlichten Um-frage der IG Metallhaben sich über 95Prozent der Metallar-beitnehmer gegen re-gelmäßige Wochen-endarbeit ausgespro-chen. Die Arbeitgebersprachen von „Irre-führung". Siehe Wirt-schaft und Kommen-tar.

Borken / Ermittlungen eingestellt

Katastrophe warnicht vorhersehbarVon Chefreporter Karl-Hermann Huhn

Kassel. Es gibt keinen Schuldigen für das Borkener Berg-werksunglück, die Explosion, bei der am 1. Juni 1988 in derBraunkohlengrube Stolzenbach im Schwalrrf-Eder-Kreis 51Bergleute ums Leben kamen. In ihrer Brisanz bis dahin vonden Experten nicht erkannte Feinstaubablagerungen führtenzur Katastrophe. Die Kasseler Staatsanwaltschaft hat dasErmittlungsverfahren deshalb eingestellt.

In Borken werden dies heutedie Angehörigen der getötetenKumpel und die sechs aus demKatastrophen-Schacht noch ge-retteten Bergleute in einer vonder Grubenleitung ausgerichte-ten Zusammenkunft offiziell er-fahren. In einer Pressekonferenzam Dienstag erläuterte die Kas-seler Staatsanwaltschaft das Er-gebnis des Ermittlungsverfah-rens.

Bis dahin undenkbar

Eine „betriebsbedingte übli-che Ausbausprengung" hat am1. Juni 1988 die Kohlenstaubex-plosion gezündet, ein Ereignis,das nach dem Stand der Wissen-schaft bis dahin undenkbar ge-wesen sei. Fünf Experten-Teamsund neun Gutachter waren zurKlärung des Falles zugezogenworden. In mehreren Institutenim Ruhrgebiet gab es Spreng-

versuche. Gleichzeitig seien, sodie Staatsanwaltschaft gestern,alle anderen anfangs erörtertenUrsachen durch sofort nach derKatastrophe gestartete Ermitt-lungen ausgeschlossen worden.

In mehr als 30jähriger Berg-baupraxis habe es im Braunkoh-lentiefbau - auch in Stolzenbach1966 und '67 - nur Brände gege-ben, hieß es gestern. Darauf hät-ten sich sämtliche Schutz- undSicherungsmaßnahmen gerich-tet. Sie seien vor Ort, so Staats-anwalt Dietmar Schaub als zu-ständiger Dezernent der Kasse-ler Ermittlungsbehörde, „aufdem modernsten Stand gewe-sen."

In Stolzenbach jedoch hattesich, von den Bergleuten uner-kannt, in der Pfeilerstrecke 5West im Lauf des mehrjährigenAbbaus ein neuartiger Explo-sionsherd gebildet.Fortsetzung nächste Seite

Junge Demonstranten Polen / Düsseldorf

Haftstrafenin Dresden

Berlin (AP). Ein Dresdner Ge-richt hat nach einem Bericht derOstberliner Jugendzeitung„Junge Welt" drei junge Demon-stranten zu Haftstrafen zwi-schen dreieinhalb und vierein-halb Jahren verurteilt. NachAngaben des Blattes vom Diens-tag hatten die drei Männer inder Nacht zum 5. Oktober ver-sucht, auf dem Dresdner Haupt-bahnhof auf einen der Züge auf-zuspringen, mit denen die DDR-Flüchtlinge aus der Bonner Bot-schaft in Prag ins Bundesgebietgefahren wurden. Tausendestanden an diesem Tag vor demBahnhof. Dem Bericht zufolgebeteiligten die jungen Leute sichan Ausschreitungen und Ge-walttätigkeiten, weil die Bahn-steige abgeriegelt waren.

Das Gericht begründete dieStrafen mit „Rowdytum in Tat-einheit mit Zusammenrottungsowie Widerstand gegen staatli-che Maßnahmen". Zusätzlichsei gegen die Verurteilten eineGeldstrafe von 1000 (DDR-)Mark verhängt worden.

125 Flüchtlingeeingetroffen

Düsseldorf (dpa). Die erstenDDR-Flüchtlinge, die Polen aufdem Luftweg verlassen haben,sind gestern abend in Düsseldorfeingetroffen. Etwa 125 Men-schen waren in einer Maschineder polnischen FluggesellschaftLOT. Der nordrhein-westfäli-sche Sozialminister Heinemannbegrüßte sie am Flughafen. Da-bei dankte er Warschau für diehumanitäre Haltung. Omnibus-se des Bundesgrenzschutzesbrachten die Ankommenden so-fort in das NotaufnahmelagerSchöppingen.

Die Menschen hatten im Rah-men einer neuen Prozedur amMontag und Dienstag die nöti-gen Ausreisedokumente vonder DDR-Botschaft in Warschauerhalten. Während die 125DDR-Flüchtlinge Polen verlie-ßen, meldeten sich seit Montagabend etwa 180 Neuankömm-linge bei der Bonner Mission inWarschau. Die Zahl der noch inPolen verbleibenden Flüchtlin-ge aus der DDR beträgt nachletzten Angaben mehr als 1500.

Auftakt zur 2. Pokalrunde: Dortmund nur 1:1 gegen GenuaIn der zweiten Runde im Euro- gegen das favorisierte Team von nachdem Wegmann in der 64.papokal der Cupgewinner ver- Sampdoria Genua nur knapp Minute die Führung erzielt hat-paßte Borussia Dortmund ge- den Sieg. In der vorletzten Mi- te. Auf unserem Bild verfehlenstern abend vor 45 000 Zu- nute kassierten die Gastgeber Mannini (links) und Mill einenschauern im Westfalenstadion den Ausgleich durch Mancini, Flankenball. (dpa-Funkbild)

10 000 demonstrierten in Dresden

Diskussion mit OB erzwungenBerlin (AP/dpa). Rund 10 000

Demonstranten haben am Mon-tagabend eine öffentliche Dis-kussion über demokratische Re-formen mit dem DresdenerOberbürger-meister Wolf-gang Berghofer(Foto) erzwun-gen. Die Men-schenmengehatte sich vordem Rathausangesammelt,wo Berghoferzu dieser Zeitmit Vertreternvon Demon-stranten ein In-formationsgespräch führte. DieMenge rief immer wieder: „Jetztund hier". Lautstark fordertensie Meinungs- und Versamm-lungsfreiheit sowie die Zulas-sung der verbotenen Demokra-tiebewegung Neues Forum.

Berghofer sprach schließlichvom Balkon des Rathauses überMegaphon zu den Demonstran-ten und kündigte dabei eineFortsetzung des „gewaltfreienDialogs" mit den Oppositionel-len an. Er erklärte allerdingsauch, daß es weiterhin keineAnerkennung des „Neuön Fo-rums" geben werde.

Berghofer hatte zwei Stundenmit der „Gruppe der 20", wie dieSprechergruppe der Oppositio-nellen genannt wird, über einen

Weitere Berichte aus der DDR fin-den Sie auf der Seite „Themen desTages".

Zehn-Punkte-Katalog disku-tiert, in dem unter anderem freieWahlen, Presse-, Meinungs-und Reisefreiheit verlangt wur-den. Ein Sprecher anschließend:„Wir haben mit Bedauern zur

Kenntnis nehmen müssen, daßder Oberbürgermeister uns kei-nen eigenen Status zugesicherthat, weil wir sonst seiner Aus-kunft nach als Opposition staat-lich anerkannt würden".

Das „Neue Forum" ist nacheigenen Angaben inzwischenerstmals offiziell in einer DDR-Großstadt „toleriert" worden.Wie Mitinitiatoren des „NeuenForums" gestern aus Potsdammitteilten, sei dies Ergebnis ei-nes Gesprächs vom Vortag.Daran nahmen neben „Forum"-Vertretern Kirchenleute, derOberbürgermeister und Vertre-ter staatlicher Organisationenteil. Die Gesprächsrunde sei aufInitiative des 1. Sekretärs derSED-Kreisleitung, Heinz Viet-ze, zustande gekommen. Bemü-hungen um eine „Legalisierung"des „Neuen Forums" würden inder Bezirksstadt fortgesetzt.Fortsetzung nächste Seite

Brandt erwartet schnelle Reformen in der DDRMoskau (dpa). Der Vorsitzen-

de der Sozialistischen Interna-tionale (SI), Willy Brandt erwar-tet in der DDR „Reformen inkürzester Zeit, schon um dieMassenflucht zu Ende zu brin-gen". Nach einem rund zwei-stündigen Meinungsaustauschmit dem sowjetischen Staats-und Parteichef Gorbatschowsagte Brandt, er habe den Ein-druck gewonnen, daß Gorba-

tschow seine Bewertung derProbleme in der DDR teile. „Esgibt eine starke Berührung inder Einschätzung, daß nicht ma-teriell-ökonomische Gründe amvordringlichsten sind, sonderndie Probleme des Verhältnissesdes Bürgers zum Staat, dem An-spruch mündiger Bürger an denStaat", erklärte der Sl-Chef. Erwarnte davor, die in Gang ge-kommenen Reformprozesse in

der DDR „durch unzweckmäßi-ge Interventionen" von außen zustören.

In Bonn hat SPD-Chef Vogelpersonelle Veränderungen inder DDR-Führung sowie wirkli-che Reformschritte gefordert.Die SED-Spitze täusche sich,wenn sie glaube, den Reformpro-zeß mit halbherzigen Zugeständ-nissen, aber alten Formeln undParolen bremsen zu können.

Zum Tage

Nase vollFragt man einen Politiker, was erpersönlich und seine Partei für denUmweltschutz tun, so wird er zueiner langen Rede ansetzen undüber „großartige Erfolge" berich-ten. Doch der Bürger, so scheintes, hat zu verstehen gelernt: „Erfol-ge", heißt im Klartext „Kompromis-se", und Kompromisse beim Um-weltschutz sind leider nur allzuofthalbe Niederlagen.

In einer Allensbach-Umfrage zurUmwelt-Thematik (siehe Seite 2)bekamen die führenden Köpfe allerParteien derart schlechte Noten,daß man ihnen „blaue Briefe"schicken müßte. Gerade mal 28Prozent halten Minister Töpfer fürkompetent und engagiert - unddamit ist er sogar noch Spitzenrei-ter! Die. meisten bekannten Köpfeblieben deutlich unter 10 Prozent.

Sind sie wirklich so schlecht wieihr Ruf? Eine große Mehrheit, soscheint es, hat die Nase voll vonhalbherzigen Maßnahmen. Wiesonst käme die Umweltschutzor-ganisation Greenpeace auf 72 Pro-zent Zustimmung? Greenpeacehandelt, wo andere palavern,drumherumreden. Greenpeace-Leute scheren sich manchmal ei-nen Dreck um Verbote und um ihreeigene Gesundheit, wenn sie Um-weltskandale aufdecken. Es wirdsie freuen, daß die Nation hinterihren Aktivitäten steht. Auch wennnur wenige Bürger den Mut zumMitmachen finden. Bisher.

Peter Ochs

Studentenwerk ,

Fast 100 000„Buden" fehlen

Bonn (dpa). Von den 235 000Studienanfängern dieses Seme-sters sind Schätzungen zufolgenoch fast 100 000 auf der Suchenach einer Bleibe. Das DeutscheStudentenwerk forderte gesternein koordiniertes Vorgehen vonBund und Ländern in dieser Fra-ge. In den nächsten Jahren müß-ten mindestens 50 000 neueWohnungen mit vertretbarenMieten für Studenten errichtetwerden.

Übergangsquartiere, Sammel-schlafplätze, beheizte Zelte undBehelfswohnungen, wie jetztvom AStA der Universität Kielauf dem Segelschulschiff Passatangemietet, könnten nur vor-übergehend helfen, sagte Stu-dentenwerks-GeneralsekretärBachmann.

Der Kanzler und alle Politikerhätten das Problem zwar er-kannt, auch mit Appellen dazubeigetragen, letzte Reserven zumobilisieren, jedoch sei dies al-les „nur ein Tropfen auf den hei-ßen Stein" geblieben.

Salzgitter-Erlös

Bonn denkt anUmweltstiftung

Bonn (dpa). Die Bundesregie-rung will Anfang nächsten Jah-res eine großangelegte Umwelt-stiftung gründen. Sie soll mitzwei Milliarden DM ausgestat-tet werden. Das Geld kommtvon der Privatisierung des bun-deseigenen Salzgitterkonzerns,der an die Preussag AG (Hanno-ver) verkauft werden soll. ImBundesfinanzministerium wur-den gestern entsprechende Zei-tungsberichte bestätigt. Der Sitzder Stiftung soll Niedersachsensein. Sie soll mit jährlich minde-stens 150 Millionen DM Projek-te zur Erforschung und Ent-wicklung umweit- und gesund-heitsfreundlicher Produkte för-dern. Vor allem solle der Mittel-stand bedacht werden.

Page 25: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 243 Themen des Tages Mittwoch, 18. Oktober 1989

Die Last mitden Umfragen

fir leben im Zeitalter der Mei-nungsumfragen. Ständig sind dieBundesbürger auf dem laufenden,was die Mehrheit von ihnen zu wel-chem Thema auch immer zu sägenhat. Der Hintergrund dieser „Um-frageritis" ist so einfach wie ein-leuchtend: Das Ergebnis soll sug-gerierend wirken. Der geneigte Le-ser solcher Veröffentlichungen sollmöglichst dazu gebracht werden,so zu denken, wie die Mehrheitdenkt. Die Medien springen aufdiesen Zug der Zeit auf und veröf-fentlichen die Ergebnisse, stellensie doch - mit welcher Absichtauch immer die Umfrage selbst jnAuftrag gegeben wurde - einStück Meinungsvielfalt dar. •

Nicht immer aber ist es so sim-pel, eine Befragung als unvollstän-dig und deshalb nicht aussagekräf-tig zu entlarven wie die Umfrageder IG Metall zur Wochenendar-beit. Sie soll der Einstimmung aufdie Tarifauseinandersetzung imFrühjahr nächsten Jahres dienen,wenn die Forderungen nach der35-Stunden-Woche (Gewerk-schaft) und nach einer flexiblerenArbeitszeitgestaltung mit Sams-tagsarbeit (Arbeitgeber) aufeinan-derprallen werden.

Damit hat jedoch der Fragenka-talog nur am Rande zu tun. DieMetaller sind bewußt und gezieltnur auf regelmäßige Samstagsar-beit angesprochen worden. Dasüberwältigende „Nein" aus ihrenReihen ist da eine logische Folge -und sicher auf jeden anderen Berufübertragbar. Regelmäßige Sams-tagsarbeit wird jedoch im Kernnicht unter flexiblerer Arbeitszeit-gestaltung zu verstehen sein.Außerdem kann sie in Tarifverträ-gen ausgeschlossen werden.

Es wird leider nicht die letzteUmfrage dieser Art im Tarifkonfliktsein, mit der sich die Öffentlichkeitauseinandersetzen muß. Man wirdmerken: Für jede der Tarifforderun-gen wird es eine Mehrheit geben.Man muß nur die richtigen - oderfalschen? - Fragen stellen.

Horst Seidenfaden

Gestern München,morgen überall?t l s ist ein Teufelskreis. Berufs-pendler fahren mit ihren Pkw in dieInnenstädte, weil ihnen das Ange-bot mit Bussen und Bahnen nichtattraktiv genug ist. Das Angebotmit Bussen und Bahnen wiederumkann erst dann attraktiver werden,wenn genügend Leute damit fah-ren. Das Resultat sind Staus, hoff-nungslos verstopfte, zugeparkteStadtkerne, erfüllt zudem vom Mo-torenlärm und Abgasen. Oder wiees jetzt der Kommentator einerMünchner Zeitung als Vision vor-aussagte. Der Moioch Verkehr frißtsich selber, je mehr Autos fahren,desto mehr stehen sie.

Der Anlaß für diese Feststellungwar ortsgebunden aktuell. Diebayerische Landeshauptstadt hatjetzt zur Radikalkur gegriffen, umden Durchgangsverkehr, total ausder Innenstadt zu verbannen. DasChaos gestern bei der „Premiere"war zu erwarten, weil Vernunft of-fensichtlich nicht zu erwarten ist.

Und gerade diese resignierendeErfahrung ist es eben, die zu sol-chen radikalen Abwehrmaßnah-men zwingt. Das beginnt mit Ap-pellen, die ungehört verhallen, esfolgen von Jahr zu Jahr drastische-re Gebühren, Abbau von Park-raum. Und das Ende vom Lied sindgesperrte Stadtkerne.

Die Proteste sind programmiert.Der Einzelhandel fürchtet um seineUmsätze, das Aussterben der In-nenstädte wird nicht nur von ihman die Wand gemalt. Dabei fragtsich, ob die Städte nicht vielschneller an der Verkehrslawinezugrunde gehen, wenn man ihrnicht Einhalt gebietet.

Die „freie Fahrt für freie Bürger"hat ihre Grenzen erreicht. Der Tagist gekommen, wo man nicht län-ger nach dem St. Florians-Prinzipauf den Nachbarn zeigen kann,wenn an die Vernunft appelliertwird. Wer nicht bereit ist, dies ein-zusehen, der wird eben zu seinemund dem Glück aller gezwungenwerden müssen. München ist über-all. Wolfgang Rossbach

Das Zitat„Nicht jene bewirken Instabilität,die Freiheit und Selbstbestimmungfordern, sondern diejenigen, diesie verweigern."

Helmut Kohl

ARD und ZDF zeigten Ostberliner „Konzert gegen Gewalt"

Hinreißende WahrheitenVon unserem Redaktionsmitglied Dirk Schwarze

LJie ergreifendste Fernseh-sendung des Montagabendsstand in keiner Programmvor-schau: Spontan hatten sich diePlaner bei ARD und ZDF ent-schieden, zu mitternächtlicherStunde Ausschnitte von dem„Konzert gegen Gewalt" auszu-strahlen, das am Vorabendmehr als 3000 in der Ostberli-ner Erlöserkirche in den Banngezogen hatte. Es war trotzdemimmer noch zu wenig, was manzu sehen und zu hören bekam.

Was faszinierte eigentlichmehr: Diese fröhliche und soansteckende Zuversicht, diedie Rock- und Bardengarde derDDR mit dem Beatle-Song „Allwe are saying, lets give Peace aChance" (Wir sagen's immerwieder: Gebt dem Frieden eineChance) verbreiteten? Oder

war es der unbeugsame Mutder Sänger und Sprecher, diegeradeheraus ihre Kritik for-mulierten und die Resolutionenvortrugen? Oder imponierteeinfach dieser sprachlicheWitz, mit dem die „Alten" desSED-Regimes zum Reform-Dialog herausgefordert wur-den?

Schon wollte man gar nichtmehr die kurz zuvor gehörteMeldung glauben, daß immernoch Tausende über Polen undUngarn einem Land den Rük-ken kehren, in dem es eine sol-che geballte Kraft an Phantasiegibt. Und erst recht nichtmochten sich die Klagen der70er Jahre zusammenreimen,nach dem Exodus von Bier-mann und anderen Autoren seidie DDR geistig ausgeblutet.Offenbar sind da Dutzende von

Biermanns nachgewachsen.Die komponieren und textenfrisch und frech und leidennicht wie ihre westdeutschenKollegen darunter, daß sie mitjedem ihrer Beiträge ihre Exi-stenzberechtigung unter Be-weis stellen müssen. DieseDDR-Liedermacher und Kaba-rettisten machen den Mund füralle auf.

Nicht auf die Form kam eshier an, sondern auf die Wahr-heit. Und die war immer hinrei-ßend, ob sie nun ein Rocksän-ger formulierte oder ein real tä-tiger Stadtverordneter, der dieOpposition beschwor, nunnicht gleich auch alle 2,3 Mil-lionen SED-Mitglieder auszu-grenzen.

Eine Sternstunde - mit Si-cherheit nicht nur für unserFernsehen.

Offene Kritik von DDR-Gewerkschaftern

Arbeiter meldensich zu WortVon AP-Korrespondent Ingomar Schweiz

Neo-ägyptisch-libysch (Aus: Westdeutsche Allgemeine Zeitung /Pielert)

Landung der syrischen MiG wirft Fragen auf

Den Israelis stehendie Haare zu BergeVon dpa-Korrespondent Christian Fürst

Deer zierliche syrische Kampf-pilot Machmud Bassem Adellehrte die Israelis das Fürchten.Die abenteuerliche Flucht des33jährisen mit seiner MiG 23,die am Dienstag in der Luftwaffedes jüdischen Staates zu perso-nellen Konsequenzen führte,hat der Bevölkerung Israels ein-mal mehr vor Augen geführt,wie schnell hier eine militäri-sche Fehlentscheidung zur Ka-tastrophe führen könnte.

In guter Absicht

Das Wissen, daß eines derüber 650 syrischen Kampfflug-zeuge in weniger als zehn Minu-ten die von der Grenze 150 Kilo-meter entfernte Hauptstadt Je-rusalem erreichen kann, ließden stets alarmbereiten Israelisnachträglich die Haare zu Bergestehen. Daß Pilot Adel, der imTiefflug ungehindert ins GelobteLand donnerte, in guter Absichtkam und mit der modernstenVersion der MiG 23, einer Ma-schine sowjetischer Bauart, einhöchst willkommenes Gastge-schenk mitbrachte, hat denSchock kaum gemildert. Danützte es wenig, wenn GeneralDan Schomron, Oberbefehlsha-ber der Streitkräfte, bei der Vor-lage des eilig erstellten Untersu-chungsberichts am Montag-abend versicherte, Israels Luft-überwachung sei völlig intakt.

Westliche Militärexpertenstimmen mit dem General über-ein. „Die Israelis müssen ein kal-kuliertes Risiko eingehen, waswir übrigens auch in der Natotun", meinte ein diplomatischerBeobachter am Dienstag; „InFriedenszeiten kann man nicht

alles dichtmachen!" Die Fluchtdes MiG-Piloten mache einmalmehr deutlich, „daß die geringeGröße dieses Landes ein unge-heurer strategischer Nachteilist". Gerade in der Luftverteidi-gung spiele der Zeitfaktor eine„entscheidende Rolle".

Daß die israelische Regierungdie Furcht in der Bevölkerungäußerst ernst nimmt, zeigte dieTatsache, daß sie den vollenText des 52seitigen Untersu-chüngsberichts über die Affäream Dienstag der Presse übergab.Daß danach die syrische MiGnur deshalb in den israelischenLuftraum eindringen konnte,weil zwei Offiziere zögerten, ei-gene Abfangjäger zu mobilisie-ren, ist für die Bevölkerung nurein schwacher Trost. „Waswäre, wenn der Pilot ein Selbst-mordkommando geflogen undseine Maschine in Haifa oderTel Aviv in ein Hochhaus ge-stürzt hätte? Was, wenn er Bom-ben abgeworfen hätte?" fragensich verunsicherte Israelis.

Kalkuliertes Risiko

Solche Ängste kann Armee-chef Schomron nicht ausräu-men: „Es gibt keine hundertpro-zentige Sicherheit. Wir müssenuns ständig auf unsere Urteilsfä-higkeit verlassen und ein kalku-liertes Risiko in Kauf nehmen.So leben wir halt. Wir habenkeine andere Wahl", meinte derOffizier am Dienstag. Genauso-wenig könne man verhindern,daß - wie im Juli geschehen -„jemand einen vollbesetzten Busabsichtlich in eine Schluchtsteuert".

Presse-EchoDer Börsenkrach war Thema zahlreicherKommentare:

SÜDWEST PRESSE(Ulm)

An der Börse wird zum Aus-steigen nicht geklingelt. Die alteSpekulantenweisheit hat sicheinmal mehr bestätigt, für vieleAnleger schmerzlich. Aus hei-terem Himmel allerdings kamder Absturz nicht. Allzu hitzighatte in den letzten Monaten dieSpekulation die Kurse auf neueSpitzenwerte getrieben.

(Koblenz)

Üblicherweise dürfte ein der-artiger Kurseinbruch rasch wie-der Boden finden, denn die wirt-schaftlichen Fakten sind aktuellgut und vielversprechend fürmorgen. Dann liefe die Ge-schichte darauf hinaus, daß dieDeutschen alles besondersgründlich machen, und wenn'sein Kurs-Schlachtefest ist.

Abendzeitung(München)

Da hat sich wieder einmal ge-zeigt, daß nicht jeder, der Ak-tien besitzt, sie auch wirklichbesitzen sollte. Leute mit schwa-chen Nerven sollten ihr Geldlieber auf einem Sparkonto anle-gen oder sichere Staatsanleihenkaufen.

RHEINISCHE POST(Düsseldorf)

Welche Kleinanleger - undsie waren es im wesentlichen,die gestern als Verkäufer auftra-ten - haben schon die Nerven,an ihren Aktien festzuhalten,wenn die Kurse kräftig purzeln.Zu frisch ist da noch die Erinne-rung an den Crash von 1987, alssich die alte Börsenwahrheit„die ersten Verluste sind diekleinsten" als zutreffend erwies.

De'er Satz auf dem Transparentbrachte die Stimmung der120 000 Demonstranten in derLeipziger Innenstadt auf denPunkt: „Reformen ä la Hagersind uns zu mager". Am Montagabend wurde in der sächsischenMessestadt deutlich, daß vielenunzufriedenen DDR-Bürgerndie von der Ostberliner Regie-rung und ihrem ChefideologenKurt Hager seit einer Wocheimmer wieder bekundete Dia-logbereitschaft nicht ausreicht.

Nicht länger sind es alleinkirchliche Basisgruppen, Künst-ler und Intellektuelle, die in dra-matischen Appellen eine gesell-schaftliche Umwandlung in derDDR einklagen. Auch die Ar-beiter in den Großbetriebenmelden sich in bisher nicht ge-kannter Weise kritisch zu Wort.Sie verlangen offen konkreteReformschritte. Ausgerechnetdie bisher auf SED-Linie fahren-de Gewerkschaftszeitung „Tri-büne" entwickelt sich zumSprachrohr der Unzufriedenen.Das Blatt berichtete am Dienstagvon einer Diskussionsrunde imVEB TransformatorenwerkOberschöneweide (Ost)-Berlin,in der der führende FDGB-Funktionär Achim Pampel einvernichtendes Urteil über dieGewerkschaftsarbeit in derDDR abgab: „Wir haben es ver-säumt, richtig nachzustoßen,wenn es um die Durchsetzunggewerkschaftlicher Belange -und das sind nun einmal alle, diedie Menschen bewegen - geht".

Auch Sätze, wie die der „Ver-trauensfrau der Gewerkschafts-gruppe Wareneingang", IreneKühn, hat man in der „Tribüne"wohl noch nie nachlesen kön-nen. Zum dem Massenexodusvon DDR-Bürgern stellt sie fest:„Die Arbeit mit den Menschenhaben wir völlig verlernt. Wäredas nicht geschehen, säßen wirheute nicht hier, wäre ein sol-cher Aderlaß nicht notwendiggewesen."

Zwölf Gewerkschafter schrie-ben kürzlich im Namen von 380Kollegen des Ostberliner Trans-formatorenwerks aus „Sorgeüber die Ausreise so vielerDDR-Bürger in die BRD" an denFDGB-Chef Harry Tisch. Vonder tiefen Besorgnis „über dasgesamte gegenwärtige unbefrie-digende Klima" ist in ihrem Briefdie Rede. Die „Tribüne" doku-mentiert die Beschwerden derArbeiter: Die gegenwärtigenReisemöglichkeiten hätten sichin der Praxis „als eine Teilungder Menschen in Antragsbe-rechtigte und -unberechtigte"erwiesen. Gemosert wird überdie Einkommen, die in keinemVerhältnis zur Preisentwick-lung bei hochwertigen Konsum-gütern stünden. Viele DDR-Er-zeugnisse würden überwiegendexportiert oder nur in Inter-shop-Verkaufsläden angeboten.

„Fragen ohne Antworten"

In der Diskussionsrunde derOstberliner Transformatoren-werker habe es viele „Fragenohne Antworten" gegeben,schreibt die „Tribüne". MatthiasMesletzky von der Material-wirtschaft wollte beispielsweisewissen, wo er die Gewißheithernehmen solle, daß die neuenReiseregelungen in die CSSRtatsächlich nur „vorüberge-hend" seien. „Waren die Ein-schränkungen im paß- und visa-freien Verkehr in die VR Polennicht auch als vorübergehendeMaßnahme deklariert?" fragt er.Die DDR erschwerte 1980 Rei-sen nach Polen, nachdem dortdas Kriegsrecht ausgerufenworden war. Willi Schmidt,Vertrauensmann vom Trans-portwesen, wird mit der bangenFrage zitiert: „Wir Alten habendamals die Trümmer der Städteweggeräumt; müssen wir jetztauch ideologische Trümmerwegschaffen?"

Wissenschaftler mahnen Reformen an

Auch in der DDR sollsich Leistung lohnen.Eine Veränderung ihres Wirt-schaftssystems halten Wissen-schaftler aus der DDR für unum-gänglich. Prof. Max Schmidt,Direktor des Instituts für inter-nationale Politik und Wirtschaftder DDR, setzte sich auf demDräger-Symposium in Malente(Kreis Ostholstein) am Dienstagfür eine Veränderung des Lohn-systems ein. „Die Gleichmache-rei muß beseitigt werden", sagteSchmidt vor Journalisten. Esmüsse öffentlich diskutiert wer-den, in welcher Form Leistungin Zukunft anerkannt werde.

Prof. Jürgen Nitz vom selbenInstitut betonte, Handel, Koope-ration und Technologietransfermit dem Westen setze „für die-ses und jenes osteuropäischeLand", aber auch für die DDRReformen voraus. Er schlug eine„Konversion" (Umwandlung)von Rüstungsaufgaben vor.

Gegen Nachahmung

Schmidt verwahrte sich gegeneine Übertragung der gegenwär-tigen Entwicklung in Polen undUngarn auf die DDR. Die DDRdenke nicht daran, das westli-che Wertesystem zu überneh-men. Ein DDR-spezifischer Wegmüsse gefunden werden. DerWissenschaftler, der sich als„glühender Verehrer Gorba-tschows" bezeichnete, kündigtefür die nächsten Wochen einAngebot über wirtschaftlicheVeränderungen in der DDR an.Ohne Umgestaltung könne sichdie Gesellschaft nicht entwik-keln. Beispielsweise könntenMieten und Energiepreise nichtwie bisher subventioniert wer-den. Zur Zeit wendet die DDRnach Angaben Schmidts 60 Mil-liarden an Haushaltsmitteln auf,

um die Grundpreise für Ver-braucher stabil zu halten. Bei al-ler Umorientierung kann, sichSchmidt keine Wirtschaft ohnePlanung und Berücksichtigungsozialer Belange vorstellen.

Der Weggang junger Men-schen aus der DDR führe zu be-trächtlichen Produktionspro-blernen, besonders in südlichenBezirken des Landes, sagteSchmidt. Er gehe aber davonaus, daß viele der ehemaligenDDR-Bürger zurückkehren. 50Prozent der Probleme bestündengegenwärtig darin, daß überSchwierigkeiten nicht geredetwerde.

Für Privatisierungen

Der polnische Industriemini-ster Tadeusz Syryjczyk be-schrieb in Malente die notwen-digen Wirtschaftsreformen inseinem Land: Unrentable Unter-nehmen des öffentlichen Be-reichs müßten privatisiert wer-den. Dabei könnten Aktien anMitarbeiter aber auch an Aus-länder vergeben werden. Sy-ryjczyk verwies auf die beson-dere Bedeutung einer hartenWährung: „Wenn innerhalb ei-nes Jahres der Zloty nicht freikonvertibel ist, dann sind unse-re Reformen gescheitert".

Als fernes Endziel, das frühe-stens Ende des Jahrhundertsverwirklicht werde, bezeichne-te dagegen der stellvertretendeVorsitzende der Wirtschafts-kommission beim Ministerratder UdSSR, Prof. Ivan Iwanow,einen konvertierbaren Rubel.Zunächst müßten die sowjeti-schen Betriebe für den Wettbe-werb auf dem Weltmarkt vorbe-reitet werden.

Page 26: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMEINEPreis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 244 • Donnerstag, 19.10. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Starke Bremer

Bundesligistengut im RennenLandesmeisterBayern MünchenNentori Tirana

Uefa-Pokal

Zenit LeningradVfB Stuttgart

Real SaragossaHamburger SV

1. FC KölnSpartak Moskau

Werder BremenAustria Wien

Aus der DDR

3:1

0:11:03:15:0

Flüchtlingswelleungebrochen

Wien (dpa). Der Flüchtlings-strom aus der DDR hält fast un-gebrochen an. Während die Zahlder DDR-Bürger, die über Un-garn in die Bundesrepublik aus-reisten, bis Mittwoch leicht zu-rückging - der Bundesgrenz-schutz registrierte in diesemZeitraum 1238 im Vergleich zu1800 in den Vortagen - stieg dieZahl der Ausreisewilligen in derbundesdeutschen Botschaft inWarschau wieder auf rund 1600.Seit Öffnung der ungarischenWestgrenzen am 11. Septembersind damit - einschließlich derBotschaftsflüchtlinge aus Prag -rund 57 000 DDR-Bürger in Bay-ern eingetroffen.

Flucht gescheitert

Mittag und Herrmann müssen SED-Führungsspitze verlassen

Honecker gab auf - Krenz Nachfolgermmimmmmmmmmmmmmmmmm

Berlin (dpa/AP). DDR-Staats- und Parteichef Honecker istam Mittwoch morgen abgetreten. Seine Macht legte dasSED-Zentralkomitee dem langjährigen „Kronprinzen" EgonKrenz in die Hände, der nach eigenen Worten eine „Wende"einleiten und die „politische und ideologische Offensivewiedererlangen" will. In einer vom Fernsehen am Abendgesendeten Rede gestand Krenz auch Fehler der Partei ein.

Die SED habe die gesellschaft- te, habe das Zentralkomitee Ho-liche Entwicklung nicht real ge- necker für sein langjährigesnug eingeschätzt und nicht Wirken herzlichen Dank ausge-rechtzeitig die richtigen Schluß- sprochen.folgerungen gezogen. Als deut- Der bisher im Politbüro für Si-lichste Mängel in der Wirtschaft cherheitsfragen zuständigenannte er „unzureichende Ex- Krenz sagte im DDR-Fernsehen:Porteffektivität und Warenpro- „Ich habe im ZK gesagt, daß ichduktion". mir "bewußt bin, eine schwere

Mit dem Führungswechsel Aufgabe übernommen zu ha-verloren auch der Wirtschafts- ben." In „einer sehr komplizier-experte Günter Mittag und der ten Zeit" warte viel Arbeit auf

ihn. So wichtig es sei, miteinan-Auf „Themen des Tages" finden feT *? reden und auch zu strei-Sie Porträts von Erich Honecker ten; . d a s wichtigste sei, mitein-und seinem Nachfolger. Dort steht a n a e r z u arb 'eiten.auch der Wortlaut der Honecker- K*enz kundigte in seiner Rede

auch neue Reisebestimmungen

Bei einem Fluchtversuch sindbei Helmstedt (Niedersachsen)zwei Erwachsene und drei,Kin-der von DDR-Grenztruppenfestgenommen worden. Dagegengelang einer dreiköpfigen Fami-lie im Landkreis Coburg ohneZwischenfall die Flucht.

Erklärung. Wie die Parteien in £ ugBonn reagierten, lesen Sie auf der a n - D a s Politbüro der SED habe•nächsten Seite d e r Regierung den Vorschlag

unterbreitet, einen Gesetzent-wurf über Reisen von DDR-Bür-

für die Massenmedien verant- gern ins Ausland vorzubreiten.wortliche Joachim Herrmann In diesem Zusammenhang, soihre Posten. Das Zentralkomitee Krenz weiter, „könnten eben-reagierte damit offensichtlich falls die zeitweilig getroffenenauf die größten Massenproteste einschränkenden Maßnahmenin der Geschichte des Landes, zum Reiseverkehr in sozialisü-die Massenausreise von DDR- sehe Bruderländer aufgehoben.Bürgern und die immer lauter beziehungsweise modifiziertwerdenden Forderungen nach werden",inneren Reformen. Für die Verwirklichung der in

Als Grund für seinen Rück- Aussicht genommenen Schrittetritt nannte der 77jährige Ho- für den Reiseverkehr in die Bun-

! necker vor dem Zentralkomitee- desrepublik und in andere west-1 seine angeschlagene Gesund- liehe Länder bleibe es aber einheit. Sein Nachfolger sei „fähig sehr ernstes Hindernis, daß dieund entschlossen", „der Verant- Bundesrepublik sich nach wiewortung und dem Ausmaß der vor weigere, die Staatsbürger-Arbeit so zu entsprechen, wie es schaft der DDR uneinge-die Lage, die Interessen der Par- schränkt zu respektieren. Nachtei und des Volkes und die alle Krenz sei das „Festhalten an derBereiche der Gesellschaft um- Obhutspflicht für alle Deut-fassenden Vorbereitungen des sehen" Teil der „reyanchisti-XII. Parteitages erfordern". Wie sehen Grundkonzeption derADN am Nachmittag berichte- BRD".

Zum Tage

Der SturzM«

„FÄHIG UND ENTSCHLOSSEN" nannte Erich Honecker gesternseinen Nachfolger Egon Krenz. Der 52jährige Krenz (hier mitHonecker auf einem Archivbild aus 1986)'galt schon länger alsAnwärter für die DDR-Staats- und Parteiführung. (dpa-Funkbild)

.. Krenz soll auch die anderenÄmter Honeckers übernehmen.Das Zentralkomitee werde derDDR-Volkskammer den „Vor-schlag Honeckers" unterbrei-ten, den 52jährigen auch zumStaatsratsvorsitzenden undVorsitzenden des NationalenVerteidigungsrates zu wählen,berichtete ADN.

Der Spitzenpolitiker Mittag,dem das Volk die Verantwor-tung für die Mißwirtschaft in derDDR anlastet, wird nicht nurvon seiner Funktion als Politbü-romitglied und ZK-Sekretär

„entbunden", wie es bei ADNheißt, sondern soll auch alsstellvertretender Staatsratsvor-sitzender abberufen werden.Dem Politbüromitglied JoachimHerrmann war bei den jüngstenMassenprotesten eine fälscheMedienpolitik und eine Ver-schleierung der tatsächlichenVerhältnisse in der DDR vorge-worfen worden. Auch er wurdevon der Funktion als Politbüor-mitglied und ZK-Sekretär ent-bunden.Fortsetzung nächste SeiteSiehe auch „Zum Tage"

San Francisco /Schwere Verwüstungen

270 Erdbeben-Totein Kalifornien

San Francisco (AP/dpa). Einverheerendes Erdbeben hat amDienstag abend im Raum SanFrancisco mindestens 272 Men-schen das Leben gekostet undgroße Verwüstungen angerich-tet. Rund 650 Menschen wur-den verletzt. Rettungsttruppsmit Hunden suchten gesternweiter nach Verschütteten.

Es war das schlimmste Bebenin den USA seit der Katastrophevon San Francisco im Jahr 1906.Der 15 Sekunden dauernde Erd-stoß am Dienstag um 17.04 Orts-zeit (Mittwoch 1.04 Uhr MEZ)ereignete sich in der Spitzenzeitdes Berufsverkehrs und hattedie Stärke 6,9 auf der Richter-Skala. Das große Beben vor 83Jahren wurde im nachhinein auf8,3 Richter-Punkte geschätzt.Am Mittwoch kam es zu Nach-beben, die eine Stärke von 4,5erreichten. In den 'am schwer-sten zerstörten Stadtviertelnkam es zu Plünderungen undVandalismus. BürgermeisterArt Agnos rief die Nationalgar-de zu Hilfe. US-Präsident Bush,der Verkehrsminister Skinnerin das Katastrophengebietschickte, versprach den Opfernjede gewünschte Hilfe.

Allein 253 Menschen wurdenin Oakland, der Nachbarstadtam Ostufer der Bucht von SanFrancisco, in ihren Autos zer-

quetscht, als die obere Etage ei-ner zweistöckigen Stadtauto-bahn auf einer Länge von einemKilometer auf die untere Fahr-bahn stürzte. Mindestens 14Menschen starben in San Fran-cisco und dem weiter südlich ge-legenen Santa Cruz, in dessenNähe sich das Zentrum des Be-bens befand. Dort stürzten zweiAutobahnbrücken ein.

Augenzeugenberichte und Erläu-terungen zum San Andreas-Gra-ben auf „Blick in die Zeit"

In San Francisco selbst brachder Verkehr vollständig zusam-men. In der ganzen Stadt fiel dieStromversorgung aus. Überallbrachen wegen geborstenerGasleitungen Brände aus. Einzusammenstürzendes Haus er-schlug sechs Autofahrer. Aufder doppelstöckigen Bay Bridge,die San Francisco mit Oaklandverbindet, brach ebenfalls einTeil der oberen Fahrbahnen ein.Drei Autos wurden von denTrümmern eingequetscht, wobeiein Autofahrer ums Leben kam.

In Oakland dauerte es mehre-re Stunden, bis die mit Bulldo-zern und Traktoren ausgerüste-ten Bergungsmannschaften zuallen zertrümmerten Fahrzeu-gen vordringen und sich einen

AUF DIESER SCHNELLSTRASSE in Oakland, am Ostufer der Bucht von San Francisco, starben beidem Beben allein 253 Menschen. Als die obere Fahrbahn auf die untere stürzte, wurden dieAutofahrer in ihren Wagen vom Beton zerquetscht. (dpa-Funkbild)

Überblick über die Zahl der Op-fer verschaffen konnten. Dut-zende von Leichen wurden mitLastwagen weggefahren.

Rund 60 000 Sportfreundewurden im Candlestick-Park-Stadion von San Francisco vondem Beben überrascht, wo gera-de ein Baseballspiel beginnensollte. Trotz tiefer Risse im Be-ton hielt die Dachkonstruktionder Tribüne wie durch ein Wun-der, und die Zuschauer konntendie Sportstätte geordnet verlas-sen. Es gab nur einige leichteVerletzungen. Die Flughäfenvon San Francisco und Oaklandwurden zunächst geschlossen,

nahmen aber später ihren Be-trieb wieder auf.

Nach dem Erdstoß brächenüberall in San Francisco undSanta Cruz Brände aus, von de-nen die wegen des Stromausfallssonst dunklen Straßen gespen-stisch beleuchtet wurden. DieTelefonverbindungen nach au-ßen waren teilweise unterbro-chen. Das Beben konnte auch inReno, 360 Kilometer nordöstlichin der Wüste von Nevada, undin Los Angeles, 650 Kilometersüdlich von San Francisco, ge-spürt werden.

Der stellvertretende Gouver-neur von Kalifornien, McCarthy,

bezifferte den durch die Kata-strophe entstandenen Sachscha-den in einem ersten Kommentarauf etwa eine Milliarde Dollar.Gouverneur Deükmejian, den dieNachricht von dem Unglück inFrankfurt am Main erreichte,brach seine Europareise ab undkehrte unverzüglich nach Kali-fornien zurück. Er kündigte ineiner ersten Stellungnahme eineUntersuchung darüber an, war-um die Straßen- und Brücken-konstruktionen dem Beben nichtstandhielten. In Kalifornien gibtes wegen der Erdbeben-Gefahrbesondere Bauvorschriften.Siehe auch Kommentar

it Erich Honecker verläßt einMann von gestern die politischeBühne der DDR. Als Partei- undStaatschef hat er sich selbst über-lebt. Das 40jährige Jubiläum desArbeiter- und Bauernstaates warsein Abgesang. An seine früherenVerdienste mag sich niemandmehr erinnern. Der Bevölkerungwird er, wenn überhaupt, nur alsStalinist und starrsinniger Reform-gegner im Gedächtnis bleiben. Erstemmte sich allen Versuchen derLiberalisierung und demokrati-schen Erneuerung entgegen undmachte sich durch seine Trugbil-der einer heilen Welt des Sozialis-mus immer unglaubwürdiger.

Erich Honecker ist nicht freiwilliggegangen. Das Politbüro der SEDhat ihn gestürzt, mehr noch, es hatihn geopfert. Mit dem Wechsel ander Spitze reagiert die Partei aufMassenflucht und Massenprotestder Hunderttausende, die dem Sy-stem nach außen und innen denRücken gekehrt haben. Die ein-drucksvolle Volksabstimmung mitFüßen und Fäusten zwingt sie, nunendlich zu handeln. Darin kannman einen ersten Erfolg der kriti-schen Opposition erblicken. Aberdas Ende Honeckers wird nur dannder Anfang einer neuen Ära sein,wenn dem Austausch der Personauch tiefgreifende Veränderungender Politik folgen.

Da ist Skepsis angebracht. Demneuen SED-Chef Egon Krenz gehtalles andere als der Ruf eines de-mokratischen Reformers voraus.Sein einziges Verdienst ist es, jün-ger zu sein als die alte Garde.Wenn er von Wende spricht, mußman sich fragen, was er als Honek-kers Kronprinz bisher getan hat,um Mißstände zu beseitigen undverkrustete Strukturen aufzubre-chen. Der Bevölkerung der DDRkann er mit einer ideologischen Of-fensive der SED nicht dienen. Siewünscht politische und wirtschaftli-che Entscheidungen, die ihr mehrpersönliche Freiheit und eine bes-sere Versorgung garantieren. Dererhoffte Neubeginn ist auch nachdem Sturz Honeckers noch in wei-ter Ferne.

Achim v. Roos

„Galileo" auf dem Weg

„Atlantis"-Startgelungen

Cape Canaveral (dpa). Dieamerikanische Raumfähre „At-lantis" mit der Jupiter-For-schungssonde „Galileo" an Bordist gestern vom Raumfahrtzen-trum Cape Canaveral kurz vor18 Uhr MEZ gestartet. Wedertechnische Defekte wie vorsechs Tagen noch zu schlechtesWetter wie am Vortag machtendiesmal einen Strich durch dieRechnung. Die Sonde sollte vonden fünf Astronauten nach Mit-ternacht abgesetzt werden. IhrFlug ist das wissenschaftlichehrgeizigste und technisch kom-plizierteste Unternehmen seitJahren. Ursprünglich sollte sieschon vor sieben Jahren auf dieReise gehen.

Lotto am MittwochZiehung A: 1, 17, 23, 25, 26, 47 Zu-satzzahl: 13.Ziehung B: 2, 20, 33, 39, 45, 49 Zu-satzzahl: 28.Spiel 77: 8 6 2 1 9 4 8.

(Ohne Gewähr)

Page 27: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 244 Politik Donnerstag, 19. Oktober 1989

Namen undNachrichten

„Auf REP anwenden"Die Anwendung des Extremi-stenerlasses aufdie rechtsradi-kalen Republi-kaner (REP) imÖffentlichenDienst hat derVorsitzendedes Bundes-tags-Innenaus-schusses, HansGottfried Bern-rath (SPD), ge-fordert. „Solan-ge dieser über-flüssige Erlaß noch in Kraft ist,muß er auch für rechte Extremi-sten gelten. Solange noch Ver-fahren gegen harmlose Briefträ-ger laufen, die DKP-Mitgliedersind, solange muß man auchkonsequent Republikaner beiverfassungsfeindlicher Tätigkeitaus den Diensten entfernen, diesicherheitsempfindlich oder aufden Schutz der Verfassung ver-pflichtet sind.", sagte Bernrathin einem Interview.

Litauen: Wieder FeiertagErstmals seit einem halbenJahrhundert wird Weihnachtenin Litauen dieses Jahr wiederein offizieller Feiertag sein. DasParlament der Sowjetrepublikhat den 25. Dezember sowie dentraditionellen Totengedenktagam 1. November wieder zustaatlichen Feiertagen erklärt.Rund drei der dreieinhalb Mil-lionen Litauer sind katholisch.

Millionen für ChinaChina bekommt die nach derblutigen Niederschlagung derStudentenunruhen im Juni ge-stoppten 460 Millionen DMBonner Entwicklungshilfe fürden U-Bahn-Bau in Shanghainun doch. Das Ministerium be-gründete die Freigabe des aufsechs Jahre verteilten Darle-hens damit, daß der U-Bahn-Bauunmittelbar der BevölkerungShanghais und dem Umwelt-schutz zugute komme.

Rau gegen BevorzugungVor einer Bevorzugung von

/§»*> *a% & DDR-Flüchtlin-

% -ülk W gen, Aus- und^WL Ubgrsiedlern

bei der Woh-nungssucheund auf demArbeitsmarkthat der nord-rhein-westfäli-sche Minister-präsident Jo-hannes Rau(SPD) gewarnt.Bei .der einhei-

mischen Bevölkerung könne da-durch leicht Widerstand gegendie neuen Bürger aufkommen.Die Welle der Sympathie unddie Solidarität der Bundesbür-ger mit den DDR-Flüchtlingenkönne dann ins Gegenteil um-schlagen.

UdSSR wieder dabeiDer Weltverband für Psychia-trie hat die Sowjetunion wiederals Mitglied zugelassen. Sie hat-te den Verband 1983 unter demVorwurf verlassen, die Psychia-trie als politisches Druckmittelzu verwenden. Ein Ausschlußsei allerdings möglich, falls sichbei einer Untersuchung heraus-stellen sollte, daß politisch miß-liebige Personen weiter psychi-atrischer Zwangsbehandlungunterzogen werden.

Streibl ein Jahr im AmtDer bayerische Ministerpräsi-dent MaxStreibl wünschtsich von derBundesregie-rung wenigerEmpfindlich-keit und Miß-trauen gegen-über Anregun-gen aus Bayern.Gleichzeitigempfahl erBonn, die Poli-tik besser aus-zuwerten und an die Bürger her-anzutragen. Streibl, der jetzt einJahr an der Spitze der Regie-rung des Freistaates steht, sagtein einem Gespräch, auch dieCDU/CSU würde bei dieser Po-litik mehr eigenes Profil zeigen,und die Wählerschaft hätte wie-der klarere Konturen vor sich.Kohl sei im übrigen ein hervor-ragender Bundeskanzler undhätte bessere Noten verdient.

Bundesregierung korrigiert Ausbildungsförderung

Bafög zur Hälfte als ZuschußBonn (dpa). Die Bundesregie-

rung hat gestern die seit Jahrenumstrittene Sparpolitik beimBafög korrigiert. Ab Herbst1990 soll die Ausbildungsförde-rung zur Hälfte als Zuschuß desStaates bezahlt werden undnicht mehr wie bisher nur alsVolldarlehen. 70 000 Studentenaus Familien mit mittlerem Ein-kommen kommen erstmals inden Genuß der Ausbildungsför-derung.

Bundesbildungsminister Möl-lemann (FDP) bezeichnete dieKabinettsentscheidung als„wichtige Etappe" der „grund-sätzlichen Kurskorrektur in derBildungspolitik". Eine generelleFörderung bedürftiger Schülerab Klasse 11, wie bis zum Regie-rungswechsel 1982 üblich, wirdes aber aus finanziellen Grün-den nichtgeben.

Neben der Abkehr von derreinen Darlehensförderungsteht bei der Reform eine erheb-liche Anhebung der Elternfrei-beträge im Mittelpunkt. DerKreis der geförderten Studenten

wird von 260 000 auf 330 000erhöht, die Zahl der Bafög-Emp-fänger insgesamt (einschließlichFachschüler und Teilnehmer amzweiten Bildungsweg) steigt um100 000 auf 428 000.

Bislang durfte eine Familie miteinem auswärts studierendenKind nicht mehr als 4800 DMbrutto verdienen, um überhauptFörderung zu erhalten. Dem-nächst kann diese Familie mit324 DM rechnen. Die Einkom-menshöchstgrenze für eine Fa-milie mit einem Kind im Studiumsteigt auf 6200 DM.

Bald Abschlußförderung

Neu im Gesetz ist die Studien-abschlußförderung. Wer nichtin der vorgegebenen Zeit seinExamen schafft, kann unter Um-ständen zwei Semester längergefördert werden.

Die Reform wird 1991 beiBund und Ländern Mehrkostenin Höhe von 650 Millionen DMverursachen. Die Ausgabenwerden mit erheblichen Ein-

schränkungen bei der elternun-abhängigen Förderung aufge-fangen. Zum Beispiel reicht einedreijährige Berufsausbildungvor dem Studium künftig nichtmehr aus, um unabhängig vomElterneinkommen gefördert zuwerden. Auch sollen die Stu-denten ihr Ausbildungsdarle-hen zügiger als bisher zurück-zahlen.

Nach den neuen Fördersätzenkann ein bedürftiger Studentkünftig bis zu 540 DM (bisher525) Förderung für seinen Le-bensunterhalt erhalten. Der Zu-schlag für nicht bei den Elternlebende Studenten wird umzehn DM auf 210 DM erhöht,der Zuschlag für die Kranken-kasse von 45 auf 65 DM. Weite-re 75 DM können aus einemHärtefonds beansprucht wer-den, wenn der Student mehr als300 DM Miete zahlen muß. Diesergibt in allem eine möglichemaximale Fördersumme von890 DM (bisher 845), die abernur von wenigen Studenten tat-sächlich erreicht wird.Siehe auch Kommentar

PREMIERE haben beim Kommando Nord des Bundesgrenzschutzes Frauen in Uniform. 30 meist nochkeine 18 Jahre alten jungen Damen werden seit kurzem in der BGS-Kaserne im niedersächsischenUelzen auch im Umgang mit Pistolen geschult. (dpa-Funkbild)

NRW / Staatsdienst Krenz folgt auf Honecker

Frauenquotedurch Gesetz

Düsseldorf (dpa). Als erstesBundesland hat Nordrhein-Westfalen eine Frauenquotevon 50 Prozent im öffentlichenDienst gesetzlich vorgeschrie-ben. Dies sieht das Frauenförde-rungsgesetz vor, das der Land-tag gestern gegen die Stimmenvon CDU und FDP in Düsseldorfverabschiedet hat.

Darin wird festgelegt, daß imöffentlichen Dienst bei gleicherQualifikation Frauen solangebevorzugt eingestellt oder be-fördert werden, bis ihr Anteildem der Männer entspricht.Dies gilt für Beamte, Angestell-te, Arbeiter und Auszubildende,allerdings nur in Bereichen, indenen Frauen bisher benachtei-ligt sind.

Alle Parteien erkannten an,daß Frauen gefördert werdenmüssen. Allerdings kritisiertenCDU und FDP, daß Regelungenzur Vereinbarkeit von Familieund Beruf wichtiger seien als einGesetz zur besseren Einstellungvon Frauen. Gleichzeitig mach-ten sie verfassungsrechtlicheBedenken geltend.

DDR-Oppositionzeigt sich skeptischFortsetzung

Bei der Opposition in der DDRüberwog gestern Mißtrauen ge-gen den neuen Mann an derSED-Spitze. Das Gründungsmit-glied der Demokratiebewegung„Neues Forum", ReinhardtSchult, sagte in Interviews west-licher Rundfunksender, er er-warte von Krenz keine Neue-rungen. „Krenz .war mitverant-wortlich für die Überfälle auf dieUmweltbibliothek. Vor zweiWochen war er noch in China.Das sind alles keine Empfehlun-gen für seine Person." Er fügtean: „Ich glaube nicht, daß sichdie gesellschaftliche Protestbe-wegung mit ein paar kosmeti-schen Veränderungen beruhi-gen wird."

Auch bei anderen Mitgliedernder Opposition löste die Ent-machtung Honeckers keine Sie-gesstimmung aus. Die Spreche-rin des „Neuen Forums", dieOstberliner Malerin Bärbel Boh-ley, ging auf die Zurückhaltung

der Sicherheitskräfte bei denDemonstrationen in Leipzig ein.Sie sagte in einem Interview desRIAS-Fernsehens: „Wenn je-mand die Macht übernehmenwill, dann mußte er sich so ver-halten." Große Teile der Bevöl-kerung fragten sich, ob Krenzder Mann sei, der sich für Refor-men einsetze. Auch müsseKrenz „große Anstrengungenmachen", um dem Mißtrauen inder Bevölkerung entgegenzu-wirken.

Der SPD-EhrenvorsitzendeWilly Brandt, der in Moskau mitKreml-Chef Michail Gorba-tschow gesprochen hatte, waroffenbar von den personellenVeränderungen - vorab infor-miert. Nur kurze Zeit vor demRücktritt Honeckers sagteBrandt in Bonn, dieser Tag wer-de in die Geschichte als derjeni-ge eingehen, an dem die „begin-nende Ummöbilierung" der poli-tischen Verhältnisse in der DDRsichtbar geworden sei.

Neuer SED-Chef Krenz

Biermann: „Jubelperser des Politbüros"Berlin (dpa). Der 1976 aus der

DDR ausgebürgerte Liederma-cher Biermann hat den neuenSED-Chef Krenz als den „mie-sesten aller möglichen Kandi-daten" bezeichnet. In der „ta-geszeitung" nannte Biermann

den Führungswechsel. „einewelterschütternde Nichtig-keit". Krenz sei „der versoffeneFDJ-Veteran, der Jubelperserdes Politbüros, der optimisti-sche Idiot, Egon Krenz, dasewig lachende Gebiß". Keiner

wisse, wer Krenz wirklich sei,da öffentliche Angelegenheitenin der DDR nicht öffentlich sei-

Ach Du armes Deutsch-en.land, dachte ich, es geht alsoerst mal mächtig vorwärts nachhinten", schreibt Biermann.

Ab 1. November Polnische Aussiedler

Pakete nach BesserstellungPolen billiger wird beseitigt

Bonn (dpa). Die Gebühren fürPakete nach Polen werden ab 1.November für fünf Monate billi-ger. Das Kabinett billigte ge-stern eine Vorlage, durch die dieBundespost für diesen Zeitraumauf die ihr zustehenden Porto-*anteile für die Polen-Pakete ver-zichtet.

Der Kabinettsbeschluß bedeu-tet, daß sich ein Fünf-Kilo-Paketvon 24,20 DM auf 12,20 DM undein 15-Küo-Paket von 40,40 DMauf 23,40 DM verbilligt. Die Postbüßt dabei einen Betrag vonrund 30 Millionen DM ein, derihr jedoch aus dem Bundeshaus-halt erstattet wird.

Postminister Schwarz-Schil-ling (CDU) erklärte dazu, daßsich die Bundesregierung wegender schwierigen Versorgungsla-ge Polens zu dieser humanitärenGeste entschlossen habe. Damitsolle die spontane Hilfsbereit-schaft der Einwohner der Bun-desrepublik gegenüber den Po-len nachhaltig unterstützt wer-den.

Bonn (dpa). Die bisher beste-henden Besserstellungen vonAussiedlern aus Polen bei derRente werden abgeschafft. Dar-auf haben sich die Fachleute derBundestagsfraktionen vonCDU/CSU, SPD und FDP geei-nigt. Mit der polnischen Regie-rung soll darüber verhandeltwerden,' den vom deutsch-polni-schen Versicherungsabkommenerfaßten Personenkreis zu be-grenzen, wurde gesternin Bonnbekannt.

Höhere Renten

Nach dem deutsch-polni-schen Versicherungsabkommenvon 1975 werden Aussiedleraus Polön in der Rentenversi-cherung so behandelt, als hättensie ihre Versicherungszeit inder Bundesrepublik verbrachtund hier Beiträge gezahlt. Dar-aus ergaben sich bislang zumTeil höhere Renten für Aussied-ler als für vergleichbare Versi-cherte in der Bundesrepublik.

Bundestagsneubau

Kosten steigen weiter auf256 Millionen DM plus x

Bonn (dpa). Die Kostenex-plosion für den Neubau desBundestages geht weiter: Siesteigen „nach aktuellem Pla-nungsstand auf insgesamt 256Millionen DM" ohne Berück-sichtigung künftiger Baupreis-steigerungen. Das teilte Bun-desbauministerin Hasselfeldt(CSU) nach einer Sitzung desBeratungsgremiums in Bonnmit.

Der Haushaltsausschuß hat-te nach Angaben seines Vor-sitzenden Walther (SPD) we-gen mehrfacher Nachforde-rungen für den Plenarbereicheine Kostenobergrenze von202 Millionen DM vorgege-

ben. Nach Angaben der Bau-ministerin werden alle Bun-destagsfraktionen über denneuen Sachstand beraten.

Die neuen Kosten seien „dasvorläufige Ergebnis eines vonder Bundesbaudirektion, demArchitekten Professor Beh-nisch und dem Büro Drees undSommer überarbeiteten • Ko-sten- und Terminplanes", sag-te Hasselfeldt nach der Bera-tungsrunde mit Bundestags-präsidentin Süssmuth (CDU)und Abgeordneten vonCDU/CSU, FDP und SPD. Siefügte hinzu: „Die heute vorge-legten Kostenansätze sind eineDiskussionsgrundlage."

Wechsel an der DDR-Spitze

In- und Ausland reagierenmit deutlicher Zurückhaltung

Hamburg (dpa). Der Wechselan der Führungsspitze der DDRist im In- und Ausland mit Zu-rückhaltung aufgenommen wor-den. Bundeskanzler Kohl (CDU)sagte, Honecker-NachfolgerHonecker-Nachfolger Krenzwerde daran zu messen sein, ober den Weg für Reformen freimache. Es dürfe keinesfalls beimAustausch von Personen blei-ben.

SPD-Chef Vogel forderte denneuen SED-Generalsekretärauf, unverzüglich die Informa-tions-, Reise- und Meinungsfrei-heit zu verwirklichen. Der SPD-Ehrenvorsitzende Brandt äußer-te sich skeptisch, was das Einge-hen der neuen DDR-Führungauf die Forderungen nach ernst-haften Forderungen angehe.

US-Präsident Bush erklärtezum Wechsel in Ostberlin: „Ichglaube nicht, daß dies eine Ver-

änderung in den Ost-West-Be-ziehungen bedeutet." Allerdingssei es noch zu früh, zu sagen, obder Wechsel von Honecker zuKrenz ein Schritt voran zu mehrOffenheit ist.

Als erster ausländischerStaatschef gratulierte Kreml-Chef Gorbatschow dem Ho-necker-Nachfolger. In demGlückwunschtelegramm anKrenz schrieb Gorbatschow, ersei überzeugt, „daß die SED un-ter der Führung von Krenz unddie Kommunisten der DDR mitFeingefühl auf die Herausforde-rungen der Zeit reagieren wer-den." Zuvor hatte die amtlicheNachrichtenagentur Tass in ei-ner kurzen Notiz über die Wahlvon Krenz zum neuen General-sekretär der SED berichtet undeinen kurzen Lebenslauf des inder UdSSR kaum bekanntenneuen ersten Mannes der DDRgesendet.

HESSISCHE/NIEDERSACHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr, Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureChef vom Dienst; Horst Kröninger. ChefNachrichten: Rainer Merforth. Politik: Jo-chen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik; HorstSeidenfaden, Kultur: Dirk Schwarze, i. V.Claudia Sandner-v.Dehn, M. A., Frau u.Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wiese-mann, i. V. Ulrich Fuhrmann. Sonntagszeit:Frank Thonicke. Kassel Stadt und Land:Wolfgang Rossbach. Bezirksredaktionen:Peter M. Zitzmann. Koordination: HelmutLehnart, Hessen/Niedersachsen: EberhardHeinemann. Chefreporter: Karl-HermannHuhn. Sonderthemen: Peter Ochs.Redaktion Wiesbaden: Rolf Effenberger.Redaktion Hannover' Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs. WigbertH. Schacht Anzeigenleiter; Horst Prehm.Vertriebsleiter: Gerd Lühring.

Verlag Dienohs GmbH & Co KG. Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61 .' 20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61 ; 20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer 05 61 -20 36. Teletex561 81 10. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigefipreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7 % MwSt. (Postbezugs-preis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich: die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung:

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", .Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.

Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.

Herstellung Druckhaus Dierichs.Frankfurter Straße 168, 3500 Kassel.

Page 28: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 244 Themen des Tages Donnerstag, 19. Oktober 1989

Wenn dieErde bebtDa/aß es eines Tages kommenwürde, wußte jeder, die Frage warnur, wann and mit, welcher Gewalt.Jetzt hat das zweite schwere Be-ben und das zweitschwerste seitder Katastrophe von 1906 SanFrancisco heimgesucht. Die Bilderim Fernsehen erinnern an das oft-mals verfilmte Inferno von damals.Brände erleuchten die Stadt amMeer, Häuser sind eingestürzt,Retter bergen die Opfer. Doch einVergleich wäre verfehlt, so stark

i die Erschütterung in aller Welt ist.Kaliforniens Metropole steht noch,versank nicht wie vor 83 Jahren inSchutt und Asche.

Die Stadt ist nicht mehr ausHolz, sondern aus Stein und Betongebaut. Besondere Bauvorschrif-ten erhöhen die Bruchsicherheit.Welche Belastung damit zu über-stehen wäre, ist allerdings nochnicht erwiesen. Das Beben diesmalwar nur etwa ein Zehntel so starkwie das von 1906, die Zahlen aufder Richterskala täuschen inso-weit. Wie groß die immer drohendeGefahr ist, zeigen bereits dieSchwachsteJIen auf den Highways.„Hier ist Erdbebenland" liest derBesucher San Franciscos auf vie-len Nummernschildern. Das erfülltesich in Tragik an den Autofahrern,die vor allem Opfer der Katastro-phe wurden. Sie steckten zurHauptverkehrszeit in einer tödli-chen Falle.

Die öffentliche Kritik wird sichnicht mit der gängigen Floskel ab-finden, wonach der Mensch nuneinmal ohnmächtig sei gegenüberübermächtiger Naturgewalt. Vielwurde bei der Verkehrsplanung ineiner Region von Millionen Men-schen versäumt und verschlampt.Auch daß spezifische Warnungenund Hinweise auf besonders anfäl-lige Gebiete nicht ernstgenommenwurden, wird ein politisches Nach-beben verursachen. So gebotendas alles ist, kann nichts die strah-lende Stadt am Pazifik von ihremStandort, einer Grenzsituation zwi-schen sich reibenden Erdplatten,verrücken. Die nächste, womöglichnoch stärkere Erschütterungkommt bestimmt. Die bange Frage

j lautet nur, wann.Alfred Brugger

Ein Schritt in dierichtige Richtungötudenten, deren weiterer Ausbil-,dungs- und damit Lebensweg voneinem staatlichen Stipendium ab-hängt, aber auch solche aus Fami-lien mit mittlerem Einkommen kön-nen aufatmen. Die jetzt vom Kabi-nett gebilligte Bafög-Novelle läßtmit ihrer Erhöhung der Zuschüsseund Darlehen, aber auch mit derdeutlichen Anhebung der Einkom-mensgrenze gerade auch denjeni-gen, die bisher um einen geringenBetrag aus der Förderung heraus-gefallen waren, aber dennoch nurschwer ein Studium finanzierenkonnten, ein wenig mehr Spiel-raum.

Daß das aufgenommene Geldab Herbst 1990 nur noch zur Hälftezurückgezahlt werden muß, mil-

, dert den immensen Druck des be-ruflichen Risikos nach dem Ex-amen. Denn nicht nur der schmalestudentische Geldbeutel, auch dieZukunftsvision von einem Schul-denberg bei anhaltender Arbeitslo-sigkeit hat manche(n) vom Studi-um abgeschreckt. In Bonn ist manjetzt mit Taten - und die alleinzählen - der schon länger vorhan-denen Einsicht gefolgt, daß nur diebestmögliche Ausbildung des aka-demischen Nachwuchses Fortbe-stand und Weiterentwicklung ga-

. rantieren können: Nicht nur für dasbetroffene Individuum, sondern fürdie ganze Gesellschaft.

Darum ist es auch recht und bil-lig, daß alle (aus ihren Steuergel-dern) an diesen Kosten beteiligtwerden, die ja in ihrer Gesamtheitdennoch in erster Linie von denFamilien der Studenten aufge-bracht werden. Talente, und neueIdeen, die sie entwickeln können,zu verschenken, kann sich keinStaat leisten. Hier setzt Bonn end-lich die richtigen Prioritäten, ohnedamit schon den Idealzustand zuschaffen. Auch wenn die Schüler,was bedauerlich bleibt, aus die-sem Förderplan noch ausgeklam-mert bleiben - es ist ein Schritt indie richtige Richtung.

Claudia Sandner-v.Dehn

Das Zitat„Totgesagte leben länger!"

Erich Honecker am 5. Oktober

DIE NATIONALSOZIALISTEN hielten Honecker - hier Bilder aus dem Archiv der Geheimen Staats-polizei - von 1935 bis 1945 in Haft. Kurz nach der Befreiung durch die Rote Armee begann diepolitische Karriere des jungen Kommunisten. (dpa-Funkbilder)

Horieckers Karriere begann bereits 1946

DDR hoffähig gemachtVon AP-Korrespondent Ingomar Schweiz

Aiss ein Musikkorps der Bun-deswehr vor dem Bonner Bun-deskanzleramt die DDR-Hymnespielte und die DDR-Fahne auf-gezogen wurde, da hatte derprotokollbewußte Bergmanns-sohn von der Saar den Höhe-punkt seiner politischen Lauf-bahn erreicht: Erich HoneckersVisite in der Bundesrepublik imJahr 1987 demonstrierte ein-drucksvoll die diplomatischeAnerkennung des anderendeutschen Staates durch Bonn;Es gilt als das größte Verdienstdes am Mittwoch im Alter von77 Jahren abgelösten Staats-und Parteichefs, daß er die DDRwährend seiner 18jährigenAmtszeit aus der internationa-len Isolation herausgeführt undin der Staatengemeinschaft hof-fähig gemacht hat.

Für den deutschen Kommuni-sten war es ein dorrienreicherWeg. In seiner Biographie gibter zu, der Chef Organisator beimBau der Berliner Mauer im Jahr1961 gewesen zu sein. Ihm seivom damaligen ersten Mann desLandes, Walter Ulbricht, „dieVorbereitung und Durchfüh-rung der hierfür erforderlichenAktionen" übertragen worden,

schrieb Honecker in „Aus mei-nem Leben".

Damals hatte sich Honeckerals SED-Sicherheits-und Kader-chef bereits zu einer Art Kron-prinz des Staatsgründers Ul-brichtemporgearbeitet. 1971 lö-ste er den im Volk ungeliebten„sächsischen Spitzbart" schließ-lich als Ersten Sekretär der Par-tei ab. Fünf Jahre später verei-nigte Honecker in seiner Personalle Machtfülle: Er war SED-Ge-neralsekretär, Vorsitzender desStaatsrates und Vorsitzenderdes Verteidigungsrates.

Für manche im Westen war erlange Zeit nur eine MarionetteMoskaus, andere sahen in ihmeinen deutschen Patrioten, deran der Trennungslinie zwischenOst und West immer wieder die„Verantwortungsgemeinschaft"beider Staaten,für den Friedenproklamierte.- Über einen festen„Klassenstandpunkt" Honek-kers bestand nie ein Zweifel.Seine Maxime lautete: ,Der So-zialismus in der DDR ist unwivderruflich." " ''','.,

Bereits, mit. 17 Jahren, wurdeder am 25. August 1912 im saar-ländischen Neunkirchen gebo-rene Honecker Mitglied der

Kommunistischen Partei. An-fang der 30er Jahre absolvierteder gelernte Dachdecker einenLehrgang an der MoskauerKomintern-Schule. 1935 wurdeder führende KPD-Jugendfunk-tionär von den Nazis verhaftet,die Zeit bis zum. Kriegsendemußte er im Zuchthaus Bran-denburg verbringen. Ulbrichtbeauftragte ihn in der Folge mitdem Aufbau der Freien Deut-schen Jugend (FDJ), deren Vor-sitzender er bis 1955 war. Be-reits 1946 wurde Honecker Mit-glied des SED-Zentralkomitees.Zwölf Jahre später, 46 Jahre alt,saß er bereits im Politbüro.

In seiner Ära rückte die DDRunter die zehn führenden Indu-strienationen der Welt auf, fürdie Sowjetunion wurde Ost-deutschland zu einem herausra-genden Partner. Doch gerade inden vergangenen Jahren hattedie „unverbrüchliche" Freund-schaft arge Risse bekommen.Die neue Linie Honeckers laute-te seit einiger Zeit: „Sozialismusja, aberiivden Farben der DDR".,,/ Zehntausende , von .frustrier-ten Bürgern ziehen dieser Tagedaraus ihre persönliche Konse-quenz.

„Geh' mal runter, Egon, vielleicht kannst du das Volk beruhigen!"

Presse-EchoMit der „Hitparade" der UmweltschützerbefaSt sich der

Münchner MerkurMÜNCHNER ZEITUNG

Die vom Institut für Demoskop-pie in Allensbach vorgelegte„Umweltpolitiker-Hitparade"läßt besonders für die UnionSchlimmes befürchten. Zwarrangiert ihr berufsmäßiger Umrweltschützer Klaus Töpfer vordem Grünen Joschka Fischer an:erster Stelle, doch danach heißtes erst einmal Fehlanzeige.Selbst einem saarländischenSPD-Umweltminister Jo Leinen,dessen Amtsführung alles ande-re als unumstritten ist, trauendie Bundesbürger mehr Kompe-tenz zu als Kohl, Späth, Wall-mann, Albrerht und Streibl.Und das, obwohl die Umweltpo-litik der Bonner Koalition in Eu-

ropa als vorbildlich dasteht...Woran liegt es, daß radikale Ak-tivisten wie zum Beispiel von„Greenpeace" die Herzen derBundesbürger erobert zu habenscheinen und offizielle Stellenwie das Umweltbundesamt nurvon wenigen als vorbildlich an-gesehen werden? Ein Grund istdie „Kunst" vieler Politiker, je-den auch noch so guten Vor-schlag in endlosen Konferenzenund Debatten erst einmal zu zer-reden.

Zum selben Thema die .

BENINER MORGENPOSTDas Ergebnis der Meinungs-

umfrage ... müßte unsere Politi-ker eigentlich sehr erschrecken- ungeachtet ihrer Parteizuge-hörigkeit. Denn das Vertrauen

der Bürger in ihr Engagement,ihre Glaubwürdigkeit und ihreSachkunde in Umweltfragen istziemlich gering.

Schließlich die

OFFENBACH POST

Ein gerüttelt Maß Politikver-drossenheit im allgemeinen magbei der Umfrage eine Rolle ge-spielt haben. Noch größer aberist vermutlich der Effekt, denspektakuläre Aktionen, wie sienun einmal von Greenpeace re-gelmäßig aufgeführt werden,beim Bürger haben. Das Anket-ten an mit Giftmüll beladeneSchiffe ist allemal eindrucksvol-ler als die mühevolle und lang-wierige .Gesetzesarbeit in Bonn,mit der Wege zur Müllvermei-dung erschlossen werden sollen.

SEINEN LETZTEN GROSSEN AUFTRITT hatte Honecker bei denDDR-Gründungsfeierlichkeiten vor knapp zwei Wochen. Kreml-chef Gorbatschow erhielt den obligatorischen Bruderkuß.

Honecker-Erklärung im Wortlaut

„Zum Wohle des Volkes"Liebe Genossinnen und Ge-nossen! Nach reiflichem Über-legen und im Ergebnis dergestrigen Beratung im Politbü-ro bin ich zu folgendem Ent-schluß gekommen: Infolgemeiner Erkrankung und nachüberstandener Operation er-laubt mir mein Gesundheits-zustand nicht mehr den Ein-satz an Kraft und Energie, dendie Geschicke unserer Parteiund des Volkes heute undkünftig verlangen. Deshalbbitte ich das Zentralkomitee,mich von der Funktion des Ge-neralsekretärs des ZK derSED, vom Amt des Vorsitzen-den des Staatsrates der DDRund von der Funktion des Vor-sitzenden des Nationalen Ver-teidigungsrates der DDR zuentbinden. Dem Zentralkomi-tee und der Volkskammer soll-te Genosse Egon Krenz vorge-schlagen werden, der fähigund entschlossen ist, der Ver-antwortung und dem Ausmaßder Arbeit so zu entsprechen,wie es die Lage, die Interessender Partei und des Volkes unddie alle Bereiche der Gesell-schaft umfassenden Vorberei-tungen des XII. Parteitages er-fordern."

„Liebe Genossen! Mein gan-zes bewußtes Leben habe ich

in unverrückbarer Treue zurrevolutionären Sache der Ar-beiterklasse und zu unserermarxistisch-leninistischenWeltanschauung der Errich-tung des Sozialismus auf deut-schem Boden gewidmet. DieGründung und die erfolgreicheEntwicklung der sozialisti-schen Deutschen Demokrati-schen Republik, deren Bilanzwir am 40. Jahrestag gemein-sam gezogen haben, betrachteich als die Krönung des Kamp-fes unserer Partei und meineseigenen Wirkens als Kommu-nist.

Dem Politbüro, dem Zentral-komitee, meinen Kampfgefähr-ten in der schweren Zeit desantifaschistischen Widerstan-des, den Mitgliedern der Parteiund allen Bürgern unseresLandes danke ich für jahr-zehntelanges gemeinschaftli-ches und fruchtbares Handelnzum Wohle des Volkes.

Meiner Partei werde ichauch in Zukunft mit meinenErfahrungen und mit meinemRat zur Verfügung stehen.

Ich wünsche unserer Parteiund ihrer Führung auch wei-terhin die Festigung ihrer Ein-heit und Geschlossenheit unddem Zentralkomitee weiterenErfolg." Erich Honecker

Steile Karriere des Schneidersohns

Krenz: Schon langeHoneckers KronprinzVon dpa-Korrespondent Bernd Kubisch

Ke

(Karikatur: Wolf)

i-ein SED-Politiker der Nach-folge-Generation hat schon invergleichsweise jungen Jahrensolch eine Karriere gemacht wieEgon Krenz (52), der bei seinemWerdegang einiges gemeinsamhat mit Erich Honecker. Als46jähriger wurde er - fast imAlter wie damals Erich Ho-necker - Vollmitglied im Polit-büro. Der „Benjamin" erhielt alsSekretär des Zentralkomiteesdie wichtigen Bereiche Sicher-heit und Kaderfragen, außerdemJugend und Sport, und kam seitdieser Zeit mehr und mehr alsHonecker-Kronprinz ins Ge-spräch.

In der Sache hart

Der am 19. März 1937 in Kol-berg geborene Krenz gilt im Tonfreundlich, in der Sache hart. Ersei „hart im Austeilen, aberauch im Einstecken", wird ge-sagt. Locker und selbstbewußtgab er sich bei Oskar Lafontainein Saarbrücken im Juni 1989.Vorwürfe über die DDR-Hal-tung zum blutigen Militärein-satz in China versuchte er mitdem Satz zu kontern, man könnenicht von den „Horrordarstel-lungen der BRD-Medien" ausge-hen.

Krenz, Sohn eines Schneiders,kam 1953 in die FDJ, zwei Jahrespäter in die SED, absolvierteeine Lehrerausbildung. Schlifffür seine Karriere erhielt er1964 bis 1967 auch an der Par-teihochschule der KPdSU inMoskau, an der er den Grad ei-nes Diplom-Gesellschaftswis-senschaftlers erwarb. Wichtigepolitische Stationen: Sekretärdes FDJ-Zentralrats von 1961

bis 1964 und wieder von 1967an; Vorsitzender der Pionieror-ganisation ab 1971, seit Anfang1974 Erster Sekretär des FDJ-Zentralrats und - wie Honecker- neun Jahre Chef des Jugend-verbandes.

Ins SED-Zentralkomitee kamKrenz 1971. Zehn Jahre späterwurde er Mitglied des Staatsra-tes. Für seine Berufung als Se-kretär des ZK mit Politbüro-Vollmitgliedschaft ab 26. No-vember 1983 soll sich vor allemHonecker stark gemacht haben.Im folgenden Jahr wurde Krenzdann auch einer der Stellvertre-ter Honeckers als Staatsratsvor-sitzender.

Wirkt recht sicher

Gesprächspartnern fällt auf,daß Krenz im Gegensatz zu an-deren SED-Funktionären auchohne Redetext und hölzernesSozialisten-Deutsch recht si-cher wirkt. Als FDJ-Chef zeigteder heute 52jährige bei öffentli-chen Auftritten nicht selten ei-nen krampfhaft auf „jugendli-chen Schwung" angelegten Stil.Bei Beobachtern in Ostberlin hatKrenz, der bisher eher zu denHardlinern im Politbüro gerech-net wurde, seit seiner FDJ-Zeitan Profil gewonnen.

Es wird Krenz nachgesagt,daß er gern ein Gläschen trinke.Andere glauben zu wissen, einesehr gefährliche Zuckerkrank-heit mache ihm arg zu schaffen.Gesprächspartner betonen da-gegen, daß ihnen Krenz nicht alsSchwerkranker begegnet seiund als Honecker-Vertreter beidessen Erkrankung und Urlaubrecht souverän fungierte.

Page 29: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSACHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSIS KASSEL1 P 3713 A

ALLGEUNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 245 • Freitag, 20. 10. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

DDR-Flüchtlinge

Über Ungarnkamen 1900

Warschau/München (dpa).Der Strom von DDR-Flüchtlin-gen über Ungarn nach Bayernund zur Bonner Botschaft inWarschau hat wieder kräftig zu-genommen. In der polnischenHauptstadt sollen sich mittler-weile über 1750 Ausreisewilligein der Vertretung der Bundesre-publik gemeldet haben. Gesternabend landete das zweite Char-terflugzeug mit etwa 150 DDR-Flüchtlingen aus Warschau inDüsseldorf.

Über Ungarn sind bis gesternmorgen 1900 Übersiedler ausder DDR nach Bayern gekom-men. Am Vortag waren es 1238.Ursache für das Anschwellendes Flüchtlingsstroms sind of-fenbar die einwöchigen Herbst-ferien in der DDR. Sie enden andiesem Sonntag. Seit Öffnungder ungarisch-österreichischenGrenze am 11. September habensich nahezu 50 000 DDR-Bürgerauf diesem Weg in den Westenabgesetzt. In der bundesdeut-schen Botschaft in Prag haltensich nach wie vor etwa 50 Aus-reisewillige auf.

NRW in Leipzig

DDR sagtKulturschau ab

Düsseldorf (AP). Die Regie-rung der DDR hat eine für No-vember vereinbarte nordrhein-westfälische Kulturpräsentationin Leipzig abgesagt. Minister-präsident Rau sagte am Don-nerstag, die DDR-Führung habeam Mittwoch abend mitgeteilt,daß sie die mit Erich Honeckervereinbarte Kulturpräsentationzum gegenwärtigen Zeitpunktnicht für realisierbar halte.Gleichzeitig habe die DDR umeine Verschiebung auf einen„günstigeren, später zu verein-barenden Zeitpunkt" gebeten,sagte Rau im Landtag.

Der SPD-Politiker bedauertedie Entscheidung und sagte, fürviele Menschen in der DDR seidie Frage, ob und wann es zusolchen kulturellen Austausch-

' Veranstaltungen zwischen denbeiden deutschen Staaten kom-me, „ein Gradmesser für die Of-fenheit und Gesprächsfähigkeitder neuen Führung".

Prager Cafe

Razzia mitFestnahmen

Wien (AP). Bei einer Razziaauf einem Treffen von Vertre-tern einer internationalen Men-schenrechtsgruppe mit tsche-choslowakischen Bürgerrecht-lern in Prag sind am Donnerstagnach Mitteilung unterrichteterWiener Kreise . 14 Menschenvorübergehend festgenommenworden. In Polizeigewahrsamgenommen worden seien unteranderen der frühere tschecho-slowakische Außenminister JiriHajek sowie die SchriftstellerinEva Kantukova und der Philo-soph Radim Palous. Alle hättenan einer Begegnung in einemCafe teilgenommen, erklärtendie Informanten. Später hieß es,bis zum Abend seien alle wiederfreigelassen worden.

Hajek leitet die sogenannteHelsinki-GFuppe in der CSSR,die sich die Überwachung derEinhaltung der Menschenrechtezur Aufgabe gemächt hat.

Der Schriftsteller Vaclav Ha-vel und ein weiterer Dissidentsind der Festnahme nur knappentgangen, da sie durch Zurufvor dem Cafe gewarnt wurden.

1990

Bauenteurer

Bauherren wer-den im kommendenJahr tiefer in die Ta-sche greifen müs-sen. Nach Ansichtdes Deutschen Bau-gewerbes werdensich die Preise imDurchschnitt mögli-cherweise um vierProzent verteuern.Siehe auch Wirt-schaft.

Literatur/Cela

Nobelpreisan Spanier

Der Spanier Ca-milo Jose Cela(Foto) erhält den Li-teratur-Nobelpreis.Die Akademie be-gründete ihre Ent-scheidung damit, erhabe eine „Visionder Ausgesetztheitdes Menschen" ge-staltet. Siehe Kul-turteil und „ZumTage".

Übersiedler

WenigHoffnung

Wird sich nachdem Machtwechselin der DDR etwasbewegen? Ehemali-ge DDR-Bürger, diejetzt in Kassel leben,äußerten sich in ei-ner Umfrage eherpessimistisch überdie Reformaussich-ten in ihrer ehemli-gen Heimat. SieheLokalteil.

29 Tote

Erdbebenin China

Während in SanFrancisco Nachbe-ben die Aufräu-mungsarbeiten be-hinderten, ereignetesich auch im Nor-den Chinas ein Erd-beben. Mindestens29 Menschen ka-men ums Leben.8000 Häuser stürz-ten ein. Siehe „Blickin die Zeit".

Schalke - KSV

Siebert:2:0 für 04

„Auf Schalke" -das war für die Fuß-baller des KSV Hes-sen Kassel schonimmer ein besonde-rer Hit. Für das heu-tige Match im Park-stadion tippt GünterSiebert, Kasselänerund später dreimalSchalker Präsident,einen 2:0-Sieg desFC. Siehe Sport.

Treffen mit Kirchenvertretern

Krenz bekräftigt„Wende" zumoffenen Dialog

Berlin (dpa/AP). In die offizielle DDR-Politik kommt offen-bar Bewegung. In einem Gespräch mit führenden Vertreternder evangelischen Kirche unterstrich der neue SED-General-sekretär Egon Krenz gestern seine Bereitschaft, „eine Wen-de" zu einem offenen und ausgewogenen Dialog über allewichtigen Fragen einzuleiten.

Bei dem Spitzengespräch zwi-schen Staat und Kirche, das demVernehmen nach bereits vor derAblösung Honeckers verabre-det worden war, waren sich bei-de Seiten nach Angaben vonADN einig, jetzt Vertrauen inder DDR zu schaffen. Krenz unddie evangelischen Kirchenfüh-rer hätten darin übereingestimt,daß alle Bevölkerungsteile alsmündige Bürger unter Wahrungaller staatsbürgerlichen Rechteund Pflichten an der demokrati-schen Willensbildung beteiligtsein sollten, „damit im' Lebengilt, was Recht und Gesetz ist".

Außerdem sprach Krenz anseinem ersten Arbeitstag als Ge-neralsekretär auch mit Arbei-tern eines Werkzeugmaschi-nen-Kombinats in Ostberlin

Wie die Ostberliner über denWechsel in der Partei- und Staats-führung denken, lesen Sie auf

Themen des Tages". Dort findenSie auch den Kommentar.

Ausschüssen müßten die Fragenzur Diskussion gestellt werden,„die uns he\ite hemmen in derweiteren Entwicklung unserersozialistischen Gesellschaft".

Als Zeichen für eine möglicheWende in der DDR wurde vonBeobachtern auch die Anwei-sung des Ministerates an das In-nenministerium in Ostberlin ge-wertet, umgehend einen Gesetz-entwurf für Reisen von DDR-Bürgern ins Ausland auszuar-beiten und der Regierung vorzu-legen. Landesbischof Leich er-klärte zudem nach dem Ge-spräch mit Krenz, er erwarte,daß es bald „großzügigere Er-weiterungen" der bisherigenReisepraxis geben werde. Ertraue Krenz zu, den Unmut derBevölkerung besänftigen zukönnen und zu einem gemensa-men Dialog zu kommen.

Nur Übergangslösung?

über aktuelle Probleme. Dabeimußte er sich - wie überra-schend auch im DDR-Fernsehenzu sehen war - heftige Kritik anden Zuständen im Land anhö-ren. Krenz erklärte, Nachden-ken über Veränderungen müß-ten alle.

Volkskammerpräsident Sin-dermann kündigte inzwischenan, daß das DDR-Parlament sei-ne Arbeitsweise verbessernwerde. Im Plenum und in den

Dennoch überwogen am Don-nerstag eher pessimistische Er-wartungen über einen neuenReformkurs. Krenz, der von ei-ner „Wende" gesprochen hatte,aber als „harter SED-Mann" gilt,wird vielfach als Übergangslö-sung angesehen.

Der SED-Hoffnungsträger derSystemkritiker, der Erste Sekre-tär der Dresdner SED-Bezirks-leitung, Modrow, hält dagegeneinen „tiefen Wandel für unab-dingbar".Fortsetzung nächste Seite

Wissenschaftler zur Fluchtwelle

DDR verliert MilliardenBerlin (dpa). Die Ausreise-

und Flüchtlingswelle kostetdie DDR Milliarden. Bei einemNationaleinkommen von268,4 Milliarden DDR-Markund gegenwärtig 8,6 MillionenBerufstätigen der DDR gingenpro zehntausend Ausreisendejährlich 0,12 Prozent des Na-tionaleinkommens verloren,sagte der Wirtschaftswissen-schaftler Peter Thal von der

Universität Halle/Wittenbergin einem Beitrag für die FDJ-Zeitung „Junge Welt" am Don-nerstag. Das seien rund 330Millionen Mark, betont derWissenschaftler. Da es sichvornehmlich um junge Leutehandele, verliere die DDR auf30 vor ihnen liegende Arbeits-jahre berechnet zehn Milliar-den Mark pro zehntausendAusreisende.

5 0 MillionenGetriebeaus Kassel19. OKTOBER 1989

50millionstes VW-Getriebe aus Kasse!Neue Superlative beim VW-Konzern: Gestern lief im Werk Kasselin Baunatal (19 220 Mitarbeiter), der größten Getriebefabrik ,derWelt, das 50millionste Getriebe vom Band. „Dies ist ein Augen-blick, auf den die Mannschaft hier stolz sein kann", erklärte VW-Vorstandsmitglied Günter Hartwich. Unser Foto zeigt von rechtsWerksleiter Fritz Zorn, Hartwich, VW-Mitarbeiter RainerSchmidt - der das gute Stück, das dem VW-Museum in Wolfsburgzur Verfügung gestellt werden soll, präsentierte - und Betriebs-rats-Chef Karl-Heinz Mihr. Siehe auch Wirtschaft.

(bre / Foto: Haun)

Bundestag / Differenzen in der Koalition

SPD: Mit FDP gegenBankenmacht angehen

Bonn (AP/dpa). Die Sozialde-mokraten haben der FDP ange-boten, in der nächsten Wahlpe-riode gemeinsam gesetzliche Re-gelungen zur Begrenzung derBankenmacht gegen die zögern-de Haltung der Union durchzu-setzen. In einer Debatte des Bun-destages legten gestern alleFraktionen die ihrer Ansichtnach notwendigen Schritte zurBegrenzung der Bankenmachtvor, wobei erneut Differenzenzwischen FDP und Union deut-lich wurden.

Der CDU-Abgeordnete RudolfSprung bekräftigte zwar dasZiel, noch in dieser Wahlperiodefür mehr Transparenz und Of-fenlegung bei den Aufsichtsrats-mandaten der Banken zu sorgen.Zur Frage einer Beschränkungder Zahl der Mandate erinnerteer indes daran, daß schon heutenur zehn Aufsichtsratsmandatepro Kopf erlaubt sind. „Dabeisollte es bleiben." Die Union leh-ne auch gesetzliche Regelungen

zur Begrenzung des Anteilsbe-sitzes an Industrie- und anderenUnternehmen ab.

Der FDP-Vorsitzende Lambs-dorff bedauerte, daß die Union„in der ordnungspolitischen Be-wertung des Themas Banken-macht einen weniger scharfenBlick hat als die FDP". Jedenfallshabe sie in der Arbeitsgruppeder Koalition bislang kein positi-ves Votum zur Rückführung desAnteilsbesitzes abgegeben, wasdie FDP nach wie vor für gebotenhalte. Sie werde nach der Bun-destagswahl auf dieses Themazurückkommen, versicherte er.

Der SPD-Abgeordnete Rothbot der FDP daraufhin an, in dernächsten Legislaturperiode ge-meinsam Regelungen zum An-teilsbesitz zu finden. Die SPDschlug vor, den Anteilsbesitz auffünf Prozent zu beschränken, dieAufsichtsratsmandate auf fünfzu vermindern und das Depot-stimmrecht zu beschränken.Siehe auch Kommentar

Zum Tage

Keine GesteIhre Entscheidungen sind uner-forschlich wie das Schicksal. Wie-der hat die schwedische Akade-mie alle Erwartungen und Spekula-tionen über den diesjährigen Preis-träger enttäuscht, hat zum wieder-holten Male verdiente Anwärteraus vielen Ländern auf die literari-sche „Heiligsprechung" übergan-gen. Graham Greene und DorisLessing, Günter Grass und MaxFrisch, seit Jahren.im Gespräch fürdiese herausragende Ehrung, ha-ben wohl längst die Hoffnung auf-gegeben, die Stockholmer Jurorenmit ihrem Werk zu beeindrucken.Und wer es für möglich gehaltenhätte, daß die weltfernen Kunst-richter im hohen Norden ihr immerdeutlicher zu Tage tretendes geo-graphisches Rotationssystem beider Preisvergabe in diesem Jahrunterbrechen oder gar aufgebenwürden, sah sich erst recht ent-täuscht. 1989 war die spanischeLiteratur „dran"; und gegen den inseinem Heimatland vielfach preis-gekrönten Romancier Camilo JoseCela, einen Erneuerer der spani-schen Nachkriegsliteratur zumal,ist sicher nichts einzuwenden.

Aber es hatte ja auch sein kön-nen, daß die Akademie, ange-sichts der akuten Bedrohung Sal-man Rushdies (in England Trägerdes „Booker", im Rang ähnlich un-serem Büchnerpreis) ein Zeichengegen den Angriff auf die Freiheitdes Worts - nicht nur dieses Au-tors — gesetzt hätte. Die Gesteblieb aus. Wen der Nobelpreistrifft, ist eben Schicksal.

Claudia Sandner-v.Dehn

Studentenberg/Grüner

»Minister sindübergeschnappt'

Bonn (dpa). Der Vorsitzenderli's Bundestags-Bildungsaus-stliüsses, der Grünen-PolitikerDietrich Wetzel, hat den Fi-üciiizministern von Bund undLändern vorgeworfen, die ge-genwärtigen Hochschulproble-me „in einer nicht mehr hin-nehmbaren unverschämtenWeise" zu ignorieren. „Die Fi-nanzminister sind überge-schnappt". Bei 800 000 Studien-plätzen und fast 1,5 MillionenStudenten könne man den„Überhang" von über 650 000nicht einfach zu Schein- undParkstudenten erklären. Wetzelnahm damit Stellung zu einemBrief der Finanzminister an Kohlund an die Ministerpräsidenten.Darin heißt es, die Finanzmini-ster sähen keinen Anlaß, denHochschulen mehr Geld zurVerfügung zu stellen.

Argentinien / England

Feindseligkeitbeigelegt

Madrid (AP). Sieben Jahrenach dem Falklandkrieg habenGroßbritannien und Argenti-nien am Donnerstag beschlos-sen, das Kriegsbeil zu begrabenund wieder normale Beziehun-gen aufzunehmen. Nach Ver-handlungen in Madrid wurdebekanntgegeben, beide Regie-rungen hätten zur Kenntnis ge-nommen, daß es keine Feindse-ligkeiten mehr gebe.

Quoten vom MittwochslottoZiehung A: Gewinnklasse 186 755,90DM; II 47 715,70 DM; III 2195,50DM; IV 51,- DM; V 4,20 DM.Ziehung B: Gewinnklasse I1 919 606,60 DM; II 68 165,30 DM;III 4558,80 DM; IV 69,10 DM; V 5,30DM.

(Ohne Gewähr)

Page 30: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 245 Tolitik Freitag, 20. Oktober 1989

Namen undNachrichten

Schamir bleibt hartDer israelische Ministerpräsi-dent IzchakSchamir hat be-kräftigt, . daßseine Regie-rung am bibli-schen „LandeIsrael" festhal-ten und „keinenzweiten arabi-schen Staat aufisraelischemBoden duldenwird". In einerungewöhnlichscharfen Rede sagte Schamir inJerusalem: „Dies ist unser Landseit dem Morgengrauen der Ge-schichte, und so wird es immerbleiben."

Opposition will SpendenDie beiden Oppositionsparteienim Landtag von Nordrhein-Westfalen, CDU und FDP, ha-ben gestern an die Bürger desLandes appelliert, durch Spen-dengelder die Arbeit der zentra-len Erfassungsstelle in Salzgitterfür Menschenrechtsverletzun-gen in' der DDR sicherzustellen.Die SPD-geführte Landesregie-rung hat die Finanzierung derErfassungsstelle aus öffentli-chen Mitteln eingestellt.

Zweitwährung für EstenDie baltische SowjetrepublikEstland plant die Ausgabe einerZweitwährung, die den Rubelteilweise ersetzen soll. Wie inMoskau gemeldet wurde, sollallen Bewohnern Estlands vonJanuar 1990 an ein bestimmterProzentsatz ihrer Einkommen inZertifikaten ausgezahlt werden,für die sie Konsumgüter kaufenkönnten, die für Rubel nicht zuerhalten seien.

,Mehr Geld für Gefangene'Justizminister Hans Engelhard

| (FDP) hat sich| nachdrücklichi für eine Eihbe-S ziehung, '. derJ Strafgefänge5- :-nen inV- dieKrankeiy- ;.undRentenvferai^ ,cherung • unddie Erhöhung

| ihres Ärbeits-i! entgeltes aus^| gesprochen. BeiI der Bundes-

tagsdebatte über die Auswir-kungen des Strafvollzugsgeset-zes von 1976 forderte Engelharddie Bundesländer auf, trotz lee-rer Kassen über derartige Ver-besserungen nachzudenken.

Zweischneidiger ErfolgDie Kampagne gegen Pornogra-phie in der Volksrepublik Chinahat allem Anschein nach zu ei-nem zweischneidigen Ergebnisgeführt. Zwar meldeten die chi-nesischen Zeitungen auf den Ti-telseiten einen beeindrucken-den Erfolg, da 30 Millionen por-nographische Bücher und Zeit-schriften abgeliefert worden sei-en; im Blattinneren wurde je-doch enthüllt, daß auch der Ver-kauf pornographischer Schrif-ten im Zuge der Kampagne an-gestiegen sei. ••••• ;

DGB will SchuldenerlaßDer stellvertretende DGB-Vor-sitzende Gu-stav Fehren-bach hat ge-stern einenSchuldenerlaßfür alle Bafög-Bezieher gefor-dert. Einen Tagnach der Ent-scheidung derBundesregie-rung, die Aus-bildungshilfewieder zurHälfte als Zuschuß zu zahlen,appellierte Fehrenbach an Bonn,auch all denen, die seit 1983 nurnoch auf Darlehensbasis geför-dert worden seien, die Hälfteder aufgelaufenen Bafög-Schul-den zu erlassen.

Hilfe für die ÄrmstenEtwa 4 bis 4,5 Millionen Rent-ner sowie Kinder bis zu sechsJahren in den ärmsten Familienwerden in Polen ab DezemberGutscheine für kostenlose Le-bensmittel erhalten. Wie inWarschau berichtet wurde, er-halten sie mit den Scheinen Ma-germilch, Käse und Brot.

Von DDR-Führung . Wohlfahftsverbände Gipfel-Thema Südafrika

Genscher mahnt Für höhereReformen an Sozialhilfe

Frankfurt (AP). Bundesaußen-minister Genscher hat die neueFührung der DDR aufgefordert,den angekündigten Dialog mitBevölkerung, Kirchen, dem„Neuen Forum" und anderenOppositionsgruppen „nun auchtatsächlich" zu führen. Bei derEröffnung der Konferenz des In-ternationalen Instituts für Ost-West-Sicherheitsstudien for-derte Genscher am Donnerstagin der Frankfurter Paulskirche:„Daraus müssen sich grundle-gende Reformen ergeben." Dieneue Führung in der DDR werde"von den Menschen ihres Landes„daran gemessen werden, wieentschlossen und konsequentsie den Weg von Dialog und Re-formen beschreiten wird".

Die Bundesregierung wollesich nicht einmischen in die in-neren Angelegenheiten derDDR, erklärte Genscher, „aberwir wollen, daß sich die Men-schen in der DDR in die innerenAngelegenheiten des Staates, indem sie leben, einmischen kön-nen". Genscher forderte zu ei-ner verstärkten Kooperation derwestlichen Welt mit den reform-orientierten Staaten Osteuropasauf. Das wirke unterstützend.

Bonn (dpa). Die Sozialhilfemuß nach Ansicht der Wohl-fahrtsverbände „endlich auf einNiveau angehoben werden, daseinem der reichsten Länder derWelt angemessen ist". Sie ap-pellierten am Donnerstag an dieMinisterpräsidenten der Bun-desländer, auf ihrer SitzungEnde Oktober in Berlin das lan-ge vorbereitete neue Berech-nungsschema zu verabschieden.Es sollte ursprünglich 1990 ein-geführt werden. Die Wohl-fahrtsv^rbände seien zur Zeitverbittert über die Hinauszöge-rung.

Die Anpassung der Berech-nungsgrundlage an die tatsäch-lichen Verbrauchsgewohnhei-ten der unteren Einkommens-schichten sei dringend notwen-dig, sagte der Bundesvorsitzen-de der Arbeiterwohlfahrt, Her-mann Buschfort, als Sprecherder Wohlfahrtsverbände vorder Presse in Bonn. Dies werdebei der Einführung etwa eineMilliarde Mark zusätzlich ko-sten. Vor allem Alleinerziehen-de und kleine Haushalte erhiel-ten heute zu wenig Sozialhilfe.Betroffen sind rund 2,5 Millio-nen Sozialhilfeempfänger.

Thatcher lehntSanktionen ab

Kuala Lumpur (dpa). Die briti-sche Premierministerin That-cher hat sich am Donnerstag inder Südafrika-Frage erneut derüberwältigenden Mehrheit derCommonwealth-Staaten entge-gengestellt und sich geweigert,neuen Sanktionen gegen Preto-ria zuzustimmen. Auf dem Gip-feltreffen der Regierungschefsder 49 Commonwealth-Mitglie-der' in der malaysischen Haupt-stadt Kuala Lumpur vertrat sieunverändert ihre Auffassung,daß zusätzliche politischeDruckmittel „kontraproduktiv"wären, um Südafrika zur Aufga-be seiner Apartheid-Politik zuzwingen.

Nach Angaben britischerKonferenzkreise sagte That-cher, daß Sanktionen Südafrikasneuen Staatschef de Klerk ent-mutigen könnten, die von ihm inAussicht gestellten Reformendurchzuführen. Auch argumen-tierte die Premierministerin, daßSanktionen auf Kosten des ar-men schwarzen Bevölkerungs-teils Südafrikas gehen würden.Die Sanktionsfrage hatte schonbeim letzten Gipfel vor zweiJahren Thatcher und die übri-gen Regierungschefs entzweit.

SED-Chef Krenz suchte das Gespräch mit ArbeiternDie DDR-Nachrichtensendung„Aktuelle Kamera" brachte ge-stern Bilder und Gespräche vomBesuch des neuen SED-Gene-ralsekretärs Egon Krenz (links)bei Arbeitern einer OstberlinerMaschinenfabrik. Dabei ging es- auch überraschend für dieFernsehzuschauer in der DDR -um das Thema Massenflucht.Die Arbeiter artikulierten sehrdeutlich und sehr kritisch dieUmstände und Gründe, die dazuführten, daß so viele DDR-Bür-

ger in die Bundesrepublik flüch-teten: „Ich bin der Meinung,man muß bedeutend mehr aufdie Leute eingehen, auf ihre Pro-bleme, ihre Wünsche und so"weiter. Wenn det gelingt, ickgloobe, dann kommt det och mitdem Flitzen (Flüchten) zu ste-hen", sagte ein Reparatur-schlosser dem neuen SED-Chef.Krenz hatte die Arbeiter nachden Ausreisegründen gefragt.Und das waren die Antworten:Die Leute hätten keinen Aus-

weg mehr gesehen. „Dann sindse gerannt." Es hätte an derVielzahl der Dinge gelegen, diesich angestaut hätten. Auch daßnicht über die Probleme geredetworden sei, hätte die Leute„echt verärgert". Krenz meinte,es sei einfach, alles auszuspre-chen, man müsse es aber auchverändern können. Nachden-ken über Veränderungen müß-ten alle, meinte er. Die Arbeiter-antwort: „Na logisch."

(dpa-Funkbild)

Amtsantritt Krenz'/ Überraschung im DDR-Fernsehen

Live-Fragen an SED-PolitikerFortsetzung

: Daran müßten laut Modrowalle.Klassen und Schichten -insbesondere die Jugend, undChristen - beteiligt sein. ÄDNberichtete auch über diese Äu-ßerungen, die Modrow vor über2000 Teilnehmern einer Tagungder.Dresdner SED am Donners-tag machte. Modrow betonte,die in" der Sowjetunion gesam-melte Erfahrung sollte auch inder DDR genutzt werden.

Gestern abend wurden DDR-Spitzenpolitiker ' erstmals imDDR-Fernsehen live und offen-bar völlig unszensiert von DDR-TV-Zuschauern befragt. DieseForm der Präsentation wurdevon Beobachtern als kleine Sen-sation empfunden. Auch dabei

ging es um die Reisefrage. DieSED-Politiker äußerten die Er-iWartung, daß alle DDR-Bürgerin Zukunft mit der Ausstellungeines Reisepasses rechnen kön-nen. Der Dresdner Oberbürger-meister Berghofer betonte vorallem die Notwendigkeit glei-cher Behandlung bei den Anträ-gen auf ein Visum „unabhängig

. etwa von Verwändtschaft imAusland". Darunter wird in derDDR auch die Bundesrepublikverstanden.

Der Gesellschaftswissen-:schaftler Prof. Otto Reinhold,Mitglied des Zentralkomiteesder SED, rechnete jedoch diewirtschaftliche Seite solcherReiseerleichterungen vor:Wenn jeder DDR-Bürger bei"den insgesamt 7,2 Millionen Be-

suchen in der Bundesrepublikim vergangenen Jahr dafür etwa500 Mark brauche, wären dasrund 3,5 Milliarden Mark anDevisen. Berghofer äußerte in

• diesem Zusammenhang die Er-wartung, die Bundesrepubliksollte „?u gegebener Zeit aufeine Reiseregelung damit rea-gieren, daß sie Abstand nehmevon solchen Positionen wie derObhutspflicht für DDR-Bürger".

Am Tag des Rücktritts vonHonecker hat nach Informatio-nen der „Bild"-Zeitung auchWilly Stoph, der Vorsitzendedes DDR-Ministerrates, um sei-

inen Rücktritt ersucht. Das Ge-such Stophs sei jedoch abge-lehnt worden, berichtete dasBlatt unter Berufung auf „diplo-

imatische Kreise".

Afanassjew wechselt in Wissenschaftsakademie

Langjähriger „Prawda"-Chefredakteur muß gehenMoskau (AP). Der langjährige

Chefredakteur des sowjetischenParteiorgans „Prawda", ViktorAfanassjew, ist am Donnerstagvon seinem Posten abgelöstworden und wird in die Sowjeti-sche Akademie der Wissen-

schaften überwechseln. Dasteilte einer der Mitarbeiter des66jährigen Chefredakteurs,Wassili Popow, in einem Tele-foninterview mit. Aus infor-mierten Kreisen in Moskau ver-lautete, Nachfolger Afanas,s-

jews werde der Philosoph IwanFrolow, der früher Redakteurbeim theoretischen Parteiblatt„Kommunist" war und seit ei-nem Jahr als Berater von Staats-und Parteichef Gorbatschowfungiert.

Bundestagsstreit um Wohnungsmangel

Hasself eldt:Nicht vorhersehbar

Bonn (dpa). Über die gegen-wärtige Wohnungsnot in derBundesrepublik ist es am Don-nerstag in einer von der SPDbeantragten Aktuellen Stundeim Bundestag zu gegenseitigenSchuldzuweisungen von Koali-tion und Opposition gekommen.SPD und Grüne hielten der Bun-desregierung vor, sie habe densozialen Wohnungsbau 1988mit etwas über 200 000 neuenWohnungen systematisch aufden „Tiefstand seit 1949" ge-bracht. Wegen der Flüchtlingeund Ostaussiedler verfalle sienun in Panik. Bundesbaumini-sterin Hasselfeldt (CSU) und an-dere Sprecher der Koalitionwiesen diese Vorhaltungen unddie Kritik zurück, die Regierunghabe die Probleme seit Jahrengeleugnet und verniedlicht.

Frau Hasselfeldt sagte, in derjetzigen Größenordnung sei „derjetzt deutlich gewordene Man-gel an Wohnungen" für nieman-den vorhersehbar gewesen. DieMinisterpräsidenten der Länderhätten einstimmig den Rückzugdes Bundes aus der Förderung

des sozialen Wohnungsbausverlangt und ihre eigenen Mittelzurückgefahren.

Die Ministerin kündigte eineErhöhung der Mittel für den so-zialen Wohnungsbau ab 1991,eine „rechtzeitige" Wohngeld-erhöhung und als zentrale Maß-nahme umfangreiche baurecht-liche Änderungen an, um dasBauen zu beschleunigen.

Der CDU-Abgeordnete Wer-ner Dörflinger forderte spürbareErleichterungen in der Bauleit-planung. Die Fristen für die Bür-gerbeteiligungen könnten dabeiverkürzt werden. Peter Conradi(SPD) äußerte daraufhin die Be-fürchtung, die Koalition wolleden Schutz der Mieter im Bau-recht schwächen. Die Regierungsei „in Panik geraten... und zujeder Dummheit bereit".

Conradi und die Grünen-Ab-geordnete Oesterle-Schwerinempörten sich über die jetzt ge-planten Vorhaben von Fertig-bau- und Tafelbauweisen. DieKoalition habe aus den 60er und70er Jahren mit Trabantenstäd-ten nichts gelernt.

Bonn prüft / Bei Schadstoffverminderung

Bald Förderung von Diesel-Pkw?Bonn (dpa). Die Regierungs-

koalition prüft jetzt auch ver-stärkt die Möglichkeiten der fi-nanziellen Förderung schad-stoffverminderter Diesel-Pkw.Das haben Sprecher vonCDU/CSU und FDP sowie Bun-desumweltminister Töpfer(CDU) am Donnerstag im Bun-destag in der ersten Lesung überdie Förderung des Drei-Wege-Katalysators bei benzinbetrie-benen Autos deutlich gemacht.Der FDP-Abgeordnete Rind sag-te, er stehe einer Einbeziehungder Diesel-Pkw bei Einhaltungder schärferen amerikanischen

Grenzwerte positiv gegenüber.Redner von SPD und Grünen

lehnten die Katalysator-Förde-rung generell ab und forderteneine drastische Besteuerung desEnergieverbrauchs.

Es fehle ein Gesamtkonzeptmit Tempolimit und Mineralöl-steuererhöhung, weniger Land-schaftsverbrauch sowie Gebo-ten und Verboten.

Der Gesetzentwurf der Bun-desregierung sieht bei Neuwa-gen eine befristete Steuerbefrei-ung bis Ende Juli 1991 vor. Sieentspricht einer Steuerersparnisvon 1100 DM.

Ungarn / Arbeitsplatz Bombenanschlag 1974

Parteizellen London: Urteilewerden verboten aufgehoben

Budapest (dpa). Das ungari-sche Parlament hat gestern mitüberwältigender Mehrheit be-schlossen, Parteiorganisationenan den Arbeitsplätzen zu ver-bieten. Am dritten Tag der vor-aussichtlich bis Samstag dau-ernden Sitzung nahmen die Ab-geordneten mit 323 Ja-, vier Ge-genstimmen und bei 15 Stimm-enthaltungen die Gesetzesvor-lage an, die jeden Einfluß vonParteien an den Arbeitsplätzenunterbindet.

Bisher war die kommunisti-sche Sozialistische Arbeiterpar-tei (USAP) in die Hierarchie dermeisten Betriebe integriert ge-wesen.

Die große Mehrheit für dieAbschaffung des Parteieinflus-ses in Betrieben überraschte Be-obachter, da sich die Nachfol-gerpartei der USAP, die Ungari-sche Sozialistische Partei, aufihrem Parteitag Anfang diesesMonats dafür ausgesprochenhatte, daß die Parteien weiterhinan den Arbeitsplätzen aktivbleiben sollten.

London (AP). In einem aufse-henerregenden Prozeß hat einLondoner Gericht gestern die le-benslangen Haftstrafen für vierAngeklagte aufgehoben, die vor15 Jahren wegen eines Bomben-anschlags verurteilt worden wa-ren. Die Staatsanwaltschaft hat-te auf Grund neuer Beweismitteldaran gezweifelt, daß es beimZustandekommen der Geständ-nisse der Angeklagten mit rech-ten Dingen zugegangen war.

Die Urteile waren selbst dannaufrechterhalten worden, nach-dem eine Gruppe der Irisch-Re-publikanischen Armee (IRA)1977 detaillierte Angaben überdie Anschläge gemacht hatte.Die Anklage hatte seinerzeiteinzig auf den angeblichen Ge-ständnissen der vier Beschul-digten beruht, die diese vor derPolizei abgelegt haben sollten.Staatsanwalt Amlot sagte dazuam Donnerstag, es gebe Bewei-se, daß die Polizisten Verneh-mungsprotokolle gefälscht hät-ten.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureChef vom Dienst: Horst Kröninger. ChefNachrichten: Rainer Merforth. Politik: Jo-chen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden, Kultur; Dirk Schwarze, i. V.Claudia Sandner-v.Dehn, M. A., Frau u.Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wiese-mann, i. V. Ulrich Fuhrmann. Sonntagszeit:Frank Thonicke. Kassel Stadt und Land:Wolfgang Rossbach. Bezirksredaktionen:Peter M. Zitzmann. Koordination: HelmutLehnart. Hessen/Niedersachsen: EberhardHeinemann. Chefreporter: Karl-HermannHuhn. Sonderthemen: Peter Ochs.Redaktion Wiesbaden: Rolf Effenberger.Redaktion Hannover: Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz. Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter. Horst Prehrn.Vertriebsleiter. Gerd Lühring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61 / 20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61/20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer 05 61 /20 36. Teletex5 618110. Postgrrokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7% MwSt. (Postbezugs-preis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich: die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundsctiau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.

Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.Herstellung Druckhaus Dierichs,Frankfurter Straße 168, 3500 Kasse!.

Page 31: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 245 Themen des Tages Freitag, 20. Oktober 1989

Eine Chancevertant g o n Krenz, der neue Mann ander Spitze der SED, hat gespro-chen. Das heißt, er hat im Fernse-hen ein Papier verlesen, das ihn alsAltmeister der Ideologie und Phra-seologie ausweist. Die Wende, dieer beschwor, bestand lediglich imUmblättern. Mancher, der noch ge-schwankt hat, ob er bleiben odergehen soll, wird.nun die Koffer pak-ken. Und die Opposition, die aufwirkliche Veränderung in Staat undGesellschaft aus ist, mag alle Hoff-nung fahren lassen.

Das gilt, sofern HoneckersNachfolger an seinen Worten ge-messen wird, und ihnen nicht über-raschende Taten folgen. Die jüng-ste Geschichte kennt Beispiele ge-nug von jäher Wandlung. AuchGorbatschow wurde erst zum Re-former, als er am Schalthebel deseingerosteten Apparates stand.Daß sich Krenz auf ihn bezieht,besagt zunächst wenig. Schon derVorgänger hatte die Perestroika inder UdSSR gewürdigt, sie jedochfür die DDR verworfen. Immerhinerfolgt das Eingeständnis, daßdort die Lage „kompliziert" ist. Einevom Prinzip her rechthaberischePartei räumt Fehler und Versäum-nisse ein. Zuletzt geschah das1953, als der Aufstand losbrach.

Was tun? fragte in der Krisestets von neuem Lenin. Sein Nach-fahre im Geiste bleibt schlüssigeAntworten schuldig. Reiseerleich-terungen werden in Aussicht ge-stellt, die Volkskammer soll von Ak-klamation zur Diskussion überge-hen. Probleme werden angespro-chen, die jedermannkennt, die Lö-sungen verschwimmen im Nebel.Nur die Krenz-Werte sind klar, dieda heißen Auf- und Ausbau desSozialismus unter Führung derSED. Für andere Parteien scheintdabei sowenig Platz wie für eineOpposition. Die Massen, die ihreFreiheit anders meinen, werdensich damit nicht zufrieden geben.Es muß sich viel ändern in demStaat, in dem soviel faul ist, undzwar bald. Seine erste Chance hatdie Negativfigur vertan.

Alfred Brugger

Um die Machtder Batiken9

D«/ie Macht der Banken über dieWirtschaft ist ein unerschöpflichesThema. In keiner Legislaturperiodehat es an gesetzlichen Initiativengefehlt, den Einfluß des Kreditge-werbes auf Industrie- und Handels-unternehmen zu begrenzen. Daßsich ausgerechnet die Freien De-mokraten als Gralshüter der Markt-wirtschaft jetzt dafür stark ma-chen, kann nicht nur ordnungspoli-tisch motiviert sein. Graf Lambs-dorff nimmt sich der Interessen desMittelstandes an und hofft zugleichauf allgemeine Wählergunst. Denndie Sorge über eine zu starke Ab-hängigkeit der Industrie von denBanken ist nicht erst durch sospektakuläre Beispiele wie die Ele-fantenhochzeit von Daimler-Benzund MBB gewachsen.

Dabei haben die Banken ihre Be-teiligungen in den letzten Jahrenschon erheblich reduziert, ist dieZahl der Aufsichtsratsmandate be-reits begrenzt und das Depot-stimmrecht eingeschränkt worden.Weitere gesetzliche Fesseln könn-ten die deutsche Kreditwirtschaftim wachsenden Wettbewerb deseuropäischen Binnenmarktes be-nachteiligen und sanierungsbe-dürftigen Unternehmen schwerenSchaden zufügen. Der erzwunge-ne Ausverkauf deutscher Beteili-gungen wäre ein gefundenes Fres-sen für ausländische Investoren.Um den Finanzplatz Bundesrepu-blik nicht zu schwächen, sollteman deshalb nur mit marktkonfor-men Mitteln gegen erkennbareAuswüchse vorgehen.

Als ein Schritt in die richtigeRichtung ist die von der Koalitionvereinbarte Offenlegung aller Auf-sichtsratsmandate der Bankenund Versicherungen zu begrüßen.Darüber hinaus müßte das Kredit-gewerbe durch größere Transpa-renz seiner Geschäftspolitik selbstfreiwillig dazu beitragen, seinImage zu verbessern. UmfassendeInformation ist immer noch das be-ste Mittel gegen unbegründetesMißtrauen. . Achim v. Roos

Das Zitat„Die jungen Leute in der DDR ha-ben nicht nur .Freiheit, Freiheit!' ge-rufen, sondern auch .Deutschland,Deutschland'"

Hans-Dietrich Genscher

Viele DDR-Bürger sind enttäuscht über die Rede von Egon Krenz

„Diese Luftblasen, dieses Palaver"Von unserem Mi ta rbe i te r Peter Gär tner , Ber l in

Oelten hat die „Aktuelle Kame-ra" („AK"), die zumeist todlang-weilige Nachrichtensendungdes DDR-Fernsehens so vieleZuschauer gehabt wie am Mitt-wochabend: Rasch hatte es sichin Ostberlin herumgesprochen,daß der neue erste Mann deszweiten deutschen Staates nachder „AK" eine Ansprache an dieBevölkerung richten wird. Sowaren kurz nach 20 Uhr sogardie sonst völlig überlasteten Te-lefonleitungen zwischen West-und Ostberlin eine Weile frei.

Aber nicht lange: „Ich konnt'seinfach nicht mehr hören, dieseLuftblasen, dieses Palaver", be-richtet empört ein 35jährigerOstberliner. Er war wohl an die-sem Abend nicht der einzige,dem der Frust über den „Appa-ratschik" Egon Krenz tief in denKnochen saß.

Andere wollten den neuenSED-Generalsekretär undStaatsratsvorsitzenden erst garnicht auf dem Bildschirm sehen.„Wir brauchen endlich Taten

und keine neuen Köpfe", hieß esin oppositionellen Kreisen. DerOstberliner Pfarrer Reiner Ep-pelmann stellte gleich nach derRede eine Mängelliste auf: Ervermisse „ein Wort des Bedau-erns" zu den brutalen Übergrif-fen der Sicherheitsorgane am 7.und 8. Oktober, für die Krenz alsZK-Sekretär verantwortlichwar. Und: Es gebe keinerlei An-zeichen für „die Zulassung deroppositionellen Sammlungsbe-wegungen", so Eppelmann.

Großes Mißtrauen

Keine Frage - in Ostberlinherrscht großes Mißtrauen. Zuvorbelastet erscheint vielen der52jährige Aufsteiger. Unverges-sen sind vor allem seine jüngsteChinareise, aber auch seine be-dingungslose Unterstützung derPekinger Führung, die er inwestliche Mikrofone hineinpo-saunte. Dies sei nun wirklich„keine Empfehlung" für einenMann, der „das gesunkene

Schiff noch einmal flott machenwill", meint ein Bürgerrechtler.

Doch es gibt auch andereStimmen, die die künftige Ent-wicklung weitaus optimistischerbetrachten. Krenz sei doch bis-lang auch ein Gefangener deseigenen Systems gewesen, sobeschreibt „Forum"-Grün-dungsmitglied Rolf Henrich sei-ne Hoffnungen. Aus eigener Er-fahrung weiß der frühere Ge-nosse und jetzt mit Berufsverbotbelegte Rechtsanwalt, daßKrenz' Handlungsspielraum„genauso eingeengt war wie deranderer führender SED-Leute".Henrich: „Jetzt hat er es zu ei-nem großen. Teil selbst in derHand, eine Änderung herbeizu-führen. Und ich traue es ihmeinfach zu, daß er darüber nichtmehr hinwegsieht."

Immer wieder wird in Östber-lin auch darauf hingewiesen,daß ja auch Honecker - wieKrenz ein Mann des Parteiappa-rats - vor Reformeifer „nur sosprühte" als er seinen Vorgän-ger Walter Ulbricht ablöste.

Auch sei von Honecker vor sei-nem Machtantritt keine einzigeRede bekannt gewesen, die sichprogrammatisch nennen ließe.Die Parallelen zu Krenz seienalso nicht zu übersehen. Andereglauben in dem Honecker-Zög-ling Stärken zu erkennen, diesich jetzt auch positiv auswir-ken könnten: „Wie der Krenzbei seiner Rede ganz pathetischan den entscheidenden Stellendie rechte Hand zur Faust ge-ballt hat", analysiert ein DDR-Bürger, könne nur.. bedeuten,daß er sich nicht als Übergangs-kandidat begreife. „Der will eineWeile dran bleiben."

Andere Zeichen nötig

Der Lotse geht von Bord (Aus: Westdeutsche Allgemeine / Pielert)

Doch dafür sind wohl andereZeichen notwendig als die, dieder neue SED-Generalsekretärbei seiner fast einstündigen An-sprache gesetzt hat. „Nun gut,ein bißchen ehrlicher redetKrenz daher, aber wenn's umwirkliche Veränderungen geht,kommen lauter Vorbehalte",meint ein Gesprächspartner amTelefon. Der Ostberliner spieltdabei auf die angekündigtenReiseerleichterungen an, dieKrenz mit der alten Forderungan Bonn verknüpfte, die DDR-Staatsbürgerschaft „uneinge-schränkt zu respektieren". Grö-ßere Freiheiten der Presseschränkte die neue Nummereins der DDR gleich mit denWorten ein, daß sie „keine Tri-büne eines richtungslosen, an-archistischen Geredes" werdendürfe. Und eine bessere Versor-gung mit Konsumgütern machteer von harter Arbeit in den Be-trieben abhängig.

Dabei gebe es doch auchSchritte, meint Rolf Henrich,„die uns keinen Pfennig kosten".Als „glaubwürdiges Signal" füreinen Neuanfang nennt der „Fo-rum"-Sprecher eine „sofortigeÄnderung des Wahlrechts".Hiermit könne Krenz tatsäch-lich das Vertrauen der Bürgerwiedergewinnen. Denn schließ-lich sei er es gewesen, unter des-sen Leitung im Mai dieses Jah-res die Ergebnisse der Kommu-nalwahlen gefälscht wurden,begründet Henrich seinen Vor-schlag. „Jedenfalls - mit reinemGefasel ist es nicht mehr getan.Das Volk ist plötzlich nichtmehr eingeschüchtert".

Der Außenminister als Comic-Held

„Genschman"-Welle nicht aufzuhaltenVon dpa-Korrespondent Klaus Bering

In der BundesrepublikDeutschland rollt eine „Gensch-man"-Welle. „Genschman darfnicht sterben", forderte das Sati-re-Magazin „Titanic", als dieNation nach einem Herzinfaktdes 62jährigen AußenministersHans-Dietrich Genscher im Julium dessen Leben bangte. DieZeitschrift machte Genscherzum Helden eines Comic, in dem„Genschman" nach „Batman"-Manier das Böse bekämpft unddie deutsche Ost-Politik rettet.

Was daraufhin in Gang kam,versetzte auch überzeugte„Genscheristen" in Erstaunen:Der dienstälteste Außenmini-ster der westlichen Welt wurdein der Bundesrepublik zu einerArt neuer „Kultfigur" - so siehtes zumindest der Leiter des Re-ferats für Öffentlichkeitsarbeitim Auswärtigen Amt, ReinhardBettzüge. So wie Genscher seitüber zwei Jahren die Hit-Listeder populärsten deutschen Poli-tiker anführt, stellte „Gen-schman" den wiederauferstan-denen „Batman" weit in denSchatten.

Körbeweise Bestellungen

Im Auswärtigen Amt trafenkörbeweise Bestellungen von„Genschman"-T-Shirts ein - inder ersten Woche 5000 Ordernvon Bundesbürgern zwischen14 und 77 Jahren. Das AA leite-te sie an die „Genschman"-Er-finder weiter, und die „Titanic"sah sich gezwungen, ein ganzesSortiment von Shirts, Ansteck-nadeln, Stickern, Postern oder

Baseball-Mützen anzulegen.Auf der Frankfurter Buch-

messe wurde eine „Gensch-man"-LP mit Genschers jüngsterRede vor der UNO zum Renner,und „Genschman" ist das Themavon TV-Shows, wo vorwiegendjugendliche Fans den neuenHelden begeistert beklatschen.Die Leibwächter des Außenmi-nisters zeigen mit „Gensch-man"-Buttons an der Innenseiteder Jacken Korps-Geist.

„Hoch amüsiert"

Genscher ist „hoch amüsiert",berichtet Reinhard Bettzüge.Noch im Krankenbett hatte sichder Minister, nach Lektüre desersten „Genschman"-Comic, be-stärkt gefühlt: „Es ist Zeit, daßich wieder an Bord gehe". Wasdie professionellen Satirikernicht ahnten: Genschers PR-Leute sind zumindest ebensophantasiebegabt.

Sie setzten ein paar Gagsdrauf und - so Bettzüge - „habendamit die 'Genschman'-Wellezur Obersatire hochstilisiert".Am „Tag der offenen Tür" am23. September in Bonn ließ sichder Minister vom Fan-ClubOberursel bei Frankfurt die „In-signien des Superhelden" ver-leihen: Halbmaske mit riesigenOhren - Genschers besondereKennzeichen -, Mütze und T-Shirt. Die neunjährige LenaKlöckner im „Genschman"-Dress bekannte: „...denn echtbist Du ein Superheld, alsGenschman rettest Du dieWelt". IM KAMPF mit Theo Waigel: Hans-Dietrich Genscher als „Gensch-

man" in der „Titanic".

Presse-EchoDie Ablösung von SED-GeneralsekretärErich Honeoker wird von vielen Zeitun-gen kommentiert.

Politik ändert sich grundle-gend für die Sowjets, ihre Ver-bündeten und vielleicht auch ingewisser Beziehung für ihreGegner. Wie sollen die unglaub-würdig gewordenen Kommuni-sten in der DDR sich an diesenWandel anpassen, ohne völligdie Kontrolle zu verlieren? Diessoll der neue GeneralsekretärEgon Krenz herausfinden.

LA REPUBBLICA(Rom)

Die Nominierung von Krenz be-legt den Willen, zumindest eineKontinuität vorzutäuschen...Die DDR wird aber sicher nichtden Weg Polens oder Ungarnsgehen.

THE TIMES(London)

Der Rücktritt von Erich Ho-necker ist das jüngste Beispielfür eine Gleichung, die mit zu-nehmender Häufigkeit in derSowjetunion und in ganz Osteu-ropa gilt: Präsident Gorba-tschow plus öffentliche Unruhegleich Wechsel.

(Kopenhagen)

Der Machtwechsel wurde nachden großen, prahlerischen Para-den zum 40. Jahrestag so abruptdurchgeführt, weil die Unruheim Volk sich tief bis in den Par-teiapparat fortgesetzt hatte. In-sofern handelte es sich gesternin Ostberlin um eine demokrati-sche Entscheidung, sie ent-sprach den Forderungen desVolkes.' Aber sie wurde ausFurcht vor dem Volk getroffen,nicht aus Respekt vor ihm.

QDOTIDIEN\jteparis

V

Ein kompromißloser Leninist,ein Dogmätiker reinsten Was-sers, ein Vertreter der hartenLinie, als solcher erscheint EgonKrenz, von dem es heißt, daß ihnGorbatschow am liebsten bei-seite geschoben gesehen hätte.... Das alles gibt Krenz nicht denAnschein eines Reformers, vondem gewisse Leute träumten.

TAGES-ANZEIGER(Zürich)

Die Ernennung von Egon Krenzmutet wie ein Probeangebot an.Krenz ist relativ jung', talentiert,beweglich. Aber möglicherwei-se ist er vielen Menschen in derDDR auch zu beweglich.

FronkfinlerRimdschcniWenn Egon Krenz aber als

Übergangs-Parteichef angese-hen werden könnte - wohinsollte der Übergang dann füh-ren, und wer könnte die fälligeReform des Systems dann über-zeugend einleiten?

.ÜöinerctaiUÄriflcrLetztlich hat wohl nicht der

schon wochenlang anhaltendeFlüchtlingsstrom den personel-len Wechsel in Ostberlin ausge-löst... Eher hat der jetzt immerstärker um sich greifende innereAufruhr in der DDR, der demStaat die schwerste Dauerkrisein seiner 40jährigen Existenzbescherte, den Ausschlag gege-ben

Jranffurter AllgemeineKrenz hat Honeckers aufge-

klärten Spätstalinismus mitbe-trieben, der die DDR immer wei-ter in die Tiefe zog. Als es in derDDR wegen der Flüchtlingswo-;e schon brodelte, fuhr er nach^hina und gratulierte der Füh-

rung dort zu ihrem mörderi-schen Aufräumen.

Ruhr-Nachrichten(Dortmund)

Die DDR braucht niemanden,der mit der Kraft des Jüngerendie Politik des alten und kran-ken Erich Honecker fortsetzt.Die DDR braucht Reformen.

Page 32: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSACHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

UNABHÄNGIG

Preis 1,40 DM

ALLGEMB«^EKASSELER ZEITUNG

Nr. 246 • Samstag, 21. 10. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Kassel

Kein Punktin Schalke1. Bundesliga

TiT1. FC KaiserslauternFC St. Pauli

2. Bundesliga

Schalke 04KSV Hessen Kassel 2:0Alemannia AachenFortuna Köln 3:0VfL OsnabrückDarmstadt 98 4:2

Bestsellemutorin

D. Lessingwird 70

Als Kritikerin derGegenwart und Vi-sionärin der Zu-kunft hat sich dieenglische Schrift-stellerin Doris Les-sing (Foto) auch inDeutschland in dieHerzen ihrer Lesergeschrieben. DieAutorin wird amSonntag 70 Jahr alt.Siehe Kultur.

Kind vermißt

Vier Toteim Watt

Eine Wattwande-rung vor Friedrichs-koog endete tra-gisch: Eine Urlau-bergruppe, die ohneFührer unterwegswar, wurde von Ne-bel und Flut über-rascht. Vier Men-schen ertranken, einKind wird noch ver-mißt. Siehe „Blick indie Zeit".

September

Flautebei Kfz

Flaute bei denKfz-Neuzulassun-gen: Im Septemberwurden mit 229 000Fahrzeugen 15,9Prozent wenigerFahrzeuge zugelas-sen als im Septem-ber '88. Bei den Pkwbetrug der Rück-gang 17,2 Prozent.Siehe Wirtschaftund Kommentar.

Pastor Meyer

KeineEntlassung

Der homosexuellePastor Hans-JürgenMeyer ist für fünfJahre in den Warte-stand versetzt wor-den. Er kann in die-ser Zeit nicht ausder Kirche entlas-sen werden. Das hateine „Kammer fürAmtszucht" der ev.Kirche entschieden.„Blick in die Zeit".

Kalte Duschen

Schutz vorErkältung

Kalte Duschenund Saunagängeschützen vor Erkäl-tung. Bis der Erfolgeinsetzt, muß manaber drei Monatedurchhalten. Das istdas Ergebnis einerStudie, die in Han-nover veröffentlichtwurde. Siehe „Blickin die Zeit" und„Zum Tage".

DDR / Kritische Töne im „ND"

Reform-Diskussionimmer rasanter

Ostberlin (dpa). Nach dem Machtwechsel in Ostberlin hatdie Diskussion über Reformen in der DDR in rasantem Tem-po immer weitere Kreise der Gesellschaft erfaßt. Erste Ände-rungen sind bei den Reiseerleichterungen und beim Wahl-recht in Aussicht gestellt.

Als Hindernis für Reiseer-leichterungen hatte der neueParteichef Krenz das Devisen-problem sowie die Haltung derBundesregierung genannt, dieStaatsbürgerschaft der ÖDRnicht anzuerkennen. Die Mini-sterin für Innerdeutsche Bezie-hungen, Wilms (CDU), betontejetzt umgehend: „Darüber solltenun wirklich auch nicht mehrdiskutiert werden." Nach einemGespräch des neuen SED-Chefsmit der Führung der Evangeli-schen Kirche äußerte sich Lan-desbischof Leich optimistischüber eine Wahlreform in derDDR. Leich machte deutlich,daß der neue SED-Generalse-kretär auch zu Gesprächen mitneuen nichtstaatlichen Grup-pierungen bereit sein könnte.

Die bis vor wenigen Tagennoch einförmige DDR-Presseübte gestern heftige Kritik ander früheren Politik, beurteiltezugleich die Aktivitäten desneuen SED-Parteichefs positiv.Das SED-Organ „NeuesDeutschland" C„ND") widmetevier Seiten der Kritik und denAnregungen von DDR-Bürgern.

Erstmals berichtete das Blatt

über den Verlauf der Sitzungdes Zentralkomitees am Mitt-woch, auf der Erich Honeckerabgelöst worden war. Die Ta-gung habe wie ein „reinigendesGewitter" gewirkt. Stimmen ausdem Zentralkomitee drängenKrenz offenbar, in den Verände-rungen weiter zu gehen, als erdies in seinen allgemein gehalte-ten Ankündigungen getan hat.Zu den Ankündigungen vonKrenz fragte das ZK-MitgliedEwald, „ob wir nicht doch nochetwas weitergehen sollten undkönnten". Er plädierte für diebaldige Einsetzung von Arbeits-gruppen,

Auch der Dresdner SED-Be-zirksleiter Modrow plädierte fürArbeitsgruppen. Er schlug zu-dem vor, die Rede von Krenz umden Komplex „Kritik undSelbstkritik" zu ergänzen, wasschließlich geschehen sei, so das„Neue Deutschland".

Erstmals plädierten auch Mit-glieder der Opposition dafür,dem neuen SED-Chef eineChance zu geben.Siehe „Themen des Tages"Fortsetzung nächste Seite

FDP-Fraktionschef bei Reformer in Dresden

Mischnick und Modrowfür Parlamentskontakte

Dresden (dpa). Der FDP-Frak-tionsvorsitzende im Bundestag,Mischnick, ist gestern in Dres-den zu einem Gespräch mit demErsten Sekretär der SED-Be-zirksleitung, Modrow, zusam-mengetroffen. Beide Politikersprachen sich für Kontakte zwi-schen dem Bundestag und derVolkskammer aus. Nach demzweistündigen Gespräch be-richteten Mischnick und Mo-drow von zahlreichen Überein-stimmungen. Mischnick ist dererste Bonner Politiker, der nachdem Führungswechsel in Ost-berlin die DDR besucht.

Zuvor hatte sich Mischnickskeptisch zu der von seinemParteifreund Lüder angeregtenSubventionierung des inner-deutschen Reiseverkehrs geäu-ßert. Kurz vor Antritt seinesdreitägigen Besuchs in Dresdensagte Mischnick im Deutsch-landfunk, auch früher sei vorge-schlagen worden, DDR-Besu-

chern den Umtausch von Markder DDR in Deutsche Mark zumKurs von 1:1 zu ermöglichen.Die von der DDR als Reisehin-dernis genannten finanziellenProbleme seien „vorgeschoben".DDR-Bürger, die in die Bundes-republik fahren wollten, kämenauch, wenn sie ihr Geld nicht imVerhältnis 1:1 umtauschenkönnten.

Wieviel Devisen die DDR jetztschon von der Bundesrepublikkassiert, lesen Sie auf „Themendes Tages"

Auch über die Anregung, dieBundesrepublik solle mit dembeim Umtausch eingenommenenGeld in der DDR einkaufen, seifrüher schon diskutiert worden.„Wenn jetzt in der DDR eineneue Betrachtung dieser Überle-gungen käme, ist das ein Weg,den man weiterverfolgen kann."

M^

Berlins Bürgermeister Momper neuer Präsident des BundesratesDer Bundesrat hat den BerlinerRegierenden BürgermeisterWalter Momper (links, in derMitte Nordrhein-WestfalensMinisterpräsident Rau undrechts Engholm) für zwölf Mona-te zu seinem neuen Präsidentengewählt. Er löst in diesem Amtam 1. November turnusgemäß

den schleswig-holsteinischenMinisterpräsidenten Björn Eng-holm (SPD) ab. Der 44jährigeMomper, Chef der rot-grünenKoalition in Berlin, ist als Bun-desratspräsident auch Vertreterdes Bundespräsidenten. Eng-holm unterstrich die eigenstän-dige Rolle der Länderkammer

und appellierte an die Bundesre-gierung, Anwalt der Länder inder EG zu sein. Es wäre eine„Ironie der Geschichte", wenn inBrüssel eine allmächtige EG-Zentrale entstünde, während dieStaaten Osteuropas den „Char-me der Dezentralität" entdeck-ten. (dpa-Funkbild)

„Soldaten sind potentielle Mörder" - Arzt erneut freigesprochen

Gericht sieht MeinungsäußerungFrankfurt (AP). Das Landge-

richt Frankfurt hat am Freitageinen 43 Jahre alten Arzt, der ineiner Podiumsdiskussion Solda-ten als „potentielle Mörder" be-zeichnet hatte, vom Vorwurfder Beleidigung und Volksver-hetzung freigesprochen. DieÄußerung sei vom Grundrechtauf freie Meinungsäußerung ge-deckt, entschied die 29. Straf-kammer. Der Vertreter der Bun-deswehr, die als Nebenklägerzugelassen war, kündigteRechtsmittel an.

Die Staatsanwaltschaft hattegegen den in der Friedensbewe-gung engagierten Arzt eineGeldstrafe von 10 500 DM ge-fordert. Der Arzt hatte am 31.August 1984 während einerDiskussion in einer FrankfurterSchule zu einem Jugendoffizierder Bundeswehr gesagt: „Alle

Soldaten sind potentielle Mör-der - auch Sie."

Bereits im Dezember 1987 warder Arzt vom Frankfurter Land-gericht freigesprochen worden.Das Urteil hatte damals für Auf-regung gesorgt. Nachdem dasFrankfurter Oberlandesgerichtim Dezember vergangenen Jah-res das Urteil aufgehoben hatte,mußte jetzt vor einer anderenKammer des Landgerichtes er-neut verhandelt werden.

Die Kammer hatte zahlreicheSachverständige der Bundes-wehr und namhafte Friedensfor-scher gehört. Aus dieser Anhö-rung hat sich nach Ansicht desKammervorsitzenden HeinrichGehrke klar ergeben, daß einkünftiger Krieg zu einer Mas-sentötung von Zivilisten führenwürde. Es sei verständlich, daßbei dieser Perspektive viele

Menschen Krieg für ein Verbre-chen hielten.

Zwar habe der Arzt den Ju-gendoffizier beleidigt, aber „inWahrnehmung berechtigter In-teressen" gehandelt. DemGrundrecht auf freie Meinungs-äußerung sei hier der Vorrangvor dem Ehranspruch des Sol-daten einzuräumen, da die The-matik Krieg und Frieden exi-stentielle Bedeutung für dieMenschen habe. Solange eindeutscher Bischof ungestraftAbtreibung als Mord bezeich-nen dürfe, sei auch die Äuße-rung des Arztes vom Grund-recht gedeckt.

BundesverteidigungsministerStoltenberg reagierte auf dasUrteil mit „völligem Unver-ständnis".Fortsetzung nächste SeiteSiehe auch Kommentar

Über 1000 DDR-Flüchtlinge in Bayern eingetroffenMünchen (dpa). Bis in den frü-

hen Freitag morgen sind erneutmehr als tausend DDR-Flücht-linge über Ungarn und Öster-reich nach Bayern gekommen.Nach Angaben des Grenz-

schutzkommandos Süd reisten1119 DDR-Bürger ein. Am Tagzuvor waren es 1913 Flüchtlin-ge. Nach Angaben der österrei-chischen Behörden sind seitdem 11. September 40 600 DDR-

Bürger eingetroffen. Aus War-schau kommend - dort wartenrund 1800 DDR-Bürger auf ihreAusreise - landete gesternabend das dritte Flugzeug mit140 DDR-Bürgern in Düsseldorf.

Zum Tage

Zwei MethodenTür die Triefnasen im Winterkommt die Meldung zu spät, zurBekämpfung des Frühjahrs-Schnupfens allerdings dürfte esnoch reichen. Durch ausgiebigeVersuche hat ein Professor in Han-nover festgestellt, daß man durchWechselduschen seinen Körper soabhärten kann, daß Erkältungs-krankheiten seltener auftreten.

Im Prinzip haben unsere Urgroß-mütter dies auch schon gewußt -nur nicht so wissenschaftlich for-muliert. Allerdings waren Duschendamals nicht sehr weit verbreitet,sonst wäre der Schnupfen sicher-lich längst ausgerottet. Oder lag esdaran, daß man schon sehr hart zusich selbst sein muß, um freiwilligden Warmwasserhahn zwischen-durch immer wieder zuzudrehen -mindestens fünfmal wöchentlich?Manch einer glaubt heute noch,häufiges Duschen schade a) derHaut, und b) sei es Wasserver-schwendung, deshalb c) sogarumweltschädlich.

Die Abhärtung komme durcheine bessere Durchblutung derSchleimhäute in Mund und Nase,sagt der Professor. Das muß Ur-großvater geahnt haben: Erschwörte auf einen steifen Grog -in erster Linie wohl nicht wegen derDurchblutung. Doch geholfen hat'sihm auch. Und wenn er trotzdemeinen Schnupfen bekam, braute ersich noch einen Grog, tat aber zu-sätzlich einen Löffel Honig hinein.

Peter Ochs

Angebot Ostberlins

DDR: Jeder kannzurückkehren

Berlin (dpa). Die DDR-Regie-rung hat alle Bürger, die dasLand verlassen haben und wie-der in die Heimat zurückzukeh-ren wollen, aufgefordert, sich andie diplomatischen Vertretun-gen im Ausland zu wenden. Ineinem Rundfunk- und Fernseh-interview sagte der Sprecherdes DDR-Außenministeriums,Meyer, gestern, die DDR lassesich dabei von dem völkerrecht-lichen Grundsatz leiten, wonachjeder in sein Heimatland zu-rückkehren kann.

Der Sprecher erklärte: „Wirwerden allen, die zurückkehrenwollen, soweit dem nicht triftigeGründe entgegenstehen, imRahmen des Möglichen dabeibehilflich sein, in ihrer ange-stammten Heimat wieder Fuß zufassen.",

Der Sprecher des DDR-Au-ßenministeriums verwies aufdas Recht eines jeden DDR-Bür-gers, einen Antrag auf ständigeAusreise zu stellen. Solche An-träge würden in großzügigerWeise entschieden. Deshalb sei-en Botschaftsbesetzungen„nicht verständlich".

DDR-Vermittler

Anwalt Vogelkaltgestellt?

München (dpa). DDR-Rechts-anwalt Wolfgang Vogel, der beiden Botschaftsflüchtlingen vonPrag und Warschau als Vermitt-ler aufgetreten war, soll dasMandat der DDR-Regierungverloren haben und kaltgestelltworden sein. Das- verlautetenach Angaben des „MünchnerMerkur" aus Regierungskreisenin Bonn. Auf Anfrage erklärteder Rechtsanwalt am Freitagabend der Münchner Tageszei-tung: „Richtig ist, daß meinMandat noch nicht erneut be-setzt worden ist. Im übrigenüberlege ich mir, ob ich es auchin Zukunft ausüben soll."

Page 33: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr 246 Themen des Tages Samstag, 21. Oktober 1989

FrankfurterFehlurteilWef er einen angeklagten MörderMörder nennt, bevor dieser rechts-kräftig verurteilt worden ist, machtsich strafbar. Wer einen Soldatenpotentiellen Mörder nennt, obwohldieser kein Mörder ist oder seinwird, geht straffrei aus. Zu solchenRechtsverdrehungen hat uns dasFrankfurter Landgericht verholfen.Auch im zweiten Durchlauf vertei-digt es hartnäckig das Recht desbeschuldigten Arztes, seine sub-jektive Meinung zu äußern, auchwenn diese falsch und beleidigendist.

Man höre und staune. Es gibtnoch Richter in Deutschland, diealles gnädig hinnehmen, was in ei-ner emotional aufgeladenen Situa-tion gesagt wird. Zwar sei die Äu-ßerung des Arztes objektiv als be-leidigend anzusehen, aber subjek-tiv sei er von ihr überzeugt gewe-sen. Man darf also lügen und her-absetzen, wenn man dabei nur inWahrnehmung berechtigten Inter-esses handelt.

Freiheit der Meinungsäußerungist ein hohes Gut. Niemand will sieeinschränken. Auch diejenigennicht, die an dem Frankfurter Sol-datenurteil heftige Kritik üben. Siewollen nur, daß die Ehre und Wür-de des Menschen als ein ebensohohes Gut geachtet wird. Wiesohaben die Frankfurter Richter demArzt mehr berechtigtes Interessezugebilligt als dem Jugendoffizier,der sich beleidigt fühlt? Wenn sie inihrem Urteil schon auf subjektiveBefindlichkeiten Rücksicht neh-men, hätte das für beide Seitengelten müssen.

Wer zur Verteidigung seines Vol-kes antritt, ist keine potentiellerMörder. Das bezweifelt nicht ein-

.mal das Frankfurter Landgericht.Ob sein Fehlurteil erneut revidiertwerden kann, ist fraglich. Unheilhat es genug angerichtet. Aberman sollte jetzt nicht den Gesetz-geber bemühen, um Wiederholun-gen auszuschließen. Damit würdeman allen potentiellen Rechtsver-drehern zu viel Ehre antun.

Achim v. Roos

UngetrübteAuto-Konjunkturrxraftfahrzeuge sind erfolgreicheund wichtige Produkte der deut-schen Industrie, der Pkw vorne-weg. Ganze Regionen sind abhän-gig von den Autokonzernen:Geht's VW gut, profitieren Land-striche wie der unsrige davon.Bricht die Autokonjunktur ein, be-kommen es die betroffenen Städteund Gemeinden mitsamt ihrer Be-völkerung direkt zu spüren. Diejüngste Flensburger Statistik mußaber nun kein Anlaß sein, denKrückstock für künftige schwereZeiten aus dem Keller zu holen.

Obwohl der Rückgang drastischzu sein scheint: Ein konjunkturellerEinbruch ist es nicht. Jedes Jahr imHerbst gehen die Neuzulassungs-zahlen saisonal bedingt zurück.Private Käufer marschieren in derRegel im Frühjahr in die Ausstel-lungshallen und ordern den neuenWagen, Firmen investieren meistzum Jahresende.

Es gibt zwei Beweise dafür, daßder Autofrühling noch nicht been-det ist: Vergleicht man die Ver-kaufszahlen der ersten neun Mona-te mit denen des Vorjahres, so isttrotz des September-Lochs ein An-stieg festzustellen. Diese Entwick-lung hätte zum Jahresanfang nachden Rekord-Neuzulassungszahlendes Vorjahres niemand erwartet.Das zweite Indiz ist die satte Auf-tragslage der Autoindustrie, dieder Nachfrage im In- und Auslandtrotz des offenbar einkalkuliertenRückgangs im'vergangenen Monatnur mit Sonderschichten Herr wer-den kann.

Die Autokonjunktur floriert alsoweiter All jene, deren Schicksalweitgehend damit verbunden ist,werden's mit einem Aufatmen quit-tieren Eines ist jedoch klar: DerAufwärtstrend wird bald ein Ende'haben Zumeinen haben die Autoseine immer größere „Lebenserwar-tung", zum anderen wird die Zahlderer, die als Neukäufer in Fragekommen, irgendwann geringer Eingrenzenloses Wachstum, man soll-te es nicht vergessen, gibt es hiernicht Horst Seidenfaden

Das Zitat„Kritik und Selbstkritik rücken wie-der in das Zentrum der Arbeit"

Das SED ZentralorganNeues Deutschland

Da'as real existierende DDR-Fernsehen schaltete live. Profe-sionellen Beobachtern im We-sten verschlug's den Atem,DDR-Zuschauer erlebten Ein-maliges: Ein offener Schlagab-tausch aufgebrachter Bürgermit hochkarätigen SED-Funk-tionären ohne Vorabsprache,ohne Zensur, ohne bonzenhaf-tes Aufplustern der Staats- undParteivertreter. Am Donners-tag um 20 Uhr brach für dieDDR ein neues Medienzeitalteran - statt „Späher und Schnüff-ler der Lüfte", so der Titel desursprünglich vorgesehenenNaturkundebeitrags über Gei-er, gab es Polit-Vollkost gepfef-ferter Art.

Schon kurz zuvor war dieAbsicht der neuen SED-Füh-rung überdeutlich geworden,wenigstens mit einem Radikal-schwenk in der Informations-politik abzulenken vom offen-sichtlichen Unvermögen, auchdas Ruder in der (für die Bürgerletztlich entscheidenden) Wirt-schaftspolitik rasch herumzu-reißen und den Unmut im Lande

Radikales Umschwenken der SED in der Informationspolitik

Kritik live im DDR-FernsehenVon unserem Redaktionsmitglied Rainer Merforth

zu dämpfen. Arbeiter rütteltenan der Fassade des neuen SED-Chefs Egon Krenz mit bohren-den Fragen nach den Ursachenvon Ungerechtigkeit und Man-gel, Rückstand und Mief überdem anderen Deutschland -Kameramann sowie Tontechni-ker hielten voll drauf, die „Ak-tuelle Kamera" ließ es über denSchirm flimmern.

Ab sofort regelmäßig

Dann das neue Bürgerfernse-hen, das per ebenso überra-schendem Beschluß ab sofortregelmäßig als Ventil dienensoll. Unter Führung von Prof.Otto Reinhold, Chefdenker des

Regimes, führte eine Riege vonTop-SED-Leuten vor, wieschnell zumindest Reden undReagieren umzupolen die DDR-Führung in der Lage ist. Im Mit-telpunkt standen Zusagen nichtnur für Reiseerleichterungen,sondern die Beauftragung desInnenministers mit einem neu-en Reisegesetzentwurf.

Den im Studio anrufendenZuschauern wurde versichert,das Ziel sei, jedem DDR-Bürgerzu einem Reisepaß zu verhel-fen, wenn - ja, wenn die „Bäh-Err-Däh" der DDR bei der Frageder Staatsbürgerschaft entge-genkomme und das Problem der„Valutafrage" (DDR-Chine-sisch für Devisenmangel) mitlösen helfe. Die Frage, ob am

Ende dieses Prozesses jederDDR-Bürger reisen könne, wo-hin er wolle, stellte wenig spä-ter, im Westfernsehen, ZDF-Moderator Ruprecht Eser anReinhold. Der live zugeschalte-te Promotor der „Veränderungin unserer Medienpolitik" ohnewenn und aber: „Ja".

Ein Relikt: Von Schnitzler

Wie ein Relikt aus stalinisti-schen Zeiten saß in der Rundezusammen mit Reinhold, demDresdner OberbürgermeisterWolfgang Berghofer, dem Zen-tralkomiteemitglied Otto Hahnund dem Wirtschaftswissen-schaftler Max Schmidt auch

Karl Eduard von Schnitzler,(noch) Chefkommentator desOstfernsehens, und versuchtevorsichtig, eine möglichst un-merkliche Brücke zwischen sei-nen bisherigen Hetztiraden undder neuen sanften Welle zuschlagen, die seine Diskus-sionskollegen auch gegenüberder Bundesrepublik an diesemAbend anrollen ließen - es miß-lang. Alles, was das Volk vonihm hören wollte, war der Zeit-punkt seines Verschwindens.Darauf aber gab es diesmalnoch keine Antwort.

Nach der Aufregung zog al-lerdings flugs wieder Routineins DDR-Fernsehen ein. „Ob-jektiv", das außenpolitischeMagazin, schilderte aus demfeindlichen Ausland unter demTitel „Flucht in den Tod - einSchicksal in der BRD", wie esFlüchtlingen ergehen kann, dievon den Segnungen des erstendeutschen Arbeiter- und Bau-ernstaates nichts mehr wissenwollen und der Arbeitsplatz-und Wohnungsmisere im We-sten zum Opfer fallen...

Reisefreiheit / Jetzt wird um DM für Devisen gepokert

DDR kassiert schon jetzt kräftig in BonnVon dpa-Korrespondent Klaus Bering

I n der Bonner Debatte um wirt-schaftliche Unterstützung vonReformen in der DDR schiebtsich die Frage nach vorn, ob dieBundesrepublik nicht die freieAusreise von DDR-Bürgerndurch kräftige Devisenhilfe för-dern kann. Auslöser war dieAnkündigung des neuen Partei-chefs Egon Krenz, daß neue Rei-segesetze vorbereitet würden.

Die DDR hat einen hohen De-visenbedarf und ist nach Schät-zungen im Westen mit etwa achtMilliarden Dollar netto ver-schuldet. Ostberlin begründetebisher die generelle Verweige-

rung von Westreisen vorwie-gend mit Devisenknappheit - einArgument, das im Westen nichternst genommen wird.

Rund fünf Millionen DDR-Bürger machten im vergangenenJahr Besuche im Westen (darinauch Mehrfachbesuche), unterihnen 1,2 Millionen jüngereMenschen, die nur in besonde-ren Fällen eine Reiseerlaubniserhalten. Hätte die DDR in je-dem Fall 500 DM Devisen be-reitgestellt, hätte sie insgesamt2,5 Milliarden aufwenden müs-sen.

Die Bundesrepublik Deutsch-

land, nach der UdSSR der zweit-größte Handelspartner der DDR(sieben Prozent Anteil am Han-delsvolumen), ist auch der größ-te Devisenlieferant für Ostber-lin. Jährlich fließen über 800Millionen DM aus Bonn dorthin- in Form von Pauschalen für dieBenutzung der Transitstreckennach Westberlin, als Bezahlungvon Leistungen der DDR-Postim innerdeutschen Service, alszusätzliche Gebühr für die Stra-ßenbenutzung oder als BonnerBeitrag zum Bau neuer Auto-bahn-Stücke.

Rund 500 Millionen DM kas-

siert die DDR jährlich von Besu-chern aus der Bundesrepublikund Westberlin, die pro TagAufenthalt 25 West-Mark um-tauschen müssen. Dazu kom-men mindestens 50 MillionenDM Gebühren für die Erteilungvon Visa.

Ein besonderer Service-Dienst (Genex), bei dem West-deutsche für Bürger der DDRGeschenke in Auftrag gebenkönnen, bringt der DDR weitere200 Millionen in die Kasse. In-formierte Kreise schätzen, daßdie Bundesrepublik darüberhinaus jährlich rund 150 Millio-

nen für den Freikauf politischerHäftlinge ausgibt. Allein dieseLeistungen und Zahlungen sum-mieren sich auf fast zwei Milli-arden DM im Jahr.

Die nicht unbeträchtlichenDeviseneinnahmen steckte dieDDR bisher vorwiegend in Inno-vation und Ausbau der Indu-strie mit Verbesserung der Ex-portsituation. Westkredite, wieetwa die zwei Milliarden DMaus der Bundesrepublik, wur-den rasch und pünktlich getilgt.Dafür stockte die Versorgung imInland - ein Grund für die wach-sende Protestwelle.

Presse-Echo

Mutmaßungen über Egon Krenz

Das Preiskomitee in Stock-holm hat sich noch einmal halb-wegs nobel aus der Affäre gezo-gen. Indem es den Spanier Ca-milo Jose Cela auf den Nobel-Schild hob, umging es geschicktden drohenden Vorwurf, nur ei-nen gänzlich unbedeutendenVerlegenheitskandidaten ge-kürt zu haben.

Abendzeitung(München)

Der Trend, sich vom aktuellenLiteraturgeschehen zurückzu-ziehen, ist auch in diesem Jahrwieder erkennbar. Wer redetdenn heute noch von JosipBrodsky (1987), wer erinnertsich noch an Jaroslav Seiferthaus der CSSR (1984)? Auch dieWerke von Claude Simon(1985) Czeslaw Milosz (1980)oder Odyessa Elyüs (1979) sind

(Aus: Westdeutsche Allgemeine / Pielert) oft nicht einmal mehr in den hin-

Die Verleihung des Literatur-Nobel prei- teren 'Regalen der Buchhänd-ses kommentieren viele Blätter : hingen zu finden.

3jamburger#abcnöb!dll c A r\ VTJ R T p P(Konstanz)

Der Stolz gehört den Spa-niern, das ist unbestritten, Celaist einer ihrer großen. Andern-orts wurde die unerwarteteNachricht aus Stockholm mitgemischten Gefühlen aufgenom-men.

Hier wird ein Schriftstellergeehrt, dessen Verdienste umdie spanische Literatur auf dieNachkriegszeit zurückgehen,also moosbewachsen sind.

Münchner MerkurMÜNCHNER ZEITUNG

Die schwedische Akademiekommt einem langsam spanischvor ... Camillo Jose Cela ... wäremöglicherweise durchaus derrichtige Mann für den Nobel-preis gewesen - allerdings vor30 Jahren.

Rot-grün, schwarz-grün, „Ampel"- und Große Koalitionen nach Kommunalwähl

Politiklandschaft in NRW bunter gefärbt denn jeVon AP-Korrespondent Erich Reimann

Alle:es „geht" in Nordrhein-Westfalen: drei Wochen nachden Kommunalwahlen vom 1.Oktober hat sich die politischeLandschaft im bevölkerungs-reichsten Bundesland bunter ge-färbt als jemals zuvor. Bei denBürgermeister- und Ländrats-wahlen fanden sich rot-grüne,schwarz-grüne und Große Koa-litionen sowie Ampelmehrhei-ten aus SPD, FDP und Grünenzusammen, um angesichts vonimmer mehr in den Kommunal-parlamenten vertretenen Partei-en die jeweils notwendige Stim-menmehrheit zu sichern. Nichtimmer war die praktische Lö-sung vor Ort im Sinne der Par-teizentralen in Bonn und Düs-seldorf.

Vor allem CDU-Kommunal-politiker brachten ihren Landes-vorsitzenden, Bundesarbeitsmi-nister Norbert Blüm, in Verle-

genheit. Der hatte kurz vor denWahlen im Landesvorstand ei-gens einen Beschluß verab-schieden lassen, nach dem dieCDU jede politische Zusammen-arbeit und jede Koalition mitlinks- und rechtsradikalen Par-teien, mit Kommunisten, Grün-Alternativen, Republikanernoder Nationaldemokraten ab-lehne. „Dies gilt für die Landes-und Kommunalwahlebene",hieß es in einem Zusatz.

Basis rebellierte

Doch die CDU-Funktionärevor Ort machten nicht mit. Impberbergischen 16 000-Einwoh-ner-Städtchen Hückeswagenwählte eine schwarz-grüneMehrheit den UnionspolitikerManfred Vesper zum Bürger-meister. Im niedrrheinischen

Neunkirchen-Vlyn waren esgar FDP und Grüne, die demCDU-Kandidaten zur notwendi-gen Mehrheit verhalfen. Dabeihatte Blüm noch versucht,durch einen Blitzbesuch in Hük-keswagen den Dammbruch zuverhindern.

Die Gratulation der CDU-Zentrale in Düsseldorf für dieneuen Bürgermeister fiel dennauch eher gequält aus, steht derLandesverband doch jetzt voreinem doppelten Problem: zumeinen fürchtet die Partei, daß inanderen Ortsvereinen die Nei-

§ung wächst, sich auch mittimmen der Republikaner wäh-

len zu lassen, zum anderen wirdes für die Partei fast unmöglich,im bevorstehenden Landtags-wahlkampf erneut die rot-grüneGefahr zu beschwören.

Auch bei den Liberalen gingnicht alles nach dem Willen des

FDP-Landesverbandes. Obwohlder Landesvorsitzende, Bundes-bildungsminister Jürgen Mölle-mann, noch am Tag nach derWahl Ampelkoalitionen katego-risch ausgeschlossen hatte, fandsich in der 104 000 Einwohnerzählenden Stadt Bergisch Glad-bach bei Köln eine Mehrheit ausSPD, FDP und Grünen zusam-men, um den sozialdemokrati-schen Kandidaten zu wählen.Nicht anders war es in Iserlohnund Pulheim bei Köln.

Wiederholung verhindert

Zu einer großen Koalition ausSPD und CDU kam es in derLandeshauptstadt Düsseldorf.Dort hatte der Einzug der Repu-blikaner sowohl eine Mehrheitfür CDU/FDP als auch die Wie-derholung des bisherigen rot-

grünen Bündnisses verhindert.In der 27 000 Einwohner zäh-lenden Stadt Erkrath bei Düs-seldorf verständigten sich Unionund Sozialdemokraten gar aufdas sogenannte „israelische Mo-dell". Dort soll die zweite stell-vertretende Bürgermeisterin zurHalbzeit der Legislaturperiodevon einem CDU-Kandidaten ab-gelöst werden.

Auch Ministerpräsident Jo-hannes Rau dürfte es mit einemlachenden und einem weinen-den Auge gesehen haben, daß inden ehemaligen CDU-Hochbur-gen Aachen und Krefeld ausge-rechnet rot-grüne Koalitionendie sozialdemokratischen Kan-didaten in die Bürgermeisterses-sel hoben. Denn der stellvertre-tende SPD-Bundesvorsitzendehatte aus seiner Abneigung ge-gen die Ökopartei nie einenHehl gemacht.

Page 34: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 247 Politik Montag, 23. Oktober 1989

Namen undNachrichten

Palme-Witwe klagt anLisbeth Palme (Foto), die Witwedes ermordetenschwedischenMinisterpräsi-denten OlofPalme, hat diePolizei und dieZeitungen desLandes be-schuldigt, dieAufklärung des1986 verübtenAttentats sabo-tiert zu haben.Frau Palme sag- 'te in einem TV-Interview, sieverfüge über Beweise dafür, daßJournalisten Informationen vonder Polizei gekauft hätten.

„Rushdie beseitigen".Der Direktor des MoslemischenInstituts in London, Siddiqui,hat seinen Mordaufruf gegenden Autor Salman Rushdie er-neuert. In einer Versammlungvon 300 Moslems sagte er: „AlleMoslems sind sich einig, diesenMann zu beseitigen."

Cheney auf Europa-ReiseDer amerikanische Verteidi-gungsminister Cheney hat amWochenende eine 20tägige Rei-se nach Europa und Australienbegonnen, die ihn vom 26. biszum 28. Oktober auch in dieBundesrepublik führen wird.

, Cheney will sich bei den Ver-bündeten unter anderem überdie jüngsten Entwicklungen inOsteuropa informieren.

Täter stirbt bei AttentatAuf eine Wahlveranstaltung dergriechischen Konservativen mitderen Vorsitzenden Mitsotakisauf der Insel Lesbos sollte mögli-cherweise ein Bombenanschlagverübt werden. Der Attentäterwurde jedoch bei dem Versuch,den Sprengkörper zu plazieren,von seiner eigenen Bombe zer-rissen. Es handelte sich um ei-nen Offizier der griechischenLuftwaffe.

De Klerk gegen GarantienSüdafrikas Präsident Frederik

|De Klerk hat[sich gegen „in-j ternationale| Garantien" fürI einen Übergang[zu einer ande-Iren Regie-| rungsf orm imlApartheid-I Staat ausge-Jsprochen. VorI Delegierten derI herrschenden»Nationalen

Partei sagte De Klerk, dasSchicksal des Landes werdenicht im Ausland bestimmt.

Bergarbeiter ermordet?Das sowjetische Innenministeri-um hat begonnen, den Tod vonBergarbeiter-Führer Sotnikowzu untersuchen. Es wird vermu-tet, daß der Mann, der bei denStreiks im Juli eine „aktive Rol-le" gespielt habe, ermordet wur-de. Sotnikow war in der Näheseines Hauses in Rostow tot auf-gefunden worden.

„Pulverfaß Hochschule"Bildungsminister Jürgen Mölle-mann (FDP) hateindringlichvor den Folgeneiner unüber-legten Sparpo-litik an den

. Hochschulengewarnt. In ei-nem Interviewsagte Mölle-mann, er warnedavor, ange-sichts der ho-hen Belastungvon Universitäten und Fach-hochschulen jetzt „eine Luntean das Pulverfaß Hochschule zulegen". Für die 235 000 Studien-anfänger fehlten nicht nur Woh-nungen, sondern auch viele Pro-fessoren- und Dozentenstellen.

Bomben zeitig entschärftDie Polizei hat gestern in Lon-don drei Brandbomben ent-schärft, die' vor Büros der Kon-servativen Partei gelegt waren.Ein Reporter hatte die Polizeialarmiert, nachdem ein Anruferihm im Namen einer walisischenSeparatisten-Organisation ei-nen Hinweis gegeben hatte.

Reformen in DDR

DKP-Neuererskeptisch

Frankfurt (dpa). Vertreter ei-ner politischen Erneuerung derDeutschen Kommunisten Partei(DKP) bewerten die Reformbe-mühungen in, der DDR skep-tisch. Bei einem „Erneuerungs-kongreß" in Frankfurt erklärtensie am Wochenende, wirklicheVeränderungen seien kaum zuerwarten, wenn die SED nichtihren Führungsanspruch aufge-be. Die Partei habe die Macht,aber nicht die Führung. Ihr An-gebot zum Dialog sei „nicht vielmehr als eine Phrase". Es fehlteneine Analyse über die gesell-schaftliche Lage und Vorschlä-ge. Die Opposition innerhalb derDKP will einen parteiunabhän-gigen Diskussionsprozeß übereine Erneuerung sozialistischerTheorie und Politik in Gangbringen. Anlaß für den Kongreßsind die Veränderungen in denosteuropäischen Ländern unddie starre Haltung der DKP-Führung gegenüber Reformbe-strebungen. Die „Erneuerer",von denen viele resigniert unddie Partei verlassen haben, kri-tisieren die mangelnde Bereit-schaft des „DKP-Apparates",eine offene Auseinandersetzungüber Stalinismus und Demokra-tie in Osteuropa zu führen.

Commonwealth

Thatcher imAlleingang

Kuala Lumpur (AP). Die Gip-felkonferenz der- . Common-wealth-Länder in, Malaysia Mmit einem schrillen Mißklanqbeendet worden, weil sich Großbritannien nicht der einheitli-chen Front der übrigen 48 Teil-nehmerländer anschloß, die derweißen MinderheitsregierungSüdafrikas zusätzliche Sanktio-nen androhten. Die konservati-ve britische PremierministerinThatcher distanzierte sich voneiner zwölfseitigen Südafrika-Erklärung des Gipfels und ver-trat in einer separaten Stellung-nahme die Ansicht, die über dieallgemeinen Sanktionen hinaus-gehenden Strafmaßnahmen derUSA und des Commonwealthhätten nur den Extremismus inSüdafrika gefördert. Der briti-sche Alleingang löste offenbarallgemeine Überraschung aus.Ein hoher Commonwealth-Funktionär bezeichnete ihn als„abscheulich". •

Türkisches Flugzeug

Syrien bedauertAbschuß

Damaskus (AP). Das syrischeAußenministerium hat Ankarasein Bedauern über den Abschußeines türkischen Flugzeugs imGrenzgebiet beider Länder aus-gedrückt und die türkische Re-gierung ersucht, den Angehöri-gen der Opfer sein Beileid zuübermitteln. In einer Mitteilungheißt es ferner, der Vorfall solleeingehend untersucht werden,und man hoffe, daß die gutnach-barlichen und freundschaftli-chen Beziehungen der beidenLänder als Folge des Zwischen-falls keinen Schaden nähmen.

Ein türkisches Landvermes-ser-Flugzeug war am Samstagvon zwei syrischen Mig-Jets ab-geschossen worden. Fünf Insas-sen kamen ums Leben.

Erste offene Kritik an DDR / „Personenkult" Reform-Bewegung Deutsches Reich

Sowjet-Blatt rechnetmit Honecker ab

Moskau (dpa). Zum erstenMal hat eine sowjetische Zeitungscharfe Kritik an der DDR unddem früheren Staats- und Partei-chef Honecker geübt. Die sowje-tische Gewerkschaftszeitung„Trud", das mit 19 Millionen Ex-emplaren auflagenstärkste Blattder UdSSR, warf der früherenDDR-Führung gestern unter an-derem vor, eine „Mauer ohneFenster und Türen" zur Realitätin der DDR errichtet zu haben.Auch in der DDR hätten sich inden vergangenen Jahren vieleProbleme angehäuft, doch hättensie sich nicht in den Medien desLandes niedergeschlagen.

Die Zeitungen hätten sich wei-terhin mit den „Erfolgen beimAufbau des Sozialismus" be-schäftigt. Um Erich Honecker seiein Personenkult betrieben wor-den. Im „Neuen Deutschland"habe man täglich Dutzende Fotoswiederfinden können, auf denenHonecker abgebildet gewesensei. Als Konsequenz dieser denRealitäten widersprechendenPolitik hätten „Zehntausende"von jungen DDR-Bürgern dasLand verlassen.

Auch die Entwicklung der Re-formen in der UdSSR sei nichtobjektiv dargestellt worden. Inden DDR-Medien hätten die Be-richte über Erdbeben, Nationa-litätenkonflikte und die schwie-rige Versorgungslage in derUdSSR dominiert. „Es entstandder Eindruck, daß irgendjemandnicht die Wahrheit über die Re-formen in der Wirtschaft unddie Demokratisierung des ge-sellschaftlichen und politischenLebens berichten wollte,"schrieb „Trud" in Anspielungauf die Nichtbereitschaft derDDR-Führung zu Reformen imeigenen Lande.

Ausführliche Berichte

In den meisten sowjetischenZeitungen wird seit Tagen im-mer ausführlicher über die Ent-wicklung in der DDR berichtet.Die meisten sowjetischen Kor-respondenten in der DDRschrieben am Sonntag, die neueFührung habe den Übersiedlernanheim gestellt, wieder in dieDDR zurückzukehren.

Hajek: In CSSR Schily willnichts in Sicht Urteil anfechten

Wien (AP). Der tschechoslo-wakische Bürgerrechtler JiriHajek, der zur Zeit des PragerFrühlings Außenminister war,hält nach eigenem Bekundeneine Massenbewegung für De-mokratie wie in der DDR in sei-nem Land für unwahrscheinlich.In einem Gespräch mit Journali-sten sagte Hajek am Samstag,die Führung der CSSR sitze fe-ster im Sattel als die der DDR,die unsicher geworden sei unddeshalb Massendemonstratio-nen zugelassen habe. Die tsche-choslowakische Polizei arbeiteunentwegt daran, alle Ver-sammlungen von Regierungs-gegnern zu verhindern oder auf-zulösen und die Veranstalterfestzunehmen. Hajek selbst warin der vergangenen Wochezweimal festgesetzt worden.

Die CSSR sei es gewesen, sag-te Hajek weiter, die vor 20 Jah-ren den Sprung nach vorn inRichtung Demokratie gewagthabe. Die Bewegung sei geschei-tert. Das Scheitern habe zur Fol-ge gehabt, daß.sich die Tsche-choslowaken aus Enttäuschungins Privatleben zurückgezogenhätten und ihre intellektuellenund moralischen Fähigkeitenbrachlägen.

München (dpa). Der Bundes-tagsabgeordnete der Grünen,Otto Schily, will das Urteil desBundesverfassungsgerichts überden Fortbestand des DeutschenReiches in den Grenzen von 1937anfechten. In einem Interviewmit der Illustrierten „Bunte" for-derte Schily, die Grenzfrage müs-se noch einmal vor das Bundes-verfassungsgericht. „Ich werdemich um eine entsprechende In-itiative bemühen", kündigte derPolitiker an. Er sei der Meinung,daß das Deutsche Reich nichtfortbestehe. Schily wörtlich: „Ichhalte diesen RechtsanspruchStaats- und verfassungsrechtlichfür falsch. Das Bundesverfas-sungsgericht sollte sein Urteilüber den Fortbestand des Deut-schen Reiches in den Grenzenvon 1937 revidieren. Dieses Ur-teil steht nicht im Einklang mitder politischen Wirklichkeit.Das Deutsche Reich ist mit demTerrorregime der Nazis für im-mer untergegangen." In dem In-terview kritisierte Schily außer-dem die Deutschlandpolitik sei-ner Partei. Die deutsche Zwie-staatlichkeit, so Schily, sei keinWert an sich. Die deutsche Ein-heit darf auch für die Grünenkein Tabu sein.

Dresden / Kirche dokumentiert Polizeigewalt

Auch Unbeteiligteerhielten Schläge

GUTGELAUNT zeigten sich gestern Bundespräsident Weizsäckerund IG Metall-Chef Steinkühler auf dem 16. Ordentlichen Ge-werkschaftstag der IG Metall in Berlin. (dpa-Funkbild)

Steinkühler: Streben keinen Streik an

Gesamtmetall-Chef drängtauf flexiblere Arbeitszeiten

Ostberlin/Dresden (dpa). Aufmehr als hundert zum Teil er-schütternde Schilderungen vonDemonstranten und unbeteilig-ten Passanten über Gewalt undl 'bergriffe in Polizeirevieren,Gefängnissen und Kasernenmacht ein Sonderbericht desLandeskirchenamtes . Sachsenaufmerksam, der am Wochenrende auf der Synode in Dresdenvorgelegt wurde. Daraus gehthervor, daß auch völlig Unbetei-hgte, so am 6. Oktober ein älte-res Ehepaar auf dem Nachhau-

j seweg, von Polizisten Schlägemit dem Gummiknüppel erhiel-

• ten und verletzt wurden., Jugendpfarrer Martin Henkeri berichtete in der Tageszeitung„Union" über etwa „390 Mel-dungen von Vermißten, Zuge-führten und Verhafteten", diesich auf die Zwischenfälle undFestnahmen zwischen dem 3.und 8. Oktober in der Elbe-Stadtbeziehen. In der Kirchendoku-mentation ist auch der Brief ei-nes Bereitschaftspolizisten anseinen Seelsorger enthalten.Dieser Mann, ein Wehrpflichti-ger, äußert sich erschüttert, wievon „Leuten" des Strafvollzugsin den Kasernen auch „Frauen,

FortsetzungStumpfe betonte, ein solcherKompromiß solle den Arbeits-kampf vermeiden, die Konjunk-tur nicht gefährden, auf Opferder Beschäftigten verzichtenund gleichzeitig die Möglichkei-ten schaffen, in Zukunft weiternach angemessenen Lösungenfür alle Probleme zu suchen.

Flexiblere Arbeitszeiten hältStumpfe für ebenso wichtig wieden derzeitigen Verzicht aufkürzere Arbeitszeit. Den Firmenmüsse die Möglichkeit gegebenwerden, ihre Maschinen längerlaufen zu lassen. Auch gebe esvon Saisonschwankungen be-troffene Betriebe, die die dieMöglichkeit haben müßten, ihreArbeitszeiten zu variieren. In

den europäischen Nachbarstaa-ten sei man da schon viel weiter.

Schon vor dem Auftakt desGewerkschaftstages bekräftigteIG Metall-Chef Steinkühler:„Die aktuelle Wirtschaftslagemacht beides bezahlbar, Ar-beitszeitverkürzung und Lohn-erhöhung." Steinkühler sagte,seine Organisation strebe beider anstehenden Tarif runde kei-nen Streik an, sondern wolle,„wenn es sein muß, in vielenmühsamen Verhandlungen ver-suchen, die Arbeitgeber von derRichtigkeit unserer Argumentezu überzeugen". Sollten die Ar-beitgeber aber bei ihrer jetzigenHaltung bleiben, „müssen wirDruck in den Betrieben ma-chen".

Hinweis auf Versorgungsprobleme USA / Abtreibungsgesetz

Litauen erschwert Reisen Bush stoppt SteuergelderOstberlin (AP). Die Regierung der Sowjetrepu-

blik Litauen hat einer Meldung der amtlichenDDR-Nachrichtenagentur ADN zufolge Be-schränkungen für die Einreise von Touristen aussozialistischen Ländern verfügt. Wie ADN amSonntag berichtete, begründete der Ministerratin Wilna (Vilnius) eine am Freitag ergangeneentsprechende Verordnung damit, daß der Tou-ristenstrom die Versorgung der einheimischenBevölkerung mit Lebensmitteln und Industrieer-zeugnissen beeinträchtige. Die Maßnahme zieltoffenbar vor allem auf den Zustrom polnischerTouristen ab. Die Zahl der Zugverbindungenzwischen Polen und Litauen soll von.zwei aufeine reduziert werden.

Washington (AP). US-Präsident Bush hat seinVeto gegen ein Mitte letzter Woche auch vomSenat verabschiedetes Gesetz eingelegt, dasBundesmittel für Abtreibungen bedürftiger Frau-en bereitstellte, die infolge von Vergewaltigungoder Inzest schwanger wurden. Er halte es nichtfür ziemlich, Steuergelder für Abtreibungen be-reitzustellen, es sei denn das Leben der Muttersei durch Austragung der Schwangerschaft ge-fährdet, begründete Bush seine Entscheidung.Das Veto kann nur mit einer Zweidrittelmehrheitin beiden Häusern des Kongresses überstimmtwerden; vermutlich wird die erforderliche Zahlder Stimmen nicht zusammenkommen. Bush hat-te seinen Einspruch bereits angekündigt.

Mädchen und ältere Menschengeschlagen wurden".

Nach Angaben aus Ostberlinund Dresden sind einige Dut-zend Bereitschaftspolizisten inMilitärhaft, weil sie sich gewei-gert hätten, gegen Demonstran-ten vorzugehen.

In anderen Berichten wird un-ter anderem geschildert, wie ein16jähriger in Polizeigewährsamverprügelt wird. „Wir hörtenseine Schreie und die Schlägeder Knüppel. Ein anderer wurdemit dem Kopf mehrmals an eineGaragentür geschlagen."

Auch Landesbischof Johan-nes Hempel ging auf die Gewalt-taten in Dresden ein. Junge Er-wachsene seien zum Teil, „imSinne-der Abschreckungsstrafe,seelisch und körperlich er-schreckend hart gezüchtigtworden". Wer die Kraft der jun-gen Menschen zerbreche, „zer-bricht unsere Zukunft".

Zu der Entwicklung der letz-ten Tage sagte der Landesbi-schof: „Gott sei Dank, .es gibtzaghafte Anfänge eines neuenDialogs, erste Zeichen derStaatsmacht, den Menschen di-rekt zuzuhören. Wir wünschensehr, daß es so weitergeht."

Ministerpräsident entlassen / Sprachenstreit

Unruhen in UsbekistanMoskau (AP). Der Oberste So-

wjet Usbekistans hat den seit1984 amtierenden Ministerprä-sidenten Gairat Kadirow seinesAmtes enthoben. Kadirow warvorgeworfen worden, Arbeitslo-sigkeit und ethnische Spannun-gen in Usbekistan nicht in-denGriff zu bekommen. Das Parla-

ment verabschiedete einen Zu-satzartikel zur Verfassung, nachdem künftig Usbekisch stattRussisch Amtssprache sein,Russisch aber Verkehrssprachebleiben soll. Gegen dieses Spra-chengesetz gab es in Usbeki-stans Hauptstadt Taschkent De-monstrationen.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dieriohs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureChef vom Dienst: Horst Kröninger. ChefNachrichten: Rainer Merforth. Politik: Jo-chen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden, Kultur: Dirk Schwarze, i. V.Claudia Sandner-v.Dehn, M. A., Frau u.Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wiese-mann, i. V. Ulrich Fuhrmann. Sonntagszeit:Frank Thonicke. Kassel Stadt und Land:Wolfgang Rossbach. Bezirksredaktionen:Peter M. Zitzmann. Koordination: HelmutLehnart. Hessen/Niedersachsen: EberhardHeinemann. Chefreporter: Karl-HermannHuhn. Sonderthemen: Peter Ochs.Redaktion Wiesbaden: Rolf EtfenbergerRedaktion Hannover: Harald BirkenbeulRedaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter: Horst Prehm.Vertriebsleiter.- Gerd Lühring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG. Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61/20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61 / 20 3-3. rernschreib-Nr.99 635. Telekopierer 05 61 /20 36. Teletex5618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7% MwSt. (Postbezugs-preis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.

Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.

Herstellung Druckhaus Dierichs,Frankfurter Straße 168, 3500 Kassel.

Page 35: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 247 Hessen Montag, 23. Oktober 1989

Resolution zur Deutschland- und Ostpolitik verabschiedet

SPD Hessen-Süd fordert von SEDunverzüglich Zeichen für Reform'

Langgöns (Ihe). Für einen intensiverenDialog zwischen Menschen und Institutionenin der DDR hat sich die SPD Hessen-Südausgesprochen. Zu diesem Dialog gebe es„keine verantwortbare politische Alternati-ve", heißt es in einer vom Parteitag in Lang-göns bei Gießen am Samstag fast einstimmig

verabschiedeten Resolution zur Deutsch'land- und Ostpolitik. Die südhessische SPDunterstütze gerade jetzt alle Bestrebungen,den Menschen in der DDR wie in anderenStaaten Freiheit, demokratische Beteili-gungschancen und Selbstbestimmung zugewähren.

An die SED-Führung und denneuen Generalsekretär Krenzappellierten die 222 Delegiertendes Parteitags, „unverzüglichZeichen für Erneuerung und fürdie Verwirklichung von Informa-tions-, Meinungs- und Reisefrei-heit, für Rechtssicherheit und po-litischen Pluralismus in der DDRzu setzen". Der Wechsel an derSpitze der DDR zeige, daß dieSED-Führung von Protesten derBevölkerung und der Reform-gruppen in der DDR zu Verände-rungen veranlaßt werden könne.

„Monopol aufgeben"

„SED und Staatsführung derDDR kommen nicht daran vor-bei, die anhaltende Ausreise-welle und die massenhaften De-monstrationen in der DDR alsdramatisches Warnsignal undAnstoß zu überfälligen Refor-men zu erkennen und entspre-chend zu handeln sowie das Al-leinvertretungsmonopol einer

Partei aufzugeben", heißt es inder Entschließung.

Begrüßt wurde vom Parteitagdie Gründung einer Sozialdemo-kratischen Partei (SDP) in derDDR. Die südhessische SPD un-terstütze ihre Bestrebungen, aufeine ökologisch orientierte so-ziale Demokratie hinzuwirkenund sich für eine konsequenteDemokratisierung von Staat undGesellschaft einzusetzen.

Kritik an Wallmann

Die Bezirksvorsitzende HeidiWieczorek-Zeul kritisierte denhessischen CDU-Landesvorsit-zenden und MinisterpräsidentenWallmann wegen seines gegendie SPD erhobenen Vorwurfs des„Verrats an deutschen Inter-essen". Sie erwarte, daß Wall-mann den Vorwurf zurücknehme.

Wallmann hatte sich auf eineFeststellung des SPD-Landes-parteitags am 30. September inLimburg bezogen, weder bei den

westlichen Partnern noch beiden östlichen Nachbarn derBundesrepublik könne die Be-reitschaft erweckt werden, „dieEinheit Deutschlands auf dieTagesordnung der Weltpolitikzu heben".

„Nato-Statut revidieren"

Einstimmig verabschiedete derSPD-Parteitag einen Antrag desBezirksvorstands, in dem eineAufhebung, zumindest aber einegrundsätzliche Revision des Zu-satzabkommens zum Nato-Trup-penstatut verlangt wird. Der Ver-trag über die Beziehungen zwi-schen der Bundesrepublik undden drei Mächten aus dem Jahr1952 müsse im übrigen sorgfältigüberprüft werden. Es gehe nichtan, „daß die Bundesrepublik ei-nerseits den Status eines souve-ränen Staates habe, andererseitsaber ihre Rechtsstellung besat-zungsrechttiche, protektbrats-ähnliche Züge aufweist".

Seniorentreffen des SPD-Bezirks Hessen-Nord in Gudensberg

„Erfahrungsschatz der Älteren nutzen"Gudensberg (t). Der Ehren-

vorsitzende Dr. Karl Branner,Alt-Oberbürgermeister vonKassel, hatte am VorstandstischPlatz genommen, die ehemali-gen Landräte von Fritzlar-Hom-berg und Melsungen, AugustFranke und Franz Baier, saßenin der ersten Reihe. Man sahNoch- oder ehemalige Mitglie-der aus dem Landesparlamentund aus Städte- und Kreiskör-perschaften. „Weißt-Du-noch"-Stimmung machte sich gesternim Bürgerhaus von Gudensberg(Schwalm-Eder-Kreis) breit, alssich die Senioren des SPD-Par-teibezirks Hessen-Nord trafen.

Nach der Begrüßung durch denBezirks-SeniorenbeauftragtenOtto Heckmann (Kassel) betonteBezirksvorsitzender Dr. HerbertGünther, eine Partei sei misera-bel, wenn sie nicht den Erfah-rungsschatz ihrer Senioren ein-setze. Er reklamierte für seinePartei den „Durchbruch in derAussöhung mit dem Osten durchWilly Brandt" und kritisierte, daßdurch „dummes Gerede" die

Liberalisierungsansätze in derDDR gefährdet werden könnten.

Massiv griff Günther denCDU-Landesvorsitzenden, Mini-sterpräsident Dr. Wallmann an,„der eine ungeheure Geschichts-klitterung" betreibe. In diesemZusammenhang forderte späterder SPD-Landesvorsitzende undKasseler OberbürgermeisterHans Eichel den Ministerpräsi-denten auf, einen im Landtag auf-gestellten historischen Ver-gleich, in dem er sich auf dieAbstimmung zum „Ermächti-gungsgesetz" 1933 im Reichtstagbezog, „an gleicher Stelle, näm-lich im Landtag", zurückzuneh-men. Im übrigen habe Hessen „ei-nen Ministerpräsidenten undeine Regierung, die nach rechtspolarisieren", nicht verdient.

Landesvorsitzender Eichelzeichnete ein Bild vom „reichenLand Hessen", das aber in denvergangenen vierzig Jahrendazu geworden sei, „und nicht inden letzten zwei Jahren". DieserReichtum werde durch die Re-gierung' Wallmann „gedanken-

los verwirtschaftet". Das gehörezu ihrem politischen Prinzip:„Denn wo die soziale Ungerech-tigkeit entsteht", könnten dieReichen immer reicher werden.

„Für Energiesparen werben"

Der Kasseler Oberbürgermei-ster forderte "die Senioren auf, inihren Kreisen für das Energie-sparen anwerben, „damit unse-re Erde in naher Zukunft nichtunbewohnbar wird". Die Auto-mobilindustrie müsse für dieZukunft umweltverträglichereund benzinsparende Fahrzeugebauen (sonst müsse man denspäteren Verschrottungspreisbeim Kauf gleich einkalkulie-ren) und ging auch auf die imSPD-Programm „Fortschritt 90"vorgesehene hohe Benzinsteuerein. Sie würde durch höhereFreibeträge bei anderen Steuer-arten wieder hereinkommen. Ei-chel: „Auf keinen Fall wird unddarf der kleine Mann darunterleiden".

DGB-Frauenreferentin: Rentenreform ,fauler Kompromiß'Frankfurt (Ihe). Die von der

Bundesregierung geplante ge-plante Rentenreform ist nachAnsicht des DGB Hessen fürFrauen ein „fauler Kompromiß".Für bedenklich hält die DGB-Frauenreferentin Marita Eilrichvor allem die geplante Herauf-

setzung der Regelarbeitsgrenzeaui 65 Jahre.

Auch auf das vorgezogeneAltersruhegeld für Frauen vom60. Lebensjahr an sollte nichtverzichtet werden, heißt es ineiner Mitteilung des DGB vomSonntag. Solange die Belastung

während der Kindererziehungund im Haushalt nicht gleicher-maßen auf Frauen und Männeraufgeteilt sei, dürfe die zurZeit gültige vorgezogene Alters-ruhegrenze für Frauen vom60. Lebensjahr an nicht beseitigtwerden.

ERNTEGABEN brachte das Landvolk in den Fritzlarer Dom. Jugendliche trugen Körbe mit Brot undFeldfrüchten." (Foto : B e r8 e r)

Bauernverband hatte nach Fritzlar eingeladen/Zentrale Feier im Dom

Erzbischof Dyba: Für Gottes Gaben dankenFritzlar (rbg). Zum tätigen

Dank rief gestern der FuldaerErzbischof Dr. Johannes Dyba inFritzlar auf. „Wir alle sollten dieIdeen und Gaben Gottes auf derErde entwickeln und verwirk-lichen und sie damit zum Segenfür alle Menschen werden las-sen", sagte er vor einigenhundert Gläubigen beimLandeserntedankfest im Dom.

Der Hessische Bauernverbandhatte in diesem Jahr für seinetraditionelle Feier in die alte Kai-

serstadt eingeladen. Neben zahl-reichen Offiziellen, darunter Re-gierungspräsident Dr. Ernst Wil-ke, waren Landwirte aus allenTeilen des Landes zum Pontifi-kalamt in den Dom" gekommen,der mit einer schlichten Ernte-krone geschmückt war.

Der Erzbischof sagte, das Zu-sammenwirken von Kirchen undBauern sei kein Zufall, „denn wirsind die letzten, die noch zu dan-ken haben". In der Öffentlich-keit, vor allem in den Medien, sei

von Dank kaum etwas zu spüren.Im Gegenteil: Alle gesellschaft-lichen Kräfte bemühten sich,Forderungen zu stellen und dieZustände zu beklagen. Dyba:„Wir sind in der Gefahr, daß Un-zufriedenheit und Undankbar-keit institutionalisiert werden".Das fange schon in der Schulebei den Kindern an, die angehal-ten würden, Natur und Schöp-fung nach Hohlräumen abzu-klopfen, statt zur Dankbarkeitgeführt zu werden.

49jähriger starb

Absturz beiFlugversuch

Langenselbold (Ihe). Bei sei-nem ersten Flugversuch mit ei-nem für ihn neuen motorisiertenUltraleicht-Flugzeug ist ein49jähriger Pilot am Samstagetwa 300 Meter vom Geländedes Flugplatzes Langenselboldentfernt abgestürzt. Er erlitt töd-liche Verletzungen.

Der aus Langenselbold (Main-Kinzig-Kreis) stammende Mannwar nach Mitteilung des Regie-rungspräsidiums Darmstadt mitseinem Fluggerät bei böigemWind ins Trudeln gekommenund dann senkrecht zur Erdegestürzt. Das Ultraleichtflug-zeug sei kurz zuvor noch voneinem Sachverständigen abge-nommen worden. Der 49jährigewar ein erfahrener Pilot.

KKW/Initiativgruppe Unfall auf Autobahn

Würgassen Pkw-Fahrerinerneut blockiert schwer verletzt

Scheune abgebrannt

Oberursel (Ihe). Beim Brandeiner Feldscheune ist in. derNacht zum Samstag in Ober-ursel (Hochtaunuskreis) etwa150 000 Mark Schaden entstan-den. Die Brandursache ist nochungeklärt.

Würgassen (jop). Mit rund80 Teilnehmern -blockierte amSamstagnachmittag die Initiativ-gruppe „gewaltfreie Blockadeam Atomkraftwerk Würgassen"die beiden Zufahrten zur kern-technischen Anlage im KreisHöxter. Wie der Sprecher derGruppe, Christian Jobst ausGöttingen, mitteilte, griff diePolizei nach einer zweistündigenVerhinderung des Schichtwech-sels gegen 13 Uhr ein und dräng-te die Demonstranten zur Seite.Dabei seien die Personalien vonfünf Teilnehmern der Blockadeaufgenommen worden. Nachdem Polzeieinsatz setzten rund50 Personen die Blockade derHauptzufahrt fort.

Am Samstagmorgen hatte imbenachbarten Beverungen aufnordrhein-westfälischer Seiteeine Informationsveranstaltungstattgefunden, bei der das Göt-tinger Kabarett „Gesellschaft fürRuhe und Ordnung" sowie derSchriftsteller Karl Gebauer mit-gewirkt hatten.

Die Initiativgruppe will ihreBlockaden bis zur Stillegung desReaktors fortsetzen.

Kassel (f). Bei einem Unfall aufder Autobahn 7 bei Malsfeld(Schwalm-Eder-Kreis) erlitteine 63jährige Frau aus Rosen-heim am Samstagnachmittagschwere Verletzungen.

Wie die Polizei mitteilte, kamdie Frau vermutlich aufgrundeines Fahrfehlers mit ihrem Pkwvon der mittleren Fahrspur ab;der Wagen geriet ins Schleu-dern, überquerte alle Fahr-streifen und stieß auf einenrechts fahrenden Pkw, derdurch den Aufprall nach linksgegen die Mittelleitplanke ge-schleudert wurde. Der Fahrer,ein 20jähriger Oldenburger,blieb unverletzt.

Der Wagen der 63jährigenüberschlug sich und rutschteauf dem Dach gegen die Leit-planke. Die Fahrerin wurde vomNotarzt des Rettungshub-schraubers versorgt und an-schließend mit einem Rettungs-wagen ins Melsunger Kranken-haus gebracht. Ihr mitfahrenderEhemann wurde leicht verletzt.Der Sachschaden an den beidenPkw beträgt laut Polizei rund24 000 Mark.

Wer Lufthansa fliegt,erreicht Asien bis zu6 Stunden schneller.

Mit Lufthansa können Sie die wichtigsten asiatischenZiele ab Frankfurt nonstop anfliegen. Dadurch sparenSie z.B. nach Peking bis zu 6 Stunden. Die Nonstop-Verbindungen des Winterflugplans heißen Tokyo (6xpro Woche), Hong Kong (6x), Singapore (2x), Bangkok(7x), Neu Delhi (5x)„Bombay (4x), Kuala Lumpur (1 x)und Peking (3x). Mit der eingesparten Zeit überraschenSie ihre fernöstlichen Gesprächspartner ab sofortdurch Ruhe und Entspanntheit. Schritt für Schritt wirddie neue B 747-400 auf allen Strecken zu Ihrem Wohl-befinden beitragen. Buchung in allen Reisebüros mitLufthansa Agentür oder in den Lufthansa Stadtbüros.Informationen auch über Btx «50000 #.

Lufthansa

Page 36: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMEINEUNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 248 • Dienstag, 24.10. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Konjunkturprognose

1990 wenigerWachstum

Bonn (dpa/vwd). Nach dem„fetten Jahr" 1989 mit einemWirtschaftswachstum von realvier Prozent wird sich nach Ein-schätzung der fünf führendenWirtschaftsinstitute die Kon-junktur 1990 mit einem Wirt-schaftswachstum von drei Pro-zent wegen zurückgehender Ex-porte leicht abschwächen. DiePreise werden im kommendenJahr leicht anziehen, die Infla-tionsrate rund drei Prozent be-tragen. Auch 1990 werde dieZahl der Arbeitslosen im Jah-resdurchschnitt nicht wesent-lich verringert werden könnenund die Zwei-Millionen-Markekaum unterschreiten, erklärtendie Vertreter der fünf Institutebei der offiziellen Vorstellungdes Wirtschaftsgutachtens ge-stern in Bonn.Bericht nächste SeiteSiehe auch Kommentar

ZDF-Politbarometer

Mehrheit fürKoalition

Hamburg (dpa). Die BonnerRegierungskoalition hat zumersten Mal seit einem Jahr inder Wählergunst wieder eineMehrheit. Die Republikaner,die bei den jüngsten Wahlenstets Erfolge verbuchten,hätten dagegen keine Chan-ce, in den Bundestag zu kom-men. Das ergab die Oktober-Umfrage zum ZDF-Politbaro-meter unter mehr als 1000repräsentativ ausgesuchtenBundesbürgern.

Erstarken der Union

Wenn am nächsten Sonn-tag Bundestagswahl wäre,dann erhielte die CDU/CSU .41 Prozent (plus zwei), dieFDP käme auf neun Prozent(plus eins), die SPD bliebe bei37 Prozent, die Grünen kä-men auf acht Prozent (minuseins) und die Republikanernur noch auf drei Prozent(minus zwei). Die anderenParteien blieben bei zweiProzent. Das Erstarken derCDU/CSU geht vor allem zuLasten der Republikaner.Nur zwei Prozent der frühe-ren CDU/CSU-Wähler er-klärten, ihre Stimme jetztden Repulikanern zu geben.

Schwimmbad

„Ducken"verboten

Wer andere ge-waltsam unter Was-ser taucht, begehtKörperverletzung.Dies entschied jetztdas LandgerichtFrankfurt. Ein49jähriger erhielteine Geldstrafe von1000 DM aufge-brummt. Einzelhei-ten des Urteils auf„Blick in die Zeit".

Nach 12 Tagen

Biologingerettet

Zwölf Tage lag siemit einem gebroche-nen Bein in einertiefen Schlucht inChile, jetzt wurdesie lebend gefunden:Die deutsche Biolo-gin Ingeborg Brede-meyer hatte sichnach ihrem Sturznur von Blättern er-nährt. Siehe „Blickin die Zeit".

Personal

Sorge umEngpass

Die deutschenManager befürchtenbis zum Ende diesesJahrhunderts einendramatischen Per-sonalmangel in Fa-briken und Büros.Dies ergab eine Um-frage unter 564 Füh-rungskräften ausPolitik, Wirtschaftund Verwaltung.Siehe Wirtschaft.

Kasparow

Computerbesiegt

Der Geist besiegtedie Maschine: Derhochgerühmte ame-rikanische Schach-computer „TieferGedanke" unterlagin New York demsowjetischenSchachweltmeisterGarri Kasparow inzwei Partien. Be-richt auf „Blick indie Zeit".

Heizöl

Deutschesparen

Die Deutschen ge-hen sparsamer mitHeizöl um. Der Ver-brauchsdurch-schnitt lag in dervergangenen Heiz-periode 1987/88 bei20,10 Liter pro Qua-drat und Jahr. Dassind rund zwei Literweniger als im Win-ter davor. SieheWirtschaft.

„Republik Ungarn" ausgerufenUngarn ist jetzt Republik undnicht länger „Volksrepublik".Unter dem Jubel von rund Hun-derttausend Menschen rief Par-lamentspräsident Szüros auf demBalkon des Parlamentsgebäudesin Budapest die Republik aus undsetzte damit eine Verfassungsre-form in Kraft, die einen weiterenwichtigen Schritt in Richtung aufein demokratisches System west-licher Prägung darstellt. Szüroskündigte unter den Begeiste-rungsrufen der Menschenmenge

an, daß Ungarn in Zukunft ein„unabhängiger demokratischerRechtsstaat" sein werde. AmAbend versammelten sich vordem Parlament 100 000 Men-schen und riefen „Russen heim"und „Kein , Kommunismusmehr". Auf den Tag genau vor33 Jahren war der Volksauf-stand gegen das kommunisti-sche Regime ausgebrochen. -Siehe auch „Zum Tage" • und„Themen des Tages".

(dpa-Funkbild)

Baden-Württemberg / CDU in kleineren Gemeinden behauptet

Republikaner in Städten zweistelligStuttgart (AP/dpa). Trotz ihrer

hohen Stimmenverluste an dieRepublikaner, die in mehrerenStädten zweistellige Ergebnisseerzielten, konnte sich die CDUbei den baden-württembergi-schen Kommunalwahlen in denkleineren Gemeinden offenbarals stärkste parteipolitischeKraft behaupten. Nach einemersten Zwischenergebnis des In-nenministeriums haben dieChristdemokraten in 629 voninsgesamt 1109 Gemeindenzwar 2,8 Prozent der Sitze ver-loren, verfügen aber noch immerüber einen Mandatsanteil vonknapp 30 Prozent.

Aufgrund des äußerst kompli-zierten Wahlsystems wird miteinem landesweiten Ergebnisder Mandatsverteilung nichtvor Donnerstag gerechnet.

Nach den bislang erfaßtenStimmen von etwa 30 Prozentder rund 6,7 Millionen Wahlbe-

rechtigten hat die SPD, die beider Wahl im Jahr 1984 starkverloren hatte leichte Sitzge-winne um etwa 0,8 Prozent. Diein Baden-Württemberg traditio-nell starken Wählervereinigun-gen sind dem ersten Überblickzufolge wiederum gut vertretenund gewannen 2,3 Prozent anSitzen hinzu. Ihnen fallen damitbisher mit 45,8 Prozent die mei-sten Mandate zu. Die Anteileder Grünen (1984: 2,4 Prozent)und der FDP (1,3 Prozent) blie-ben nahezu unverändert.

Anders stellt sich die Situati-on in den großen Städten dar.Wo die Republikaner angetre-ten waren, erreichten sie teil-weise zweistellige Ergebnisse,die vor allem auf das Konto derCDU gingen. So verlor die CDUin der Landeshauptstadt Stutt-gart 5,7 Prozent, in Karlsruhe5,9 und in Mannheim gar 9,8Prozent.

Dagegen zogen die Rechtsra-dikalen in Stuttgart (9,6 Pro-zent), Mannheim (9,8 Prozent),Freiburg (6,4 Prozent) undKarlsruhe (6,3 Prozent) auf An-hieb in die Rathäuser ein. Re-kordergebnisse bekamen sie inHeilbronn (10,6 Prozent), Pforz-heim (11,9 Prozent) und Heiden-heim (14,2 Prozent). Weil sie le-diglich in etwa 50 Städten kan-didierten, erreichten die Repu-blikaner in den kleineren Ge-meinden kaum Sitzzahlen.

Führende Politiker von CDU,SPD und FDP reagierten amMontag mit Bestürzung auf dasgute Abschneiden der Republi-kaner, das sie vor allem auf dieWohnungs- und Ausländerpoli-tik zurückführten. Ministerprä-siden Späth, der von einer kla-ren Niederlage für die CDUsprach, sieht ein Protestverhal-ten, dem man nachgehen müsse.Siehe auch Kommentar

300 000 demonstrierten in Leipzig

Reisepässe füralle versprochen

Berlin (dpa/AP). Das SED-Politbüromitglied Hager hat ge-stern eine Reise-Verordnung in der DDR angekündigt, diedavon ausgehen werde, „daß alle reisen dürfen und daßjeder Bürger einen Paß erwerben kann, um zu reisen und dener auch behält". Zeitgleich kam es in Leipzig zur bishergrößten Protestdemonstration in der DDR mit rund 300 000Menschen. Zwischenfälle gab es keine.

Hager machte seine Äußerun-gen, die am Abend von derNachrichtensendung des DDR-Fernsehens „Aktuelle Kamera"ausgestrahlt wurden, auf einerPräsidiumstagung des Komiteesder Unterhaltungskünstler inder DDR.

Auf die heute anstehendeVolkskammersitzung mit derWahl des neuen SED-ChefsKrenz auch zum Staatsratsvor-sitzenden - also Staatschef -und zum Vorsitzenden des Na-tionalen Verteidigungsrates an-gesprochen sagte Hager, manmüsse selbstverständlich davonausgehen, daß es das „souverä-ne Recht der Volkskammer" sei,über diesen Vorschlag des SED-Zentralkomitees zu entschei-den. Hager spielte offensichtlichdarauf an, daß erstmals in derGeschichte der DDR eine ein-stimmige Wahl des Staatsober-hauptes nicht gesichert ist.

Der Massenprotest in Leipzigstand ganz im Zeichen derVolkskammersitzung. Die Hun-derttausenden, die sich wieder-um in den Kirchen der Stadt ge-sammelt hatten, demonstriertengegen Machtmißbrauch undAmterhäufung.

Auf Transparenten zeigtendie Demonstranten Slogans wie„Krenz ja - nur durch freie Wah-len", „Demokratie unbekrenzt",„Wir fordern freie Wahlen",„Keine neue Machtkonzentra-tion". ADN berichtete, bei derDemonstration seien „Forderun-gen nach spürbaren Verände-rungen, weiterführendem Dia-log und kritischer Bewertungder gesellschaftlichen Entwick-lung in der DDR" laut geworden.Demonstrationen gab es auch inDresden, Schwerin, Magdeburgund Ostberlin.

In Teltow bei Berlin erklärtenangeblich mehrere hundert Be-schäftigte des Elektroanlagen-baus „Wilhelm Pieck" ihrenAustritt aus dem DDR-Gewerk-schaftsbund FDGB und gründe-ten eine unabhängige Gewerk-schaft mit dem Namen „Re-form". In einem am Montag inWestberlin bekanntgewordenenAufruf forderte der Sprecherder Gruppe, Rolf Borger, dierund 6000 Betriebsangehörigenauf, der neuen Bewegung beizu-treten. Die NachrichtenagenturADN dementierte am Abend dieGründung einer Gewerkschaft.Siehe auch nächste Seite

Genossen besucht Vertriebenengesetz / SPD

Mitgründer der AuslaufregelungOst-SPD in Bonn gefordert

Bonn (dpa). Das Gründungs-mitglied ' derneuen Sozial-demokrati-schen Parteider DDR (SDP),Steffen Reiche(Foto), hat ge-stern an einerPräsidiums Sit-zung der SPD inBonn teilge-nommen. DerSPD-Vorsit-zende Vogelbegrüßte mit Reiche „den erstenVertreter einer sozialdemokra-tischen Partei aus der heutigenDDR seit 43 Jahren" in der SPD-Zentrale. Er sicherte ihm die So-lidarität und Unterstützung derSPD zu. Reiche sagte vor demSPD-Präsidium, seine Partei tre-te für die Ideen des demokrati-schen Sozialismus ein.

Bonn (AP). Die Sozialdemo-kraten dringen darauf, Vergün-stigungen für Aussiedler abzu-schaffen. SPD-Bundesgeschäfts-führerin Fuchs forderte gesternalle im Bonner Parlament vertre-tenen Parteien auf, zügig Bera-tungen über ein „Auslaufverfah-ren für das Bundesvertriebenen-gesetz aufzunehmen". Es seischwer vorstellbar, sagte FrauFuchs, den gesetzlichen Statusvon Vertreibung und deren Spät-folgen über 40 Jahre nach Endedes Zweiten Weltkrieges unend-lich weiterbestehen zu lassen.Die Gesetze, die für die Nach-kriegsphase geschaffen wordenseien, könnten nicht fortge-schrieben werden, zumal sich dieVerhältnisse in Osteuropa zuwandeln begännen. Der SPD-Ab-geordnete Conradi forderte, Um-siedler nicht mehr als Heimat-vertriebene zu behandeln.

Zum Tage

Auf dem BaikonLJie Ungarische Volksrepublik isttot. Es lebt die Republik Ungarn.Mit dem neuen Namen sucht derStaat der Magyaren Anschluß anseine alte Geschichte. Den Rückenzur Sowjetunion, geht ihr Blick genWesten. Allmählich soll der Über-gang zu einer klassischen Demo-kratie erfolgen. Die neue Verfas-sung ist schon in Kraft, im näch-sten Jahr wird frei gewählt.

Ungarn steht damit an der Spit-ze der Reformbewegung. Die Po-len wollen nachziehen. Gorba-tschow lobt zwar die Genossen,beharrt jedoch auf dem Einpartei-ensystem. Und Krenz in Ostberlinflicht gewiß nicht jenen Kränze, dieeine Schleuse in die Bundesrepu-blik offenhalten. Das Modell viel-leicht der Zukunft ist noch ein Son-derfall.

Die Ungarn richten sich bereitshäuslich darin ein. Freiheit war derGlocken erst' Geläute, als Parla-mentspräsident Szüros die Repu-blik ausrief. Auf demselben Balkongab Imre Nagy vor 33 Jahren dasSignal zum Volksaufstand. SeineUnabhängigkeitserklärung erfolgtezu früh. Die Geschichte hat ihnjetzt rehabilitiert wie das Regime.

Noch ist Ungarn seine kommuni-stische Vergangenheit nicht los.Noch stehen Truppen jener Machtim Lande, die den Aufstand von1956 niederwarf. Doch Kommunistmag sich kaum einer mehr nennen.Der Makel schreckt, der Stachelsitzt tief im Fleisch eines verwun-deten Volkes. Nun schmückt essich mit den Nationalfarben rot undweiß und grün. Das Einheitsrot isttot.

Alfred Brugger

DDR-Flüchtlinge

In Prag Lösungwie in Warschau

Bonn (AP). Auch die inzwi-schen wieder rund 100 Ausrei-sewilligen in der bundesdeut-schen Botschaft in Prag werdenvon der DDR-Botschaft offiziellausgebürgert und können dannin den Westen ausreisen. Diesbestätigte das Auswärtige Amtin Bonn. In Warschau wird dieseRegelung bereits seit über einerWoche angewandt. Vor dortstartete gestern abend eine wei-tere Sondermaschine mit 150Ausgebürgerte an Bord nachDüsseldorf. Die Zahl der war-tenden DDR-Bürger stieg inWarschau auf rund 2000. Ent-gegen früheren Ankündigungenhat die DDR-Botschaft in War-schau über das Wochenendekeine Anträge auf Ausbürge-rung bearbeitet.

Der Strom von DDR-Flücht-lingen über Ungarn und Öster-reich in die Bundesrepublikebbte auch zu Wochenbeginnnicht ab. Bis zum Montag mor-gen meldeten sich 1185 DDR-Bürger bei den bayerischen Be-hörden. Die Zahl der DDR-Bür-;er, die über Ungarn in die Bun-lesrepublik ausreisten, war mit

Beginn der Herbstferien am vor-letzten Wochenende sprunghaftgestiegen. Die Ferien endetenam Sonntag.

Die endgültigen QuotenLotto: Gewinnklasse I 915 798,70DM; II 89 346,20 DM; III 7506,50DM; IV 125,50 DM; V 9,80 DM.Toto:Auswahlwette: I. unbesetzt, Jackpot3 181 871,40 DM; II. 60 414,30 DM;III. 1118,70 DM; IV. 48,80 DM; V.5,50 DM. - Ergebniswette: I.128 882,60 DM; II. 5858,30 DM; III.459,30 DM.Rennquintett:Rennen A: Gewinnklasse I 672,20DM; II 210,-DM.Rennen B: Gewinnklasse I 3361,40DM; II 113,30 DM.Kombinationsgewinn: unbesetzt,Jackpot 51 482,80 DM.

(Ohne Gewähr)

Page 37: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 248. Politik Dienstag, 24. Oktober 1989

Namen undNachrichten

Morlok zu Daimler-BenzDer frühere Fraktionsvorsitzen-de der FDP imStuttgarterLandtag, Jür-gen Morlok,wird die Kon-zernvertretungvon Daimler-Benz in Bonnübernehmen.Er wird denKonzern unddie Unterneh-mensbereicheMercedes-Benz, AEG und Deutsche Aero-space bei den politischen Insti-tutionen in der Bundeshaupt-stadt repräsentieren.

„Weniger Kohlendioxid"Der EG-Kommissar für Umwelt,Carlo Ripa di Meana, hat dieStaaten der Europäischen Ge-meinschaft aufgefordert, ihreKohlendioxidemissionen biszum Jahr 2000 um 75 Prozentsenken, um katastrophale Kli-maveränderungen zu verhin-dern. Er forderte weiter, daß dieVerfeuerung von Kohle zurStromerzeugung, das Heizen mitÖl un das Fahren mit Benzin undDiesel drastisch eingeschränktwerden.

Betriebsobmann WalesaDer polnische ArbeiterführerLech Walesa ist wieder zum Ob-mann der Betriebsgruppe seinerGewerkschaft Solidarnosc inder Danziger Leninwerft ge-wählt worden. Die Betriebsge-werkschaftsgruppe hatte Wale-sa eine Wahl zum Ehrenobmannangeboten, jedoch hatte der Ar-beiterführer auf einer Kandida-tur für das Amt des aktiven Ob-mann beharrt: „Ich will keineEhre, ich will nicht künstlichsein, ich will herrschen."

Musik gegen EinsamkeitNach dem Motto „Mit Musik

Igeht alles bes-jser" will die{neue Bötschäf-jterin der USAI in Prag, ShirleyITemple-Black,1 den Alltag ihrerI MitarbeiterI verschönern.I Der frühereI Kinderstar willleinen Chor aus] Botschaftsan-I gehörigen

gründen, um die Stimmung imPersonal zu heben. Da den ame-rikanischen Diplomaten priva-ter Umgang mit Tschechoslowa-ken nicht möglich ist, will dieBotschafterin auf diese WeiseFreude ins einsame Leben ihrerMitarbeiter bringen.

Delors' BefürchtungenDer Präsident der EG-Kommis-sion, Jaques Delors, befürchtet,daß die Bundesrepublik ange-sichts der Entwicklung im Ost-block eines Tages ein anderesZiel als den Aufbau der Euro-päischen Gemeinschaft anstre-ben könnte. „Um dieses Risikozu vermeiden, müssen wirschnell den Platz Westdeutsch-lands in einem Europa bestim-men, das ihm zusagt," erklärteDelors bei einem Journalisten-gespräch in Brüssel.

Gauweiler-Klage erfolglosDie Kölner Staatsanwaltschafthat ein vombayerischen In-nenstaatsse-kretär PeterGauweiler(CSU) angerstrengtes Ver-fahren wegenBeleidigung ge-gen Verant-wortliche derARD-Serie •„Lindenstraße"eingestellt.Gauweiler hatte die Redakteu-rin der Serie und den Fernseh-spielchef des WDR angezeigtnachdem in der Folge vom9. Oktober 1988 eine- Schau-spielerin in einer Aids-Diskus-sion folgenden Text gesagt hat-te: „Gauweiler und Co., das sinddoch alles Faschisten." Das Ge-richt begründete die Verfah-renseinstellung mit der Feststel-lung, daß hier lediglich „einedramaturgisch begründete

Überzeichnung einer Position"vorliege. Eine Mißachtung Gau-weilers sei nicht gegeben.

Warnung vor „fatalen" Lohnaufschlägen und Arbeitszeitverkürzung

Institute ermahnen TarifpartnerBonn (AP/dpa). Die fünf füh-

renden Wirtschaftsinstitute ha-ben die Regierung und die Tarif-parteien davor gewarnt, diePreisentwicklung neu anzuhei-zen. Ihre Vertreter erklärten amMontag in Bonn, zur Behebungdes Wohnungsmangels solltenicht „ein Programm auf das an-dere" gehäuft werden. „Fatal"wären auch hohe Lohnaufschlä-ge.

Bei der Vorstellung desHerbstgutachtens der Institutesagte der Präsident des Hambur-ger HWWA-Instituts für Wirt-schaftsforschung, Schmahl, beiwohnungsbaupolitischen Pro-grammen dürfe nicht vergessenwerden, daß die Kapazitäten derBauwirtschaft ausgelastet seien.Eine Anhäufung von Program-men würde zu einer Ankurbe-lung des Preisanstiegs führen.

Die Institute warnen die Tarif-parteien davor, in künftige Lohn-abschlüsse Zuschläge für erwar-tete Preissteigerungen einzubau-en. „Von der Lohnrunde hängt

nicht nur die Preisentwicklung,sondern auch die Konjunktur-entwicklung ab", gab Schmahl zubedenken. Die Lohnvereinba-rungen sollten sich an den bishe-rigen moderaten Abschlüssenorientieren. Anstelle von Lei-stungen, die die Lohnkosten dau-erhaft erhöhen, sollten in Kon-fliktfällen besser Einmalzahlun-gen vereinbart werden. Ange-sichts des gegenwärtigen Fachar-beitermangels halten die Institu-te auch weitere Arbeitszeitver-kürzungen für einen „Fehl-schuß".

In einer gemeinsamen Stel-lungnahme erklärten Wirt-schaftsminister Haussmann undFinanzminister Waigel, die Insti-tute wiesen zu Recht auf die Pro-bleme weiterer Arbeitszeitver-kürzung hin, durch die beson-ders der Facharbeitermangelverstärkt und der Einsatz weni-ger qualifizierter Arbeitkräfte er-schwert würde.

Die SPD-Abgeordneten Roth

und Jens forderten, die gute wirt-schaftliche Entwicklung müssezur Bekämpfung der anhaltendhohen Arbeitslosigkeit, der sicherneut vergrößernden außen-wirtschaftlichen Ungleichge-wichte und der ökologischenProbleme genutzt werden. DieGrünen im Bundestag kritisier-ten, für die Institute sei es offen-kundig kein Thema, daß die Kon-junkturlokomotive am Rande desökologischen Abgrundes fahre.

Die Arbeitgeber werteten dasGutachten als „eindringlichenAppell" an die Tarifparteien, denmoderaten Lohnkurs der vergan-genen Jahre fortzusetzen. DasGutachten belege, daß Arbeits-zeitverkürzungen kein taugli-ches Mittel zur Entlastung desArbeitsmarktes seien. Der DGBhob dagegen hervor, die von denInstituten für 1990 vorausgesag-te günstige Konjunkturentwick-lung sei eine „gute Grundlage fürdie Erfüllung der tarifpolitischenForderungen der Gewerkschaf-ten".

ERSTMALS, haben DDR-Oppositionsgruppen ge-stern in Ostberlin eine Pressekonferenz für Jour-nalisten aus Ost und West gegeben. Werner Fi-scher (links) von der „Aktion Menschenrechte"sah in den Polizeieinsätzen der jüngsten Zeit kei-ne Übergriffe Einzelner, sondern den Ausdruckzentraler Anordnungen aus der SED-Führung.

Reinhardt Schult (Mitte) vom „Neuen Forum"appellierte an die Abgeordneten der DDR-Volks-kammer, sich ihrer Verantwortung bei der heuti-gen Wahl des Staatsratsvorsitzenden bewußt zusein. Aufmerksamer Zuhörer Fischers ist auf un-serem Foto noch Jugendpfarrer Walter Schilling.

(dpa-Funkbild)

Pressekonferenz von Reformgruppen in Ostberlin / Übergriffe

Schwere Vorwürfe gegen PolizeiOstberlin (AP/dpa/epd). Neun

Mitglieder von Demokratiebe-wegungen haben am Montag inOstberlin Augenzeugenberichteüber Mißhandlungen von Bür-gern bei Protesten zum 40. Jah-restag der DDR- veröffentlicht.Vor Journalisten verlangten dieSprecher eine unabhängigeKommission, die die Vorfälle am7. und 8. Oktober in Ostberlinuntersuchen soll, sowie die Be-strafung der Verantwortlichen.Der stellvertretende General-staatsanwalt der DDR,. KlausVoß, lehnte eine Stellungnahmein der Pressekonferenz ab, dadie Ermittlungen noch liefen.Voß sicherte allerdings eine„umfassende und unvoreinge-nommene Prüfung" aller Anzei-gen zu.

Die Augenzeugenberichtewurden in einer rund 100 Seitenlangen Dokumentation vorge-legt und spiegelten das zum Teil„brutale Vorgehen" der zivilenund uniformierten Sicherheits-kräfte wider. Insgesamt sollenzwischen 700 rund 900 Perso-nen festgenommen worden sein.

Zwei junge Frauen, die nacheigenen Angaben nicht an denDemonstrationen teilgenommenhatten, berichteten, daß sie vorheranstürmenden Polizisten indie Wohnung einer Freundingeflüchtet seien.

Etwa eine halbe Stunde späterhätten etwa zehn Polizisten dieWohnungstür eingetreten undden Vater und seine Tochter„herausgeprügelt" und mitge-

nommen. „Sie ist 15 Jahre undbis jetzt vermißt", hieß es.

Andere Augenzeugen berich-teten, wie Festgenommene dieganze Nacht über in kahlenRäumen hätten stehen müssenund mit Knüppeln geschlagenworden seien, etwa weil sie ge-sprochen oder sich gerührt hät-ten. Stundenlang hätten sie war-ten müssen, um ihre Notdurft zuverrichten. Ein anderer der zumTeil namentlich aufgeführtenZeugen habe beobachtet, wieein unbeteiligter Mann mit demKopf gegen das Trittbrett gesto-ßen worden sei.

Die Ostberliner Nachrichten-agentur ADN berichtete überdie Pressekonferenz, ohne nä-her auf den Inhalt der Augen-zeugenberichte einzugehen.

Mainzer Landtag / Steuerzahler

Diäten-Erhöhung„nicht ganz koscher"

Saarbrücken (AP). Der Bund der Steuerzahlerhat den rheinland-pfälzischen Landtagsabgeord-neten ein „lautloses Hochschaukeln" ihrer Diä-ten vorgeworfen. Kein Gesetzesvorhaben nehmeschneller die parlamentarischen Hürden als dieErhöhung der Bezüge, kritisierte der Landesge-schäftsführer des Steuerzahlerbundes, Pferde-kemper, gestern im Saarländischen Rundfunk.„Der Spiegel" berichtet, die Diäten in Rheinland-Pfalz seien in den vergangenen 30 Monaten um36 Prozent gestiegen. Damit verdienten dieMainzer Abgeordneten im nächsten Jahr monat-lich knapp 11 000 DM. Die Art und Weise derDiätenerhöhung ist nach Pferdekempers Ansicht„nicht ganz koscher". Er kritisierte, daß eineunabhängige Kommission, die Vorschläge zu denBezügen der Landtagsabgeordneten machen soll-te, vor einigen Jahren abgeschafft worden sei.

Stiftung in Finanznot

Lehr fordert mehr Geldfür „Mutter und Kind"

Bonn (AP). Insgesamt 145 Millionen DM willBundesfamilienministerin Lehr für Hilfen der Bun-desstiftung „Mutter und Kind - Schutz des unge-borenen Lebens" im Jahr 1990 aufbringen. Umentsprechende Zustimmung bei der parlamentari-schen Beratung sei1 sie bemüht, erklärte die Mini-sterin auf der Sitzung des Stiftungs-Kuratoriumsin Bonn. Dies entspräche einer Steigerung gegen-über dem laufenden Jahr um 15 Millionen DM.Obwohl die Stiftungsmittel in den zurückliegen-den Jahren immer wieder erhöht wurden, sei dieZahl der Antragsteller so gestiegen, daß die Höheder durchschnittlichen Bewilligungssumme beirund 1300 DM je Mutter und Kind liege. „DieHilfen der Bundesstiftung sind somit in erster LinieBeihilfen für die Erstausstattung des Kindes", er-klärte die Ministerin. Sie forderte erneut zu mehrKinderfreundlichkeit auf.

„Großkonflikt"

IG Metallrüstet sich

Berlin (dpa). Die IG Metallrichtet sich für die Tarifrunde1990 auf einen „programmiertenGroßkonflikt" ein. Die Bereit-schaft der Unternehmer, schonim Januar mit den Verhandlun-gen zu beginnen, ist nach An-sicht von IG-Metall-Chef Stein-kühler auf interne Querelen imArbeitgeberlager zurückzufüh-ren und kein Signal der Ent-spannung oder Entwarnung.Beim 16. Ordentlichen Gewerk-schaftstag der IG Metall riefSteinkühler am Montag die 2,6Millionen Mitglieder auf, „dieVorbereitungen auf den von Ge-samtmetall programmiertenGroßkonflikt zu intensivierenund zu verbreitern". Nur sokönne die IG Metall die 35-Stunden-Woche mit vollemLohnausgleich, kräftige Ein-kommensteigerungen und dasfreie Wochenende durchsetzen.

Selbstkritisch appellierte derIG-Metall-Vorsitzende an dieGewerkschaften, die zwei Mil-lionen Arbeitslosen und mehrals drei Millionen Sozialhilfe-empfänger nicht zu vergessen.

Berliner Stimmrecht

FDP begrüßtMomper-Vorstoß

Berlin (dpa). Die Forderungdes Berliner Regierenden Bür-germeisters Walter Momper(SPD), den Berliner Abgeordne-ten im Bundestag volles Stimm-recht einzuräumen, hat bei denFreien Demokraten ein positivesEcho gefunden. Nach einem Ge-spräch des Vorstandes der FDP-Bundestagsfraktion mit Momperim Rathaus Schöneberg sagteder stellvertretende Fraktions-vorsitzende Ronneburger ge-stern, seine Partei habe vollesVerständnis für diesen Vorstoß.

Er wies darauf hin, daß dieOstberliner Abgeordneten derVolkskammer entgegen denViermächte-Abmachungen inDirektwahl gewählt werden.Ronneburger betonte, Voraus-setzung für die Ausweitung desStimmrechts der Berliner Abge-ordneten wäre eine Vereinba-rung der vier Mächte. Dabei wä-ren auch Gespräche über den„sensiblen" Status der Stadt not-wendig. Deshalb werde es einekurzfristige Lösung nicht geben,doch bestehe Hoffnung für dieZukunft.

Empörung gegen Frankfurter Urteil wächst

Stoltenberg: NehmtSoldaten in Schutz

Bonn (AP/dpa). Bundesvertei-digungsminister Stoltenberg(CDU) hat an alle staatstragen-den Organisationen, Parteienund Verbände appelliert, dieSoldaten der Bundeswehr vorDiffamierungen und Herabset-zungen in Schutz zu nehmen.Vor dem Hintergrund des jüng-sten Freispruches eines Arztesdurch das Frankfurter Landge-richt, der die Soldaten als „po-tentielle Mörder" bezeichnethatte, sagte Stoltenberg auf der13. Hauptversammlung desBundeswehr-Verbandes inBonn, die Soldaten müßten dar-auf bauen können, daß ihrDienst von den Bürgern gewolltsei und anerkannt werde. Wenndas Urteil des Frankfurter Ge-richts in nächster Instanz nichtrevidiert wird, muß nach An-sicht Stoltenbergs an eine Ge-setzesänderung gedacht wer-den. Auch der Verbandsvorsit-zende Wenzel wandte sich „mitEmpörung gegen das Schandur-teil".

Der Wehrbeauftragte desBundestages, Weiskirch, for-derte im Zusammenhang mitdem umstrittenen „Soldaten-Ur-teil" alle Fraktionen des Bundes-tages auf, sich vor die Angehöri-

gen der Bundeswehr zu stellenund in einer Entschließung die„unverantwortliche Diffamie-rung ihres Friedensdienstes zu-rückzuweisen". Wenn die Sol-daten nicht zutiefst verunsi-chert werden sollten, sei jetztein demonstrativer Akt der ver-antwortlichen politischen Kräf-te in der Bundesrepublik vonnö-ten, betonte Weiskirch in einerErklärung am Montag.

Auch die Präsidien von SPDund FDP wandten sich gegenden erneuten Freispruch desArztes. Die Freien Demokratenerwarten, daß das Urteil, mitdem der Rechtsfrieden empfind-lich gestört werde, durch ober-gerichtliche oder verfassungs-gerichtliche Entscheidungschleunigst korrigiert wird. WerSoldaten ungestraft als Mörderbeschimpfen könne, der säe„Haß in unserem Volke" undüberschreite „damit die Gren-zen der freien Meinungsäuße-rung in eklatantester Weise",erklärte das Präsidium.

Die Sozialdemokraten erin-nerten daran, daß die Soldatenauf der Grundlage der Verfas-sung einen für das Gemeinwe-sen notwendigen Dienst leiste-ten.

ETA-Attentat auf Kaufhaus 1987 / Urteil

Gesamtstrafe von 1588 JahrenMadrid (dpa). Zu insgesamt

1588 Jahren Gefängnis sind ge-stern in Madrid die baskischenETA-Terroristen Ernaga undTroitino verurteilt worden, diezusammen mit einem dritten,flüchtigen Terroristen im Juni1987 mit einem Autobombenan-schlag auf ein Kaufhaus in Bar-celona 21 Menschen getötet und45 verletzt hatten. Das Gerichtsprach die Männer des Mordes

und der Körperverletzung sowieder Zerstörung des Kaufhausesschuldig.

Die einzeln bewerteten Fällesummieren sich zu der hohenGesamtstrafe, von der die bei-den aber nur 30 Jahre absitzenmüssen. Die Richter verurteil-ten die Terroristen außerdemdazu, Barcelona nach Verbü-ßung ihrer Strafe sechs Jahrelang nicht betreten-zu dürfen.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureChef vom Dienst: Horst Kröninger. ChefNachrichten: Rainer Merforth. Politik: Jo-chen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden, Kultur: Dirk Schwarze, i. V.Claudia Sandner-v.Dehn, M. A., Frau u.Reisetllse Methe-Huber. Sport: Rolf Wiese-mann, i. V. Ulrich Fuhrmann. Sonntagszeit:Frank Thonicke. Kassel Stadt und Land:Wolfgang Rossbach. Bezirksredaktionen:Peter M. Zitzmann. Koordination: HelmutLehnart. Hessen/Niedersachsen: EberhardHeinemann. Chefreporter: Karl-HermannHuhn. Sonderthemen: Peter Ochs.Redaktion Wiesbaden: Rolf EffenbergerRedaktion Hannover: Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter: Horst Prehm.Vertriebsleiter: Gerd Lühring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61 / 20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61 / 20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer05 61 /20 36. Teletex5 618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7% MwSt. (Postbezugs-preis 28,50 DM).

Einhaltungzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.

Auflage „Sonntagszeit" über 200000Exemplare.

Herstellung Druckhaus Dierichs,Frankfurter Straße 168, 3500 Kassel.

Page 38: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 248 Themen des Tages Dienstag, 24. Oktober 1989

Musterländleim Trend

Werenn nicht alles täuscht, bestä-tigt das Ergebnis der Kommunal-wahlen in Baden-Württemberg denpolitischen Trend der bisherigenWahlen dieses Jahres von Berlinund Hessen über Europa bis Nord-rhein-Westfalen, Noch sind nur vor-läufige Zahlen bekannt, doch daßdie Union hohe Stimmenverlustehinnehmen mußte und die Republi-kaner ihre Erfolgsserie fortsetzen,dürfte feststehen. Die teils zwei-stelligen Ergebnisse der Rechtsra-dikalen sind mit den VokabelnDenkzettel und Protest nicht mehrzu erklären. Schönhubers nationali-stische Saat geht auf. Sie fällt dortauf fruchtbaren Boden, wo existen-tielle Probleme ungelöst gebliebensind: In Großstadtvierteln mit ho-hem Ausländeranteil und großerWohnungsnot und in benachteilig-ten ländliche Regionen.' '

In Späths Musterländle scheintdie These widerlegt worden zusein, man könne die Republikanerbei genügend hoher Wahlbeteili-gung leicht unter fünf Prozent drük-ken. Die etablierten Parteien ha-ben allen Grund, kommenden Ent-scheidungen besorgt entgegenzu-sehen. Vor allem die Union, dieoffensichtlich noch kein Mittel ge-funden hat, dem Radikalismuswirksam zu begegnen, aber auchdie SPD, deren Hoffnung auf einklares Mandat zur Wende wenigNahrung bekommt. Auch wennman die Aussagekraft von Kommu-nalwahlen relativiert, ist unver-kennbar, daß demokratische Mehr-heiten künftig schwieriger zu fin-den sein werden.

Nur die FDP konnte im Stamm-land des Liberalismus frohlocken.Sie hat vom Tief ihres Bonner Re-gierungspartners ebenso profitiertwie vom Hoch der deutsch-deut-schen Ereignisse, die Genschereine erfolgreiche Rolle zuwiesen.Lambsdorffs „FDP pur" könnte zumSchlagwort einer selbstbewußte-ren Politik werden, mit der sich dieLiberalen zwischen den Blöckenbehaupten.

Achim v. Roos

Boom undkein Ende

Ooom und kein Ende. Auf diesenkurzen Nenner läßt sich das ge-stern vorgelegte Herbstgutachtender Wirtschaftsinstitute zu unseraller Freude und zur besonderenGenugtuung der Bundesregierungbringen. Positiv für die Allgemein-heit,, weil gute Wirtschaftsdaten

•per se die Arbeitsplätze sicherermachen und somit die soziale Zu-friedenheit anheben und positiv fürdie Bonner Koalition, weil die Kon-junkturforscher ihr in fast allen be-deutenden Bereichen der Wirt-schaftspolitik ein gutes Zeugnisausstellen.

Auch die Tatsache, daß die Insti-tute für das kommende Jahr einetwas schwächeres Wachstum als1989 erlebt in Aussicht stellen,kann daran nichts ändern. Blickenwir zurück: Exakt vor zwölf Mona-ten sagten die Experten für daslaufende Jahr einen Zuwachs desBruttosozialprodukts von zwei Pro-zent voraus. Gleichwohl sind esreal dann aber vier Prozent gewor-den. Das zeigt, wie übervorsichtigdie Gutachten formuliert werden,ohne das eigentlich erkennbareGründe dafür vorliegen.

Dies gilt besonders für die kom-menden zwölf Monate. So werdenwir ab 1. Januar in den Genußweiterer Steuersenkungen kom-men. Konkret bedeutet dies, daßunter dem Strich weitere Milliardenfür den Konsum zur Verfügung ste-hen. Und auch ein Ende des Ex-portbooms ist. nicht in Sicht. ImGegenteil: Jüngste Umfragen inder EG bescheinigen den Unter-nehmen weiterhin eine hohe Inve-slitionsdynamik.

Freilich wirft selbst eine solchglänzende Fassade Schatten. Ge-meint sind wachsende Inflations-tendenzen. Hoffnungen setzen dieGutachter hier - wie im übrigenauch zum Endlosthema Arbeitslo-sigkeit-auf die Tarifpartner. Wahr-scheinlich sind sie überfordert.

Ulrich Brehme

Das Zitat„Wir werden uns nicht in die Ange-legenheiten der DDR einmischen.Aber wir wollen, daß sich die Men-schen drüben in die Angelegenhei-ten der DDR einmischen können."

Hans-Dietrich Genscher

In Festtagslaune beendete Ungarn eine Staatsära

1956 war allgegenwärtigVon AP-Korrespondentin Teddie Weyr

LJie Menschenmassen drohtenam Montagmorgen im U-Bahn-ausgang des Kossuth-Platzesvor dem Parlament in Budapeststeckenzubleiben - so stark warder Andrang zu den Republik-feiern. Mehr als hunderttausendUngarn, zumeist im Sonntagsan-zug und mit Festtagslaune,stürmten den weiten Platz vordem Parlament. Jubel und Freu-dentränen begleiteten die Ge-burtsstunde der neuen RepublikUngarn, und ernste Ruheherrschte lediglich beim Singender Nationalhymne.

„Brauchen wir wirklich dieseFreiheit?", fragte eine Budape-sterin angesichts der bedrohli-che Enge in der U-Bahn auf derFahrt zum Parlamentsplatz mitscherzendem Unterton. Großerot-weiß-grüne Fahnen wurdenüber den Köpfen der riesigenMenschenmenge geschwungen.Die Stimmung war fröhlich undherzlich.

Großer Jubel

Als Parlamentspräsident Ma-tyas Szürös vom Balkon des Par-lamentsgebäudes verkündete:

„Von heute an heißt unser StaatRepublik Ungarn", jubelten diehundertausend. Wer in Buda-pest nicht dabei sein konnte,verfolgte die Feiern live auf demFernsehschirm. Eigentlich warder Montag ein ganz normalerArbeitstag - doch Zehntaüsen-de schienen „geschwänzt" zuhaben.

Pünktlich um 12 Uhr läutetendie Glocken im ganzen Land,dann folgte die Proklamationdurch den Parlamentspräsiden-ten und wenig später - nach demJubel - kam ernste Besinnlich-keit auf. Nicht wenigen Ungarnrannen beim Singen der Natio-nalhymne an diesem Mittag dieTränen über die Wangen. Siegedachten nicht nur der Ausru-fung der neuen Republik unddes Endes der „Volksrepublik",sondern auch der 32 000 Totendes niedergeschlagenen Volks-aufstandes vor 33 Jahren, dergenau am 23. Oktober 1956 be-gonnen hatte. „Damals schiendie Sonne genau so warm wieheute", erinnerte sich eine älte-re Budapesterin.

Die Proklamation der Repu-blik Ungarn durch den Parla-mentspräsidenten erfolgte vom

selben Balkon des neugotischenGebäudes, von dem vor 33 Jah-ren der damalige Ministerpräsi-dent Imre Nagy die Volkserhe-bung eingeleitet hatte. Der spä-ter hingerichtete Nagy wurdeerst vor wenigen Monaten reh-abilitiert und unter großer An-teilnahme der Bevölkerung bei-gesetzt. Am Montag wehtenrund um das Gebäude die Fah-nen. Junge Mädchen hatten ihreHaare mit Bändern in den Natio-nalfarben rot, weiß und grün ge-schmückt. Straßenhändler ver-kauften Fähnchen, Bücher überden Volksaufstand und Anstek-ker in den Nationalfarben.

Nur einmal Pfiffe

Nur einmal gab es kurz auchPfiffe während der Ansprachedes Parlamentspräsidenten. Alser erklärte, Ungarn strebe auchin Zukunft „störungsfreie" Be-ziehungen zur Sowjetunion an,wurde dies mit einem Pfeif kon-zert quittiert. Applaus und Ju-belschreie dagegen nur Momen-te später, als Szürös die Hoff-nung auf gute Kontakte zu denVereinigten Staaten aussprach.

9106

Wieder offen: Die deutsche Frage. (Karikatur: Wolter)

„Archipel Gulag" zur Lektüre empfohlen

Solschenizyn hältEinzug in SchulenVon AP-Korrespondentin Ann Imse

I n Moskauer Schulen zähltder „Archipel Gulag", die jah-relang verbotene Lagertrilogiedes Schriftstellers AlexanderSolschenizyn, jetzt zur emp-fohlenen Lektüre. Wurde dieErmordung von Millionen un-ter Stalin in den bisher verfüg-baren Schulgeschichtsbü-chern mit keiner Silbe er-wähnt, heißt es in neuen, kürz-lich erschienenen Lehrwer-ken: „Vorläufige Schätzungensetzten die Zahl der Toten beirund 40 Millionen Menschenan". Die Politik der Offenheit,„Glasnost", hat Einzug in denGeschichtsunterricht gehal-ten.

Im Juni 1988 waren dieSchulbehörden angewiesenworden, die Reifeprüfung imFach Geschichte abzusetzen.Damit sollte den Schülern dasNachbeten der bisherigen offi-ziellen Geschichtsschreibungerspart werden, die im krassenWiderspruch zu den sensatio-nellen Enthüllungen der so-wjetischen Presse' über diejüngere Vergangenheit derUdSSR stand. Was jetzt in so-wjetische Schulen gelangt, istdas Ergebnis großangelegterBemühungen um die Aufarbei-tung der Vergangenheit.

In einem vom Schulaus-schuß der Stadt Moskau er-stellten Handbuch für Lehrerwird Stalin zur Last gelegt, zurBeschleunigung der Industria-lisierung Millionen Menschenin den unwirtlichen Nordender Sowjetunion verfrachtetzu haben. Wo es an Freiwilli-gen gefehlt habe, seien Dut-zende Lager mit Hunderttau-senden Gefangenen entstan-den. Aus den Lagerinsassenhabe man stumme und fast ko-stenlose Arbeitskräfte ge-macht, leicht anzufordern undzu verlegen. Mindestens fünfMillionen Menschen seienenteignet und nach Sibirienoder in den hohen Norden ver-schleppt worden.

Während der großen Hun-gersnot Anfang der 30er Jah-re, die nach der von Stalin an-geordneten Zwangskollekti-vierung der Landwirtschaftausbrach, seien „ganze Regio-nen ausgestorben", heißt es indem Handbuch weiter. Die ge-

naue Zahl der Toten sei nichtbekannt, doch würden westli-che Wissenschaftler sie aufdrei bis zehn Millionen schät-zen. In den 1974 verlegten Ge-schichtsschulbüchern warendie 30er Jahre noch aus-schließlich als Phase rascherIndustrialisierung und sozia-len Fortschritts geschildertworden.

Auch auf militärpolitischemGebiet werden Stalin, bis vorkurzem noch als Retter desVaterlandes vor dem deut-schen Angreifer dargestellt,jetzt verheerende Fehlent-scheidungen angelastet. Sohabe er jeden „unterdrückt" -mit diesem Wort werden dieInhaftierungen und Hinrich-tungen während der Säube-rungswellen bezeichnet - derfür Kriegsvorbereitungen ein-getreten sei, darunter fünf Lei-ter des militärischen Geheim-dienstes. Und am Tag desdeutschen Überfalls auf dieSowjetunion, dem 22. Juni1941, hätten viele sowjetischeGrenzsoldaten dienstfrei ge-habt. „Dieser Fehler bei derVorberechnung des Angriffs-zeitpunkts kostete viele dasLeben", heißt es.

„Wer so etwas vor fünf Jah-ren geschrieben hätte, wäreins Arbeitslager gekom-menm", kommentiert ein frü-herer politischer Gefangenerdie neuen Schulbücher seinesSohnes.

Die Eile, mit der Geschichteneu geschrieben wird, be-schert den Oberschülern eineeigentümliche Mischung alterund neuer Unterrichtsvorla-gen. „Unsere Journalisten ver-öffentlichen ständig neue In-formationen über unsere Ge-schichte, aber dennoch müs-sen Lehrbücher fertiggestelltund den Schulen zur Verfü-gung gestellt werden1*, schil-dert Alexander Samsonow, imMoskauer Schulbuchverlagfür den Fachbereich Geschich-te verantwortlich, das Dilem-ma. Er sehe sich in der schwie-rigen Lage, unter den vielenBerichten jene auswählen zusollenn, die gesichert genugseien, um sie leicht beein-druckbaren Schulkindern vor-legen zu können.

Frankfurt nach Kommunalwahl / Neue Hochhäuser sind „Knackpunkte'

Trotz Rückschlägen hat Rot-Grün Tritt gefaßtVon unserem Mitarbeiter Heinrich Halbig

Daas Ziel ist hochgesteckt.„Eine Reformpolitik sozialerund ökologischer Erneuerung"versprach Frankfurts neuerOberbürgermeister VolkerHauff (SPD, Foto) den Bürgernunmittelbarnach seinerWahl am 15.Juni in seinerAntrittsrede.Dabei wolle erauf Gewachse-nem aufbauenund die Stadtnicht umstül-pen, ließ ergleichzeitigwissen. Dochvier Monatenach dem Amtsantritt ist Hauffsvollmundig verkaufte rot-grünePolitik kaum in Konturen er-kennbar. Zu sehr mußte sich dieneue Mehrheit bisher mit „Alt-lasten" herumschlagen, die ihreine zwölf Jahre im Römer re-gierende CDU vor allem in derStadtplanung hinterlassen hat.

Insbesondere wegen der nachAnsicht städtischer Juristenrechtswidrigen Teilbaugeneh-migungen für drei Wolkenkrat-zer, noch zwei Tage vor derKommunalwahl auf Weisungdes ehemaligen Planungsdezer-nenten Hans Küppers (CDU) er-lassen (Hauff: „Ein unglaubli-cher Vorgang"), knirschte eskräftig im Bündnis.

Die beiden bis zu 200 Meterhohen Bankentürme am Randedes Westends wollten die Grü-nen nur angesichts enormer imRaum stehender Schadenersatz-

forderungen akzeptieren. Dage-gen mußte Hauff ausgerechnetden neben dem Hauptbahnhofgeplanten Campanile, den dieSPD befürwortet hatte, als Zu-geständnis auf dem Altar derKoalition opfern. Aber auch hierhat der Investor, der von „grü-ner Erpressung" spricht, bereitsRegreß in einer Größenordnungvon 150 Millionen DM ange-kündigt, falls er das mit 265 Me-tern höchste Gebäude Europasnicht bauen darf.

Als weitere CDU-Hypotheksteht der noch vom alten Magi-strat mit der „Frankfurt Proper-ties Ltd" aus England geschlos-sene „Knebelvertrag" für ein imBau befindliches, 211 Apart-ment zählendes Großbordell imöstlichen Teil der City bei Ge-nossen und Alternativen imKreuzfeuer der Kritik.

Nicht nur, daß der Stadt nichteinmal die Hintermänner dieserdubiosen, von einem Anwaltvertretenen Gesellschaft be-kannt sind, auch das rot-grüneKonzept zum Rotlichtviertel un-terscheidet sich von dem derCDU. Während Hauffs Vorvor-gänger Walter Wallmann (CDU)und auch Ex-Oberbürgermei-ster Wolfram Brück die Prosti-tution aus dem Bahnhofsgebietverbannen wollten, will die rot-grüne Koalition sie dort, wennauch eingeschränkt, weiter dul-den. Doch dann müßte die Stadtin den teuren Mietvertrag ein-steigen. Sie denkt jetzt an eineUmwidmung des als Wohnheimdeklarierten „Puffs" in Studen-tenbuden oder Büros.

Man könnte glauben, dieSkandale aus CDU-Zeiten kä-men der neuen Mehrheit geraderecht, um von eigenen Anfangs-schwierigkeiten, Unzulänglich-keiten und Problemen abzulen-ken. Hauff sieht das anders.

Als wichtigstes Ergebnis derersten vier Monate rot-grünerPolitik wertet er, daß der An-spruch, „ein Erfolgs- und keinKonfliktbündnis" geschlossenzu haben, im politischen Alltageingelöst wurde. „Es gab keinegroßen Stolpersteine", beschei-nigt er indirekt dem grünenPartner Politik- und Kompro-mißfähigkeit.

Arbeit an Modellfall

Daß der Kompromiß vor allembei der Zustimmung zu den bei-den bei der grünen Basis ver-haßten Hochhäusern gefordertwar, um den Bruch zu vermei-den,., unterstreicht den Willender Öko-Partei, Frankfurt zu ei-nem Modellfall rot-grüner Zu-sammenarbeit zu machen. BeidePartner sprechen denn auch bis-her von erfolgreicher Politik.

Dennoch: Große Bäume hatdie rot-grüne Stadtregierung bisheute nicht ausgerissen, statt-dessen unter Blitzlichtgewitterein paar „Bäumchen" in Kübelnauf die dritte Fahrspur einerdurch das Zentrum führendenVerkehrsader gesetzt - ersteMaßnahme für die in der Koali-tionsvereinbarung so groß ange-kündigte Verkehrsberuhigung.

Die CDU prangert diese Art vonVerkehrspolitik als „politischen"Dilettantismus" an.

Weniger spektakulär, für dieReduzierung des Individualver-kehrs vermutlich jedoch wirk-samer ist die von Hauff durchge-setzte übertragbare Umweltkar-te für den öffentlichen Nahver-kehr. Dagegen gilt der wenigdurchdachte Vorschlag des Um-weltdezernenten Tom Koenigs(Grüne), Frankfurts Parkhäuserallein Fahrzeugen mit geregel-tem Katalysator vorzubehalten,als Flop.

Dagegen hat eine über Wo-chen gelähmte SPD erst vor ei-nigen Tagen und unter großenSchmerzen mit dem Rücktrittder Parlamentsvorsteherin UteHochgrebe drückenden politi-schen Ballast abgeworfen. Dieehemalige Bezirksvorsitzendeder Arbeiterwohlfahrt Hessen-Süd mußte die Verantwortungfür den Kauf oder die Anmie-tung von Häusern übernehmen,die als Wohnheime zur Unter-bringung von Aus- und Über-siedlern zu lukrativen Tagessät-zen an das Land weitervermietetworden sind. Altmieter warenzum Teil unter fragwürdigenUmständen zum Auszug genö-tigt worden.

Trotz solcher Rückschläge istHauff überzeugt, „Tritt gefaßt"zu haben. Er, der anfangs kaumeine Einladung zu einem kleinenoder großen Fest ausgelassenhat, sagt denn auch optimi-stisch: „Ich habe das Gefühl, daßich in das neue Amt hinein-wachse."

Presse-EchoMoskau gab das Feuer frei auf ErichHonecker, schreibt die

NEUE»

ozROCKER

ZEITUNGDie sowjetische Gewerk-

schaftszeitung „Trud" schlug ei-nen Ton gegenüber dem ent-machteten Staats- und Partei-chef an, wie er in der UdSSR inden Auseinandersetzungen mitder Breschnjew-Ära zu verneh-men ist... Doch nach dem Mos-kauer Verriß dürfte Honeckernicht mehr lange geschont wer-den. Er trägt die Hauptverant-wortung für den anhaltendenExodus. Die... Anklagen... be-deuten eine entschiedene Auf-forderung an den NachfolgerKrenz, dem Beispiel der UdSSR,Polens und Ungarns zu folgen.

Kohl hat den Festakt zum 40jährigenBestehen des Bundes der Vertriebenengenutzt, auch die letzten Hindernissefür seinen Besuch in Warschau zu besei-tigen, heißt es in der LudwigshafenerZeitung

Weil dieser Versuch wieder-um von einem Augenzwinkerndes Kanzlers begleitet war undzugleich vom Vertriebenen-Prä-sidenten Czaja massiv Druckgemacht wurde, ist es zweifel-haft, ob Kohls Bemühen erfolg-reich sein kann. Der Kanzlerhält sich, wie könnte er auchanders, an die Verträge mit Po-len. Sie schließen eindeutig je-den Gebietsanspruch aus. Siegarantieren Polens Grenzen.Das heißt aber,nichts anderes,als daß Rechtspositionen wieder zwinkernde Hinweis auf ei-nen noch ausstehenden Frie-densvertrag keinerlei politischeWirkung haben.

Page 39: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 248 Hessen Dienstag, 24. Oktober 1989

Startbahn-Mordprozeß

Verteidigung lehntStaatsschutzsenat ab

Frankfurt (Ihe). Der Staatsschutzsenat des Oberlandes-gerichts Frankfurt wird im Startbahn-Mordprozeß von derVerteidigung zunehmend mit Ablehnungsanträgen wegenBesorgnis der Befangenheit überzogen.

Nachdem der Senat am Mon-tag nach zehntägiger Prozeß-unterbrechung einen solchenAntrag zurückgewiesen hatte,stellte die Verteidigung so-fort einen neuen Ablehnungs-antrag. Sie bemängelte die nochnicht öffentlich mitgeteilte Be-gründung des Senatsbeschlus-ses, mit dem der vorherige Ab-lehnungsantrag zurückgewie-sen wurde.

Der Prozeß wurde ohne wei-tere Erörterungen auf Dienstagkommender Woche vertagt.

Hintergrund der Kontroversezwischen Gericht und Verteidi-gung ist immer noch der Streitum die eventuelle Verwertbar-

keit einer inzwischen wider-rufenen belastenden Aussagegegen den wegen Ermordungvon zwei Polizeibeamten an derStartbahn West angeklagtenFrank Hoffmann (26).

Die Auseinandersetzung umdie Aussage beziehungsweiseihren Widerruf ist bereits seitmehreren Wochen einziger Ge-genstand der Verhandlung.

Der letzte Ablehnungsantragwarf einem der Richter des Se-nats vor, er habe einem Krimi-nalbeamten bei der telefoni-schen Vorladung zur Zeugen-aussage Informationen ge-geben, die dessen Aussage be-einflussen könnten.

Mehr Grundwasserschutz / Koalitionsantrag

Wasserverbraucher sollenzur Kasse gebeten werdenVon unserer Wiesbadener Redaktion

Wiesbaden (Eff). Mit einemneuartigen Finanzierungsmodell,das die ordnungspolitischen undverfassungsrechtlichen Schwie-rigkeiten des sogenannten Was-serpfennigs vermeidet, wollendie Landtagsfraktionen von CDUund FDP die Kosten eines verbes-serten Grundwasserschutzes fi-nanzieren. Das erklärten gesterndie umweltpolitischen Sprecherder Fraktionen, Koch und Hiel-scher, als sie Änderungsanträgezum neuen Wassergesetz vor-stellten, das noch in diesem Jahrvom Landtag verabschiedet wer-den soll. Erstmals in der Bundes-republik werde dadurch die re-gionale Verantwortung der Was-serwerke .mit einem landes-weiten Solidarfonds verbunden.

Nach dem Vorschlag der Ko-alitionsfraktionen sollen dieWasserwerke verpflichtet wer-den, den Landwirten Ausgleichs-zahlungen zu leisten, wenn dieseNutzung und Düngung von Flä-

chen in Wasserschutzgebieteneinschränken müßten, erläuter-ten die beiden Politiker. Nachdem neuen Vorschlag sollen30 Prozent der Gelder direkt vonden Wasserverbrauchern be-zahltwerden, die an Wasserwer-ke angeschlossen sind, die Nut-zungsbeschränkungen angeord-net haben. 70 Prozent der Ent-schädigungskosten sollen aus ei-nem Fonds finanziert werden,der eine gleichmäßige Umlagevon allen Wasserverbrauchernerhebt.

Neben weiteren Änderungensoll -nach Angaben der Umwelt-sprecher die Schaffung vonSchutzstreifen an Wasserläufennochmals erleichtert werden:Gebietskörperschaften, die die-se Randstreifen erwerben wol-len, um sie besser schützen zukönnen, sollen höhere Zuschüs-se erhalten. Bis zu 70 Prozentder Kosten will das Land er-setzen.

Weine aus dem Geburtsjahr der Bundesrepuplik werden versteigert

1949 war ein großes WeinjahrVon AP-Korrespondent Gerd Braune

Kloster Eberbach. Die Grün-dung der BundesrepublikDeutschland vor 40 Jahrenwurde vom Heranreifen einesgroßen Weins begleitet. Am10. November werden die hes-sischen Staats Weingüter auf derHerbstauktion in Kloster Eber-bach im Rheingau fünf Weinedes Jahrgangs 1949 verstei-gern.

Heuss konnte zufrieden sein

Für den Kellereileiter derStaatsweingüter in Eltville,Georg Retzel, ist der 40. Ge-burtstagder Republik Anlaß füreine „weinpolitische Rück-schau". Er kommt zu dem Er-gebnis: „Wenn auch im neuenBundesstaat nicht alles gleichperfekt ist, so kann doch Wein-freund Papa Heuss, der erstePräsident, zumindest mit demgleichzeitig geborenen Wein-jahrgang hoch zufrieden sein."

Rund 1000 Besucher werdenzu der Versteigerung im Laien-dormitorium des ehemaligenZisterzienserklosters Eberbacherwartet. Höhepunkt der Auk-tion wird die Versteigerung derfünf 49er Weine sein, von de-nen jeweils nur eine Flascheangeboten wird. Der Ass-mannshäuser Höllenberg Spät-burgunder. Cabinet mit105 Grad Öchsle wird im Auk-tionskatalog mit-den Worten„granätrot,. Wucht, samtiger,

ausdrucksvoller Burgunder"beschrieben, die SteinbergerRiesling Beerenauslese mit130 Grad Öchsle als „tief-bernsteinfarben, hochedel, gro-ße Würze". Hinzu kommenWeine der Lagen RauenthalerWieshell, Hochheimer Dom-dechaney und RüdesheimerWilgert.

Retzel berichtet im Verstei-gerungskatalog über Weinbau,Weinwirtschaft und Witterungim Jahr 1949. Auf einer Fach-tagung des Rheingauer Wein-bauverbandes beklagte damalsder Direktor des WeinbauamtsEltville, daß fünf Prozent derRebfläche im Rheingau reb-lausverseucht seien.

Halbstück für Flüchtlinge

Als in Eltville zu Spenden zu-gunsten des Wohnungsbaus fürFlüchtlinge aufgerufen wurde,gingen neben Geld- auch Sach-spenden ein, darunter ein„Halbstück" - das sind 600 Li-ter - Cabinetwein.

Im Rheingau machte mansich in jenem Jahr Sorge um denWeinabsatz. Durch Gründungeines „Propagandaverbandes"sollte der Weinverbrauch proKopf und Jahr von fünf auf zehnLiter angehoben werden. Heuteliegt er bei 26 Liter. Für dieArbeit im Weinberg wurdenStundenlöhne unter einer Markgezahlt. Ein Arbeiter verdiente

90 Pfennig in der Stunde, eineArbeiterin 60 Pfennig. In denStraußwirtschaften kostete einhalber Schoppen (0,2 Liter)50 Pfennig.

Die Durchschnittstempera-tur lag in der Vegetations-periode von Mai bis Oktobermit 16,4 Grad fast ein Gradüber dem langjährigen Durch-schnitt.

1322 Stunden Sonne

Während die Sonne in denJahren zuvor im Durchschnitt1136 Stunden schien, waren esim Gründungsjahr der Repu-blik 1322. Bei sonnig-warmemWetter begann in der zweitenOktoberwoche die Lese. Dannwurde es regnerisch, es bliebaber warm.

Die überreifen Trauben wur-den edelfaul und nahmen Was-ser auf. Gegen Ende der Leseberuhigte sich das Wetter. Esfolgte eine sonnige Frostperio-de, in der die Temperaturen bisminus fünf Grad absanken. Dieedelfaulen Beeren schrumpf-ten, und der Beereninhalt wur-de dadurch so konzentriert, daßhohe Mostgewichte erreichtwurden. Im Gründungsjahr derBundesrepublik, resümiert Ret-zel, sei ein großer Jahrgang ge-reift, „als ob damit die immenseBedeutung dieses geschicht-lichen Vorgangs unterstrichenwerden sollte".

Zwei Schwerverletzte

80jährige Frauaus der DDR beiUnfall getötet

Hess. Lichtenau (msc). Töd-lich verletzt wurde eine 80jähri-ge aus der DDR bei einem Ver-kehrsunfall gestern gegen 14 Uhrauf der Bundesstraße 7 in Höhevon Hess. Lichtenau-Küchen(Werra-Meißner-Kreis).

Nach Angaben der Polizei wareine 40jährige aus Eschwege mitihrem Pkw, in dem außer der Frauaus der DDR ihre 68jährige Mut-ter mitfuhr, nach rechts auf denSeitenstreifen geraten und gegeneinen Brückenpfeiler geprallt.

Die Fahrerin, die erst seit zweiWochen den Führerschein be-sitzt, und ihre Mutter wurden mitschweren Verletzungen in dieOrthopädische Klinik in Fürsten-hagen gebracht.

Autofahrerin verletzt

Kran fielvon Lastwagen

Frankfurt (Ihe). Eine Auto-fahrerin wurde schwer, ein ande-rer Autofahrer leicht verletzt, alsam Montagnachmittag auf derAutobahn Frankfurt-Kasselbeim Nordwestkreuz ein Kranvon einem Lastwagen fiel. NachMitteilung der Polizei hatte derLkw mit dem Kran eine Eisen-bahnbrücke, die über die Auto-bahn führt, gerammt. Dabei fielder Kran auf das Auto der Frau.

Verdächtiger zog singend und hüpfend wie Rumpelstilzchen durch die Straßen 34jähriger gefaßt

Polizei kontrollierte Motorräder und Mofas

Jedes dritte hatte MängelWiesbadener Redaktion

Wiesbaden (Eff). Fast jedesdritte motorisierte Zweirad ent-spricht nicht den gesetzlichenAnforderungen. Bei den Kraft-rädern über 80 Kubikzentimetergab es die wenigsten und bei denMofas die meisten Beanstan-dungen. Dieses Ergebnis derSonderkontrollen vom Sommergab gestern Innenminister Milde(CDU) bekannt. Er appellierteinsbesondere an die meist ju-gendlichen Mofafahrer in ihremeigenen Interesse mehr als bis-her auf die Verkehrssicherheitihres Gefährts zu achten.

Bei den Sonderkontrollenüberprüften 985 Polizeibeamte4070 Motorräder und Mofas, vondenen sie 1206 beanstandenmußten. Das entspricht einerQuote von 29,63 Prozent gegen-über 30,82 Prozent 1988. Bei denMotorrädern fielen 21,96 Pro-zent (1988: 20) auf, bei den Mofas39,64 Prozent (1988: 40,22). In895 Fällen waren die technischenMängel so schwerwiegend, daßdarüber besondere Mitteilungenausgestellt werden mußten, vondenen 88 monierten, daß die Be-triebserlaubnis erloschen war,weil die Zweiräder technischverändert worden waren.

Scheune vollerErntevorrätebrannte nieder

Homberg (kox). Nach einemMann, der sich nach Zeugen-aussagen ähnlich wie Rumpel-stilzchen benommen haben, sin-gend und hüpfend durch dieStraßen gezogen sein soll, fahn-det die Kriminalpolizei in Hom-berg (Schwalm-Eder-Kreis). DerMann mit langem schwarzenMantel und Schlapphut ist ver-dächtig, eine Scheune mit Ernte-vorräten in dem HornbergerStadtteil Wernswig angezündetzu haben.

Die Scheune wurde gesternvormittag vernichtet, ein an-grenzendes Wohnhaus eben-falls erheblich zerstört. DerSachschaden beläuft sich nachSchätzungen der Polizei aufrund 700 000 Mark; Menschenund Tiere kamen nicht zuSchaden.

Die Freiwilligen Wehren auszwei Orten konnten durch einengroßangelegten Einsatz einennoch höheren Schaden - vor al-lem ein Übergreifen der Flam-men auf das angrenzende Nach-bargebäude - verhindern.

Erst vor wenigen Wochenhatte ein bisher Unbekannter indemselben Hornberger Stadtteildurch Anzünden von Stroh-ballen einen Brand verursacht,der erst nach einer Woche end-gültig gelöscht werden konnte.

EINE DREHLEITER mußte die Feuerwehr bei der Brandbekämpfungin Homberg einsetzen. (Foto: Kochinke)

Marathonlaufendete in Haft

Frankfurt (Ihe). Für einen34jährigen aus Frankfurt-Ober-rad endete der Stadtmarathonam Main am Sonntag im Gefäng-nis. Einer seiner „Mitläufer", einKriminalhauptmeister, erkanntein ihm einen Mann, der von derStaatsanwaltschaft Nürnberggesucht wurde, weil er noch einJahr Haft zu verbüßen hat. DerBeamte benachrichtigte Kolle-gen, die den 34jährigen fest-nahmen.

Frau starb nach Schlägen

Rentner stehtvor Gericht

Kassel/Eschwege (t). Körper-verletzung mit Todesfolge wirftdie Kasseler Staatsanwaltschafteinem 67jährigen Rentner ausEschwege vor. In der Hauptver-handlung, die gestern begannund morgen mit dem Urteil en-det, wird der Rentner beschul-digt, am 7. Februar 1988 in Esch-wege seine 60 Jahre alte Ehefrauso geschlagen und getreten zuhaben, daß sie eine schwereKopfverletzung mit Gehirn-blutung erlitt und an diesenVerletzungen schließlich am25. März 1988 starb.

Nach dem Urteil des Frankfurter Landgerichts

Bahnpolizist will vor Soldatenkeine Vorträge mehr halten

Homberg (thr). Eine Not be-sonderer Art macht dem Horn-berger BahnpolizeibeamtenFriedrich Dreytza nach demUrteil der Strafkammer amLandgericht Frankfurt zuschaffen, das einen Arzt frei-gesprochen hat, der Soldatenals „potentielle Mörder" be-zeichnet hatte.

Erst mit Bekanntwerden desUrteils, so Dreytza in einemBrief an die Bundesbahndirek-tion, sei ihm bewußt gewor-den, daß er seine historischenVorträge, die er seit mehrerenJahren bei der Instandset-zungskompanie 6/5 in derHornberger Dörnbergkasernevor den Rekruten der Grund-

ausbildung hält, „potentiellenMördern" vorträgt.

Dieser Umstand sei ihm bis-her nicht bewußt gewesen, erhabe auch keinerlei Erkennt-nisse strafrechtlicher Art beiseinen Zuhörern festgestellt.

„Bitte kein Verfahren"

Der Hornberger bittet des-halb seinen Dienstherrn, „voneinem DisziplinarverfahrenAbstand zu nehmen". Und erstellt ironisch die Frage: „Wiekann ich meine bisherige eh-renamtliche Tätigkeit weiter-hin wahrnehmen, ohne michstrafbar zu machen?"

Hessische Umweltschützer berichten von ihren Eindrücken bei einem Besuch in der DDR

Reformbewegung schwappt bis in die letzten DörferEisenach (k). Die Reform-

bewegung in der DDR ist vonden Größstädten bis in die letz-ten Kleinstädte und Dörfer inder Provinz geschwappt: Über-all gibt es Zusammenkünfte,Friedensgebete und auch Umzü-ge, bei denen eine demokrati-sche Erneuerung gefordert wird.Das berichteten Vertreter desBundes für Umwelt- und Natur-schutz Deutschland (BUND),Kreisgruppe Werra-Meißner,gestern nach ihrer Rückkehraus dem DDR-Kreis Eisenach.

In den Kirchen in Eisenachgab es Treffen, an denen bis zu800 Personen teilnahmen, ge-stern abend fand in der Georgen-kirche ein Friedensgebet statt, zudem ebenfalls viele hundertMenschen erwartet wurden.Aber auch in der kleinen Ge-meinde Creutzburg versammel-

ten sich, und das schon zum sech-stenmal, 60 Personen zu einemFriedensgebet. „Das Bedürfnis,miteinander zu diskutieren, istungeheuer groß. Es brodelt über-all" , berichteten die Sprecher desBUND-Kreisverbandes.

Nach Informationen unsererZeitung soll am Donnerstag inEisenach der „DemokratischeAufbruch" (DA) gegründet wer-den, der sozial-ökologisch aus-gerichtet ist. Für die Gründunggab es bereits Vorgespräche.Wie dem uns vorliegendenSatzungsentwurf zu entnehmenist, soll die Gruppierung „Men-schen sozialistischer, soziali-stisch-christlicher, sozialdemo-kratischer, liberaler und ökolo-gischer Prägung vereinen, diean einer demokratischen Neu-orientierung in der DDR mit-arbeiten wollen und für eine Re-

form des sozialen und politi-schen Systems eintreten". In an-deren Kreisen ist der „DA" be-reits aktiv.

Davon unabängig gab es amWochenenende eine Zusamme-kunft zwischen Vertretern ver-schiedener Bürgergruppen ausdem Kreis Eisenach und Reprä-sentanten des Rates des Kreisesbzw. der SED und des FreienDeutschen Gewerkschaftsbun-des (FDGB). Dabei hätten sichdie Vertreter des Staates dialog-bereit gezeigt. Bei dem zwei-stündigen Gespräch wurde, lautBUND, vereinbart, ständige Ge-spräche auf eine institutionelleBasis zu stellen. Bürgergruppenauf der einen und Staat/SED aufder anderen Seite sollen in ei-nem Forum mit je zwölf Reprä-sentanten vertreten sein.

Hauptforderung der Bürger-,

Umwelt- und Kirchengruppenist auch in anderen Orten Thü-ringens die Herstellung derPressefreiheit. Sie werde alsVorbedingung für alles andereverstanden. Paß- und Visafrei-heit seien dabei zunächst vonnachrangiger Bedeutung. Ge-meinsames Ziel sei aber auch,die Arbeit von Bürgerinitiativenzu legitmieren und das Macht-monopol der SED zu brechen.

Der Schwenk, der in den letz-ten Tagen in den DDR-Mediensichtbar wurde, erfaßt auch dieRegionalpresse: Inhaltlich undoptisch hat sich z. B. das Erfur-ter SED-Zentralorgan „DasVolk" verändert. Kritische In-terviews, eine Leserbriefdiskus-sion zur Massenflucht und Mel-dungen über Demonstrationenin der DDR setzen neue Akzentein dem Parteiblätt.

Page 40: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

....HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMEINEUNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 249 • Mittwoch, 25.10. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Gegen Demonstranten

DDR räumtÜbergriffe ein

Berlin (AP/dpa). Die DDR hatam Dienstag erstmals offiziellÜbergriffe der Sicherheitsorga-ne bei den Demonstrationen am7. und 8. Oktober in Dresden,Leipzig und Ostberlin zugege-ben. In einer Erklärung des Vor-sitzenden des Volkskammer-Ausschusses für Nationale Ver-teidigung, Herger, hieß es nachAngaben der Nachrichtenagen-tur ADN: „Leider sind bei die-sen polizeilichen Einsätzenauch Unbeteiligte zu Schadengekommen. Gegenüber Zuge-führten kam es zu Befugnisüber-schreitungen, zu nicht rechtmä-ßigen Handlungen durch Ange-hörige der Schutz- und Sicher-heitsorgane." Die Erklärungwurde auf Beschluß des DDR-Staatsrates unter Vorsitz vonEgon Krenz veröffentlicht.

In dem Herger-Bericht hieß esferner, leitende Mitarbeiter derVolkspolizei hätten sich inzwi-schen bei den Betroffenen ent-schuldigt. 83 Anzeigen und Mit-teilungen würden gegenwärtiggeprüft. Bisher seien vier Er-mittlungsverfahren eingeleitetworden. Der Generalstaatsan-walt der DDR sei beauftragtworden, „jeden einzelnen Fallgenau zu untersuchen".

Allerdings könne aus denVerfehlungen einiger „keine all-gemeine Stimmung gegen dieSchutz- und Sicherheitsorgane"geschaffen werden. Ihr Verfas-sungsauftrag sei, das friedlicheLeben aller zu schützen: „Dashaben sie immer getan." LautHerger wird jede Gesetzesver-letzung geahndet.

Nach Ferienende in DDR

Flüchtlingszahlhalbiert

München/Warschau (dpa).Nach dem Ende der Herbstfe-rien in der DDR ist der Stromvon Flüchtlingen über Ungarnstark zurückgegangen. VonMontag bis Dienstag morgenzählte die bayerische Grenz-polizei 663 Neuankömmlinge.Am Vortag waren es noch dop-pelt soviele gewesen.

Am Dienstag warteten inWarschau 2100 Flüchtlinge aufeinen Flug in die Bundesrepu-blik. Rund 100 neue DDR-Bür-ger hatten sich gestern bei derBonner Botschaft gemeldet. Eineweitere Chartermaschine mitrund 160 Übersiedlern landeteam Abend in Düsseldorf.

Sozialwohnungen

Bayern ändertVergabekriterien

München (AP). Bayern wirddie Vergabekriterien für Sozial-wohnungen ändern, um eine Be-vorzugung von Aus- und Über-siedlern zu verhindern. Die Lan-desregierung beschloß amDienstag in München, die Woh-nungen nicht länger nur nach„sozialer Dringlichkeit" zu ver-geben. Künftig solle auch dieDauer der Ortsansässigkeit be-rücksichtigt werden, hieß es ineiner Mitteilung der bayeri-schen Staatskanzlei. Die Neure-gelung müsse ausschließen, daßBewerber, die schon seit langemauf eine Sozialwohnung wartenwürden, wegen der Neuan-kömmlinge ins Hintertreffen ge-rieten.

Wer in Zukunft eine Sozial-wohnung bekommen will, mußnach den neuen Bestimmungenunter anderem auch bereits eineFamilie gegründet haben.

RühmkorföO

KritischerLyriker

DeT renommiertekritisch-ironischeLyriker, Dramatikerund Essayist PeterRühmkorf (Foto),bei der d8 auch er-ster „documenta-Schreiber", wirdheute 60 Jahre alt.Drei neue Bücherliegen vor. Würdi-gung auf der Kultur-seite.

StPauli-Prozeß

DreimalHaftstrafe

Urteile im aufse-henerregendenSt.Pauli-Prozeß:Drei Angeklagte er-hielten Freiheits-strafen bis zu dreiJahren, weil sie1986 die Waffe be-sorgt hatten, mit derder Killer WernerPinzer ein Blutbadanrichtete. Siehe„Blick in die Zeit"

Metallindustrie

Kampf wienoch nie?

Der Tarifkonfliktin der Metallindu-strie droht im Früh-jahr 1990 zu einembundesweiten Ar-beitskampf auszu-ufern. DIHT-Präsi-dent Suhl sprachsich gestern imStreikfall für eineflächendeckendeAussperrung aus.Siehe Wirtschaft.

Vermögen

Auslandbegehrt

Das Auslandsver-mögen der Deut-schen ist in den ver-gangenen vier Jah-ren drastisch gestie-gen. Nach Angabender Bundesbankstieg es von netto125 Milliarden DMMitte 1985 auf 427Milliarden DM bisEnde Juni 1989. Sie-he Wirtschaft.

US-Plakatschau

Zwei ausKassel

Zu der internatio-nalen Plakatausstel-lung in Fort Collins,Colorado, sind zweiKasseler Graphikeraufgefordert wor-den, ihre Arbeiten

zeigen. An derzuUS-Schau beteiligensich 94 Künstler,darunter vier ausder Bundesrepublik.Siehe Kultur.

Zum Staatsratsvorsitzenden gewählt

Krenz hat nun alleMacht Honeckers

Ostberlin (AP/dpa). Der Machtwechsel in der DDR istgestern besiegelt worden: Die DDR-Volkskammer wählteden neuen SED-Generalsekretär Egon Krenz gestern auchzum Staatsratsvorsitzenden und zum Chef des NationalenVerteidigungsrates. Erstmals in der Geschichte der DDRgab es bei dieser Wahl Gegenstimmen gegen den Kandida-ten des SED-Zentralkomitees.

Bei der Wahl zum Staatsrats-vorsitzenden stimmten 26 Ab-geordnete des DDR-Parlamen-tes gegen Krenz, weitere 26 ent-hielten sich der Stimme. Bei derWahl zum Chef des NationalenVerteidigungsrates votiertenacht Abgeordnete gegen Krenz,17 enthielten sich. Die Gegen-stimmen kamen nach Einschät-zung von Beobachtern aus demLager der Liberal-Demokrati-schen Partei (LDPD) und derOst-CDU. Bisher wurden füh-rende DDR-Politiker von derVolkskammer immer einstim-mig gewählt.

Die Gegenstimmen führtenbeim VolkskammerpräsidentenSindermann offenbar zu Irrita-tionen. Mehrfach fragte er nach,wieviel Abgeordnete nun gegenKrenz gestimmt haben. SeineBeisitzer forderte er auf: „Zählmal mit hier." Er fügte hinzu:..Ich werde das Ergebnis nichtverfälschen." Vor der Abstim-mung würdigte Sindermann daspolitische Lebenswerk Honek-kers, der „aus Gesundheits-gründen" an der Sitzung nichtteilnahm.

Unmittelbar nach seiner Er-nennung deutete der 52jährige

Krenz eine Amnestie für Flücht-linge an, die nach westlichenSchätzungen zu Tausenden inDDR-Gefängnissen sitzen. Inseiner 45minütigen Rede appel-lierte Krenz an die Bürger, in derDDR zu bleiben: „Jeder, der unsverläßt, ist einer zu viel. UnserLand erlebt einen neuen Auf-bruch. Wir wollen ihn mit allengehen. Wir sind uns gewiß: Hierhat jeder Bürger eine Perspekti-ve, die den Einsatz von uns allenlohnt und dafür werben wir heu-te", sagte er. Der Dialog werdein der DDR ein „notwendigerund ständiger Teil" der politi-schen Kultur bleiben.

Krenz kündigte ferner an, dieKontrolle der Regierung durchdas Parlament zu verstärken.Die Volkskammer solle „ober-stes Machtorgan" in der DDRwerden. Indirekt bekräftigte erjedoch den Führungsanspruchder SED. Unter Hinweis auf dieVerfassung sagte er, die DDR sei„die politische Organisation derWerktätigen in Stadt und Landunter Führung der Arbeiter-klasse und ihrer marxistisch-le-ninistischen Partei".Fortsetzung nächste SeiteSiehe auch Kommentar

Weizsäcker schickte Glückwunschtelegramm

Kohl zu „gut vorbereitetemTreffen" mit Krenz bereit

Bonn (AP). Bundespräsidentvon Weizsäcker und Bundes-kanzler Kohl haben nach derWahl von SED-GeneralsekretärKrenz zum DDR-Staatsratsvor-sitzenden ihr Interesse am Aus-bau der Beziehungen beiderStaaten und zum Dialog mit derneuen Ostberliner Führung un-terstrichen. Aufmerksam regi-strierten Bonner Politiker die

egenstimmen und Erhaltungenbei der Wahl von Krenz durchdie Volkskammer. Weizsäckerentbot Krenz in einem Tele-gramm seine Glückwünsche. Erbetonte: „Ich verbinde damit dieHoffnung auf weitere gute Ent-wicklung der Beziehungen zwi-schen unseren beiden Staatenim Interesse der Menschen, diehohe Erwartungen auf Erneue-rung und auf Zusammenarbeitetzen." Kohl bekräftigte seine

Bereitschaft, bald Kontakte zurneuen DDR-Führung aufzuneh-men. Dies könne über Telefonoder über Beauftragte erfolgen.Er sei auch zu einem „gut vorbe-reiteten Treffen" mit Krenz be-reit. Bisher habe er noch keinenKontakt zum neuen SED-Gene-ralsekretär gehabt. Auf Fragennach einer Bewertung der Wahlvon Krenz erwiderte Kohl, erplädiere dafür, „daß man die Ta-ten abwartet". Er wolle sich da-her nicht in Prognosen verlie-ren. Der SPD-Vorsitzende Vo-gel unterstrich, daß die neueFührung in Ostberlin „alsbaldganz konkrete Schritte unter-nehmen muß, wenn ein Min-destmaß an Vertrauen herge-stellt werden soll". Ob Krenzwirklich bereit und fähig sei,substantielle Änderungen vor-zunehmen, bleibe abzuwarten.

MIT HANDSCHLAG beglückwünschte Manfred Gerlach den neuenStaatsratsvorsitzenden Egon Krenz (Mitte) nach dessen Wahl.Gerlach, der Vorsitzende der Liberaldemokraten in der DDR undstellvertretende Staatsratsvorsitzende, war von Oppositionellenvergeblich aufgefordert worden, gegen Krenz zu kandidieren.Vorn rechts der von seinen Ämtern entbundene Günter Mittag.

(dpa-Funkbild)

Kohl: Nationaler Rauschgiftbekämpfungsplan

Großoffensive gegenDrogen gestartet

Bonn (AP/dpa). Eine Großof-fensive gegen das Rauschgiftpro-blem hat die Bundesregierung mitdem Ziel gestartet, den zur Zeitschätzungsweise 100 000 Dro-genabhängigen in der Bundesre-publik zu helfen sowie den Dea-lern und internationalen Draht-ziehern das Handwerk zu legen.Das Kabinett beschloß gestern,für 1990 die Bundesmittel imKampf gegen Drogen um 25 Mil-lionen DM auf insgesamt 43,3Millionen DM zu erhöhen. Bun-deskanzler Kohl kündigte einen„Nationalen Rauschgiftbekämp-fungsplan" und für 1990 eine„Nationale Drogenkonferenz"an.

„Der Drogenmißbrauch unddie mit ihm verbundene Krimi-nalität haben sich zu einer Be-drohung von Staat und Gesell-schaft entwickelt", sagte derKanzler. Internationale Drogen-syndikate versuchten, verstärktin die Länder Europas vorzu-dringen. Das Drogenproblemkönne auch in der Bundesrepu-blik ausufern.

Unabhängig vom Langzeit-konzept will FamilienministerinLehr kurzfristig bereits laufendePräventions- und Aufklärungs-maßnahmen verstärken. „Kei-

ner ist verloren", betonte dieMinisterin. Der „harte Kern" derDrogenszene von etwa 20 000Konsumenten im Alter um 30Jahre erfordere besonderes Au-genmerk.

Der mit anderen Bundesress-orts abgestimmte Bericht des Mi-nisteriums geht davon aus, daßsich das weltweite Drogenpro-blem in den europäischen Län-dern bedrohlich ausweiten wird.„Die international organisiertenDrogen-Syndikate versuchen indiesen Ländern Absatzorganisa-tionen aufzubauen." In der Bun-desrepublik gab es 1988 insge-samt 84 998 Rauschgiftdelikteund 673 Drogentote. Es wurden496 Kilo Kokain, 537 Kilo Heroinund 11350 Kilo Cannabis be-schlagnahmt.

Die Hauptweltproduzentenvon Kokain - Kolumbien, Boli-vien und Peru - haben auf einerinternationalen Drogen-Konfe-renz in Madrid entschlosseneWirtschaftshilfe der westlichenIndustriestaaten und ein Um-denken im Kampf gegen denRauschgiftschmuggel gefordert.Spanien forderte ein internatio-nales Sekretariat für den Dro-genkampf.Siehe „Zum Tage"

Zum Tage

DrogengefahrL/ie Zahl der Drogenabhängigenwächst von Jahr zu Jahr schneller,die der Drogenopfer nimmt drama-tisch zu. Sie sterben nicht mehr nurin Hinterzimmern und auf Toiletten.Rauschgiftkonsum entwickelt sichzum Symbol des Wohlstands; der„Schuß" gehört für viele zum neuenLebensstil. Eine gefährliche Seu-che breitet sich aus. Sie wird vonder internationalen Drogenmafiagesteuert. Schmuggler und Dealerüberschwemmen die Bundesrepu-blik mit dem tödlichem Stoff. Siekassieren Milliarden ab und „wa-schen" ihre Gewinne durch Schein-geschäfte. Es wird höchste Zeit,ihnen das schmutzige Handwerkzu legen. Der von BundeskanzlerKohl vorgelegte Plan zur Rausch-giftbekämpfung ist ein wichtigerSchritt dazu.

.. Die Bundesregierung will dasÜbel des Drogenkonsums an sei-nen Wurzeln fassen. Das erfordertnicht nur nationale, sondern auchinternationale Anstrengungen.Schon dem Anbau von Rauschgiftmuß der Boden entzogen werden.Ob die versprochene Entwick-lungshilfe dazu genügenden An-reiz bietet, erscheint fraglich.Ebenso umstritten ist die ge-wünschte Mitwirkung des Kredit-gewerbes beim Aufspüren von„Geldwäschern". Doch wer der au-ßergewöhnlichen Gefahr begeg-nen will, muß zu unkonventionellenMitteln bereit sein.

Achim v. Roos

Baden-Württemberg

Teuerungsratestieg auf 3,5%

Stuttgart (dpa/AP). Die Ver-braucherpreise in Baden-Würt-temberg sind im Oktober imVergleich zum entsprechendenVorjahresmonat um 3,5 Prozentgestiegen. Im September betrugdie Teuerungsrate hier 3,2 Pro-zent. Im Vergleich zum Septem-ber nahm der Preisindex für dieLebenshaltung aller privatenHaushalte um 0,3 Prozentpunk-te zu. Das gab das StatistischeLandesamt am Dienstag in Stutt-gart bekannt. In Nordrhein-Westfalen erreichte die Preiss-teigerungsrate gegenüber demOktober des Vorjahres 2,9 Pro-zent, im September lag sie bei2,8 Prozent.

Wehrbeauftragter

Amt auch füreine Frau?

Bonn (dpa). Möglicherwei-se wird im nächsten Jahreine Frau das Amt des Wehr-beauftragten des Bundesta-ges übernehmen. Das erfuhrdie Deutsche Presse-Agen-tur (dpa) aus Parlamentskrei-sen. Es gebe mehrere Bewer-berinnen. Namen wurdenaber nicht genannt. Für einesolche Kandidatur müsse al-lerdings noch eine Gesetzes-änderung vorgenommenwerden, denn der Wehrbe-auftragte soll mindestens einJahr Wehrdienst geleistethaben. Ein solcher Schrittwürde aber keine größerenSchwierigkeiten bereiten.

Die Amtszeit des jetzigenWehrbeauftragten WilliWeiskirch endet am 20.März. Aus Gesundheits-gründen will er nicht für wei-tere fünf Jahre kandidieren.Im Gespräch als Nachfolgerist auch der Vorsitzende desVerteidigungsausschusses,Alfred Biehle (CSU).

Page 41: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 249 Politik Mittwoch, 25. Oktober 1989

Namen undNachrichten

Folge von „Stoppt Strauß"Die Rechtsreferendarin Christi-ne Ändert (geb. Schanderl) hatjetzt ihre Einstellung in das Be-amtenverhältnis eingeklagt,nachdem ihr mitgeteilt wordenwar, daß Zweifel an ihrer Ver-fassungstreue eine Übernahmein den Staatsdienst unmöglichmachten. Die 27jährige war vorneun Jahren von einem Regens-burger Gymnasium geflogen,weil sie einen „Stoppt Strauß"-Aufkleber getragen hatte.

Saar-FDP legt sich festDrei Monate vor der Landtags-wahl im Saarland hat sich dieFDP des Landes auf eine Koali-tionsaussage zugunsten derCDU festgelegt. Der Landes-hauptausschuß der Saar-FDPbeschloß auf ihrem „kleinenParteitag" in Saarbrücken, zurLandtagswahl am 28. Januar1990 mit dem Ziel anzutreten,zusammen mit der CDU eine Re-gierungskoalition zu bilden.

640 Pistolen gestohlenAus,, dein Waffendepot einerTruppeneinheit in Moskau sind640 Armeepistolen gestohlenworden. Wie die UdSSR-Presseberichtete, wurden die Täter ge-faßt und der größte Teil der ge-stohlengri Wjaffen_j\ried.er,. si-chergestellt. -••.-.-'.

Walesa: „Reise erledigt"Der polnische Arbeiterführer

, Lech Walesa. (Foto) hat eine

Sa für diese Wo-i ehe geplantel Reise nach Chi-^ le abgesagt,\i nachdem zwei• verurteilte Ge-

werkschafts-,führer, für de-ren Freilassunger sich dort ein-setzen wollte,auf Anordnung

von Präsident Pinochet freige-lassen wurden. Die Reise habesich mit der Freilassung der bei-den erledigt, sagte Walesa.

DDR rüstet abDie DDR hat gestern sechs Pan-zerregimenter der NationalenVolksarmee aufgelöst und damitdie im April begonnenen einsei-tigen Abrüstungsschritte fortge-setzt. Die NachrichtenagenturADN berichtete, die Auflösunghabe „unter Anteilnahme derÖffentlichkeit" stattgefunden.

NPD-Chef erhält RatssitzDer Bundesvorsitzende derrechtsextremenNPD, MartinMußgnug(Foto), ist beiden Kommu-nalwahlen vonBaden-Würt-temberg in denGemeinderatvon Tuttlingengewählt wor-den. Die NPDerhielt dort 9Prozent derStimmen und damit drei Sitze -auch Mußgnugs Ehefrau Wal-traud sitzt jetzt mit im Stadtpar-lament.

Gorbatschow in FinnlandIm Zeichen einer Neudefinitiondes Verhältnisses zwischenFinnland und der UdSSR stehtder dreitägige Staatsbesuch vonStaatschef Gorbatschow in Hel-sinki. Gorbatschow wird bei sei-nem heute beginnenden Besucheine Deklaration unterzeichnen,die die erstmalige ausdrücklicheAnerkennung der finnischenNeutralität durch Moskau ent-halten soll.

„Soldaten-Urteil' Libanon /Friedensplan amnesty international:

Kohl empört, Massenprotest 1988 noch mehrGrüne erfreut in Ost-Beirut politische Morde

Bonn (dpa). BundeskanzlerHelmut Kohl ist über das „Sol-datenurteil" des FrankfurterLandgerichts empört. In der Sit-zung des Bundeskabinetts ver-wies Kohl gestern darauf, daßdie Soldaten der Bundeswehrdie Freiheit des Rechtsstaatesschützen und ihre staatsbürger-liche Pflicht erfüllen. Kohl be-grüßte es, daß sich der Bundes-tag am Donnerstag in einer Ak-tuellen Stunde mit dem Urteilbeschäftigen wird.

Das Frankfurter Landgerichthatte am letzten Freitag in einemzweiten Prozeß einen Arzt frei-gesprochen, der die Soldaten als„potentielle Mörder" bezeichnethatte. Der Verteidigungsaus-schuß des Bundestages wirdsich heute mit dem Urteils-spruch beschäftigen.

Die Grünen begrüßten das Ur-teil. Der Abgeordnete HelmutLippelt sieht darin ein „ermutig-endes Signal", das Recht auffreie Meinungsäußerung vorstaatlichen Eingriffen zu schüt-zen.

Beirut (dpa). Mit einer Demon-stration durch die Straßen vonOst-Beirut haben gestern meh-rere tausend Anhänger von Ge-neral Aoun, dem Chef der vonChristen geführten Regierung inBeirut, gegen das in Taif (Saudi-Arabien) erzielte Libanon-Ab-kommen protestiert. Regie-rungschef Aoun bekräftigte vorDemonstranten die Ablehnungder am Vortag in Taif erzieltenEinigung und erneuerte seineForderung nach einer Volksab-stimmung, deren Ausgang ersich beugen werde. Schulen, Lä-den und Universitäten in Ost-Beirut blieben aus Protest gegendas Abkommen gestern ge-schlossen.

Mit der Unterzeichnung der„Charta der Wiederversöh-nung" hatten am Montag unterVermittlung der ArabischenLiga in Taif 31 moslemische und31 christliche libanesische Par-lamentarier erstmals einegleichberechtigte Teilung derMacht in Libanon für die Zu-kunft festgelegt.

London (dpa). Einen beunru-higenden Anstieg von politischmotivierten Massenmorden re-gistiert der jüngste Jahresbe-richt von amnesty international.Zehntausende von Menschenwurden 1988 im Auftrag vonRegierungen außerhalb desRechtssystems getötet, heißt esin dem gestern veröffentlichtenReport.

Im vergangenen Jahr hat am-nesty Nachrichten von Men-schenrechtsverletzungen aus133 Ländern erhalten. Folterund Mißhandlung von Gefange-nen gibt es laut amnesty immernoch in mehr als der Hälfte derLänder in der Welt. OffizielleHinrichtungen wurden 1988 aus35 Ländern gemeldet. In 40 Pro-zent der Staaten ist aber inzwi-schen die Todesstrafe ganz ab-geschafft oder ausgesetzt. DerReport dokumentiert die Situa-tion von politischen Gefange-nen, die es weltweit in mehr alsder Hälfte der Länder gibt. Ge-fangene ohne Anklage und Pro-zeß gibt es in rund 75 Staaten.

\-it Ar. 4% ,.._ jMKkjfo'.:... i '. .M&WA-'«' •. rT-j •*'*? •;.:- •%BUND 40 KURDISCHE ZUHÖRER, meist Frauen und Kinder, verfolgten gestern den Prozeßauftaktgegen 19 mutmaßliche kurdische Terroristen in Düsseldorf. Unser Bild zeigt sie auf dem Weg in denDunkerähnlichen Hochsicherheitstrakt des Oberlandesgerichts, ^dparFunkbild)

Kurden-Prozeß eröffnet / Protest gegen Sicherheitsvorkehrungen

Prügelei im GerichtssaalDüsseldorf (AP/dpa). Tumulte

im Gerichtssaal und Demonstra-tionen vor dem für acht Millio-nen DM „sicherheitsgerecht"umgebauten Verhandlungsge-bäude haben am Dienstag denAuftakt des Prozesses gegen 19mutmaßliche kurdische Terrori-sten vor dem DüsseldorferOberlandesgericht geprägt/

Das Düsseldorfer "Verfahrengilt als größter Terrorprozeß derbundesdeutschen Justizge-schichte. Die Bundesanwalt-schaft wirft den angeklagtenMitgliedern einer Splittergrup-pe der Kurdischen Arbeiterpar-tei PKK (Partya Karkeren Kur-distan) vor, in der Bundesrepu-blik und in Libanon „Abweich-ler" aus den eigenen Reihen aufBefehl von Funktionären vor so-genannte Volksgerichte gestelltund einige von ihnen hingerich-tet zu haben. Die PKK strebtnach Erkenntnissen der Sicher-heitsbehörden einen selbständi-

gen Staat Kurdistan an und be-kämpft dabei unter anderem dietürkische Regierung. Die 40Wahlverteidiger forderten dieEinstellung des Verfahrens, derVorwurf der Mitgliedschaft ineiner terroristischen Vereini-gung sei „konstruiert".

Der erste Verhandlungstagstand im Zeichen von Protestender Angeklagten und ihrer Ver-teidiger gegen die vom Vorsit-zenden des Senats, Jörg Belker,aus Sicherheitsgründen ange-ordnete Abschottung der mut-maßlichen Terroristen hinter ei-ner übermannshohen Wand ausPlexiglas. Dies sei „unwürdig"und mache ein rechtsstaatlichesVerfahren unmöglich, da derKontakt zwischen Verteidigernund Mandanten erheblich ein-geschränkt werde.

Zu Handgreiflichkeiten aufder Anklagebank kam es, als derHauptangeklagte Ali Aktas sichweigerte, zu dem ihm zugewie-

senen Platz zu gehen, und Bel-ker anordnete, ihn zwangsweisedorthin zu bringen. In das dar-aus entstehende Handgemengegriffen alle Angeklagten ein. DerTumult griff auf den gesamtenGerichtssaal über. Die Zuhörererhoben sich von ihren Plätzenund riefen: „Aufhören" und„Schande, Schande, Schande".

Für einen der Beschuldigtenist der Prozeß bereits beendet:Er sitzt in Frankreich in Ab-schiebehaft und konnte nichtrechtzeitig zur Prozeßeröffnungnach Düsseldorf gebracht wer-den. Das Verfahren gegen ihnsoll abgetrennt werden.

Vor dem Gerichtsgebäudeforderten rund 250 Demon-stranten in Sprechchören: „Eins,zwei drei, laßt die Kurden frei.Im Garten der Bonner Botschaftin Paris demonstrierten rund 60Kurden. Die Polizei räumte dasGelände.Siehe „Themen des Tages"

7000 in Ostberlin auf der Straße / Kirche: SED soll Macht teilen

Demonstration nach Krenz-WahlFortsetzung

Nach den erneuten Massen-protesten am Montag abend mitrund 300 000 Menschen in Leip-zig und weiteren Zehntausen-den in anderen Städten bedau-erte Krenz unmittelbar nach sei-ner Wahl Polizeiübergriffe beifrüheren Demonstrationen. Zu-gleich appellierte er an die Be-völkerung, von weiteren De-monstrationen abzusehen.

Ungeachtet dessen gingen amDienstag abend rund 7000 Men-schen in der Ostberliner Innen-stadt aus Protest gegen die Wahlvon Krenz auf die Straße. Einigeder Teilnehmer skandierten Pa-rolen wie „Egon, wer hat uns

gefragt". Auch Rufe wie „Mei-nungsfreiheit" und „Stasi in dieVolkswirtschaft" wurden laut.Die Polizei hielt sich zurück undbeschränkte sich auf die Rege-lung des Verkehrs. Den Unifor-mierten riefen die Demonstran-ten zu: „Zieht Euch um" sowie„Schließt Euch an". Zwischen-fälle wurden nicht bekannt.

Der evangelische Bischof vonBerlin-Brandenburg, Forck, for-derte die SED auf, nicht längerauf ihrem Führungsanspruch zubeharren. Die Partei müsse sichdem Risiko aussetzen, auch inmanchen Positionen abgewähltzu werden und „anderen Platzzu machen, die ihre Eignung

nach Meinung der Bevölkerungfür diese Sache haben", sagteForck im ARD-Fernsehmagazin„Monitor". Der Konsistorialprä-sident dieser Landeskirche,Stolpe, rief Krenz auf, jetztschnell für Veränderungen zusorgen. Er müsse „sofort Mutzur Wahrheit zeigen und denDialog mit allen ohne Ausgren-zung führen".

Der Vorsitzende der BonnerFDP-Fraktion, Mischnick, wirdals erster bundesdeutscher Poli-tiker heute mit dem neuen DDR-Staats- und Parteichef Krenz zu-sammentreffen. Auch der Chefder DDR-Liberalen, Gerlach, sollan dem Gespräch teilnehmen.

Auch manche deutsche Fahrzeuge betroffen

Ab Mai Lkw-Gebührauf Fernstraßen

Bonn (dpa). Ab Mai nächstenJahres müssen in- und ausländi-sche Lastwagenbesitzer für dieBenutzung der Fernstraßen derBundesrepublik eine Gebührentrichten. Das Bundeskabinetthat am Dienstag einen entspre-chenden Gesetzenwurf vonBundesverkehrsminister Zim-mermann (CSU) gebilligt. DieEG-Kommission kündigte dar-aufhin an, sie werde gegen denBeschluß alle Rechtswege bishin zur Klage beim Europäi-schen Gerichtshof einschlagen.

Nach dem Gesetz, das zu-nächst bis. Ende 1993 befristetist, wird pro Lkw je nach Ge-wicht und Achszahl eine jährli-che Gebühr zwischen 1000 und9000 DM erhoben. Entgegen ur-sprünglichen Plänen werdennicht alle deutschen Lkw vonder Straßenbenutzungsgebührverschont bleiben. Trotz dergleichzeitig vorgesehene Sen-kung der Kraftfahrzeugsteuerauf ein mittleres europäischesNiveau wird auch für einige derdeutschen Lkw ein Teil der Stra-ßenbenutzungsgebühr gezahltwerden müssen.

Die Abgabenbelastung wirdsich ab Mai 1990 für Lastzügemit vier Achsen und einem Ge-wicht von 27 Tonnen gegenüber

US-Regierung:

bisher um zehn Prozent (540DM) erhöhen. Für einen fünf-achsigen Lastzug mit 40 TonnenGesamtgewicht wächst die Bela-stung sogar um 14,3 Prozent(1342 DM). Die höchste Entla-stung haben dreiachsige Lkwmit 24 Tonnen Gewicht mit 19,7Prozent (1397 DM) zu erwarten.

Zimmermann begründete dieEinführung vor der Presse mitdem Hinweis auf die Straßenge-bühren in zahlreichen andereneuropäischen Ländern. Er sagte,die Bundesrepublik könne alsHaupttransitland Europas nichtlänger ihre Straßen „praktischzum Nulltarif" ausländischenLkw zur Verfügung stellen. Eineeuropäische Lösung sei auf ab-sehbare Zeit nicht in Sicht. Ei-ner Klage der EG-Kommissionsehe die Bundesregierung gelas-sen entgegen, da nach ihrenFeststellungen das Gesetz mitdem Grundgesetz und dem EG-Recht vereinbar sei.

Das Gesetz soll laut Zimmer-mann „so unbürokratisch wiemöglich" angewendet werden.Auf Vignetten werde verzichtet,die Mitführung der Quittung ge-nüge. Bei Nichtentrichtung derGebühr drohten bis zu 10 000DM Bußgelder.Siehe auch Kommentar

Adamec lehnt Dialog ab

„Moskau rüstet Für Oppositionweiter auf" ist Prag stumm

Vilamoura (dpa). Die Sowjet-union rüstet nach Angaben derUSA ungeachtet der Fortschrit-te in den laufenden Abrüstungs-gesprächen Teile ihrer Streit-kräfte unverändert auf.

US-VerteidigungsministerCheney unterrichtete seineAmtskpllegen aus den anderenStaaten des Nato-BündriisseSam Dienstag während einer Sit-zung der Nuklearen Planungs-gruppe- im-portugiesischen-Ba-deort Vilamoura bei Faro davon,daß die sowjetische Rüstungs-politik sich in drei Bereichennicht grundsätzlich geänderthabe. Dazu gehörten die Ent-wicklung von strategischenAtomwaffen (Interkontinental-raketen), von Weltraumwaffenund der Ausbau der Seestreit-kräfte. Dies sei angesichts derkatastrophalen Wirtschaftslagein der UdSSR völlig unverständ-lich, meinte Cheney.

Wien (dpa). Der tschechoslo-wakische Regierungschef Ada-mec hat gestern jeden Dialog „mitRepräsentanten unabhängigerGruppen" weiterhin abgelehnt.Den vier in der Nationalen Frontzusammengeschlossenen Block-parteien, „die die führende Rolleder KP anerkennen", komme da-gegen „eine wichtige Aufgabe"zu, meinte Adamec zum Auftakteines zweitägigen Wien-Besu-ches im Gespräch mit österrei^-chischen Parlamentariern. „DerDialog mit unabhängigen Grup-pen würde jedoch auf die Liqui-dierung der kommunistischenPartei und des Sozialismus" hin-arbeiten, sagte Adamec. Von ge-planten Demonstrationen ausAnlaß des 71. Jahrestages derGründung der tschechoslowaki-schen Republik am kommendenSonnabend in Prag wußte Ada-mec nach eigenem Bekundennichts.

Anlage in Sibirien soll abgebaut werden

UdSSR: Unser Radar vertragswidrigMoskau (AP). Die Sowjetunion

hat erstmals zugegeben, daß eineim sibirischen Krasnojarsk ge-baute Radaranlage gegen die Be-stimmungen des 1972 mit denUSA abgeschlossenen ABM-Vertrages zur Verringerungstrategischer Waffen verstößt.Deshalb habe die sowjetischeRegierung beschlossen, die An-lage abbauen zu lassen, sagteAußenminister Schewardnadsein einer außenpolitischen Redevor dem Obersten Sowjet inMoskau. Damit hat sich derKreml in dieser Frage den Stand-

punkt Washingtons zu eigen ge-macht, das bereits seit Jahrenden Abbruch der Anlage fordert.

Die sowjetische Führung habenicht die ganze Wahrheit dar-über gewußt und es habe vierJahre gedauert, bis die Regie-rung festgestellt habe, daß dieAnlage den ABM-Vertrag ver-letzte, begründete Scheward-nadse die frühere Haltung Mos-kaus. Trotzdem habe die Ent-scheidung zum Abriß der Anlageauch innenpolitische Kritik her-vorgerufen.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureChef vom Dienst: Horst Kröninger. ChefNachrichten: Rainer Merforth. Politik: Jo-chen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden, Kultur: Dirk Schwarze, i. V.Claudia Sandner-v.Dehn, M. A., Frau u.Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wiese-mann, i. V. Ulrich Fuhrmann. Sonntagszeit:Frank Thonicke. Kassel Stadt und Land:Wolfgang Rossbach. Bezirksredaktionen:Peter M. Zitzmann. Koordination: HelmutLehnart. Hessen/Niedersachsen: EberhardHeinemann. Chefreporter: Karl-HermannHuhn. Sonderthemen: Peter Ochs.Redaktion Wiesbaden: Rolf Effenberger.Redaktion Hannover: Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter. Horst Prehm.Vertriebsleiter: Gerd Lühring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61 / 20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61/20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer 05 61 /20 36. Teletex5 618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7% MwSt. (Postbeztigs-preis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.

Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.Herstellung Druckhaus Dierichs,Frankfurter Straße 168, 3500 Kassel.

Page 42: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSACHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMEINUNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 250 - Donnerstag, 26.10. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Umfrage

Platz 1 fürMona Lisa

Die Deutschen lie-ben „Mona Lisa". Beieiner Umfrage gingdas Werk Leonardoda Vincis als erstesdurchs Ziel. Auf denPlätzen folgten CarlSpitzwegs „AnnerPoet" und AlbrechtDürers „Feldhase".Siehe „Zum Tage" so-wie Bericht auf „Blickin die Zeit".

Vor Gericht

Pfarrer alsFunkpirat?

Weil er jahrelangKranken und Ge-brechlichen das WortGottes über Ukw ver-kündete, steht jetzt inDuderstadt der ka-tholische GeistlicheJan van den Brule vorGericht. Die Anklagelautet auf „illegalenRundfunkbetrieb".Siehe „Blick in dieZeit".

Österreich 0:3

DDR hofftwieder

Nach ÖsterreichsO.-3-Pleite in der Tür-kei kann sich derDDR-Fußball wiederHoffnungen auf dieTeilnahme an derEndrunde der Fuß-ball-WM 1990 ma-chen. Der DDR ge-nügt in Wien ein Un-entschieden, wenndie Türkei in derUdSSR verliert.

Nach Ohrfeige

Knast fürZsaZsa

Die Ohrfeige für ei-nen Verkehrspolizi-sten kommt Zsa ZsaGabor (Foto) teuer zustehen: Der Holly-wood-Star muß fürdrei Tage ins Gefäng-nis und zudem eineGeldstrafe zahlen.Zsa Zsa lauschte demUrteil fast regungslos.Bericht auf „Blick indie Zeit"

GhK-Konvent

Für neuePlanziele

In der ersten Sit-zung des GhK-Kon-vents nach den Seme-sterferien hat derneue Präsident Prof.Brinckmann die Fest-setzung neuerHöchstgrenzen fürdie Studentenzahl derKasseler Universitätgefordert. Die Plan-ziele von 1975 seienüberholt. Lokalteil

Einladung zu Treffen erneuert

Krenz will nochdiese Woche mitKohl telefonieren

Ostberlin/Bonn (dpa/AP). Der neue DDR-Staats- und Par-teichef Krenz will so schnell wie möglich Kontakt mit Bundes-kanzler Kohl aufnehmen. Bei einer eineinhalbstündigen Un-terredung mit dem Vorsitzenden der FDP-Bundestagsfrakti--on, Mischnick, kündigte Krenz am Mittwoch in Ostberlin an,daß er mit Kohl noch in dieser Woche ein Telefongesprächführen wolle.

Wie Mischnick am Nachmit-tag vor der Presse in Bonn be-richtete, hat Krenz versichert,daß er die Beziehungen zur Bun-desrepublik weiterentwickelnwolle. Er habe auch die von sei-nem Vorgänger Honecker aus-gesprochene Einladung an Kohlerneuert. Krenz selbst sagtenach dem Gespräch am Vormit-tag vor dem Staatsratsgebäudeauf Fragen von Journalisten,von DDR-Seite „ist die Handausgestreckt für gute nachbarli-che Beziehungen". Die Voraus-setzung sei, daß es gleichbe-rechtigte Beziehungen sind. Ersei „zu allem" bereit, fügteKrenz hinzu, müsse sich aller-dings jetzt erst einmal verstärktden innenpolitischen Fragen zu-wenden.

In Bonn wurde am Mittwochnicht ausgeschlossen, daß Kohlnoch in diesem Jahr mit Krenzzusammentreffen wird. DerKanzler hatte sich am Vortag zueiner Begegnung bereiterklärt,sie müsse aber „gut vorbereitetsein". Die Bundesregierung wer-tete gestern die angekündigtenReiseerleichterungen für DDR-

Rumänien

Bürger als „Schritt in die richti-ge Richtung". Dies sei jedochnoch nicht der Durchbruch zuentscheidenden politischen Re-formen. Kohl bekräftigte am sel-ben Tag die Bereitschaft Bonns,echte politische und wirtschaft-liche Reformen in der DDR .um:fassend zu unterstützen". Zielsei, daß die Menschen in ihrerHeimat bleiben wollten.

Mischnick war der erste west-liche Politiker, den Krenz nachseiner Wahl empfing. Bei eineranschließenden Pressekonfe-renz bewerteten die beiden Poli-tiker ihre Unterredung als posi-tiv. Krenz bekräftigte, daß es inder DDR eine Wende mit Refor-men und baldige einschneiden-de Reiseerleichterungen gebenwerde. Mischnick sagte, er habeden Eindruck, daß man in derDDR die Fehler der Vergangen-heit erkannt habe und ernsthaftVeränderungen wolle. Er haltedie eingeleitete Reformentwick-lung nicht für eine „taktischeFrage", der Prozeß sei unum-kehrbar.Fortsetzung nächste SeiteSiehe „Themen des Tages"

CSSR-Ministerpräsident

EINEN TAG NACH SEINER WAHL zum DDR-Staatsratsvorsitzen-den empfing Egon Krenz (links) den Chef der FDP-Bundestagsfrak-tion, Mischnick, zu einer Unterredung in Ostberlin. Anschließendstellte sich der erste Mann der DDR im Staatsratsgebäude - einNovum in der Ostberliner Pressegeschichte - gemeinsam mitMischnick den Fragen von Journalisten. (dpa-Funkbild)

Gewerkschaft klagt:

„Der Post läuftPersonal davon"

Frankfurt (AP). Der Post lau-fen nach Angaben der Deut-schen Postgewerkschaft (DPG)in vielen Dienstzweigen und Re-gionen die Beschäftigten zu an-deren Arbeitgebern davon. Derstellvertretende DPG-Vorsitzen-de Zemlin sagte am Mittwoch inFrankfurt, Stellen könnten nicht•mit qualifizierten Bewerbern be-setzt werden, und das vorhande-ne Personal sehe sich einem zu-nehmenden Leistungsdruck aus-gesetzt. Zemlin machte die sichverschlechternden Arbeits- undEinkommensbedingungen beider Post im Vergleich mit dergewerblichen Wirtschaft für die-se Entwicklung verantwortlich.

Um die Arbeits- und Einkom-mensbedingungen zu verbes-sern, fordert die DPG den Ab-schluß eines Tarifvertrages, derdas „einseitige Drehen des Ar-beitgebers an der Leistungs-schraube" einschränken oderverhindern soll. Zudem wirdeine „spürbare" Erhöhung vonZulagen angestrebt.

Ceausescu Adamec deutetbleibt eisern Reformen an

Bukarest (dpa). Der rumäni-sche Staats- und Parteichef Ce-ausescu hat am Mittwoch zurVerstärkung des ideologischenKampfes aufgerufen, da „reak-tionäre, antisozialistische undantikommunistische Kreise ihreAktivitäten verstärkt haben".Auf einer Sitzung des Zentral-komitees der KommunistischenPartei Rumäniens betonte Ce-ausescu: „Wir weisen alle anti-sozialistischen Thesen zurück".Neben den akuten Versor-gungsproblemen in Rumänienbildeten Fragen der Ideologiediesmal den Kern der Tagung.„Die imperialistischen Aktionengegen den Sozialismus stelleneine große Gefahr für die Ent-spannungspolitik und für denFrieden dar", sagte Ceausescu.

Wien (dpa). Der tschechoslo-wakische MinisterpräsidentAdamec hat vorsichtige Refor-men in der CSSR in Aussichtgestellt. Zum Abschluß seinesBesuches in Wien sprach er sicham Mittwoch dafür aus, den vierin der Nationalen Front zusam-mengeschlossenen Blockpartei-en „größere Selbständigkeit"einzuräumen. Der Erfolg desvon seiner Regierung geplantenUmbaus hänge davon ab, inwie-weit es gelinge, „die Menscheneinzubeziehen". Nach den Wor-ten von Adamec werden zurZeit eine Reihe von Demokrati-sierungsschritten „sehr offendiskutiert". Es könne jedochkein Gespräch mit jenen geben,die die Abschaffung des Sozia-lismus betrieben.

Allgemeine Zulage von 100 DM und prozentuale Steigerung gefordert

OTV drängt auf NachschlagStuttgart. (AP). Eine Erhöhung

der allgemeinen Zulage für alleBeschäftigten im ÖffentlichenDienst von 67 auf 100 DM mo-natlich und eine Einarbeitungder Zulage in die Gehaltstabellehat die Gewerkschaft Öffentli-che Dienste, Transport und Ver-kehr gefordert. Die Große Tarif-kommission der Gewerkschaftbeschloß gestern in Stuttgart,die Tarifverträge über „allge-meine Zulagen" für die rund 2,2Millionen Arbeiter und Ange-stellten bei Bund, Ländern undGemeinden mit sofortiger Wir-kung zum 30. November 1989zu kündigen. Durch die Einar-beitung der Zulage in die Gehäl-

ter, solle sie bei künftigen pro-zentualen Steigerungen berück-sichtigt werden.

Von einer Einarbeitung derZulage in die Lohn- und Ge-haltstabelle, wodurch sie beiprozentualen Steigerungenkünftig mitwachsen würde, ver-spricht sich die Gewerkschaftkräftige strukturelle Einkom-mensverbesserungen. Die Ge-werkschaftsvorsitzende Wulf-Mathies kündigte in Stuttgartan, sie wolle mit den öffentli-chen Arbeitgebern noch in die-sem Herbst in die Tarifrundeeinsteigen. Wulf-Mathies nann-te die tarifpolitische Initiativeihrer Organisation ein „deutli-

ches Signal für kräftige struktu-relle Einkommensverbesserun-gen" und rief die öffentlichenArbeitgeber zu unverzüglichenVerhandlungen auf.

Beim Tarifabschluß im März1988 waren für das laufende Jahr1989 Einkommensverbesserun-gen um 1,4 Prozent und für 1990um 1,7 Prozent vereinbart wor-den. Der Tarifvertrag über dieArbeitszeit läuft im öffentlichenDienst noch bis Ende 1991 undsieht vor, daß ab 1. April 1990auch für die Staatsdiener die 38,5Stünden-Woche gilt. Beobachterwerteten die ÖTV-Forderung alsEinstieg in die Diskussion um ei-nen kräftigen Nachschlag.

Wahlkampf / Nicaragua UdSSR / DM-Umtausch Lkw-Nachtfahrverbot

Grüne: 495 000 DM Zehnmal mehr Rubel Zimmermann drohtfür Sandinisten für Touristen Österreich

Bonn (dpa). Die Grünen undverschiedene Solidaritätsgrup-pen unterstützen den Wahl-kampf der Sandinisten in Nica-ragua mit rund 800 000 DM.Vertreter der Partei und des Ko-ordinationskreises der Nicara-gua-Gruppen überreichten ge-stern dem Europabeauftragtender sandinistischen Befreiungs-front, Prado, Schecks über495 000 (Grüne) und über310 000 DM. Sie begründetendie Unterstützung mit der massi-ven Wahlhilfe, die das rechteParteienbündnis aus den USAund der Bundesrepublik erhalte.

Moskau (dpa). Ausländer inder Sowjetunion erhalten vom 1.November an zehnmal mehr Ru-bel für ihre Devisen als bisher.Wie ein Sprecher der sowjeti-schen Außenwirtschaftsbank inMoskau erklärte, werden Touri-sten und in Moskau lebendeAusländer mit dem Sonderkursdemnach für eine DM 3,38 Ru-bel erhalten. Bisher gab es füreine DM nur 34 Kopeken. Derneue Kurs gelte nicht für denAußenhandel, sondern nur für„nicht handelsmäßige Transak-tionen in der UdSSR", fügte derSprecher hinzu.

Bonn (AP) Bundesverkehrs-minister Zimmermann (CSU)hat jetzt den Österreichern öf-fentlich mit einem Nachtfahr-verbot in der Bundesrepublikgedroht, falls sie - wie geplant -ab 1. Dezember nachts die Nut-zung der Brennerautobahn nachItalien durch Lkw untersagen.Zimmermann erklärte am Mitt-woch in einer Aktuellen Stundedes Bundestags: „Falls es nichtdoch noch in letzter Minute zueinem vertretbaren Kompromißkommt, sehe ich mich gezwun-gen, auf der Basis der Gegensei-tigkeit zu handeln."

Zum Tage

Liebste Lisar a s t alle Deutschen kennenMona Lisa. Das verwundert nicht.Denn sie haben im Kunstunterrichtgut aufgepaßt und sind weitgereist- der Louvre ist ein Muß auf demBildungsweg. Daß die unergründli-che Gioconda auch ihr liebstesBild ist, erklärt sich aus deutschemWesen. Der Hang zur Mystik istnun einmal unser Geschick. UndLisas Lächeln spricht Bände, diedenn auch geschrieben wurden.

Nur profane Geister können ver-muten, die Quantität der Kunst-drucke und Postkarten erzeugeden hohen Kunstbildungsgrad. Esverhält sich genau umgekehrt. DieMuse macht den Markt. Das giltauch für die Zweit- und Dritt-Placie-rung. Da die Deutschen nach Hö-henflügen immer auf den Bodender Tatsachen zurückkehren, wis-sen sie auch die Realisten Spitz-weg und Dürer zu würdigen. „Derarme Poet" wie der „Feldhase" be-wegt ihr Gemüt. Beides kennen sieaus eigener Anschauung oder stel-len sich zumindest so vor.

Im übrigen beweist die Umfrage,daß die Deutschen keine Nationali-sten sind. Sie lassen dem großenItaliener die Ehre und begnügensich beim rechten Augenmaß mitden Rängen für ihre alten undneueren Meister. Ein bißchen Be-sorgnis mag mit im Spiel mit derbildenden Kunst sein. Leicht könn-te als Banause gelten, wer nichtMona Lisa über alles schätzt. Undwer, Hand aufs Herz, möchte dasschon sein.

Alfred Brugger

IG Metall / Wiederwahl

Rekord-Ergebnisfür Steinkühler

Berlin (dpa). Der IG-Metall-VorsitzendeFranz Stein-kühler (52,Bild) ist gesternfür weitere dreiJahre mit über-ragenderMehrheit in Uvseinem Amt be-stätigt worden.Trotz vorange-gangener Kritikan seinem Füh-rungsstil konn-te Steinkühler beim BerlinerKongreß seinen Stimmenanteilauf 88 Prozent ausweiten. Vordrei Jahren bei seiner erstenWahl zum IG-Metall-Chef hatteer 82,8 Prozent erreicht. Bei sei-ner Wiederwahl stimmten 473Delegierte für Steinkühler, 50votierten gegen ihn.

Eine Schlappe erlitt Steinküh-ler allerdings bei der Wahl derweiteren Führungsmitglieder.Entgegen seinem ausdrückli-chen Willen wählte der Ge-werkschaftstag Horst Schmitt-henner (48) mit 341 Stimmen zueinem der insgesamt elf haupt-amtlichen Vorstandsmitglieder.Der Kandidat der IG-Metall-Spitze, Rolf Bockelmann (47),erreichte mit 258 Stimmen nichtdie notwendige Mehrheit.Schmitthenner, der dem linkenSpektrum der Gewerkschaft zu-gerechnet wird, war erst gesternmorgen aus dem Plenum herausnominiert worden.

Zweiter Vorsitzender der mit2,6 Millionen Mitgliedern größ-ten Einzelgewerkschaft wurdeder Tarifexperte Klaus Zwickel(50), der 75,7 Prozent der Dele-iertenstimmen erhielt.iiehe auch Kommentar

Lotto am MittwochZiehung A: 2, 20, 22, 26, 42, 47 Zu-satzzahl: 40.Ziehung B: 18, 25, 29, 31, 36, 47Zusatzzahl: 3.Spiel 77: 8 8 1 3 0 0 8.

(Ohne Gewähr)

Page 43: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 250 Politik Donnerstag, 26. Oktober 1989

Namen undNachrichten

Spanien

Hilfe für Ost-ReformenFrankreichs StaatspräsidentFrancois Mitte-rand rief gr-stern in einorRede vor demEuropaparla-ment in Straß-burg den We-sten auf, denosteuropäi-schen Reform-ländern beimWiederaufbai ider marodenWirtschaft zuhelfen. Frankreich verabschie-dete gestern bereits ein Hilfe-programm für Polen in Höhevon umgerechnet rund 1,35 Mil-liarden DM, das sich auf dreiJahre erstreckt.

Forscher wandern abUngarn befürchtet, daß die Libe-ralisierung der Reisefreiheit unddie Abschaffung des Genehmi-gungsverfahrens für die Aus-landsarbeit zur verstärktenAuswanderung von Wissen-schaftlern führen wird. Die Bu-dapester NachrichtenagenturMTI meldete jetzt, daß in denersten acht Monaten dieses Jah-res 740 Wissenschaftler dasLand verlassen haben.

„Übersiedler-Telefon"Junge Aus- und Übersiedler inallen Teilen des Bundesgebieteskönnen telefonisch zum Ortsta-rif Auskunft über die Bildungs-und Studienmöglichkeiten inder Bundesrepublik bekommen.Ein „Übersiedler-Telefon"(0130-4266) der Otto-Benecke-Stiftung und des Jugendaufbau-werks soll den Neuankömmlin-gen helfen, ihre Ausbildung hiermöglichst schnell fortzusetzen..

Tagebücher als Beweis?Der frühere amerikanische Si-

icherheitsbera-Iter John PoindrSexter darf nach-leinem v : ..Ge--mchtsürteü inj seinem Prozeß| Wegen derarati-I Contra-Affäre;I Tagebücher ,.I seines früheren1 VorgesetztenI Ronald Reaganj(Foto) als Be-' weismittel vor-

legen. Poindexter ist angeklagt,an der Verschleierung des Waf-fenverkaufs an Iran 1985 sowieder illegalen Unterstüzung dernicaraguanischen Contra-Re-bellen mit dem Erlös im folgen-den Jahr maßgeblich beteiligtgewesen zu sein.

Kampf der KorruptionMit 35 Todesurteilen in den ver-gangenen zwei Monaten habenChinas Gerichte deutlich ge-macht, daß sie gegen Wirt-schaftverbrecher ungewöhnlichhart durchgreifen. Seit MitteAugust sind im Zuge der Kam-pagne gegen die verbreiteteWirtschaftskriminalität bereits7900 Personen - meist wegenKorruption und Unterschlagung- zu Freiheitsstrafen verurteiltworden.

Gegen Südafrika-UrlaubBundesbürger sollten ihren Ur-laub nach Auf-fassung des erstkürzlich ausder Haft entlas-senen Ex-Ge-neralsekretärsdes „AfricanNational Con-gress" (ANC),Walter Sisulu,nicht in Süd-afrika verbrin-gen. SolcheReisen würdendas weiße Minderheitsregimestützen, erklärte er jetzt in ei-nem Interview.

UdSSR: Unruhen-BilanzNationale Unruhen in der So-wjetunion haben mindestens300 Tote und über 5000 Verletz-te gefordert. Wie die Tageszei-tung „Sozialischeskaja Industri-ja" "gestern berichtete, wurdenaußerdem zwölf'Angehörige derSicherheitstruppen getötet und890 verletzt. Das Blatt machtekeine Angaben über den Zeit-raum, sondern schrieb lediglich, daß es sich um die Opfer der.letzten Zeit" handele.

Bush/Wiedervereinigung Interne Kritik / Urteil

Unklarheit um Keine Angst vor Soldaten müssenKKW-Unfall Deutschland schweigen

Wien (dpa). Die InternationaleAtomenergie-Organisation(IAEO) hat gestern den Berichtder spanischen Tageszeitung „ElPais" dementiert, wonach derUnfall im Kernkraftwerk Van-dellos I der „schwerste seitTschernobyl" gewesen sei. DieIAEO habe dies nie behauptet,heißt es in einer Erklärung derOrganisation. Es sei auch nichtihre Aufgabe, nukleare Zwi-schen- oder Unfälle zu quantifi-zieren. Von dem Feuer in Van-dellos I am Abend des 19. Okto-ber 1989 sei die IAEO am näch-sten Morgen von den spani-schen Behörden, unterrichtetworden. Sie sei informiert wor-den, daß bei dem Zwischenfallkeine radioaktiven Teile in dieUmwelt geraten seien. Ein vor-läufiger Bericht über den Brandsei am 24. Oktober veröffent-licht worden.

„El Pais" hatte am Mittwocheinen internen IAEO-Bericht zi-tiert, in dem es unter anderemgeheißen haben soll, daß der Un-fall der „schwerste seit Tscher-nobyl" gewesen sei. Außerdem,so „El Pais" weiter, sei „eine derbeiden Generatorturbinen ex-plodiert und schädigte ernstlichdie Kühlanlagen. Niemand wur-de verletzt, und es wurde keinAustritt von Radioaktivität regi-striert."

New York (AP). Der amerika-nische Präsident Bush teilt nacheigenen Worten nicht die Sorgeeiniger europäischer Länder voreinem wiedervereinigtenDeutschland. In einem am Mitt-woch veröffentlichten Interviewder „New York Times" sagteBush, er vertraue auf die Bin-dung der Bundesrepublik imwestlichen Bündnis.

Er sehe Westdeutschlandnicht um der Wiedervereini-gung willen einen „neutralisti-schen Pfad" beschreiten, der esin Gegensatz zu seinen Nato-Partnern bringen würde. Die ra-schen Veränderungen in derDDR rückten das Thema in denVordergrund, aber die Teilungzu überwinden, brauche es einebehutsame Entwicklung undZeit, sagte der US-Präsidentweiter. Auch müßten die Deut-schen darüber mit den Franzo-sen und den Briten Einverneh-men erzielen. Vergangene Wo-che hatte Außenminister Bakereine Wiedervereinigung als ein„legitimes Recht" des deutschenVolkes bezeichnet.

Zu Osteuropa sagte Bush, daßder Wandel dort „absolut außer-gewöhnlich" sei, aber er wollesich nicht vom Kongreß über-rennen und zu Überreaktionendrängen lassen.Siehe auch Kommentar

Berlin (dpa). Soldaten versto-ßen - ebenso wie Beamte - ge-gen die Pflicht zur Loyalität ge-genüber einem Vorgesetzten,wenn sie interne Kritik in dieÖffentlichkeit tragen. Mit die-sem Beschluß bestätigte derzweite Wehrdienstsenat desBundesverwaltungsgerichtseine Disziplinarmaßnahme ge-gen einen hohen Offizier derBundeswehr. (AZ.: BVerwG 2WDB 4.89 vom 10. Oktober 89).

Das Gericht nannte am Mitt-woch keinen Namen. Das Urteildürfte aber im Zusammenhangmit dem „Fall Schmähung" ste-hen. Der Chef des „Amtes fürStudien und Übungen der Bun-deswehr" hatte sich nach derWürzburger Kommandeursta-gung der Bundeswehr im ver-gangenen Jahr mit scharfer Kri-tik an Vorträgen und Verlaufder Veranstaltung zu Wort ge-meldet. So sei BundeskanzlerHelmut Kohl „bei unverbindli-chen Gemeinplätzen" geblieben.Verteidigungsminister Scholzhabe es „versäumt, sich dieSympathie und Gefolgschaft derKommandeure zu erwerben".

Schmähung erhielt wegendieser Äußerungen einen „Ver-weis" vom Verteidigungsmini-sterium, die niedrigste der mög-lichen Disziplinarmaßnahmen.

Lebenswerk gewürdigt

Heuss-Preisfür Genscher

Stuttgart (dpa). Bundesaußen-minister1 Hans-Dietrich Gen-scher (FDP) wird mit dem 26.Theodor-Heuss-Preis ausge-zeichnet. Vorstand'und Kurato-rium würdigen mit der Verlei-hung Genschers „hervoragen-desi Lebenswerk im Dienste desÄttfEfaus Miiserer freiheitlichenDeino^r^tie"! Zugleich wurdendie Bem(j.Kungen des Ministers^m: 'ein |3!^dliche Überwin-dung der'Teilung Deutschlandsund Europas"; hervorgehoben.

Sowjetunion / Streik

6000 Kumpelim Ausstand

Moskau (dpa). Zwei Kohle-gruben mit insgesamt 6000 Ar-beitern in der sowjetischenBergarbeiterstreik Workutasind seit gestern morgen imAusstand. Dies bestätigte einSprecher des Streikkomiteesper Telefon: In den anderenBergwerken finde zur Zeit einegeheime Urabstimmung über ei-nen Arbeitskampf statt. NachAngaben des Sprechers wirdnicht vor Mitternacht mit demErgebnis der Abstimmung ge-rechnet.

Auch Finnen von Gorbatschow begeistertDer sowjetische Staats- undParteichef Gorbatschow (rechts)ist am Mittwoch zum Auftaktseines dreitägigen Staatsbe-suchs in Finnland begeistertempfangen worden. Auf demFlughafen von Helsinki wurdeer zusammen mit Gattin Raissavon Finnlands. StaatspräsidentKoivisto (links) begrüßt. In er-sten politischen Gesprächenzwischen Gorbatschow und

Koivisto äußerten beide Politi-ker ihre Zufriedenheit über dieproblemfreien Beziehungen ih-rer Länder. Als der sowjetischeStaatsgast am Nachmittag mitseiner Frau das „Lenin-Ge-dächtniszimmer" in der Innen-stadt von Helsinki besuchte,empfingen ihn mehrere tausendFinnen mit „Gorba, Gorba"-Sprechchören.

(dpa-Funkbild)

Nukleare Planungsgruppe fordert Sowjets zu Abrüstung auf

Nato hält an Kernwaffen festVilamoura/Portugal (dpa).

Auch bei einem Erfolg der Wie-ner Gespräche über den Abbaukonventioneller Streitkräftekann der Westen nach Ansichtder Nato-Verteidigungsministerauf Atomwaffen in Europa'nichtvöllig verzichten. Beim Treffender Nuklearen Planungsgruppe(NPG) der Nato in, Vilamoura(Südportugal) stimmten die Mi-nister überein, daß eine Beseiti-gung des sowjetischen Überge-wichts bei der nicht-nuklearenRüstung zwar Raum für eine Re-duzierung der westlichen Atom-waffen schaffen würde. „Unterden gegenwärtigen Umständenund soweit absehbar" seien abernukleare Streitkräfte zu Lande,zur See und in der Luft unver-zichtbar.

Dazu gehörten auch bödeng^-stützte,atomare Kurzstrecken-raketen (bis 500 KilometerReichweite), über deren Moder-nisierung 1992 entschiedenwerden soll. Nato-Generalse-kretär Wörner bestätigte, daßdamit bei den für später geplan-

ten Verhandlungen eine dritteNull-Lösung ausgeschlossenwerde. Die Minister riefen dieSowjetunion im Schlußkommu-nique ihres zweitägigen Treffensauf, ihre Kurzstreckenwaffeneinseitig auf den Nato-Stand zureduzieren. Sie begrüßten dieBereitschaft Moskaus zu einsei-tiger Abrüstung, stellten aberfest, daß die bisher angekündig-ten Schritte an der Überlegen-heit' der Sowjets bei nuklearenRaketen mit Reichweiten unter500 Kilometer nur wenig ändernwürde.

US-VerteidigungsministerCheney und sein britischer Kol-lege King sagten, angesichts derReformen in Osteuropa herr-sche „große Ungewißheit" wiedie Entwicklung in der Sowjet-union und bei deren Verbünde-ten weitergehe. „Die Nato istnoch wichtiger geworden alsfrüher", meinte King. „In diesergefährlichen Zeit ist es wichtig,die Verteidigungsfähigkeit zubewahren." Wörner sagte, die

Nato müsse in einer „Zeit derUngewißheit" ein Faktor derStabilität sein. Dagegen meinteVerteidigungsminister Stolten-berg, man müsse sich bei derBewertung der Reformen inOsteuropas zwar des Risikos be-wußt sein, aber „wir sind gutberaten, von den Chancen zusprechen, die in diesem Prozeßliegen".

Im Kommunique bescheinigendie Minister der UdSSR eineentgegenkommendere Haltungin den Verhandlungen über In-terkontinentalraketen (START),Weltraumwaffen und Atomt-waffentests. Sie begrüßten vorallem die Ankündigung von Au-ßenminister Schewardnadsezum Abbau der Radarstation inKrasnojarsk. Die Nato-Ministerstellten aber fest, daß die UdSSRihre Weltraumbewaffnung wei-ter ausbaue und über Waffenzur Sätellitenbekämpfung ver-füge, der der Westen nichtsGleichwertiges entgegenzuset-zen habe.

Verteidigungsausschuß „betroffen"

Nur Grüne nicht empörtüber Soldaten-Urteil

Bonn (ÄP). Der Bonner Vertei-digungsausschuß sieht dasRecht auf freie Meinungsäuße-rung mit dem Frankfurter Solda-ten-Urteil „pervertiert". In einervon den Grünen abgelehnten ge-meinsamen Entschließungbrachten die anderen im Bundes-tag vertretenen Parteien amMittwoch ihre Betroffenheit undEmpörung über den Richter-spruch zum Ausdruck und spra-chen von einer „unerträglichenBeleidigung". Das FrankfurterLandgericht hatte am 20. Okto-ber einen Arzt freigesprochen,der Soldaten als „potentielleMörder" bezeichnet hatte.

Auch vor dem Hintergrundder Unabhängigkeit der Gerich-te müsse die für die aktiven undehemaligen Soldaten sowie de-ren Angehörige herabsetzendeund kränkende Behauptung„von allen, die für die Bundes-wehr politische Verantwortungtragen, entschieden zurückge-wiesen werden", erklärtenCDU/CSU, FDP und SPD imAusschuß. Die Angehörigen derStreitkräfte leisteten schließlichauf der Grundlage der Verfas-sung der Gemeinschaft einen un-verzichtbaren Dienst.

Es dürfe nicht zugelassen wer-

den, daß mehr als sechs Millio-nen Männer in der Bundesrepu-blik, die seit 1956 Wehrdienstgeleistet hätten, als „potentielleMörder" bezeichnet würden,heißt es in der Entschließung.Verteidigungsminister Stolten-berg wird aufgefordert, zu klä-ren, „ob Veranlassung besteht,den Ehrschutz der Soldaten undder Institution Bundeswehr imStrafgesetzbuch zu erweitern".

Unterdessen kündigte der Par-lamentarische Geschäftsführerder Unionsfraktion, Bohl, an, eswerde geprüft, ob nicht gesetzli-che Änderungen notwendig sei-en. Dabei gehe es um die Straf-rechtsparagraphen der Volks-verhetzung und der Beleidigung.Es sei nicht akzeptabel, daß desMordes vor Gericht Angeklagtenicht Mörder genannt werdendürften, wohl aber die Soldatender Bundeswehr.

Das Oberlandesgericht Frank-furt könne das Urteil der 29.Strafkammer erneut prüfen undgegebenfalls zurückverweisen,gab Bohl zu bedenken. „Wir wol-len nicht mit Kanonen auf Spat-zen schießen, aber als Fraktionschon jetzt prüfen, was an Geset-zesänderungen notwendig ist,wenn das Urteil Bestand hat."

Ob mit oder ohne Ausreisepapier / Mischnick:

DDR will alle Flüchtlingerechtlich gleichstellenFortsetzung

Berichte, daß Ostberlin vorWeihnachten politische Häft-linge, die wegen versuchter Re-publikflucht einsitzen, freilas-sen will, konnte Mischnick ausseinen Gesprächen nicht bestä-tigen. Ihm sei allerdings zugesi-chert worden, daß die neue Füh-rung DDR-Flüchtlinge, die ohneoffizielle Ausreise- oder Aus-bürgerungspapiere in die Bun-desrepublik gekommen sind,rechtlich den DDR-amtlichenÜbersiedlern gleichstellen wol-le. Ohne Ausreisepapiere geltenfrühere DDR-Bürger in der Hei-mat als Republikflüchtlinge, diestrafrechtlich verfolgt werden.Bei einer rechtlichen Gleichstel-lung könnten alle Flüchtlingeohne Furcht vor Strafverfolgungdie frühere Heimat besuchen.

Krenz sagte vor den Journali-sten in Ostberlin, über das neueReisegesetz, das noch in diesemJahr von der Volkskammer ver-abschiedet werden solle, müsseerst noch mit den Bürgern und inden zuständigen Gremien bera-ten werden. Es stehe aber fest:„Jeder Bürger kann Reisepaßund Visum erwerben."

Krenz wurde von den Journa-listen auch auf die Themen Op-

position und Mauer angespro-chen. „Ich schließe alle Bürgerein", bei Gedankenaustauschund Dialog werde niemand „aus-gegrenzt", sagte der 52jährige,wandte sich zugleich aber gegenden Begriff Opposition. ZumThema Mauer erklärte er, imVordergrund stünden Reisenund andere Dinge. Außerdem seidie Mauer aus anderen Gründengebaut worden, als es viele imWesten verstehen wollten.

Gespräche zwischen der SED-Führung und den Oppositions-gruppen sind nach Worten vonPolitbüromitglied Schabowskilängst im Gange. In den ARD-„Tagesthemen", kündigte er einpersönliches Gespräch mit Prof.Reich, einem Gründungsmitglieddes „Neuen Forums", an.

In Neubrandenburg, Halber-stadt und Jena demonstriertengestern abend erneut Tausendevon DDR-Bürgern. OstberlinsPolizeipräsident machte in derSendung „Aktuelle Kamera"deutlich, daß die Sicherheitsor-gane künftig nicht mehr jederDemonstration in der Stadt ta-tenlos zusehen werden. Ein „mi-litant-harter Kern" sei bei derDemonstration am Dienstag aufKonfrontation aus gewesen.

Nun doch NRW-Schau in LeipzigDüsseldorf (APJ. Die vor einer

Woche von der DDR vorläufigabgesagte nordrhein-westfäli-sche Kulturpräsentation inLeipzig kann nun doch in derZeit vom 9. bis 22. Novemberstattfinden. Die DüsseldorferStaatskanzlei teilte gestern mit,die DDR-Führung habe ihre Bit-te um Verschiebung der Veran-staltung „auf einen günstigeren

Zeitpunkt" korrigiert und damitgrünes Licht für die bisher größ-te Kulturschau der Bundesrepu-blik in der DDR gegeben. Der amMittwoch eigens aus Ostberlinnach Düsseldorf angereisteDDR-Kulturminister Hoffmannhabe Ministerpräsident Raumitgeteilt, die Kulturveranstal-tung könne ohne Einschränkun-gen stattfinden.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Boos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureChef vom Dienst: Horst Kröninger. ChefNachrichten: Rainer Merforth. Politik: Jo-chen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden, Kultur: Dirk Schwarze, i. V.Claudia Sandner-v.Dehn, M. A., Frau u.Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wiese-mann, i. V. Ulrich Fuhrmann. Sonntagszeit:Frank Thonicke. Kassel Stadt und Land:Wolfgang Rossbach. Bezirksredaktionen:Peter M. Zitzmann. Koordination: HelmutLehnart. Hessen/Niedersachsen: EberhardHeinemann. Chefreporter: Karl-HermannHuhn. Sonderthemen: Peter Ochs.Redaktion Wiesbaden: Rolf Effenberger.Redaktion Hannover: Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter: Horst Prehm.Vertriebsleiter: Gerd Lühring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61 / 20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61 / 20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer05 61 /20 36. Teletex5 618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7% MwSt. (Postbezugs-preis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer- Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau",, Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.

Auflage „Sonntagszeit" über 200000Exemplare.Herstellung Druckhaus Dierichs,Frankfurter Straße 168, 3500 Kassel.

Page 44: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSIS KASSEL1 P 3713 A

isk&Ä&JHESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEALLGEUNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 251 • Freitag, 27.10. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Attentat / Rheinarmee

BritischerSoldat mitKind getötet

Wildenrath (dpa). Bei einemneuen blutigen Anschlag der Iri-schen Republikanischen Armee(IRA) auf die britische Rheinar-mee haben bislang unbekannteTäter am Donnerstag abend ge-gen 18.50 Uhr in Wildenrath beiMönchengladbach einen Korpo-ral der Luftwaffe und sein erst einJahr altes Kind erschossen. DieFrau des Soldaten wurde schwerverletzt. Mitdem jüngsten Atten-tat hat die IRA seit März 1987 in

3,3 Prozent Inflation

Preiskurve aufHöchststand

Wiesbaden (dpa/vwd). Diedeutschen Verbraucher müssenden stärksten Preisauftrieb seitsechs Jahren verkraften. Im Ok-tober erreichte die Inflationsrate3,3 Prozent und damit ihrenhöchsten Stand seit dem August1983. Im September und Augustdieses Jahres hatten die Ver-braucherpreise das Vorjahres-niveau um 3,1 Prozent und um2,9 Prozent übertroffen.

Wie das Statistische Bundes-amt aufgrund einer erstenSchätzung meldete, erhöhtensich die Kosten für die Lebens-haltung von September bis Ok-tober um 0,3 Prozent. Als Preis-treiber erwiesen sich vor allemEnergiekosten. Die Einfuhr vonHeizöl verteuerte sich von Sep-tember bis Oktober um zehnProzent, von Benzin um 8,3 Pro-zent und von Erdöl um 4,1 Pro-zent.Siehe „Zum Tage"

Flüchtlinge / Prag

Ausreise mitDDR-Papieren

München/Prag (dpa). Die 150Zufluchtsuchenden in der Bon-ner Botschaft in Prag erhieltenam Donnerstag in der DDR-Mis-sion am Moldauufer ihre Aus-reisepapiere. Sie können nunauf direktem Wege in die Bun-desrepublik fahren. Sie werdenheute in Bayern erwartet. Damitendet eine dramatische Ent-wicklung, in deren Verlauf überPrag an die 14 000 DDR-Bürgerin den Westen gelangt sind.

Der Zustrom von DDR-Flüchtlingen über Ungarn hatsich auf etwa 500 Menschen proTag eingependelt. Seit Öffnungder ungarischen Westgrenze am11. September kamen 45 286Übersiedler auf diesem Weg inden Westen.

McCarthy tot

BrillanteKritikerin

Die für ihre bei-ßende Schärfe undIronie bekannteamerikanische Kri-tikerin und Roman-autorin MaryMcCarthy (Foto) ist77jährig in NewYork gestorben. Mitdem Bestseller „DieClique" errang sie1963 Weltruhm.Siehe Kultur.

Tennis

SouveräneSteffi Graf

Die Tennis-Welt-ranglistenerste Stef-fi Graf besiegteClaudia Kohde-Kilsch im Achtelfi-nale des GrandPrix-Turniers vonBrighton 6:0, 6:3. Inder Runde der letz-ten Acht trifft dieGrand Slam-Gewin-nerin heute auf ElnaReinach (Südafrika).

Arbeitszeit

Bosseim Streß

Ein großer Teilder deutschen Top-Manager ist einerUmfrage zufolge mitder zeitlichen Inan-spruchnahme durchden Beruf unzufrie-den. Im Schnitt sinddie Bosse siebenTage in der Woche13 Stunden pro Tagim Einsatz. SieheWirtschaft.

Beschlagnahme

Polizeibei Kujau

Beschlagnahme-Aktion bei KonradKujau („Hitler-Ta-gebücher"): Polizei-beamte nahmen ausseiner „Galerie derFälschungen" 124Kopien von Mei-sterwerken mit. Ku-jau hatte sie nichtmit seinem Namensigniert. Siehe„Blick in die Zeit".

Schlüsselgewalt

BVG: IstRechtens

Das Bundesver-fasssungsgericht(BVG) in Karlruhehat gesprochen: Diesogenannte Schlüs-selgewalt der Ehe-gatten ist mit demGrundgesetz ver-einbar. Bericht auf„Blick in die Zeit",Kommentar auf„Themen des Ta-ges".

schlage verübt, wobei fünf Solda-ten, eine deutsche Zivilistin undjetzt das Kleinkind ums Lebenkamen.

Nach Angaben der britischenLuftwaffe und des Generalbun-desanwalts in Karlsruhe hattendie Opfer mit ihrem Pkw an ei-ner Imbißbude gehalten. Ausder Dunkelheit heraus seien sievon zwei Schützen mit automa-tischen Waffen beschossen wor-den. Zehn Schüsse fielen, derVater auf dem Beifahrersitz unddas Kind auf dem Rücksitz wa-ren sofort tot. Die schwerver-letzte Frau hatte das Fahrzeuggesteuert. Die Täter entkamenin einem gelb-braunen Ford-Kombi mit dem amtlichen Kenn-zeichen „DT-CV 764" in Rich-tung holländische Grenze.

£enn SED-Politbüromitglied Schabowski

Erster Dialog mit„Neuem Forum"

Ostberlin (dpa/AP). Günter Schabowski ist gestern inOstberlin als erstes Mitglied des SED-Politbüros zu einemGespräch mit Mitbegründern der noch vor einigen Wochenals staatsfeindlich eingestuften Oppositionsgruppe „NeuesForum" zusammengetroffen. Die SED weitete am selben Tagihre Gesprächsangebote an die DDR-Bevölkerung aus.

Gleichzeitig verdichteten sichdie Anzeichen, daß in den näch-sten Tagen eine Amnestie füralle wegen Republikflucht inhaf-tierten DDR-Bürger verkündetwird. Als sicher gilt auch ein bal-diger Austausch der Seniorenunter den SED-Politbüromitglie-dern durch jüngere Politiker. DieDDR-Regierung hat nach Anga-ben von Ministerpräsident Stophbeschlossen, durch zusätzlichenImport von Konsumgütern undLebensmittlen eine bessere Ver-sorgung zu ermöglichen.

Für das „Neue Forum" hattenan dem Gespräch mit Scha-bowski Jens Reich und SebastianPflugbeil teilgenommen. DieVertreter des „Forums" legtennach Angaben der Bürgerinitia-tive die Ziele ihrer Gruppe darund versicherten, daß ihre Akti-vitäten nicht gegen die Verfas-sung der DDR gerichtet seien. Essei ein „sachliches Informations-gespräch" gewesen. Eine künfti-ge Änderung des Wahlgesetzessei von Schabowski nicht ausge-'

schlössen worden.Der offene Dialog mit DDR-

Bürgern, den es in Leipzig bereitsgibt, soll am Sonntag auch inOstberlin beginnen. Das SED-Blatt „Berliner Zeitung" veröf-fentlichte gestern eine Einladungvon Oberbürgermeister Krackan die Bevölkerung, sich an„Sonntagsgesprächen" in vierHallen zu beteiligen.

Im Dresdner Kommunalparla-ment kam es gestern zu einerDebatte über die jüngsten Zwi-schenfälle in der Stadt. AuchVertreter der auf Reformendrängenden „Gruppe der 20"konnten ihre Standpunkte darle-gen. Als Gast der Stadtverordne-tenversammlung, auf der Ober-bürgermeister Berghofer ein Lö-sungspaket für die kommunalenProbleme vorlegte und die Bil-dung gemeinsamer Arbeitsgrup-pen anregte, sprach Superinten-dent Ziemer offen über Polizei-übergriffe bei Demonstrationen.Fortsetzung nächste SeiteSiehe auch „Themen des Tages"

Erstes Telefongespräch

Kohl und Krenz:Wir halten Kontakt

Bonn/Ostberlin (dpa). Bundes-kanzler Kohl hat gestern morgenmit dem neuen DDR-Staats- undParteichef Krenz telefoniert undweitere Kontakte vereinbart.Das zwanzigminütige Gesprächwar die erste Unterredung derbeiden Politiker. Ein Zeitpunktfür ein Treffen Kohl-Krenz istnach Auskunft des Kanzleram-tes aber noch „völlig offen".Kanzleramtsminister Seiterswerde jedoch in „absehbarerZeit" zu Gesprächen mit derDDR-Führung nach Ostberlinreisen.

Das Kanzleramt und die DDR-Nachrichtenagentur ADN be-richteten, das Gespräch sei in ei-ner „sachlichen und konstrukti-ven Atmosphäre" verlaufen. Bei-de Politiker unterstrichen ihr In-teresse an einer Fortentwicklungder innerdeutschen Beziehungenund der Fortführung der prakti-schen Zusammenarbeit. Krenzbetonte laut ADN, die DDR blei-be ein sozialistisches Land. Kohl

und Krenz verständigten sichüber Fragen, die künftig zwi-schen beiden Seiten auf der Ta-gesordnung stehen sollen.

Die Bundesrepublik sollteüberdenken, „wie einige prakti-sche Fragen so gehandhabt wer-den können, daß die Respektie-rung der Staatsbürgerschaft derDDR deutlich" werde, meinteKrenz. Der Kanzler erläuterte,daß man über jene Dinge spre-chen müsse, über die man sichgemeinsam einigen könne. Kohlsei dafür, bei anstehenden Pro-blemen zum Telefon zu greifenund miteinander zu sprechen, zi-tierte ADN. Krenz unterstütztedie Haltung. Er regte am Abendim DDR-Fernsehen regelmäßigeTelefonkontakte mit Kohl an: Essei „immer besser miteinanderals übereinander zu reden".

Berlins Regierender Bürger-meister Momper (SPD) wirdwahrscheinlich Ende dieses Jah-res mit Krenz zusammentreffen.Siehe auch Kommentar

ZEIT FÜR EINEN HÄNDEDRUCK und für ein kurzes Gesprächfanden gestern Bundeskanzler Kohl und SPD-Chef Vogel am Ran-de der Tagung des Bundeswehr-Verbandes in Bad Godesberg.Einig waren sich Kanzler und Oppositionsführer in ihrer Ableh-nung des sogenannten „Soldaten-Urteils". (dpa-Funkbild)

Hitzige Debatte im Bundestag

„Soldaten-Urteil": Kohlwill Ehrenrettung

Bonn (AP/dpa). Bundeskanz-ler Kohl will sich persönlich da-für einsetzen, daß Soldaten nichtmehr als „potentielle Mörder"beschimpft werden können.Kohl sagte gestern vor derHauptversammlung des Deut-schen Bundeswehr-Verbandes,das Urteil des Frankfurter Land-gerichts, das eine solche ehren-rührige Äußerung ungestraftlasse, entsetze ihn. Es könnenicht hingenommen werden, daß..Soldaten mit Schwerverbre-chern auf eine Stufe gestellt"würden. Kohl kündigte an: „DieBundesregierung - und das giltauch für mich persönlich - wirdalles tun, um den Ehrenschutzunserer Soldaten wirksam zu ge-währleisten." Auch SPD-ChefVogel und der FDP-Fraktions-vorsitzende Mischnick stelltensich vor die Soldaten.

Mit Pfiffen und Buh-Rufen be-dachten die Delegierten denGrünen-Abgeordneten Mech-tersheimer, der das FrankfurterUrteil verteidigte. Einige derDelegierten verließen aus Pro-test den Saal.

Im Bundestag fand gesterneine emotionsgeladene Debatteüber das umstrittene Frankfur-ter Urteil statt. Verteidigungs-minister Stoltenberg kündigtean, sein Ministerium werden

Revision eingelegt. „Wir wollenalle rechtlichen Mittel nutzen",Freisprüche wie den des Arzteszu verhindern, erklärte Stolten-berg. 88 Prozent der Bevölke-rung lehnten die Behauptung ab,die Bundeswehrsoldaten seienpotentielle Mörder.

Justizminister . Engelhard(FDP) sagte, die Justiz sitzenicht im Elfenbeinturm. Bei allerZurückhaltung „wird man hierein Wort sagen dürfen".

Das Gericht hat nach denWorten des SPD-AbgeordnetenDuve die Soldaten nicht be-schimpft, sondern es habe fest-gestellt, daß es einen Bürger füreine bestimmte Meinung nichtstrafrechtlich verfolgen könne,und es habe sich ausdrücklichvon dessen Meinung distan-ziert. Auch sein Fraktionskolle-ge Erwin Hörn betonte, der Ur-teilsspruch habe keine Billigungder „verleumderischen Aussa-ge" des Arztes enthalten. DieSPD weise die „unanständigeBeleidigung der Soldaten" zu-rück." Herta Däubler-Gmelin(SPD) sagte, es müsse wieder zu-rechtgerückt werden, wasdurch die Entgleisungen desArztes und was durch die Hetz-kampagne gegen die Richterdurcheinander geraten sei.Siehe „Themen des Tages"

Zum Tage

PreiskarussellDie Zeiten, als die WiesbadenerStatistiker Preissteigerungsratenmit einer Null vor dem Komma odergar rückläufige Tendenzen gemel-det hatten, sind erst einmal vorbei.Der Gedanke, von der Preisstabili-tät Abschied nehmen zu müssen,fiel schon den fünf Weisen in ihrerPrognose für 1989 schwer, als sieeinen Preisanstieg von zwei Pro-zent weissagten. Doch das Preis-karussell dreht sich, und zwar im-mer flotter.

Ein Teil der Inflation ist impor-tiert. Die Rohstoffpreise steigenbeträchtlich, und ein Teil des Auf-triebs ist auf Preisexplosionenbeim Heizöl und beim Benzin zu-rückzuführen. Ohne Heiz- undKraftstoff stünde unter dem Stricheine Inflationsrate von zwei Pro-zent - eine mit Blick auf die zumJahresanfang in Kraft getretenenVerbrauchssteuererhöhung, dieden direkten Vergleich der Le-benshaltungskosten mit Vorjahres-monaten erschweren, sicher er-trägliche Rate.

Manches am aktuellen Preisan-stieg ist aber auch hausgemacht.Der Konsumdrang der Bundesbür-ger ist kaum zu bremsen. Die Bun-desbank geht den richtigen Weg,wenn sie jetzt das Geld verknappt.Einschneidende Änderungen kannsie allein aber nicht bewirken. Viel-leicht aber entpuppt sich ja derneue Warenkorb als Wundertütemit inflationsdämpfender Wirkung.

Horst Seidenfaden

Großbritannien

Schatzkanzlerzurückgetreten

London (dpa/vwd). Der briti-sche Schatzkanzler Lawson istgestern nach einem Streit mitdem Wirtschaftsberater vonPremierministerin Thatcher,Walters, zurückgetreten. Nach-folger ist Außenminister Major,dessen Amt Innenminister Hurderhält. Wer Innenminister wird,ist noch offen. Der Streit zwi-schen Lawson und Walters wardurch einen Artikel des (inzwi-schen ebenfalls zurücktretenen)Wirtschaftsberaters für eineUS-Zeitschrift entstanden, indem sich Walters - wie auchFrau Thatcher - gegen einenBeitritt Großbritanniens zumWechselkursmechanismus desEuropäischen Währungssy-stems aussprach. Lawson giltdagegen seit langem als Befür-worter eines solchen Schritts.

1996 statt 1994

Rentenbeiträgesteigen später

Bonn (dpa). Die Beitragssätzezur Rentenversicherung werdennach der Rentenreform erstmals1996 und damit zwei Jahre spä-ter steigen als ursprünglich an-genommen. Prozentual niedri-ger bleibt auch der Bundeszu-schuß zu, den Ausgaben derRentenversicherung. Das ergibtsich aus den Modellrechnun-gen, die dem Bundestagsaus-schuß für Arbeit und Sozialord-nung am Donnerstag bei der ab-schließenden Beratung der Ren-tenreform 1992 vorlagen.

Quoten vom MittwochslottoZiehung A: Gewinnklasse I947 378,20 DM; II 78 948,10 DM; III5382,80 DM; IV 82,30 DM; V 5,70DM.Ziehung B: Gewinnklasse I unbe-setzt, Jackpot 947 378,20 DM; II29 605,50 DM; III 5486,70 DM; IV80,90 DM; V 5,50 DM.

(Ohne Gewähr)

Page 45: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 251 Themen des Tages Freitag, 27. Oktober 1989

Kalter Drahtnach BonnIn Stil und Auftreten gibt sich EgonKrenz lockerer als sein Vorgänger;in der Sache ist er ebenso hart wieHonecker. Der erste telefonischeKontakt mit Bundeskanzler Kohl si-gnalisiert seine Bereitschaft; auchmit dem „Klassenfeind" zu spre-chen; vom Willen zu politischenVeränderungen war wenig zu hö-ren. Der Draht nach Bonn bliebkalt. Dem neuen Staatsratsvorsit-zenden geht es darum, die Mas-sendemonstrationen einzudäm-men, die Fluchtwelle zu stoppenund die Stimmung der Bevölkerungzu heben. Den Protesten gegendie Partei will er durch eine Verjün-gungskur der SED-Führung, der all-gemeinen Unzufriedenheit durchöffentliche Diskussionen den Bo-den entziehen. Reiseerleichterun-gen dienen dem erklärten Ziel, dieMenschen bei Laune zu halten.Dann wird Ruhe wohl wieder dieerste Bürgerpflicht sein.

An der sozialistischen Verfas-sung der DDR und dem Machtmo-nopol der SED läßt Krenz nicht rüt-teln. Von Opposition will er nichtswissen. Der Dialog mit neuen Grup-pierungen zielt darauf ab, sie vonder Straße wegzubringen .und indas System einzubinden. Über al-les soll gesprochen werden; nurnatürlich nicht über das, was dieBürger wirklich wollen. Demokrati-sche Bestrebungen bleiben staats-feindlich, Republikflucht ist immernoch strafbar, dem Reisepaß folgtnicht automatisch das Reisevisum,von Reisedevisen ganz zu schwei-gen. Die angekündigte Wende er-schöpft sich vorerst nur in takti-schen Zugeständnissen, die denDruck im brodelnden Kessel verrin-gern sollen.

Der Bundeskanzler will dabeiweder die Rolle des Heizers nochdie des Löschers spielen. SeineKontakte mit Ostberlin haben dieMenschen, nicht das Regime imAuge. Egon Krenz muß erst nochbeweisen, ob er zu Reformen be-reit und fähig ist. Ein Telefonge-spräch macht noch keinen Dialog.

Achim v. Roos

Einer fürden anderenBeJeim Wort „Schlüsselgewalt"sieht man vor seinem geistigenAuge Mrs. Danvers aus „Rebecca"mit dem großen klirrenden Schlüs-selbund am Gürtel durch schloß-ähnliche Räume schreiten. DieRealität ist weniger malerisch undweniger bedrohlich als im Film undim Roman. Da heißt es schlicht,daß ein Ehepartner für den ande-ren einsteht, wenn der Verträgeabgeschlossen oder Geschäftegetätigt hat.

Das hat positive und negativeSeiten. Positiv ist, daß der einePartner (häufig die Frau) nicht beijeder Kleinigkeit auf die Zustim-mung des anderen angewiesen ist.Wäre die „Schlüsselgewalt" außerKraft gesetzt, müßte sie bei jedemneuen Kochtopf und jedem Klei-dungsstück für die Kinder um Er-laubnis für den Einkauf bitten.Selbst in früheren Zeiten, in denenEmanzipation noch ein Fremdwortwar, schien dies unmöglich. DasBürgerliche Gesetzbuch räumteder Frau daher die Schlüsselge-walt ein, die gleichzeitig eine be-grenzte Verfügungsgewalt überdas Einkommen ist.

Diese Regelung kann sich in ihrGegenteil verkehren, wenn sich ei-ner der beiden durch die Geschäf-te des anderen finanziell unbillig inAnspruch genommen sieht. Dochgilt hier, was immer gilt: Daß manmit einer Bestimmung Mißbrauchtreiben kann, ist kein Grund, sieinsgesamt aufzuheben. Eine Ehegibt nun mal beiden Partnern mehrRechte und Pflichten als eine lok-kere, nichteheliche Lebensge-meinschaft.

Wem das zu weit geht, derbraucht rechtlichen Rat in andererHinsicht: Wenn einvernehmlicheEntscheidungen nicht mehr mög-lich sind, wenn einer den vertragli-chen Abmachungen des anderenund deren finanziellen Folgen miß-traut, dann stimmt etwas nichtmehr in der Beziehung. Dann istder Eheberater gefragt - oder derScheidungsrichter.

Sylvia Griffin

Das Zitat„In Osteuropa ist das Eis jetzt ge-brochen. Aber wenn das Eis bricht,wird die Lage gefährlich - mankann leicht ins Wasser fallen."

Richard Nixon

Streit um „potentielle Mörder" im Bundestag

Ein Urteil schlägt WellenVon Hans-Ludwig Laucht, Bonner Redaktion

Der Bundeskanzler zeigte sich„entsetzt", und Oppositionsfüh-rer Hans Jochen Vogel beriefsich auf eine Erklärung desSPD-Präsidiums, wonach dasFrankfurter Soldaten-Urteil als„falsch und für die Betroffenenherabsetzend und kränkend"zurückgewiesen wurde. DieWogen über die Behauptung,bei allen Soldaten handele essich um „potentielle Mörder",gingen auch gestern hoch. DerGrünen-Abgeordnete AlfredMechtersheimer, der den Rich-terspruch verteidigte, wurdevon der Hauptversammlung desBundeswehr-Verbandes aus-gepfiffen. Mehrere Delegierteverließen den Saal.

Aktuelle Stunde

Für zusätzliche Verwirrungsorgte die von der Union bean-tragte Aktuelle Stunde im Parla-ment, die von zahlreichen Sol-daten auf der Besuchertribüneverfolgt wurde. Verteidigungs-minister Gerhard Stoltenberg,der mehrfach in die Debatte ein-griff, stellte sich schützend vorden Generalinspekteur, derebenfalls anwesend war. Typi-sche Reaktion eines Uniformträ-gers: „Am liebsten würde ichmorgen mein Bündel packenund wieder nach Hause gehen.Ich fühle mich in den Dreck ge-zogen."

Die SPD hatte noch am Vortagim Verteidigungsausschuß desBundestages zusammen mit denKoalitionsparteien einer Ent-

schließung zugestimmt, in derUnverständnis und Empörungüber das Urteil zum Ausdruckkam. Der Schutz des Rechtes auffreie Meinungsäußerung sei mitsolcher Rechtssprechung zur„unerträglichen Beleidigung de-rer pervertiert, die den Schutzunserer freiheitlichen Gesell-schaft nach außen garantieren",heißt es darin.

Rückzug der SPD?

Im Bundestag dagegen ergabsich der Anschein, als ob dieRedner der stärksten Opposi-tionsfraktion den geordnetenRückzug antreten wollten. DerParteilinke Freimut Duve unter-stellte Generalinspekteur DieterWellershoff, „bewußt mit einerUnwahrheit" auf das Urteil rea-giert zu haben. Nicht das Ge-richt habe die Soldaten be-schimpft, sondern festgestellt,daß es einen Bürger für eine be-stimmte Meinung nicht straf-rechtlich verfolgen könne.„Man muß sich fragen, wie Rich-ter geschützt werden können,die unglaublich beschimpft wur-den."

Da hielt es den Verteidigungs-minister nicht mehr auf seinemPlatz in der Regierungsbank.Wellershoff habe lediglich ver-langt, daß der Staat, der den Sol-daten einen Auftrag erteile,auch die Pflicht habe, diese Sol-daten vor unqualifizierten An-griffen zu schützen. Zwischen-rufe aus der Unionsfraktion:„Dazu ist er schließlich auch

verpflichtet."FDP-Chef Graf Lambsdorff

bekannte, daß Kritik an der Ju-stiz im Hohen Haus ungewöhn-lich sei. „Der Anlaß gebietet es."Und bewußt provozierend fragteer: „Was würden die Richter amLandgericht Frankfurt sagen,wenn sie mit den Urteilssprü-chen der Richter am Volksge-richtshof des Dritten Reiches ineinen Topf geworfen würden?"Er habe, sagte Lambsdorff er-regt, ein solch unerträglichesBeispiel genommen, um die Un-erträglichkeit der Aussage überdie Soldaten der Bundeswehrdeutlich machen.

Viele Protestbriefe

Im Verteidigungsministeriumgehen inzwischen „flutartig"Protestbriefe gegen das Solda-ten-Urteil ein, wie Gerhard Stol-tenberg berichtete. Als Konse-quenz kündigte er notfalls ent-sprechende Gesetzesänderun-gen an, falls die von ihm bean-tragte Revision gegen das Urteilerfolglos bleiben sollte.

Die Grünen hielten an ihrerHaltung fest. „Wer will, daß Sol-daten nie mehr als Mörder be-zeichnet werden, darf nichtbeim Ausweg der Kriegsdienst-verweigerung stehenbleiben. Ermuß militärische Verteidigunginsgesamt in Frage stellen", sag-te der Abgeordnete WilhelmKnabe. Er stand mit seiner Mei-nung nicht allein, wie- der Bei-fall, auch einzelner SPD-Abge-ordneter, bewies.

Der erste Kontakt (Karikatur: Wolf)

UdSSR / Der „neue Rubel" ist für Touristen praktisch nicht nutzbar

Harte Währung höher im KursVon dpa-Korrespondent Wolfgang Koydl

Der von der sowjetischenStaatsbank angekündigte Son-derkurs des Rubel wird prak-tisch keine Auswirkungen aufTouristen haben. „Mit demneuen Kurs sollen nur derSchwarzmarkt ausgetrocknetund die Kaufkraft abgeschöpftwerden", erklärte ein westli-cher Bankfachmann gestern inMoskau. Der Kurs gilt ab 1.November. Beim Umtausch er-halten Ausländer für eine D-Mark dann 3,38 Rubel statt bis-her 34 Kopeken. Daß dieserKurs für Touristen nicht nutz-bar sein wird, bestätigte einSprecher des sowjetischen Rei-sebüros Intourist. Die Organi-sation verkauft Flüge, Hotel-zimmer, Exkursionen undTheaterkarten nur auf Devi-senbasis. Daran werde sichnichts ändern.

Kreditkarten bevorzugt

Souvenirs gibt es in Sowjet-städten ohnehin nur gegen har-te Währung, Mitbringsel aufRubelbasis sind wegen der lee-ren Regale fast ausgeschlossen,

Restaurants sehen lieber Kre-ditkarten als die Banknoten mitdem Lenin-Porträt. „Es wäreunlogisch, den neuen Kurs ein-zuführen", meinte der Banken-yertreter. Um den zehnfachenVerlust an Valuta-Einnahmenauszugleichen, müßte derFremdenstrom um tausendProzent zunehmen, doch dafürfehlt in der UdSSR die Infra-struktur.

Schmerzlich trifft der Son-derkurs Sowjetbürger, die insAusland reisen. Bislang durf-ten sie 200 Rubel eintauschenund erhielten 600 DM. Künftiggilt der.hohe Kurs. Das Regie-rungsblatt „Iswestija" beklagtedie „Absurdität" des amtlichenKurses, regte eine höhere Pau-schale an und sprach gar voneiner neuen Ära der Reisefrei-heit. Westliche Experten indeserwarten lediglich eine Erhö-hung auf 2000 Rubel pro Per-son und Reise. Der Effekt: DerBürger erhält soviel Devisenwie zuvor, der Staat hingegenschöpft zehnmal soviele Rubelab.

„Der gigantische Geldum-lauf, deren Umfang kein

Mensch kennt" ist nach denWorten westlicher Finanzex-perten die Folge des Mangelsan Konsumgütern und heiztden Rubel-Schwarzmarkt an.Für besonders begehrte Man-gelprodukte ergeben sichastronomisch verzerrte Kurs-unterschiede: Kleinere Perso-nal Computer wechseln für biszu 30 000 Rubel den Besitzer,90 000 DM zum amtlichenKurs.

Bedeutung sinkend

Der Sonderkurs wird nachAnsicht von Wirtschaftlernnichts daran ändern, daß derRubel im Geschäftsverkehrzwischen der UdSSR und demAusland eine immer geringereRolle spielt. Ob für Produkte inSonderläden, Andenken,Theater- und Flugkarten, Mie-.ten und Hotels - Ausländer inMoskau werden mehr undmehr in Devisen zur Kasse ge-beten, ab Januar soll es sogarTaxis auf Valutabasis geben.Im Außenhandel wird ohnehinnur in Devisen fakturiert.

DDR / Neue personelle Weichenstellungen

Im Politbüro rollt nochmancher alte KopfVon dpa-Korrespondent Bernd Kubisch

Daas SED-Politbüro, dessen auf18 Köpfe geschrumpfte Mann-schaft im Schnitt etwa 67 Jahrealt ist, soll einer kräftigen Ver-jüngungskur unterzogen wer-den. Bis zum Jahresende sindeine Fülle von personellen Än-derungen geplant, wird aus derPartei berichtet. Das Durch-schnittsalter soll dann unter 60Jahren liegen. „Manche werdendas Politbüro kaum wiederer-kennen", heißt es.

Wichtige ZK-Sitzung

Wichtige personelle Wei-chenstellungen werden von der10. Tagung des Zentralkomiteeserwartet, das vom 8. bis 10. No-vember zusammenkommt. ImARD-Fernsehen angesprochenauf die Nachfolger von GünterMittag und Joachim Herrmannsagte der Ostberliner SED-Be-zirkschef Günter Schabowski:„Ich bin sicher, daß das Zentral-komitee die Entscheidungentreffen wird, .die für die Beset-zung dieser Ämter erforderlichsind." Einzelheiten nannteSchabowksi nicht. Er ist mit 60Jahren nach Staats- und Partei-chef Egon Krenz (52) sowieGünther Kleiber (58) und Sieg-fried Lorenz (59) der viertjüng-ste im Führungszirkel.

Mielke der Älteste

Abgelöst würden bis zum Jah-resende, so heißt es bei Diplo-maten und Parteimitgliedern,fast alle der Ältesten. Die Alter-spyramide wird angeführt vonStaatssicherheitsminister ErichMielke (81). Dann folgen AlfredNeumann (79), Erich Mücken-berger (79), Kurt Hager (77), Mi-nisterpräsident Willi Stoph (75)und VolkskammerpräsidentHorst Sindermann (74).

Stophs Amt als Regierungs-

Arbeitsfelder verteilt

Neue Aufgabenfür KohlsStellvertreterjLJie einzelnen Mitglieder deszwölfköpfigen CDU-Präsidiumssollen sich künftig besondersum bestimmte gesellschaftlicheGruppen und Bereiche küm-mern. Mit der Aufteilung derArbeit in der engen CDU-Füh-rungsspitze befaßte sich dasPräsidium der Partei bei einervierstündigen Sitzung in Bonn.

Nach Auskunft von CDU-Ge-neralsekretär Rühe handelt essich dabei nicht um eine Ände-rung der Führungsstruktur derPartei, da der Vorsitzende undder Generalsekretär weiterhindie Gesamtverantwortung fürdie Parteiarbeit trügen. Viel-mehr solle der Parteichef durchseine Stellvertreter entlastetund der CDU insgesamt „mehrWucht" gegeben werden.

Im einzelnen wurde verein-bart, daß Heiner Geißler die in-ternationalen Parteibeziehun-gen sowie die Kontakte zur ka-tholischen Kirche und zumSport pflegen soll. WährendGerhard Stoltenberg Ansprech-partner für die evangelischeKirche ist, wird sich Bundes-tagspräsidentin Rita Süssmuthneben den Frauen und dem Kul-turbereich besonders um dieBundeswehr kümmern. Dieswertete Rühe als „Signal" an dieAdresse der Soldaten, die vonder CDU als besonders wichtigbetrachtet würden.

Norbert Blüm wird für dieCDU die Kontakte zu den Ge-werkschaften pflegen, währendder rheinland-pfälzische Mini-sterpräsident Wagner für dieFamilienpolitik zuständig seinwird. Um die junge Generationwerden sich besonders Partei-chef Helmut Kohl und sein Ge-neralsekretär kümmern. DieAufgabenverteilung im Präsidi-um ist noch nicht abgeschlos-sen. Auch Lothar Späth, dernicht mehr zu Kohls Stellvertre-tern gehört, soll ein noch nichtdefiniertes Arbeitsfeld erhalten.

(dpa)

Chef soll Günther Kleiber über-nehmen. Auch Politbüromit-glied und VerteidigungsministerHeinz Keßler (69) könnte abge-löst werden. Als sein Nachfol-ger wird in Ostberlin General-oberst Horst Stechbarth ge-nannt.

Demonstranten auf der Straßezeigten bisher lautstark oder aufTranparenten meist nur, wen sienicht mögen: Die Liste reichtvon Egon Krenz über die Senio-ren im Politbüro bis zu Volksbil-dungsministerin Margot Ho-necker und ChefkommentatorKarl-Eduard von Schnitzler, derden Protestlern zufolge gar indie „Muppet-Show" soll. Als ge-wünschter „Aufsteiger" wird imVolk meist nur ein Name ge-nannt: Der Dresdner SED-Be-zirkschef Hans Modrow, bisherZK-Mitglied. Er ist aus Sichtvieler DDR-Bürger ein Hoff-nungsträger für Reformen. Esgilt als ziemlich sicher, daß Mo-drow sehr bald ins Politbürokommt.

Wolf im Gespräch

Als Wirtschaftsfachleute, dieauch für das vakante Ressortvon Günter Mittag zur Verfü-gung stehen, werden der Chefdes Kombinats Carl Zeiss Jena,Wolfgang Biermann, sowieAlexander Schalck-Golod-kowski, Staatssekretär im Au-ßenhandelsministerium undwichtiger Devisenbeschaffer,genannt. Auch der ehemaligeDDR-Spionagechef und AutorMarkus Wolf wird immer wie-der als künftiger Aufsteiger ge-handelt. Wolf trat 1987 auf eige-nen Wunsch in den Ruhestand.Angesprochen auf Ambitionenfür einen Ministerposten oderfürs Politbüro äußerte sich Wolfvor einiger Zeit eher zurückhal-tend.

Presse-EchoMit der Entwicklung in der DDR befaßtsich die

fjannoöcrfitic flMgcmtinrKrenz... ist ein Getriebener

und ein Nachzügler. Bedrängtwird er von Demonstranten,Aufsässigen und Unzufriede-nen, die sich ihrer Macht be-wußt geworden sind. Und alsVerspäteter rennt er einem Zughinterher, aus dem ihm Russen,Ungarn und Polen winken. Die-se Rolle läßt es nicht zu, schonalle Skepsis gegenüber Krenzund seinen Motiven aufzuge-ben.

Zum Kurdenprozeß heißt es in den

NÜRNBERGERHacftrittiten

Genügt es denn nicht, einen„bombensicheren" neuen Ge-richtssaal hinzustellen, fenster-los und für acht Millionen?Müssen die Kurden auch nochin einen Plexiglaskäfig, mit nurdrei Sprechluken, weitab vonden Verteidigern ihrer Wahl?Die Bundesanwaltschaft mag,aus einer Bunkermentalität in-res Chefs Kurt Rebmann heraus,solche Schikanen für notwendighalten. Aber warum billigt dasGericht diesen Sicherheitsper-fektionismus, der für Angeklag-te und Verteidiger zumindestbeschwerlich, wenn nicht unzu-mutbar ist? So provoziert manRevisionsgründe.

Den Kongreß der IG Metall kommentiertdie

^ölnifctjc PunDfriiauEs riecht nach Streik. Die IG

Metall und ihre Spitzenfunktio-näre haben sich auf dem Ge-werkschaftstag in Berlin erneutund unzweideutig darauf ver-ständigt, klassenkämpferischeIdeen bei den Tarif Verhandlun-gen durchzusetzen. Deutlichmehr Lohn und gleichzeitig eineweitere Arbeitszeitverkürzung- mit vollem Lohnausgleich,versteht sich... Aber für denVerzicht auf Arbeitszeit wird imArbeitnehmerlager keine Mehr-heit zu bekommen sein.

Page 46: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMEINEUNABHÄNGIG

Preis 1,40 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 252 • Samstag, 28.10.1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Bremen obenauf

Bayern siegtbei St. Pauli1. Bundesliga

St. PauliBayern München 0:2Werder Bremen1. FC Kaiserslautern 4:02. Bundesliga

MSV DuisburgBW 90 Berlin 2:2Darmstadt 98RW Essen 2:1

Film-Altmeister

BernhardWicki 70

Der Schauspielerund Regisseur Bern-hard Wicki (Foto)wird heute 70 Jahrealt. Nach hochkarä-tigen Arbeiten fürKino und Fernsehen(„Die Brücke", „Dasfalsche Gewicht",„Das Spinnennetz")wird er nun in der„Guldenburg"-Serieaktiv. Kulturseite.

AutosWie die Städte

Basel, Freiburg undKarlsruhe ihre In-nenstädte von derBlechlawine befrei-en und dem öffentli-chen Nahverkehr,Radlern und Fuß-gängern Vorrangeinräumen, erkun-dete eine KasselerStudiengruppe. Sie-he Stadt Kassel.-

Fuerteventura

Tochterauch tot

Die Urlaubertra-gödie auf Fuerte-ventura hat eineganze Familie aus-gelöscht: Nebendem Ehepaar Leh-mann aus Schauen-burg-Elgershausenbefindet sich auchdessen vierjährigeTochter unter densieben Toten. Siehe„Blick in die Zeit".

Ulrike Folkerts

Start im„Tatort"

Ulrike Folkertslöst morgen ihrenersten „Tatort"-Fall.Wie die aus Kasselstammende Schau-spielerin „ihre"Kommissarin siehtund was sie von ih-ren Vorgängerinnenunterscheidet, lesenSie in der

Sonntagszeit

Ankündigung / Ebenso Demonstranten

Straffreiheit fürDDR-Flüchtlinge

Berlin (AP/dpa). Mit einer umfassenden Amnestie für alleDDR-Flüchtlinge und Demonstranten hat die neue Ostberli-ner Führung unter Staats- und Parteichef Krenz am Freitagerstmals eine der wesentlichen Forderungen aus der wo-chenlangen Reformdiskussion in die Tat umgesetzt.

Nach Angaben der amtlichenNachrichtenagentur ADN sol-len bis zum 30. November allewegen „Republikflucht" Verur-teilten aus der Haft entlassenund laufende Strafverfahrenausgesetzt werden. Dies würdeauch bedeuten, daß sämtlicheFlüchtlinge, gleich auf welchemWege sie ihre Heimat vor dem

Auf „ Themen des Tages" steht einHintergrundbericht zur Amnestie-Ankündigung. Was sich in derDDR sonst noch tat, lesen Sie aufder folgenden Seite.

27. Oktober verließen, beiRückkehr oder Besuch nichtmehr verfolgt und bestraft wür-den. Das Innerdeutsche Mini-sterium in Bonn hat gestern al-lerdings allen Flüchtlingen ge-raten, vor einer Reise in dieDDR eine Klärung der neuen Be-stimmungen abzuwarten.

Ausgenommen von der Am-nestie sind ADN zufolge nurDDR-Bürger, die ihre Flucht mitGewalt erzwungen oder dabeiLeben und Gesundheit vonMenschen gefährdet, Waffenmitgeführt oder „gefährlicheMittel und Methoden ange-wandt" haben.

Ferner sollen auch Demon-stranten straffrei ausgehen, die

vor dem 27. Oktober 1989„Straftaten gegen die staatlicheund öffentliche Ordnung im Zu-sammenhang mit demonstrati-ven Ansammlungen begangenhaben". Die Mitbegründerin des„Neuen Forums", Bärbel Boh-ley, sagte: „Das ist das erste Si-gnal, auf das wir so lange gewar-tet haben." Bundesregierungund Opposition in Bonn seheneinen ersten Schritt zur Libera-lisierung in der DDR. Einig wa-ren sich die Parteien, daß nundas politische Strafrecht abge-schafft und weitere Reformeneingeleitet werden müßten.

Nach westlichen Schätzungensind in den DDR-Gefängnissenmehrere tausend Menschen in-haftiert, die bei Fluchtversu-chen gefaßt worden sind.

Außerdem will Ostberlin nachAngaben hochrangiger SED-Kreise jedem DDR-Bürger künf-tig gestatten, pro Jahr für 30Tage in den Westen zu reisen.Nach Einschätzung des FDP-Fraktionsvorsitzenden im Bun-destag, Mischnick, wird dieDDR-Bevölkerung noch vorWeihnachten volle Reisemög-lichkeiten auch in den Westenerhalten. In seinem Gesprächmit Krenz habe dieser daraufhingewiesen: „Weihnachten istauch schon eine Reisezeit.Siehe auch „Zum Tage"

DDR-Ausreisen / SDP: DDR-Bürger / Ab 1.11.

„Bleibt da, es Wieder ohnelohnt sich doch" Visum in CSSR

Bonn (dpa). Die neugegründe-te Sozialdemokratische Parteider DDR (SDP) hat die ausreise-willigen Bürger aufgefordert, inihrer Heimat zu bleiben. „Wirsagen ihnen: Bleibt da, es lohntsich doch", sagte das SDP-Vor-standsmitglied Steffen Reichegestern zum Abschluß seinesBesuchs in der Bundesrepublikin Bonn. Bereits in den Westengegangene ehemalige DDR-Bür-ger sollten zurückkommen. IhreErfahrungen würden bei der Re-form der DDR gebraucht. „Esmangelt bei uns an guten Leu-ten", sagte Reiche. Etwa 740 000Bürger hätten einen Ausreise-antrag gestellt. Mit Angehöri-gen komme über eine MillionMenschen zusammen, die derDDR verloren gehen könnten.Siehe „Themen des Tages".

Ostberlin (dpa). DDR-Bürgerkönnen vom 1. November anwieder ohne Paß und Visum indie benachbarte CSSR reisen.

Wie die DDR-Nachrichen-agentur ADN am Freitag abendmeldete, faßte der DDR-Mini-sterrat einen entsprechendenBeschluß. Künftig könne derGrenzübertritt in die CSSR „wievor dem 3. Oktober 1989" miteinem gültigen Personalausweisfür Bürger der DDR erfolgen,heißt es weiter bei ADN.

Ostberlin hatte Anfang Okto-ber den visafreien Reiseverkehrin die CSSR aufgehoben, nach-dem Tausende von DDR-Bür-gern in die Bonner Botschaft inPrag geflüchtet waren und soihre Ausreise in die Bundesre-publik durchgesetzt hatten.

« IDDR-Flüchtlinge aus Prag in Bayern eingetroffenNach zum Teil wochenlangemWarten in der Bonner Botschaftin Prag sind gestern 141 DDR-Bürger in Bayern eingetroffen.Mit zwei Doppeldeckerbussenund einigen Pkw (unser Bild)waren die Übersiedler am Mor-gen von Prag losgefahren, gegenMittag passierten sie denGrenzübergang Waidhaus. Dierestlichen 38 Zufluchtsuchen-

den folgten später, mit einemdritten Bus. Den Übersiedlernwaren am Vortag in der DDR-Mission die Ausreisepapiereübergeben worden. Damit sindüber Prag in den vergangenenWochen insgesamt etwa 14 000DDR-Bürger in den Westen ge-langt.

Von den noch etwa 1900 Aus-reisewilligen, die in der Obhut

der Bonner Mission in War-schau auf ihre Übersiedlungwarten, sollten an diesem Wo-chenende 700 nach Düsseldorfgeflogen werden.

Der immmer noch anhaltendeZustrom von DDR-Flüchtlingenüber Ungarn nach Bayern hatsich auf durchschnittlich etwa550 Personen pro Tag „einge-pendelt." (dpa-Funkbild)

Nach Rücktritt des Finanzministers

Regierung Thatcher in der KriseLondon (dpa/AP). Die briti-

sche Premierministerin Marga-ret Thatcher stand am Freitagnach dem überraschendenRücktritt von Schatzkanzler (Fi-nanzminister) Lawson vor derwohl größten Regierungskrise inihrer zehnjährigen Amtszeit.Der Verzicht Lawsons hatte amVortag eine Regierungsumbil-dung in den SchlüsselpositionenFinanzministerium, Innen- undAußenministerium ausgelöst.

Wirtschaft, Opposition undMedien ließen sich von der Er-klärung Frau Thatchers, daß dieRegierungspolitik sich in keinerWeise ändern werde, nicht be-eindrucken. Die Kurse an derLondoner Aktienbörse stürztenbei Geschäftsbeginn um fast 40Punkte; das Pfund begann mit2,90 DM fast sieben Pfennigschwächer. Die Londoner Zei-tung „The Independent" berich-

tete von Geheimtreffen konser-vativer Abgeordneter, bei de-nen auch ein Sturz der Premier-ministerin erörtert worden sei.

Lawson war nach einem Streitmit dem Wirtschaftsberater derPremierministerin, Sir AlanWalters, zurückgetreten. Kritikan Frau Thatcher entzündet sichvor allem an der Tatsache, daßsie bereit war, Lawson zu op-fern, nur um dessen Forderungnach Entlassung von Sir Alannicht entsprechen zu müssen.Sir Alan trat, als er die Nach-richt vom Lawson-Abgang hör-te, ebenfalls zurück. Er hattesich öffentlich - wie auch stetsFrau Thatcher - gegen einenBeitritt Großbritanniens zumWechselkursmechanismus deseuropäischen Währungssy-gtems ausgesprochen. Lawsongalt dagegen immer als ein Be-fürworter des Beitritts.

Neuer Schatzkanzler ist derbisherige Außenminister JohnMajor. Er gilt als unerfahren an-gesichts der schwierigen finan-ziellen Lage Großbritanniens -großes Leistungsbilanzdefizitund steigende Inflation. Der46jährige wird als „Kronprinz"von Frau Thatcher gehandelt.Neuer Außenminister wurdeDouglas Hurd, bisher für das In-nenressort zuständig. SeinNachfolger David Waddingtonist nahezu unbekannt.

Die regierungsfreundliche „Ti-mes" sprach von der schwerstenKrise für Frau Thatcher seit ih-rem Amtsantritt, der konservati-ve „Daily Telegraph" machte mitder Schlagzeile „Krise für That-cher" auf. OppositionsführerKinnock von der Labour Parteilastete der Premierministerin„völlige Inkompetenz" an.Siehe auch Kommentar

Justizminister aus fünf Ländern einigen sich

Polizei darf Verbrecher über die Grenzen verfolgenBonn (dpa). Polizisten aus der

Bundesrepublik, Belgien,Frankreich, Luxemburg und derNiederlande sollen künftig Ge-setzesbrecher ins Nachbarlandverfolgen dürfen. Dies wurde am

Freitag in Bonn bei einem Justiz-ministertreffen vereinbart. Mi-nister Engelhard unterstrich,die geplante Öffnung der ge-meinsamen Grenzen dürfe nichtzu einer Begünstigung der Straf-

täter führen. 1993 sollen dannalle EG-Binnengrenzen abge-baut werden. Auch über die Be-schleunigung der Ausliefe-rungsverfahren habe man sichverständigt, hieß es in Bonn.

Zum Tage

AmnestieV,on Worten haben die Bürger derDDR genug. Sie wollen Taten se-hen zum Beweis, daß sich vielesändern soll. Die erste kommt über-raschend schnell. Eine Amnestiefür Flüchtlinge und Demonstrantensoll die Versöhnung zwischen Volkund Staatsführung einleiten. Sie istmehr und anders als der üblicheGnadenerweis, der einen Strichunter die Vergangenheit zieht. Un-recht wird erkannt und als solchesanerkannt.

Das bleibt zu würdigen, auchwenn Ostberlin damit nicht nurdem Rechtsempfinden, sonderndem Gesetz der Logik folgt. Daßder Staat die auf der Flucht gestell-ten Bürger einsperrt und zugleichselbst die „illegale" Ausreise orga-nisiert, hat seinen Anspruch voll-ends ruiniert. Doch ist die Wieder-gutmachung erst der halbe des er-sten Schrittes. „Republikflucht"muß aus dem Strafgesetzbuch ver-schwinden, wenn endlich jene Frei-zügigkeit gewährt wird, die bishernur auf dem Papier steht.

Das Reisegesetz soll sie brin-gen. Es wäre der zweite Schritt aufeinem langen Weg mit noch Unge-wissem Ziel. Egon Krenz und, mitihm darin einig auch Oppositionel-le, hoffen, daß die Menschen imLande bleiben, wenn der Druckvon ihnen weicht. Das ist eineRechnung mit vielen Unbekannten.Aber anders geht es nicht mehr.Der Drang ist zu einem Sturm ge-worden. Undenkbares wird denk-bar, selbst daß die Mauer fällt. Die-se prominente Stimme der Vorher-sage kommt aus der DDR.

Alfred Brugger

Neues Jugendhilferecht

Länderminister:Zu teuer

Bonn (dpa). Der Finanzaus-schuß des Bundesrates hat dasvon der Bundesregierung vorge-legte neue Jugendhilferecht ausKostengründen abgelehnt. DieLänderfinanzminister errechne-ten Mehrkosten in Höhe von 3,9bis 4,8 Milliarden DM jahrlich,gegenüber 420 Millionen DM,die von der Bundesregierung -allerdings ohne die Kosten fürneue Kindergärten- angegebenworden waren.

Die Vertreter der Finanzmini-ster wandten sich nach Anga-ben des Ausschusses vpm Frei-tag vor allem gegen den Para-graphen 23 des Gesetzentwur-fes, der allen Kindern, für derenWohl dies erforderlich ist, einenKindergartenplatz sichern soll.Die Finanzminster forderten, dieFörderung der Tageseinrichtun-gen den Ländern nach deren fi-nanziellen Möglichkeiten ohneAuflagen zu überlassen. Im Fi-nanzausschuß haben die SPD-regierten Länder die Mehrheit.

Attentat/Rheinarmee

IRA bedauertTod des Babys

Dublin/Wildenrath (AP). DieIrisch-Republikanische Armee(IRA) hat sich gestern zu demAnschlag auf das Privatauto ei-nes britischen Soldaten in Wil-denrath bei - Mönchengladbachbekannt. Dabei waren am Don-nerstag abend ein 34jährigerUnteroffizier und seine sechsMonate alte Tochter getötetworden. Die IRA äußerte in einem Schreiben „tiefes Bedau-ern" über den Tod des Babys.Die Attentäter hätten von demKind nichts gewußt, als sie dasFeuer eröffneten. Die britischeRheinarmee verstärkte ihre Si-cherheitsvorkehrungen.

Page 47: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 252 Politik Samstag, 28. Oktober 1989

Namen undNachrichten

Havel verschwundenDer Dramatiker und Bürgerrechüer VaclavHavel ist weni-ge Stundennach seinerEinlieferung inein PragerKrankenhausaus dem Spitalwieder ver-schwunden undhält sich derzeit fan einem unbe- •kannten Ortauf. Das teilte ... .die Familie am Freitagabend mitHavels Frau Olga versucht miFreunden, das mysteriöse Ver-schwinden zu erklären. Der pro-minente CSSR-Dissident waram Donnerstag trotz hohen Fie-bers einem Verhör unterzogenworden. Anschließend kam er inein Krankenhaus. Ob ein Zu-sammenhang mit Demonstratio-nen am heutigen Gründungstagder Republik besteht, ist nichbekannt.

Test für Lenin-LeichnamSowjetische Experten wollen inden nächsten Monaten den Zu-stand des einbalsamiertenLeichnams des sowjetischenStaatsgründers Lenin überprü-fen. Ein Apparat, der Tempera-tur und Klima im Mausoleumregelt, so erklärte der Arzt Ser-gej Debow, der seit 1950 für dasLenin-Mausoleum zuständig ist,muß alle 18 Monate gewartetwerden. Zu dieser Zeit werdeauch „mit speziellen, ausge-suchten Methoden" der Leich-nam geprüft.

Bangemann in die DDRDer frühere Wirtschaftsminister

Martin Bange-mann reist inder kommen-den Woche alserster EG-Kommissar zu

1 einem offiziel-len Besuch indie DDR, wo erauch mit demneuen Staats-und Parteichef

' Egon Krenz! und Minister-

präsident Willi Stoph zusam-mentreffen wird.

Beobachter nach NamibiaNach, dem UNO-Überwa-chungskontingent von 50 Bun-desgrenzschutzbeamten hat dieBundesregierung gestern auchnoch 30 zivile Wahlbeobachterfür die Wahlen vom 7. bis11. November nach Namibiaentsandt. Es handelt sich umFreiwillige aus mehreren Bun-desministerien, die besondersauf ihre Aufgabe geschult wor-den sind.

Letzte SS-23 zerstörtPünktlich um 9 Uhr gesternmorgen ist in der Sowjetuniondie letzte von insgesamt 957Mittelstreckenraketen des TypsSS-23 verschrottet worden. InAnwesenheit amerikanischerInspekteure wurde sie in Ka-sachstan zerstört.

Kein SchuldeingeständnisJean-Pierre Hocke, mit Wir-kung vom1. Novembervom Amt desUNO-Hoch-kommissars fürFlüchtlingsfra-gen zurückge-treten, betontegestern, daßdieser Schrittkein Schuldein-geständnis dar-stelle. Ihm warin den Medienund vom dänischen Außenmini-sterium vorgeworfen worden,Gelder aus einem eigentlich fürErziehungsprogramme vorgese-henen bestimmten Fonds zur Fi-nanzierung von Flugreisen er-ster Klasse, zu Repräsentations-zwecken und zur Bezahlung vonBeraterhonoraren benutzt zuhaben. Hocke bestreitet dieVorwürfe.

Noch mehr AnalphabetenRund 900 Millionen Menschenkönnen weltweit weder lesennoch schreiben. Die Zahl derAnalphabeten ist damit in denletzten 30 Jahren um 300 Mil-lionen angestiegen.

DDR-Journalisten, PEN-Schriftsteller sowie Akademie der Künste:

Selbstkritik und neue ForderungenBerlin (AP/dpa). In Erwartung

weiterer Reformen in der DDRhaben sich am Freitag auchJournalisten der staatlichenNachrichtenagentur und promi-nente Schriftsteller sowie dieAkademie der Künste mit weit-reichenden Forderungen zuWort gemeldet.

Für Medienkonferenz

Die Journalisten der bislangeinzigen NachrichtenagenturADN in der DDR verbreitetenüber ihren Dienst eine Erklä-rung, in der sie forderten, daßdie Bevölkerung künftig in denMedien nicht mehr „nicht,schlecht oder gar falsch infor-miert" werden und die „Selbst-herrlichkeit einzelner an dieStelle kollektiver Weisheit" inder Berichterstattung tretendürfe. So schnell wie möglichmüßte eine „Medienkonferenzder DDR" einberufen werden.

Unmut und Kritik besondersam SED-Zentralorgan „NeuesDeutschland" (ND) hat nach denWorten des früheren DDR1

Spionagechefs und jetzigenSchriftstellers Markus Wolf inder SED immer mehr zugenom-

men. Unter Hinweis auf einender ersten Kommentare zurFlüchtlingswelle sagte Wolf imGespräch mit dem ND: „Ichhabe mich in meinem Leben -glaube ich - noch nie so gesch-ämt wie an diesem Tag, an demin den Medien zu lesen war:,Wir sollten den Menschen, dieuns verlassen haben, keine Trä-ne nachweinen.'

Neun Präsidiumsmitgliederdes PEN-Zentrums der DDR,unter ihnen der SchriftstellerHermlin, forderten in einer Er-klärung die Trennung von Ge-setzgebung, Regierung und Ju-stiz und faktisch die Einrichtungeines Verfassungsgerichts imanderen deutschen Staat. Umdie angekündigten Reformendurchsetzen, bedürfe es „neuer,qualitativ erweiterter Struktu-ren, darunter des Prinzips derGewaltenteilung sowie einergrundlegenden, durch Gesetzegarantierten Öffnung", erklär-ten die Schriftsteller. .

Der Präsident des Zentrums,Heinz Kamnitzer, erklärte ausProtest gegen die Äußerungenseiner Kollegen den Rücktritt.Nach seiner Satzung dürfe sichder internationale Schriftsteller-verband „weder für noch gegen

eine Gesellschaftsordnung oderStaatsverfassung aussprechen".

Die Akademie der Künste hatsich auf einer außerordentlichenVollversammlung für „eine Er-neuerung der DDR an Hauptund Gliedern" ausgesprochen.Ferner wurde die Hoffnung ge-äußert, „es möge uns auf deut-schem Boden eine sozialistischeReformation gelingen". In dervon Akademie-Präsident Man-fred Wekwerth, der auch Inten-dant des Berliner Ensembles ist,am Freitag im DDR-Fernsehenverlesenen Erklärung heißt es:„Endlich, um Jahre zu spät, dieErkenntnis, daß wir von der So-wjetunion die Umgestaltung ler-nen werden und müssen."

Berichte über Dresden

Die DDR-Zeitungen berichte-ten gestern auch wieder aus-führlich über die Demonstratio-nen von Donnerstag abend. InDresden hatten Hunderttausen-de auf Plätzen, in Schulen undFilmtheatern diskutiert. In Ro-stock gab es verschiedene Fo-ren. Auch in Erfurt und Frank-furt an der Oder kam es zu De-monstrationen.

ZDF-Informationen / Neues Grundsatzpapier

Wollen Liberale und CDU Nationale Front verlassen?Mainz/Berlin (AP). Bei CDU

und Liberalen in der DDR gibt esnach Informationen des ZDFstarke Kräfte, die ein Ausschei-den dieser Blockparteien ausder Nationalen Front betreiben.

Wie der Sender am Freitag be-richtete, wird in den Parteien er-wogen, sich bei den nächstenWahlen selbständig um Wählerzu bemühen, ohne sich von derSED eine Quote zuteilen zu las-

sen. Die CDU verlangte zugleichin einem Grundsatzpapier „eingrundlegend verändertes öffent-liches Leben". Es wird die „un-bedingte Gleichberechtigung"aller Bürger gefordert.

EINE EINLADUNG ZUM BUNDESPRÄSIDENTENgab es gestern für den Tübinger Politikwissen-schaftler und Staatsrechler Professor TheodorEschenburg (Mitte), der am 24. Oktober seinen85. Geburtstag gefeiert hatte. Richard von Weiz-säcker würdigte bei einem Essen in der VillaHammerschmidt das Wirken des gebürtigen Kie-

lers, der einer breiteren Öffentlichkeit durch sei-ne unkonventionelle, oft beißende Kritik an öf-fentlichen Mißständen bekannt wurde. Das hoheAnsehen Eschenburgs in Baden-Württembergwurde unterstrichen durch die Anwesenheit vonMinisterpräsident Lothar Späth.-

(dpa-Funkbild)

US-Chemiewaffen Gelder für Osten Bund der Steuerzahler

Abzug schon Rühe sieht Anzeige wegen1990 beendet? Nato-Dimension Bundestagsbau

Bonn (dpa). Der Abzug derUS-Chemiewaffen aus der Bun-desrepublik wird nach Angabendes amerikanischen Verteidi-gungsministers Cheney wahr-scheinlich schon im nächstenJahr beendet. Wie Cheney amFreitag nachmittag zum Ab-schluß seines kurzen Besuchesin Bonn vor Journalisten sagte,werde der Abzug spätestens je-doch 1991 komplett abgeschlos-sen sein.

In einer Aktuellen Stunde desBundestages hatte der Staatsse-kretär im Verteidigungsministe-rium, Wimmer (CDU), mitge-eilt, der Abzug werde nach

deutschen Sicherheitsbestim-mungen erfolgen. Die Waffenwürden auf dem Johnston-Atollim Pazifik vernichtet.

Cheney erläuterte vor derresse, die Kurzstreckenrake-

ten - die Nachfolgesysteme fürdie „Lance" - würden „national"in den USA weiterentwickelt.Über eine Stationierung in derBundesrepublik werde 1992entschieden.

Bonn (dpa). Die Wirtschafts-hilfen der Bundesrepublik fürPolen und Ungarn sollten nachAnsicht von CDU-Generalse-kretär Rühe im Rahmen desNato-Bündnisses als Verteid-gungslasten Bonns angerechnetwerden. Die Hilfen für Polenund Ungarn hätten eine „sicher-heitspolitische Dimension", sag-te Rühe. Die Bundesrepublik seider „entscheidende Problemlo-ser für Mitteleuropa", meinte er.„Wenn wir dort die Reformenstützen, tragen wir erheblichzur Sicherheit in Europa bei."

Bonn (dpa). Wegen der ange-kündigten drastischen Kosten-steigerungen beim Neubau desBundestages (von 202 auf 256Millionen DM) hat der Bund derSteuerzahler jetzt Strafanzeigewegen des Verdachts der Un-treue bei der Bonner Staatsan-waltschaft gestellt. Das wurdeam Freitag bekannt. Die Staats-anwaltschaft ermittelt bereitswegen Kostenüberschreitungenbeim Gästehaus des Bundes aufdem Petersberg. Hier hatte derBund der Steuerzahler AnfangAugust Strafanzeige gestellt.

Kolumbien/Attentat von Drogenmafia verübt?

Polizisten bei Anschlag getötetBogota (dpa). Bei einem Bom-

benanschlag auf einen mit 40Polizisten besetzten Omnibus inder kolumbianischen Stadt Me-dellin sind fünf Beamte getötetund 20 weitere zum Teil lebens-

gefährlich verletzt worden. Poli-zeisprecher äußerten gesternden Verdacht, daß der Anschlagam Vorabend von einem Kom-mando der Rauschgift-Mafiaverübt wurde.

Pauschalierung gefordert Kohl / Deutsche in Polen

SPD und Union:Mehr Wohngeld

Bonn (dpa). Nicht nur dieSPD, sondern auch die Unionverlangte gestern im Bundestagfür 1990 eine allgemeine Anpas-sung des Wohngeldes für diejetzt 1,9 Millionen Berechtigten.Beide Fraktionen forderten dieBundesregierung „nachdrück-lich" auf, nach jahrelangen Ver-zögerungen auch eine Pauscha-lierung des Wohngeldes für So-zialhilfeempfänger vorzusehen,um ihnen das aufwendige Anre-chungsverfahren bei der Bemes-sung des Wohngeldes zu erspa-ren.

Der Bundestag beschloß ge-stern die teilweise Wohngelder-höhung für Gebiete mit über-durschnittlich hohen Mietenzum 1. Januar 1990. Betroffensind etwa 90 000 Wohngeld-empfänger, die je nach Haus-haltsgröße ein um zehn bis 20DM erhöhtes Wohngeld proMonat erhalten sollen. Zu denbetroffenen Gebieten gehörendie Städte Frankfurt und Mün-chen. Zudem werden 60 weitereGemeinden und Kreise in siebenLändern mit überdurchschnittli-chem Mietanstieg in eine hö-here Wohngeldstufe eingeglie-dert. .

„Kein Streit umGesprächsort"

Bonn (dpa). Die Bundesregie-rung ist am Freitag dem Ein-druck eines deutsch-polnischenStreits um den Ort eines geplan-ten Gesprächs von Bundeskanz-ler Kohl mit Vertretern derdeutschen Minderheit in Polenentgegengetreten. Ein TreffenKohls mit Vertretern der deut-schen Minderheit in St. Anna-berg in Oberschlesien sei nie ge-plant gewesen, meinten Regie-rungssprecher Klein und Ver-treter des Kanzleramts.

Die Begegnung werde im Rah-men der Kohl-Reise vom 9. bis14. November in Warschaustattfinden. Der Kanzler habefrühzeitig den Wunsch geäu-ßert, das Kloster Annaberg zubesuchen, ohne dies an die Be-dingung eines Treffens mitdeutschstämmigen Polen in An-naberg zu knüpfen, hieß es.

Polens Außenminister Sku-biszewski hatte zuvor die Wahldes Orts Annaberg für eine Be-gegnung als „nicht glücklich"bezeichnet.' Er erinnerte an dieblutigen Auseinandersetzungenzwischen Polen und Deutschenauf dem Annaberg in den 20erJahren, für Polen habe dieserOrt „patriotische Bedeutung".

Warschauer Pakt-Treffen beendet

Osteuropa möchteSpaltung überwinden

Warschau (dpa). Die Außen-minister des Warschauer Paktshaben sich am Freitag zum Ab-schluß einer zweitägigen Konfe-renz in Warschau für dieschrittweise Überwindung derSpaltung Europas und der„Überreste des kalten Krieges"ausgesprochen. Sie betonten beidiesem ersten Treffen eines ho-hen Gremiums des WarschauerPakts seit dem Amtsantritt einesnichtkommunistischen Regie-rungschefs in Polen, daß dieWahrung des Rechts eines je-den Volkes auf „die freie Wahlseines gesellschaftlichen, politi-schen und wirtschaftlichen Ent-wicklungsweges" Vorausset-zung für ein „friedliches und un-teilbares Europa ist".

Das polnische Außenministe-rium versicherte, der Gastgeberund erste polnische Nichtkom-munist in diesem Gremium, Au-ßenminister Skubiszewski, habeseine Gäste „stark beeindruckt".Dies hätten ihm alle Außenmini-ster vor ihrer Abreise versi-chert. Die noch im August vonRumäniens Staatschef Ceauses-cu wegen der Entwicklung inPolen geforderte Interventiondes Warschauer Pakts sei beidem Treffen in Warschau nicht

erörtert worden.Wie von polnischer Seite wei-

ter zu erfahren war, sei währendder Konferenz auf die Notwen-digkeit von Änderungen in derFunktionsweise des Pakts hin-gewiesen worden, wobei dieOrientierung von der militäri-schen auf die politische Ebeneverlegt werden sollte. Polenhabe betont, daß Verträge undVerpflichtungen im Pakt sichnur auf die außenpolitische Si-cherheit beziehen, nicht jedochauf die innenpolitische Entwick-lung in den Mitgliedstaaten.

Im offiziellen Kommuniquewird die Auffassung vertreten,daß „jegliche Versuche, die Lagezu destabilisieren," dem Prozeßder Sicherheit in Europa scha-den. Dazu gehöre, „die nachdem Krieg entstandenen Gren-zen in Frage zu stellen". In Ab-rüstungsfragen wird die Bereit-schaft der Außenminister unter-strichen, sich bei den WienerVerhandlungen dafür einzuset-zen, daß schon im kommendenJahr ein erster Vertrag übereine radikale Reduzierung derStreitkräfte und konventionel-len Rüstung erreicht werdenkann.Siehe auch Kommentar

KKW-Unfall / Spanischer Sicherheitsrat

„Bislang schwerster Störfall"Madrid (dpa). Der für die Si-

cherheit der spanischen Kern-kraftwerke zuständige Nationa-le Atomsicherheitsrat (CSN) hatden Brand in dem Atomkraft-werk Vandellos I bei Tarragonavom 19. Oktober als „bislangschwersten Störfall in einemspanischen Kernkraftwerk" be-zeichnet. In einem Kommunique

heißt es, nach dem Ausfall meh-rerer Sicherheitssysteme sei esjedoch gelungen, „die kritischeSituation zu meistern, die dieschwierige Lage in dem Kern-kraftwerk nach dem Brand undder Überschwemmung (mitLösch- und Kühlwasser) entste-hen ließ". Es sei aber keinerleiRadioaktivität ausgetreten.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureChef vom Dienst. Horst Kröninger. ChefNachrichten: Rainer Merforth. Politik': Jo-chen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden, Kultur: Dirk Schwarze, i. V.Claudia Sandner-v.Dehn, M. A., Frau u.Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wiese-mann, i. V. Ulrich Fuhrmann. Sonntagszeit:Frank Thonicke. Kassel Stadt und Land:Wolfgang Rossbach. Bezirksredaktfonen:Peter M. Zitzmann. Koordination: HelmutLehnart. Hessen/Niedersachsen: EberhardHeinemann. Chefreporter: Karl-HermannHuhn. Sonderthemen: Peter Ochs. .Redaktion Wiesbaden: Rolf Effenberger.Redaktion Hannover: Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter: Horst Prehm.Vertriebsleiter: Gerd Lühring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61/20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61 / 20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer05 61 /20 36. Teletex5 6181.10. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7% MwSt. (Postbezugs-preis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.

Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.

Herstellung Druckhaus Dierichs,Frankfurter Straße 168, 3500 Kassel.

Page 48: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMEINEHESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

A L L G E M E I N E I UNABHÄNGIGPreis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 253 • Montag, 30. 10. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

2. Bundesliga: Hertha stürmt Spitze

Kassels fünfteHeimniederlage - 0:3

In der 2. Fußball-Bundesliga stürmteHertha BSC Berlin amSonntag durch einen3:1-Sieg über Ale-mannia Aachen andie Tabellenspitze.Dagegen kommt Auf-steiger KSV HessenKassel einfach nichtaus dem „Keller" her-aus: Mit dem 0:3 (0:0)gegen Wattenscheid

09 handelten sich dieHessen bereits diefünfte Saison-Heim-niederlage ein, die siemit schon beträchtli-chem Abstand zum„rettenden Ufer" amEnde des 20er-Feldesbeläßt. Auf unseremHaun-Foto erwischtder Kasseler Drube(rechts) das Leder vorWattenscheids Bach.

Eishockey

Torfestivalder DEG

In der Eishockey-Bundesliga bleibt dieDüsseldorfer EG aufeigenem Eis eineMacht. Im Gipfeltref-fen feierte der Spit-zenreiter ein 9:2-Schützenfest gegenSchwenningen. In Ro-senheim entführte derKölner EC mit 4:1 bei-de Punkte vom Mei-ster SB.

Curren gewinnt in Frankfurt

13. Turniersieg 1989für Steffi Graf

Steffi Graf hat ihren13. Turniersieg 1989,.den insgesamt 42. inihrer Karriere, per-fekt gemacht: Zumdrittenmal nach 1986und 1988 gewann dieTennis-Weltrangli-stenerste aus Brühlmit einem 7:5, 6:4nach 1:14 Stundenüber die erst 15jähri-ge Jugoslawin Moni-

cä Seles den mit250 000 Dollar dotier-ten Damen-Grand-Prix von Brighton.

In Frankfurt ent-schied der Amerika-ner Kevin Curren dasFinale des mit237 000 Dolar dotier-ten Herren-Turniersmit 6:2, 7:5 gegenPedr Korda aus derCSSR für sich.

Diskussionen mit SED-Politikern

Schweigeminutein Ostberlin fürdie Mauer-Opfer (^W^WMi^ ^m"ä0

Berlin (AP/dpa). Mehrere zehntausend DDR-Bürger habenam Wochenende in der DDR den Dialog mit den Machtha-bern gesucht und für mehr Freiheiten demonstriert. Allein inOstberlin kamen weit über 20 000 Menschen am Sonntag zueinem „Stadtgespräch". Mit einer Schweigeminute gedachtedie Versammlung der Menschen, die bei Fluchtversuchen ander Mauer ums Leben gekommen waren.

Zu dem sogenannten Stadtge-spräch unter dem Motto „OffeneTüren - Offene Worte" vor demRoten Rathaus und in den - völ-lig überfüllten - Sälen in derKongreßhalle hatte OstberlinsOberbürgermeister Krack ein-geladen. In einer Erklärung fürdie Toten an der Mauer sagteein Redner auf der Versamm-lung, man müsse derer geden-ken, die ihr Leben verloren hät-ten, weil sei einmal in ihrem Le-ben einen anderen Teil der Welt

Mehr über die Versammlung vordem Roten Rathaus aul „Themendes Tages".

sehen wollten. Wenn der Re-formprozeß zu einem besserenSozialismus führe, müsse manwenigstens der Toten gedenken.Sie seien Opfer einer Politik, diemit den Realitäten nicht über-eingestimmt habe. Die Mengenahm die Erklärung mit starkemBeifall auf.

Themen der mehrstündigenVeranstaltung mit Vertretern

Reisefreiheit / Devisen

aus Politik, Wirtschaft, Kultur,Wissenschaft, der Staatsanwalt-schaft und Volkspolizei warenunter anderem die führendeRolle der SED und die Wahlge-setzgebung. Die Diskussionwurde zeitweilig von Buh-Rufenbegleitet.

SED-Politbüromitglied Scha-bowski verwies darauf, die ein-geleiteten Prozesse seien auchdas Resultat von „Auseinander-setzungen im Zentralkomitee".Er fügte nach Angaben derDDR-Nachrichtenagentur ADNhinzu, diese Auseinanderset-zungen würden weitergehen.Auf Fragen nach Zulassung der„Opposition" meinte er, manmüsse definieren, was darunterzu verstehen sei.

Großen Beifall erhielt Scha-bowski für seine Äußerung: „DieDemo wird zur politischen Kul-tur in Berlin gehören." Die DDR-Behörden genehmigten eine fürden 4. November geplante Mas-sendemonstration in Ostberlin,zu der Hunderttausende erwar-tet werden.Fortsetzung nächste Seite

MIT ERHOBENEN HÄNDEN.gedachten gestern DDR-Bürger während desdem Roten Rathaus in Ostberlin der Opfer an der Berliner Mauer.

Sonntagsgesprächs" vor(dpa-Funkbild)

Vogel: DDR soll Einnahmen ausZwangsumtausch weitergeben

Bonn (AP). Der SPD-Partei-vorsitzende Vogel hat die neueFührung in Ostberlin aufgefor-dert, den DDR-Bürgern die Ein-nahmen aus dem Zwangsum-tausch für Westreisen zur Ver-fügung zu stellen. In einem In-terview sagte Vogel, für die inAussicht gestellte Reisefreiheitwäre es sinnvoll, „daß die DDRdas DM-Aufkommen aus demZwangsaustausch dafür ver-wendet, ihren Bürgern den Ein-tausch von DM für Westreisenzu ermöglichen".

Der SPD-Bundestagsabgeord-nete Büchler schlug die Einset-zung einer Devisenkommissionbeider Staaten vor. Er regte an,den Umtausch von Ost-Mark inDM bei bundesdeutschen Ban-ken zu einem für DDR-Bürge^annehmbaren Kurs zu ermögli-

chen. Das Begrüßungsgeld könn-te dann abgeschafft, die Ost-Mark von den Banken bei derBundesbank wieder einge-tauscht werden. Einen Teil desGeldes - also der Kosten - sollteder Bund übernehmen anstelledes Begrüßungsgeldes, ein weite-rer Teil solle von der DDR zu-rückgenommen werden, die jaDevisen aus dem Zwangsum-tausch erhalte. „Denn es gehtnicht an, daß der angekündigtefreie Reiseverkehr ... allein vonuns finanziert wird", meinte er.

Ablehnend zeigte sich CDU-Generalsekretär Rühe gegen-über Vorschlägen, die DDR beieiner Ausweitung von Westrei-sen ihrer Bürger mit Devisen zuunterstützen. Es sei Aufgabe derDDR, die Reisefreiheit auch zufinanzieren.

Bundeswehrplanung für Mitte der 90er Jahre

Nur noch 420 000 SoldatenBonn (dpa). Die Bundeswehr

wird Mitte der 90er Jahre nurnoch 420 000 aktive Soldatenumfassen. Wie am Sonntag inBonn von zuständiger Seite be-stätigt wurde, hat die Bundes-wehrspitze auf einer geheimenKlausurtagung am Samstag die-se neue Struktur für die Streit-kräfte beschlossen. Die Planun-;en gingen bisher von einer

Jtärke von 456 000 Soldatenaus. Unter dem Druck der ge-burtenschwachen Jahrgängeund der fehlenden Finanzmittelseien diese Vorstellungen nichtzu halten gewesen, wurde vonOffizieren erläutert.

Zu den 420 000 aktiven Sol-daten kommen bei der Friedens-stärke noch 50 000 Reservistenhinzu. Diese Zahl setzt sich aus40 000 Soldaten in einer beson-deren Verfügungsbereitschaft

und 10 000 Wehrübungsplätzenzusammen.

Die drei Teilstreitkräfte wer-den um insgesamt 36 000 Mannverringert. Das Heer wird abMitte des nächsten Jahrzehntsnur noch 297 000, die Luftwaffe91 200 und die Marine 31 800

Sind Soldaten potentielle Mörder?Ein Urteil des LandgerichtesFrankfurt schlägt Wellen. DenWortlaut der Begründung doku-mentieren wir auf „Themen desTages".

Soldaten zählen. Die zwölf Divi-sionen bleiben erhalten. Es wird42 Brigaden mit unterschiedli-chem Präsenzgrad geben.

Die einschneidendsten Ein-griffe werden bei Marine und-Luftwaffe vorgenommen. So istbeabsichtigt, beispielsweise die

Flotte der Schnellboote von 40auf 20 Einheiten zu halbieren.Das Heer wird sich aus neunmechnanisierten und drei luft-beweglichen Divisionen zusam-mensetzen. Die „Nato-Fregatte90", die mit anderen Verbünde-ten gebaut werden sollte, wirdaller Voraussicht nach gestri-chen. Das Milliarden-Projektdes „Jägers 90" wird nach Aus-kunft yon Offizieren zumindestwas die Zahl der zu beschaffen-den Flugzeuge angeht ebenfallsauf den Prüfstand gesetzt.' Der Sprecher des Verteidi-

gungsministeriums, OberstDunkel, sagte, er könne keineZahlen bestätigen. EndgültigeEntscheidungen zu den alterna-tiven Planungen, die Generalin-spekteur Dieter Wellershoffvorgeschlagen habe, würdenerst nach den Beratungen in derBundesregierung getroffen.

Moskau: Jedes Land hat Recht auf freie Entscheidung

Keine Einwände gegen deutsche EinheitWashington (AP). Die Sowjet-

union hat nach offizielen Anga-ben keine grundsätzlichen Ein-wände gegen eine Vereinigungder beiden deutschen Staatenoder einen Austritt Ungarns ausdem Warschauer Pakt. Partei-sprecher Nikolai Schischlinsagte am Sonntag in einem ame-rikanischen Fernsehinterview,die Lage in der DDR werde sichgewiß durch ihr Recht auf freieEntscheidungen ändern, und erfügte hinzu: „Alles hängt vonden Deutschen ab." Auf die Fra-;e, ob die Berliner Mauer fallen:önne, sagte er: „Ich hoffe, daß

alles geändert wird."Außenamtssprecher Gennadi

Gerassimow sagte in einem an-deren Interview, Ungarn, Polenund jedes andere Land hättenihren eigenen Weg, über den sieentschieden, ohne daß sich dieSowjetunion einmische. „Es istihre Sache. Und wir schauen,schauen sehr genau, aber wirmischen uns nicht ein", sagteGerassimow in einer gemeinsa-men Sendung mehrerer US-Fernsehsender. Diese neue so-wjetische Doktrin könne als „dieFrank-Sinatra-Doktrin" be-zeichnet werden nach dessen

Lied 'I did it my way' (Ich binmeinen Weg gegangen'), sagteGerassimow.

Zu Veränderungen in derDDR sagte Schischlin: „Nie-mand kann sagen, was gesche-hen wird. Aber ich bin sicher,daß diese Lage geändert werdensollte und geändert werdenwird." Alles hänge von denDeutschen ab. Aber es sei erfor-derlich, das sowjetische Interes-se zu verstehen, die Lage in Eu-ropa nicht zu destabilisieren.„Lassen Sie uns ein bißchenwarten, und ich denke, wir wer-den eine neue Lage vorfinden."

Zum Tage

WeltknausertagOpare in der Zeit, dann hast Du inder Not - wenn sich alle an diesenSpruch aus alten Tagen hielten,gäbe es heute zum Weltspartagallerdings keine Luftballons und Li-neale, keine Kulis und Schwein-chen umsonst: Die Sparkassen wä-ren nämlich pleite. Denn wer nichtauf Pump lebt, ist von den Institu-ten in Wahrheit gar nicht gern ge-sehen. Existieren sie doch vondem'winzigen, dem klitzekleinenUnterschied zwischen Zinsen, diesie für Sparbücher zahlen, und Zin-sen, die sie für Kredite einnehmen.

Folglich müßten sie eigentlichlieber einen „Weltschuldentag" fei-ern. Aber da sei der erhobene Zei-gefinger vor: Sparen wird den Kin-dern seit jeher als Tugend geprie-sen, während SchuldenmachenBähbäh ist. Spätestens dann,wenn aus den lieben Kleinen Teen-ager werden, schlagen Banker undSparkassenberater den großenSalto Mortale der Geldwirtschaftund erklären, warum im Zusam-menspiel von Sparen und Ver-schulden erst die moderne Gesell-schaft perfekt wird.

Der Tag der Sparbuchbesitzerjedenfalls ist das heute nicht: DieTeuerung verschlingt den mage-ren Spareckzins mittlerweile mühe-los. Weil er nicht rechtzeitig undnachhaltig angehoben wurde,könnten sie den heutigen Tag folg-lich zum Weltknausertag erklären —oder umsteigen auf andere Spar-formen.

Rainer Merforth

Bennigsen-Foerder

Veba-Chefgestorben

Düsseldorf (AP). Rudolf vonBennigsen

-Foerder (Foto),Vorstandschefdes Veba-Kon-zerns und einerder herausra-gendsten Un-ternehmer inder Bundesre-publik, ist imAlter von 63Jahren gestor-ben. Wie einSprecher der

Strom-, Ol- und Chemiegesell-schaft am Sonntag mitteilte, er-lag Bennigsen-Foerder amSamstag den Folgen einer Lun-genentzündung.

Über die Nachfolge Bennig-sen-Foerders an der Spitze desviertgrößten deutschen Indu-strieunternehmens werden Vor-stand und Aufsichtsrat des Kon-zerns in den nächsten Tagenentscheiden. Der Tod des seit 18Jahren amtierenden Vorstands-vorsitzenden sei für das Unter-nehmen ein schwerer Schlag,hieß es in der Düsseldorfer Kon-zernzentrale. Bennigsen-Foer-der habe aber „ein bestelltesHaus" hinterlassen.

In diesem Jahr erregte Ben-nigsen-Foerder Aufsehen mitder Vereinbarung zwischenVeba und der französischen Co-gema über die Entsorgung vonAtomkraftwerken. Diese Ver-bindung bedeutete das Aus fürdie umstrittene Wiederaufarbei-tungsanlage für abgebrannteUranbrennstäbe in Wackers-dorf.

Lotto- und TotozahlenLotto: 3, 21, 24, 25, 32, 34 Zusatz-zahl: 17.Toto:0, 1, 2, 2, 2, 1, 2,0, 1, 0, 2.Auswahlwette: 1, 25, 27, 37, 42, 43Zusatzspiel: 24.Rennquintett:Rennen A: 6, 2, 3.Rennen B: 23, 25, 21Spiel 77: 9 8 9 4 5 3 2Süddeutsche Klassenlotterie:Großes Los der Woche: 299 522 (2Millionen DM) und 855 114 (1 Mil-lion DM). Ohne Gewähr

Page 49: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 253 Politik Montag, 30. Oktober 1989

Namen undNachrichten

SPD: Fünf statt zehnEine Neugliederung des Bun-desgebietes mitkünftig fünfstatt zehn Bun-desländernschlägt derHamburger Be-vollmächtigtebeim Bund, Se-nator HorstGobrecht (SPD)vor. Nur sokönne die Bun-desrepublik imEG-Konkur-renzkampf bestehen. Dabei soll-ten Hamburg, Bremen, Nieder-sachsen und Schleswig-Hol-stein zu einem Nordstaat ver-bunden werden. In der Mittesollten sich die Länder Hessen,Rheinland-Pfalz und das Saar-land zu einem Rhein-Main-Saar-Staat zusammenschließen.Bayern," Baden-Württembergund Nordrhein-Westfalen blei-ben erhalten. Und Berlin bleibewegen seines besonderen Statusunberührt.

REP-Spaltung im SaarlandIm Saarland haben sich dierechtsradikalen Republikanerin zwei Parteien gespalten. Zeit-gleich zu einem Landesparteitagin Saarlouis gründeten amSamstag 22 ehemalige Republi-kaner am selben Ort die „Libera-len Republikaner Saar". Zu ih-rem Vorsitzenden wählten sieden 49jährigen Helmuth Keßler,der erst vor vier Wochen ausProtest gegen eine Rechtslastig-keit des Parteivorstands vomAmt des Landesvorsitzendenzurückgetreten war.

„Pluralismus notwendig"Bulgariens KP-Chef Todor

. Schiwkow hatI Pluralismus alseine Notwen-digkeit für jedezivilisierte Ge-

I Seilschaft be-1 zeichnet. NachI bulgarischenI Presseberich-Jten vom Sonn-I tag erklärtej Schiwkow, einj Umbau der Ge-' Seilschaft sei

ohne Mehrparteiensystem un-denkbar. Damit sprach erstmalsein hochrangiger bulgarischerPolitiker. von der Möglichkeitpolitischer Reformen. Bisherwar die Opposition massivenRepressalien unterworfen.

Thatcher unter BeschüßDie britische PremierministerinMargaret Thatcher steht nachdem Rücktritt ihres Finanzmini-sters unter schwerem Beschüß.Nach einer Umfrage verlangen54 Prozent der Briten ihrenRücktritt. Nach einer anderenUmfrage sagten 47 Prozent, dieRegierungschefin habe deutlichan Vertrauen eingebüßt.

Spöri: Praxis ändernEine Änderung der „großdeut-schen Aner-kennungspra-xis" . hat SPD-Vorstandsmit-glied DieterSpöri gefordert,da sie demGeist desGrundgesetzeswiderspreche.Von den etwadrei Millionen,die in denosteuropäi-schen Ländern eine Anerken-nung als deutsche Staatsbürgeranstrebten, erfüllten mindestens70 Prozent nicht die von unsererVerfassung verlangten Voraus-setzungen. Spöri betonte, wennAussiedler nachweisen müßten,daß sie „vertrieben" worden sei-en, würde dies „eine Verringe-rung des Zustroms zur Folge ha-ben und damit eine Entschär-fung sozialer Spannungen".Auch der Abbau „unangemes-sener Geldanreize" würde denZuwanderungsdruck mindern.

NRW-Grüne wollen mit SPDDie Grünen in Nordrhein-West-falen haben sich für eine rot-grüne Koalition an Rhein undRuhr ausgesprochen. Ein sol-ches Bündnis nach den Land-tagswahlen im Mai 1990 macheaber „nur Sinn bei einem tat-sächlichen politischen Kurs-wechsel".

Demonstration in Prag

355 wurdenfestgenommen

Prag (dpa). Bei dem Polizeiein-satz gegen die Massendemon-stration am Samstag in Pragwurden nach offiziellen Anga-ben 355 Personen, darunter 17Ausländer, festgenommen. Sie-ben Demonstranten und dreiPolizisten seien verletzt wor-den, hieß es am Sonntag. DieZusammenstöße , bei denen diePolizei massiv Schlagstöcke ein-setzte, dauerten bis in dieAbendstunden.

Im Vorfeld des 71. Jahresta-ges der Gründung der erstentschechoslowakischen Republikwaren viele Bürgerrechtler vor-übergehend in „Schutzhaft" ge-nommen worden, um sie daranzu hindern, ah Demonstrationenteilzunehmen.

Havel im Krankenhaus

Für Verwirrung sorgten amWochenende offizielle Fehlin-formationen über den Aufent-halt von Vaclav Havel, der amDonnerstag abend in seinerWohnung trotz hohen Fiebersvon Polizisten aus dem Bett ge-holt worden war. Zunächst hat-te die Krankenhausleitung mit-geteilt, Havel sei am Freitagnachmittag aus der Klinik ver-schwunden und in der Nachtzum Samstag wieder zurückge-kehrt. Am Sonntag räumte dieKrankenhausleitung ein, Havelhabe das Haus überhaupt nichtverlassen. Havels Frau Olgaund sein Bruder Ivan, die ihn imKrankenhaus besuchen wollten,wurden am Samstag beim Ver-lassen der Klinik festgenommen.

Sozialausschüsse:

„Baukindergeldverdoppeln"

Bonn/Berlin (AP). Die CDU-Sozialausschüsse und die SPDhaben am Wochenende zusätz-liche Maßnahmen zur Behebungder Wohnungsknäppheit vorge-schlagen. Der Vorsitzende derCDA, Ulf Fink, plädierte dafür,den direkten Zuschuß an Eltern,die bauen wollten (Baukinder-geld), von 750 auf 1500 DM proKind zu verdoppeln. Außerdemsollten Familien, die bäuen'oderWohneigentum erwerben woll-ten, zinsgünstige Darlehen ab-geboten werden.

Die finanzpolitische Spreche-rin der SPD-Bundestagsfrakti-on, Ingrid Mattäus-Maier, for-derte ein Programm für den so-zialen Wohnungsbau, wozueine Milliarde DM aus den vierMilliarden umfassenden Etat-mitteln für militärische Bautenim Etat 1990 abgezweigt werdensollten. Davon könnten wenig-stens J0 000 Wohnungen ge-bautwerden. !

Südafrika / Befreiungsbewegung

Schwarze: Noch keinEnde des Kampfes

Johannesburg (dpa). Die Be-freiungsbewegung Afrikani-scher Nationalkongreß (ANC)ist vorläufig nicht bereit, den be-waffneten Kampf gegen die süd-afrikanische Regierung aufzuge-ben. Dieser Kampf müsse zu-nächst „noch intensiver geführtwerden", forderte der frühereANC-Generalsekretär WalterSisulu am Sonntag auf einerMassenkundgebung in derSchwarzensiedlung Soweto beiJohannesburg.

Etwa 80 000 Menschen berei-teten dem 77jährigen, der zweiWochen zuvor mit sieben ande-ren politischen Häftlingen frei-gelassen worden war, in demFußballstadion von Soweto eirnen begeisterten Empfang. DieBehöden hatten die formell alsBegrüßungsfeier bezeichneteKundgebung genehmigt, ob-schon sie inoffiziell als ersteVeranstaltung des ANC in derRepublik Südafrika seit demVerbot der Organisation vor 24Jahren bezeichnet wurde..

Sisulu, der 1964 zusammenmit dem immer noch inhaftier-ten schwarzen Nationalisten-führer Nelson Mandela wegenSabotage zu lebenslanger Haft

verurteilt worden war", nannteVoraussetzungen für „Verhand-lungen.über die Einstellung derFeindseligkeiten auf beiden Sei-ten". Dazu gehöre die Freilas-sung aller politischen Häftlinge,die Aufhebung der Verbote vonOrganisationen, uneinge-schränkte Betätigungsmöglich-keiten für Organisationen undPersonen sowie die Beendigungdes Ausnahmerechts.

Der Kampfgefährte Mandelaswies auch den Plan Pretorias zu-rück, durch separate Wahlendie politischen Führer derschwarzen Bevölkerungsmehr-heit zu ermitteln. Stattdessenmüßten alle Südafrikaner beider Wahl einer verfassungge-benden Versammlung stimmbe-rechtigt sein, forderte Sisulu.

Die Regierung unter ihremneuen Präsidenten Frederik deKlerk hat erklärt, sie werde dieVorherrschaft der Weißen ab-bauen, ohne jedoch ein demo-kratisches Wahlrecht nach demPrinzip „Eine Stimme für jeder-mann" einzuführen. Das würdenach Meinung Pretorias zurVorherrschaft der Schwarzenführen, die bisher, kein nationa-les Wahlrecht besitzen.

DIE BISHER GRÖSSTE VERANSTALTUNG der Opposition in derGeschichte Südafrikas vereinigte am Sonntag rund 80 000 Men-schen im Stadion von Soweto bei Johannesburg. Jubelnd wurdensieben kürzlich aus der Haft entlassene Schwarzenführer begrüßt.

(dpa-Funkbild)

Bundespost / Kein Tarifvertrag

Führt Unmut über Leistungsnormen zum Streik?Frankfurt (dpa). Bei der Bun-

despost steigt der Unmut der Be-diensteten, er könnte zum Streikführen. Grund ist die Weige-rung des Postministeriums, ei-nen Tarifvertrag über Lei-stungsnormen abzuschließen.

Wie der Vorsitzende der Post-gewerkschaft (DPG), Kurt vanHaaren, in einem dpa-Gesprächsagte, sind die Vorbereitungen

für die Mobilisierung der Mit-glieder bereits angelaufen.

Besondere Verärgerung beiden 470 000 Mitgliedern derviertgrößten DGB-Gewerk-schaft habe auch die BonnerEntscheidung ausgelöst, am 1.April die Leistungsnormen zuerhöhen. Genau von diesem Tagan war die Arbeitzeit für diePostbeschäftigten um eine auf39 Stunden verkürzt worden.

Nach van Haarens Schätzunghätte die Arbeitzeitverkürzungzur Schaffung von 12 000 bis13000 Arbeitsplätzen führenmüssen.

Ein Ministeriumssprecher er-klärte dazu am Wochenende, esgebe keinen Grund für einenArbeitskampf. Der Leistungs-druck sei nicht erhöht, sondernes seien lediglich „Nebenzeiten"gekürzt worden.

Eine Million DM Belohnung für Hinweise auf Gesuchte / USA

Kolumbien liefert fünften Drogenboß ausBogota (dpa). Kolumbien hat

am Sonntag den fünften mut-maßlichen Drogenboß an dieUSA ausgeliefert. Wie ein Poli-zeisprecher in Bogota erklärte,wurde Jose Rafael Abello Sil-va, der als „vierter Mann" inder Hierarchie des Medellin-Kartells gilt, Vertretern derUS-Behörde zur Drogenbe-kämpfung übergeben. „Er istbereits auf dem Flug in dieUSA", sagte der Sprecher.

Abello Silva muß sich in den

USA wegen Kokain-Handelsund „Waschens". sogenannterDrogen-Dollars verantworten.Regierungssprecher hatten amSamstag angekündigt, daßsechs weitere inhaftierte Dro-genschmuggler an die USAausgeliefert werden sollen. Die„Kokain-Barone" haben im Au-gust mit einer Welle von An-schlägen begonnen, um die Re-gierung zu zwingen, auf die da-mals beschlossene . Ausliefe-rung von Drogenschmugglern

an die USA zu verzichten. Beiüber 220 Attentaten sind seit-dem 32 Menschen ums Lebengekommen.

Die Regierung Kolumbienshat die Belohnung für Hinweiseauf den Aufenthaltsort derChefs der Rauschgift-Mafia -Pablo Escobar Gaviria (39) undGonzalo Rodriguez Gacha (42)- auf umgerechnet fast eineMillion DM erhöht, nachdemsie bisher vergeblich 475 000DM ausgesetzt hatte.

Neues SPD-Programm Spaniens Sozialisten

Größter Bezirk Keine absoluteübt Kritik Mehrheit mehr?

Hagen (dpa). Nach anderenUntergliederungen der Partei(Schleswig-Holstein, Hamburg,Baden-Württemberg und Hes-sen-Süd) hat jetzt auch der mit135 000 Mitgliedern größteSPD-Bezirk Westliches Westfa-len den Entwurf der Bonner Par-teiführung für ein neues Grund-satzprogramm kritisiert, das aufdem Bremer Parteitag im De-zember das 30 Jahre alte Godes-berger Programm ablösen soll.'Ein außerordentlicher Bezirks-parteitag wandte sich am Wo-chenende in Hagen gegen bun-desweite Volksbegehren undVolksentscheide, wie die derEntwurf des Parteivorstandsvorschlägt. Delegierte aus demRuhrgebiet kritisierten außer-dem, im Programmentwurf wer-de die Kohle nicht erwähnt.

Zu Beginn des Parteitags hatteder Bezirksvorsitzende, dernordrhein-westfälische Arbeits-minister Hermann Heinemann,kritisiert, der SPD fehlten „klareStrategien", „wie den Republi-kanern das Wasser abgegrabenwerden kann". Mit besseren Ar-gumenten allein seien keineWähler der rechtsradikalenPartei zurückzugewinnen.

Madrid (dpa). Die Sozialistensind am Sonntag aus den vorge-zogenen Parlamentswahlen inSpanien erneut als weitausstärkste Partei hervorgegangenund werden aller Wahrschein-lichkeit nach weiterhin die Re-gierung stellen.

Zweieinhalb Stunden nachSchließung der Wahllokale be-stand jedoch Unklarheit dar-über, ob die Sozialistische Ar-beiterpartei Spaniens (PSOE)zum drittenmal die absoluteMehrheit erreichte. Hochrech-nungen sahen die PSOE knappunterhalb der Schwelle von 176der 350 Mandate im Unterhaus.Danach konnten die Sozialistenmit 168 bis 175 Sitzen (1986:184Sitze) rechnen.

Die noch nicht stabilisiertenHochrechnungen sähen diechristlich-konservative Volks-partei mit rund 105 bis 108Mandaten (25 Prozent), vorher105 Sitze, auf dem zweiten Platz.Die kommunistisch geführteVereinte Linke konnte ihre sie-ben Mandate auf über 20 ver-dreifachen konnte. Das Demo-kratisch-Soziale Zentrum lagbei etwas über acht Prozent und16 bis 18 Sitzen (1986: 19).

DDR / Diskussionen und Demonstrationen

Muß Chefkommentatorvon Schnitzler gehen?Fortsetzung

Zur heftigen Kritik von Red-nern an Privilegien der Mitglie-der des Staats- und Parteiappa-rates sagte Schabowski: „Wirsind dabei, solche Dinge abzu-bauen." Ostberlins Polizeipräsi-dent Rausch entschuldigte sichvor dem Rathaus bei der Mengefür die Polizeiübergriffe bei denDemonstrationen Anfang Okto-ber. Krack kündigte die Einset-zung eines Untersuchungsaus-schusses beim Stadtparlamentunter Bürgerbeteiligung an.

Auch in Dresden, Leipzig,Magdeburg, Plauen, Erfurt,Jena, Neubrandenburg und Ro-.stock wurden am Wochenendezum Teil hitzige und erregteDiskussionen mit den kommu-nalen SED-Vertretern geführt.In mehreren Städten demon-strierten insgesamt 60 000 Men-schen für Demokratisierung. Dieamtliche DDR-Nachrichten-agentur ADN berichtete aus-führlich über die Gespräche undKundgebungen und wies darauf

hin, daß auch das Verlangennach einer besseren Versorgungmit Gütern des täglichen Be-darfs immer stärker werde.

Im Zuge der Diskussion ummehr Meinungsfreiheit in derDDR wackelt offenbar auch derStuhl von Fernseh-Chefkom-mentator Karl-Eduard vonSchnitzler, der seit Jahrzehntenden „Schwarzen Kanal" mit po-lemischen Ausfällen gegen denWesten moderiert. Die Anre-gung, diese wöchentliche Sen-dereihe zugunsten eines Fern-sehmagazins über Umweltpro-bleme und Beziehungen zwi-schen beiden deutschen Staatenzu streichen, will der erste Stell-vertreter des Chefredakteursder Nachrichtensendung „Ak-tuelle Kamera", Makosch, demstaatlichen Komitee für Fernse-hen unterbreiten.

Ungeachtet der Entwicklungin ihrem Land sind bis Sonntag 4Uhr innerhalb von 24 Stundenwieder 661 DDR-Bürger überUngarn nach Bayern geflüchtet.

Momper sprach mit SchabowskiBerlin (AP). Berlins Regieren-

der Bürgermeister Momper(SPD) ist gestern mit dem Ostber-liner SED-Bezirkschef Scha-bowski zu einem zweistündigenGespräch zusammengetroffen,zu dem der stellvertretende Vor-sitzende des evangelischenDDR-Kirchenbundes, Stolpe,eingeladen hatte. Auch Ostber-lins Oberbürgermeister Kracknahm.an dem Gespräch teil.

Nach einer Meldung derNachrichtenagentur ADN un-terrichtete Schabowski Momperüber die „Wende in der Politikder SED, über den Kurs ... desDialogs, um den Sozialismus inder DDR zu stärken und attrakti-ver zu gestalten". Auch Fragender Beziehungen zwischen

Westberlin und der DDR seienerörtert worden. Krack berichte-te beim „Stadtgespräch" vor demRoten Rathaus von der Begeg-nung. Einige Teilnehmer riefen:„Holt den Momper hierher".

Am Vormittag hatten Momperund der SPD-Bundestagsabge-ordnete Ehmke in Ostberlin eineUnterredung mit Vertretern derDemokratiebewegung „NeuesForum" und der neuen Sozialde-mokratischen Partei in der DDR(SDP). Nach Angaben des „Neu-en Forums" wurde vereinbart,die Kontakte fortzusetzen.

Am Sonntag abend besuchtenMomper und Ehmke die Geth-semanekirche in Ostberlin. Siefolgten einer Einladung derEvangelischen Kirche.

HESSISCHE/NIEDERSACHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Qrzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureChef yom Dienst: Horst Kröninger. ChefNachrichten: Rainer Merforth. Politik: Jo-chen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden, Kultur: Dirk Schwarze, i. V.Claudia Sandner-v.Dehn, M. A., Frau u.Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wiese-mann, i. V. Ulrich Fuhrmann. Sonntagszeit:Frank Thonicke. Kassel Stadt und Land:Wolfgang Rossbach. Bezirksredaktionen:Peter M. Zitzmann. Koordination: HelmutLehnart. Hessen/Niedersachsen: EberhardHeinemann. Chefreporter: Karl-HermannHuhn. Sonderthemen: Peter Ochs.Redaktion Wiesbaden: Rolf Effenberger.Redaktion Hannover.- Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht. i

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter: Horst Prehm.Vertriebsleiter.1 Gerd Lühring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-. ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-

sel, Ruf 05 61 / 20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61 / 20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer05 61 /20 36. Teletex5 618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7 % MwSt. (Postbezugs-preis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.

Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.

Herstellung Druckhaus' Dierichs,Frankfurter Straße 168, 3500 Kassel

Page 50: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 253 Themen des Tages Montag, 30. Oktober 1989

Großer Mann,kleiner Mann

Nicaragua ist ein kleines Land.Sein Präsident Daniel Ortega istnicht gerade hochgewachsen. Bei-de unterscheiden sich darin vonden US£ und ihrem Präsidenten.Ortega ist jedoch unverfroren -oder frech - genug, den großenVetter aus dem Norden aus demGleichgewicht zu bringen. Ortega,so scheint es, hat einen empfindli-chen Nerv getroffen.

Das Jubiläum Costa Ricas solltekeine politische Konferenz sein.Bush wollte Ortega als Unpersonbehandeln, aber dieser machte ei-nen Strich durch die Rechnung, alser zunächst eine kurze Begegnungmit Bush inszenierte und dann au-ßerhalb der Tagesordnung denWaffenstillstand mit den Contrasaufkündigte.

Dieser Waffenstillstand ist ein-seitig verkündet und jeweils mo-natlich von Ortega verlängert wor-den. Die Feindseligkeiten sind je-doch niemals ganz eingestellt wor-den, von beiden Seiten nicht. DerFriedensplan der Nachbarstaatensieht vor, daß die Contras bis zum5. Dezember aufgelöst und umge-siedelt werden sollen. Doch das istbisher nur ein frommer Wunsch.Konservative Freunde der Contrasin den USA jedenfalls frohlocken.Sie meinen, Ortega habe einenschweren Fehler begangen, als erden Waffenstillstand in Frage stell-te. Es werde jetzt leichter sein, derAuflösung zu widerstehen. Wahr-scheinlich ist das jedoch nicht.

Amerika fühlt sich zwar gefopptund an der Nase herumgeführt,wenn „Westentaschendiktatoren"wie Noriega in Panama und jetztOrtega den Riesen aus dem Nor-den als hilflos erscheinen lassen.Doch die USA sind in „ihrem Hinter-hof" nicht allein. Die Nachbarn Ni-caraguas reagieren verlegen aufdie Störung der Jubiläumsfeier, sieversuchen auch, Druck auszu-üben, um Ortega zur Umkehr zubewegen. Doch sie erwarten aucheinen Beitrag von den USA zumFrieden im Land.

Siegfried Maruhn, Washington

Presse-EchoDie DDR-Amnestie für Flüchtlinge istThema vieler Kommentare

AUGSBURGERALLGEMEINE

Genauso wichtig wie die Am-nestie ist jedoch die Tatsache,daß der Straftatbestand der Re-publikflucht bestehen bleibt.Die Amnestie gilt nur iür Perso-nen, die ihre Heimat vor dem 27.Oktober den Rücken kehrenwollten. Mit anderen Worten:Es existiert künftig genausowe-nig Freizügigkeit wie bisher,weil alle Fluchtwilligen vonmorgen und übermorgen weiter-hin hohe Gefängnisstrafen ris-kieren. Den Namen „Reform"verdient diese Amnestie alsonicht.

DIE WELT(Bonn)

Solange die Grundlagen fürdas Unrecht, nämlich die politi-schen Tatbestände im DDR-Strairecht, nicht aus dem Ver-kehr gezogen werden, ändertsich nichts wirklich, bleibt dieDDR ein Staat unterhalb des Ni-veaus europäischer Zivilisation.

ftanMarierRundschaaDas aussichtsreichste Mittel

wäre, das Delikt der Republik-flucht ganz zu streichen und eineinigermaßen liberales Demon-strationsrecht einzuführen.

(Berlin)

Na, also. Ein erstes Schritt-chen ist getan... Das läßt sichhören. Aber das kann nur einAnfang sein. Jeder zivilisierteStaat läßt seine Bürger ziehen,wenn sie es wünschen.

fjannoDcrfrtir RllgtmrincDaß aus der Verbots- und

Hinderungsdiktatur eine Dia-log- und Gewährungsdiktaturwurde, ist gewiß ein Fortschritt.Doch Freiheiten, die Herrscherden Menschen gnädig zuteilen,sind noch keine Freiheit, dienimmt man sich, weil man einRecht darauf hat. Hoffentlichlassen die Bürger in der DDRnicht locker.

DDR-Bürger beim „Berliner Sonntagsgespräch"

Couragiert und offenVon unserem M i ta rbe i te r Peter Gär tner , Ber l in

Deer von der Staatsführung derDDR angekündigte „Dialog mitden Bürgern" nimmt ernsthafteGestalt an: Knapp 20 000 Men-schen kamen zu den erstmalsveranstalteten „Berliner Sonn-tagsgesprächen" vor dem RotenRathaus im alten Zentrum derStadt. Couragiert und offenmachten sie ihren GefühlenLuft, sammelten eifrig Ideen undForderungen für die konkreteUmgestaltung der Gesellschaftim zweiten deutschen Staat.Eine Frage stand immer wiederim Raum zwischen Fernsehturmund Palast der Republik, auf diedie hochrangigen Vertreter vonPartei und Wirtschaft nur mitHoffnung auf die Zukunft ver-weisen mochten: „Wieso kannman heute hier frei reden undwurde vorher als Staatsfeindund Provokateur verfolgt?",brachte eine junge Frau die im-mer noch mißtrauische Stim-mung unter den Besuchern aufden Punkt.

Doch von Angst und Tabuswar an diesem Sonntagvormit-.

tag keine Rede. Nichts, wasnoch, vor wenigen Wochen inder Öffentlichkeit als unantast-bar und unansprechbar galt,wurde vor der roten Backstein-fassade des Ostberliner Rathau-ses verschont. Eine LeipzigerTierärztin berichtet von den Er-pressungsversuchen der Staats-sicherheit vor rund 30 Jahren,die sie bis heute „tief in der Seelebelasten". Nach einer kurzenPause antwortet ihr der Ostber-liner Parteichef Günter Scha-bowski kurz: Er schließe sichder Meinung des Ex-Spionage-Chefs Markus Wolf an, der sichgegen eine Verselbständigungder Staatssicherheit aussprach.

Mehrfach forderten Lehrerund Lehrerinnen die Absetzungder VolksbildungsministerinMargot Honecker, Ehefrau desentmachteten Partei- undStaatschefs. Neue Konzeptio-nen und Strukturen für dieSchule müßten her, mahnte einOberschullehrer, der sich zu-gleich gegen das „Privileg derFDJ", der Staatsjugendorganisa-

tion, an den Bildungseinrichtun-gen des Landes aussprach.

Helmut Klein, Vorsitzenderdes DDR-Freidenker-Verban-des räumte ein, daß Schüler inder Vergangenheit zu zweiSprachen erzogen wurden undmeinte, „wenn in der Gesell-schaft Schönfärberei herrschte,dann eben auch in der Schule".

In Anspielung auf das künfti-ge „Mündigkeitsdokument Rei-sepaß" (ein Redner) fragten dieOstberliner Bürger bohrendnach den Privilegien der Partei-und Staatsführung. „Wir brau-chen jede Mark und jeden Pfen-nig, was passiert mit dem Staatim Staate in Wandlitz (Wohn-sitz der SED-Führung)?" DerOstberliner Parterchef, selbstMitglied des Politbüros, darauf-hin: „Ich gestehe, daß wir erstbeginnen, uns mit dieser Fragezu beschäftigen." Fast entschul-digend fügt Schabowski hinzu:„Wir haben hunderttausendDinge gleichzeitig in Angriff zunehmen und können sie nichtalle gleichzeitig machen."

„Was machen wir bloß, wenn die Reformbewegung die Sowjets um brüderliche Hilfe bittet?"(Karikatur: Haitzinger)

Niedersachsens Ministerpräsident will Wahltermin hinausschieben

Albrecht und das Prinzip HoffnungVon Harald Birkenbeul, Redaktion Hannover

Daas Prinzip Hoffnung ist ein-mal mehr sein Leitmotiv. In sei-ner Regierungszeit in Nieder-sachsen ab 1976 wußte er es fürseine (freilich vielfach geschei-terten) Visionen über die Zu-kunft des Landes brillant für dieBindung von Wähler-Potentia-len einzusetzen. Wann in Nie-dersachsen 1990 der Landtagneu gewählt wird und damit diemachtpolitischen Karten neuverteilt werden, bestimmen dieHoffnungen von Ministerpräsi-dent Ernst Albrecht (CDU) aufeinen Klimawechsel in den kom-menden Monaten zugunstenseiner Partei. Das Kalkül destaktisch erfahrenen Regierungs-chefs: Je später gewählt wird,umso mehr Chancen hat dieUnion und die seit 1986 in Han-nover regierende Koalition ausCDU und FDP zum Machter-halt.

Stern verblaßt

Albrecht, dessen strahlenderStern früherer Jahre inzwischenverblaßt ist, hat landeseigeneSkandale wie das „Celler Loch"und um den niedersächsischenVerfassungsschutz, Affären wiejene um die spektakuläre Spiel-bank-Pleite Hannover/BadPyrmont, Rücktrittsforderungenund ein Mißtrauensvotum derOpposition gegen ihn in jüngsterZeit zwar überstanden. Dem Rufund dem Ansehen seiner Regie-rung haben sie freilich massivgeschadet. Zusammen mit bun-despolitisch bedingten Verlu-sten für die Union wandten sichscharenweise die Wähler vonder CDU. im größten Flächen-land Norddeutschlands ab.

Die Christdemokraten, die beider Landtagswahl 1986 noch mit44,3 Prozent stärkste Fraktion

im Parlament wurden, rutschtenbei landesspezifischen Mei-nungsumfragen sowohl derStaatskanzlei wie der SPD-Op-position weit unter die 40-Pro-zent-Marke. Diesen Trend be-stätigte dann auch die Europa-wahl im Juni, als die CDU inNiedersachsen von 43 (1984)auf 35,9 Prozent absackte.

Gegen vorgezogenen Termin

Es war die Aussicht auf einesichere Wahlniederlage seinerPartei und der Koalition, die denRegierungschef im Herbst die-ses Jahres jeden Gedanken anvorgezogene Landtagsneuwah-len verwerfen ließ, als der mitden rechtsradikalen Republika-nern liebäugelnde CDU-Land-tagsabgeordnete Kurt Vajen dieEin-Stimmen-Mehrheit vonCDU und FDP im Landtag ge-fährdete. Nach dem Ausschlußvon Vajen aus Partei und Frakti-on folgte unmittelbar der Aus-tritt des SPD-AbgeordnetenOsswald Hoch aus der SPD-Fraktion, der heute formal wieVajen fraktionslos agiert. Hochsicherte dem bedrängten Regie-rungschef faktisch wieder dieLandtags-Mehrheit. Er hat in-zwischen vielfach mit der Koali-tion gestimmt.

Seitdem haben sich die Hoff-nungen der Oppositions-Frak-tionen SPD und Grüne auf vor-gezogene Neuwahlen und damitauf die wahlpolitische Gunst derStunde in Luft aufgelöst. UndAlbrecht spielt auf Zeit. DasDrängen der Opposition, nunendlich den Wahltermin, den erkraft der Landesverfassung al-leine bestimmt, zu nennen,überhört er mit Geduld. DieStimmungswende hat derzeit fürihn Priorität. Also setzt er auf

die rund eine halbe MilliardeDM Strukturhilfe, die jährlichaus Bonn in die Landeskassefließt und die sich wahlwirksaminvestieren läßt. Auf den Zer-fallsprozeß der Republikaner inNiedersachsen, die im Dauer-Clinch liegen, auf Programmegegen die Langzeitärbeitslosig-keit, gegen Drogen und auf denniedersächsischen „Modellver-such für nachwachsende Roh-stoffe" - ein neues Subventions-programm für Landwirte, die da-durch weniger geneigt seinkönnten, den Urnengang zumVotum für die Republikaner zunutzen. Und schließlich auf eineermüdende Sozialdemokratie,die sich in einer Art Dauerwahl-kampf gegen Albrecht befindet.

Wie immer Albrecht die Stim-mungswende zu erreichen ver-sucht - seine Zeit dafür istrechtlich begrenzt. Die Wahlpe-riode dieses Landtages endet am21. Juli 1990. Bis dahin muß derWähler befragt sein. Als einenmöglichen Wahltermin habendie landespolitischen Augurenden 13. Mai ausgemacht - jenenSonntag, an dem in Nordrhein-Westfalen gewählt wird. Koali-tionäre in Hannover verweisendarauf, daß Einflüsse aus demSPD-regierten Nordrhein-

Westfalen auf Niedersachsenvermieden werden könnten,wenn an einem Tag entschiedenwürde.

Je später, umso...

Als zweiter möglicher Terminist der 17. Juni, wenige Tage vordem Ende der Wahlperiode,ausgemacht worden. Ihm wirdausreichender Abstand von derNRW-Wahl zuerkannt und derKern der Albrecht-Überlegung:Je später, umso mehr Chan-cen ...

Die Begründung des „Soldaten-Urteils'

„SchicksalhafteZwangslage"

Wegen der Auseinanderset-zung um das umstrittene „Sol-daten-Urteil" hat der Richterdes Frankfurter Landgerichts,Heinrich Gehrke, seine münd-liche Urteilsbegründung aus-nahmsweise schriftlich nieder-gelegt. Nachfolgend, von dpaübermittelt, einige Auszüge:

Nicht im Kern derPersönlichkeit getroffen

„Von einem Angriff gegendie Menschenwürde der Sol-daten könnte nur dann gespro-chen werden, wenn diese imKern ihrer Persönlichkeit ge-troffen und ihnen grundsätz-lich der Anspruch auf gleich-berechtigte Teilnahme am Le-ben der Gemeinschaft abge-sprochen worden wäre...

Keine der Äußerungen desAnklagten war in diesem Sin-ne gemeint oder konnte so ver-standen werden. Die Beweis-aufnahme hat gezeigt, daß er -auf die Soldaten bezogen -stets deutlich gemacht hat, daßdiese nach seiner Meinungdurch entpersönlichten Drillund die moderne Waffentech-nologie im Kriegsfall zu Mör-dern werden könnten, ohnedaß sie sich das jemals.hättenvorstellen können. Das soll aufeine schicksalhafte Zwangsla-ge hinweisen, die geradezu zurlogischen Voraussetzung hat,daß die betroffenen Personennicht als ohnehin mordbereit -also moralisch minderwertig -angesehen werden. Aus demGesamtzusammenhang desDiskussionsbeitrages vonHerrn Dr. Äugst ergibt sicheindeutig, daß er mit der Cha-rakterisierung der Soldaten alspotentielle Mörder diese nichtaus der Gemeinschaft unseresStaates ausgrenzen, sondernsie zum Nachdenken über ihreSituation veranlassen wollte...

Keine Verurteilungwegen Beleidigung

Es entfällt aber nach dem Er-gebnis der Beweisaufnameauch eine Verurteilung wegenBeleidigung. Zwar liegt nachMeinung des Gerichts der ob-jektive und subjektive Tatbe-stand des Paragraph 185 StGBvor, doch ist dies nicht straf-bar, weil Herr Dr. Äugst inWahrnehmung berechtigterInteressen im Sinne von Para-graph 193 StGB gehandelthat...

Nach den von der höchst-richterlichen Rechtsprechungentwickelten, im einzelnendurchaus umstrittenen Grund-sätzen über die Möglichkeitder Beleidigung unter einerKollektivbezeichnung kom-men zwar an sich hier auch dieeinzelnen Bund$swehrsolda-ten als in ihrer Ehre Verletztein Betracht, doch müßten dann- so heißt es in dem für dieKammer maßgeblichen Revi-sionsurteil - ,die Äußerungendes Angeklagten... so auszule-gen sein, daß sie nicht allge-mein auf Soldaten, sondern ge-rade auf die Soldaten der Bun-deswehr bezogen waren undauch alle Miglieder (dieser)Personengruppe betreffen soll-ten.1 In seinem Diskussions-beitrag hat Dr. Äugst jedochmehrfach und unmißverständ-lich deutlich gemacht, daß ermit seiner Bezeichnung .po-tentielle Mörder' alle Soldatenmeinte, ganz gleich ob sie sol-che der US- oder der RotenArmee, der Volksarmee oderder Bundeswehr seien...

Wahrnehmung vonberechtigten Interessen

Die Bewertung , Mörder' be-ziehungsweise .Morden' ... istals Meinungsäußerung klar er-kennbar und einer beweismä-ßigen Prüfung nicht zugäng-lich; auch der Angeklagteräumt ein, daß andere - zumBeispiel die Soldaten selbst -dieselben Umstände andersbewerten können...

Die ehrverletzenden Äuße-rungen von Herrn Dr. Äugstsind jedoch nach Paragraph

193 StGB nicht strafbar, weilsie zur Wahrnehmung berech-tigter Interessen gemacht wur-den...

Im vorliegenden Fall standder Ehranspruch der Verletz-ten dem Grundrecht auf freieMeinungsäußerung gegen-über. Unter den speziellenUmständen, wie sie in der Be-weisaufnahme festgestelltwerden konnten, ist hier Arti-kel 5 GG der Vorrang einzu-räumen.

Maßgeblich hierfür warenfolgende Gesichtspunkte: 1.Die Meinungsäußerungsfrei-heit ist, wie es das Bundesver-fassungsgericht ausgeführthat, für unsere freiheitlich-de-mokratische Staatsordnungschlechthin konstituierend,weil erst die ständige geistigeAuseinandersetzung denKampf der Meinungen ermög-licht, der das Lebenselementdieses Staates ist.

Bedeutung fürdie Allgemeinheit

2. Je mehr Bedeutung einediskutierte Angelegenheit fürdie Allgemeinheit hat, um soeher ist dem Schutz der freienMeinungsäußerung der Vor-rang zu geben. Bei der Po-diumsdiskussion ging es umThemen, wie .Friedenssiche-rung', .Nuklear-Bewaffnung',.Nachrüstung mit neuenAtomraketen' und .Folgen ei-nes Nuklearwaffeneinsatzes inMitteleuropa'. Dies sind allesBereiche mit existentieller Be-deutung für alle Menschen,die Meinungen prallen hierstets - und ganz besonders da-mals zur Zeit des Nato-Dop-pelbeschlusses und der Oppo-sition der Friedensbewegungdagegen - hart aufeinander...

4. Die Äußerungen vonHerrn Äugst auf dem Podiumfielen nicht isoliert, sonderninnerhalb einer Gesamtdar-stellung, aus der hervorging,aufgrund welcher Umstände erund die von ihm vertreteneGruppierung zu der harten Be-wertung soldatischer Ausbil-dung und Aufgabenstellung imKrieg gelangt waren...

6. Der Angeklagte wollte mitSeinem Diskussionsbeitrag zurMeinungsbildung unter denSchülern beitragen. Dazudurfte er nach der Rechtspre-chung des Bundesverfassungs-gerichts angesichts der heuti-gen Reizüberflutung aller Artauch einprägsame, harte For-mulierungen benutzen, selbstwenn sie die davon Betroffe-nen in ihrer Ehre herabsetz-ten. Bei der bedeutsamen The-matik, ... bei seiner auf denvorgestellten Umständen be-ruhenden und von ihm darge-legten Überzeugung vielerMenschen, daß der Abschußvon Massenvernichtungswaf-fen schon wegen der unkon-trollierbaren Tötung von Zivil-bevölkerung moralisch nichtzu rechtfertigen sei und daßdie Ausbildung der Soldatendazu ein Erlernen von ethischverwerflichem Töten sei, er-scheinen die Äußerungen, daßjeder Soldat ein potentiellerMörder sei, ... sowie die Bun-deswehr bilde zum Mordenaus, nicht als so weit überzo-gen, daß sie in einer solchenSituation im politischen Mei-nungskampf - und um einensolchen handelte es sich hier -nicht mehr straflos hingenom-men werden könnten.

Nicht außergewöhnlichehrverletzend

In einer Zeit, in der ein deut-scher Bischof ungestraft jede -auch nach unseren Gesetzenzulässige - Abtreibung alsMord bezeichnen darf, er-scheint die von Herrn Dr.Äugst verwendeten Begriffenicht als so außergewöhnlichehrverletzend, als daß sie ineiner Podiumsdiskussion überdie .nukleare Komponente derSicherheitspolitik' unter dengeschilderten Besonderheitenaus dem Gesichtspunkt desArtikel 5 GG nicht mehr ge-rechtfertigt sein könnten. ...

Page 51: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 253 Hessen Montag, 30. Oktober 1989

Protest gegen Wallmann-Äußerung / Ehemaliger Landtagspräsident

Buch: Festakt zur Verleihung derLeuschner-Medaille boykottieren

Wiesbaden (Ihe). Zu einem demonstrati-ven Boykott der Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille, der höchsten Ehrungdes Landes Hessen, hat der frühere Land-tagspräsident Georg Buch (SPD) aufgeru-fen. Buch appellierte am Samstag im Hessi-

schen Rundfunk an seine Parteifreunde, dertraditionell am 1. Dezember stattfindendenVeranstaltung aus Protest gegen Minister-präsident Walter Wallmann (CDU) fernzublei-ben, der verdienten Bürgern die Auszeich-nung übergeben werde.

Wallmann hatte am 12. Okto-ber im Landtag den damaligenReichstagspräsidenten Her-mann Göring als Zeitzeugen da-für zitiert, daß auch SPD-Abge-ordnete am 17. Mai 1933 einerErklärung der Reichsregierungzugestimmt und anschließendgemeinsam mit den National-sozialisten die Nationalhymnegesungen hätten.

„Nicht qualifiziert"

Der heute 86jährige Buch war1933 von den Nazis in Schutz-haft genommen worden undzwischen 1941 und 1945 aus po-

litischen Gründen im Gefängnisund im Konzentrationslager in-haftiert. Wällmann habe nichtdie Qualifikation, über WilhelmLeuschner zu sprechen, sagteBuch.

Der Sozialdemokrat und Ge-werkschafter Leuschner war alshessischer Innenminister 1933von den Nazis verhaftet und1944 als Widerstandskämpfergegen Hitler in Berlin-Plötzen-see ermordet worden. Wall-mann, habe absolut falsch ge-handelt, indem er in seiner Redeaus einem Reichstagsprotokollzitiert habe, ohne die histori-schen Umstände zu würdigen,kritisierte Buch.

CDU: Kritik absurd .

Dagegen bekräftigte die CDU,sie sehe keinerlei Veranlassungdafür, daß sich Wallmann bei derSPD für sein Göring-Zitat ent-schuldigt. „Ich wüßte nicht, wo-für", betonte ebenfalls im Hessi-schen Rundfunk der stellvertre-tende Landesvorsitzende derUnion, Innenminister GottfriedMilde. Er nannte die Kritik derSPD, Wallmann habe die Sozial-demokraten in eine Reihe mit denNazis gestellt, absurd. Der Mini-sterpräsident habe nur einen „hi-storischen Vorgang" zitiert.

Mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof

Alkem-Prozeß beginnt heuteKassel (hjh). Heute, am Mon-

tag, beginnt vor dem 8. Senatdes Hessischen Verwaltungs-gerichtshofs die mündliche Ver-handlung in drei Verwaltungs-streitverfahren, die den Betriebeiner Hanauer Brennelemente-fabrik betreffen.

Kläger sind der Main-Kinzig-Kreis und zwei in der Nachbar-schaft der Fabrik lebende Bürger.Sie wenden sich gegen einen Be-scheid, mit dem das hessischeUmweltministerium als atom-rechtliche Genehmigungsbehör-de am 27. April 1988 der früherenAlkem GmbH bestimmte Ferti-gungsprozesse gestattet hat. Eshandelt sich um die sogenannteKonversion nach.dem Uran-Plu-tonium-Mischcarbonat-Verfah-ren und die Herstellung von4,5 Meter langen Brennstäben.Die beiden genehmigten Ferti-gungsprozesse gehören zur Pro-duktion von Brennelementen fürAtomreaktoren.

Zwei der Kläger verlangen zu-sätzlich im Wege des vorläufi-gen Rechtsschutzes die Still-legung des laufenden Betriebsfür die genannten Fertigungs-prozesse bis zur rechtskräftigenEntscheidung über ihre Klage.

Die Alkem GmbH hatte die indem Bescheid genehmigten Fer-tigungsprozesse schon bishereingesetzt, nachdem die Behör-de erstmals in den Jahren 1982

und 1983 der Brennelement-herstellung in dieser Form zu-gestimmt hatte.

Das Landgericht Hanau hattein einem im Jahr 1987 zum Ab-schluß gebrachten Strafverfah-ren gegen Geschäftsführer derFirma Alkem und Beamte derGenehmigungsbehörde die An-geklagten zwar von dem Vor-wurf des unerlaubten Betreibenseiner kerntechnischen Anlagefreigesprochen, die Vorab-zustimmungen jedoch alsrechtswidrig bezeichnet.

Am 27. April 1988 hat die Ge-nehmigungsbehörde die Vorab-zustimmungen durch den jetztvor dem Verwaltungsgerichts-hof angefochtenen endgültigenGenehmigungsbescheid ersetzt.Er gestattet dieselben Ferti-gungsprozesse wie die Vorab-zustimmungen.

Umbauten

Der neue Bescheid steht in ei-ner Reihe verschiedener Ge-nehmigungsbescheide, die dieBehörde seit 1987 für die Brenn-elementfabrik Alkem erteilt hat.In der Fabrik finden nämlich zurZeit Umbauten statt, für die eineatomrechtliche Genehmigungnotwendig ist. Außerdem istaufgrund einer aus dem Jahr1975 stammenden Änderung

des Atomgesetzes auch fürBrennelementfabriken, derenBetrieb,' wie bei Alkem, damalsschon genehmigt war, ein neuesGenehmigungsverfahren erfor-derlich. Das neue Verfahren fin-det anders als das frühere unterBeteiligung der Öffentlichkeitstatt. Das Alkem-Vorhaben istder Öffentlichkeit im Jahr 1984bekanntgemacht worden. ,

Die Kläger machen unter an-derem geltend, daß die in demvon ihnen angefochtenen Be-scheid vom 27. April 1988 ge-nehmigten Fertigungsprozessenicht hinreichend bekannt-gemacht worden seien und daßes überhaupt an einem Antragder Alkem GmbH auf Erteilungeiner solchen Genehmigung feh-le. Sie befürchten Schäden,' dienach ihrer Auffassung durchden genehmigten Betrieb ein-treten können.

Anstelle der Firma Alkem istnach einer Verschmelzung derGesellschaften nunmehr dieSiemens AG an dem Prozeß vordem Verwaltungsgerichtshofbeteiligt.

Für die Verhandlung sind vor-sorglich mehrere Tage vorgese-hen. Mit einer Entscheidung wirdnach Angaben des Gerichtshofsfrühestens am 1. November ge-rechnet.(Aktenzeichen: 8 A 2902/88,8 A 2903/88 und 8 R 3723/88).

Bischof Leich sprach auf Veranstaltung der Reformbewegung

4000 bei „Friedensgebet" in EisenachEisenach (k). In der DDR-

Kreisstadt Eisenach hat es diebislang größte Veranstaltung derReformbewegung gegeben: Rund4000 Menschen nahmen nach In-formationen unserer Zeitung inund vor der Georgenkirche aneinem „Friedensgebet" teil. Be-kanntester Redner war der Bi-schof der Evangelischen Landes-kirche von Thüringen, WernerLeich, der über sein Gespräch mitDDR-Staats- und Parteichef EgonKrenz berichtete.

Ein Teil der Veranstaltungwurde nach draußen verlagert -der Bischof und andere Rednerwandten sich vom Rand einesBrunnens aus an die Zuhörer,die in der Kirche keinen Platzgefunden hatten. Die Volkspoli-zei griff nicht ein.

Nach Angaben des Eisen-acher Pfarrers Ralf-Uwe Beckwaren die Teilnehmer des Frie-densgebets aus dem ganzenKreis, auch aus den Grenz-dörfern, angereist. Heute, amMontag, soll es zwei weitereFriedensgebete geben.

Unterdessen gehen die Vor-bereitungen für die Gründungdes „Demokratischen Auf-bruchs" überall in der DDRweiter.

In Eisenach kam es im Vorfelddieser Konstituierung am Don-nerstag voriger Woche zu einerVersammlung in einem Gemein-dehaus, an der rund 400 Men-schen teilnahmen.

„Keine Konkurrenz"

Der „Demokratische Auf-bruch" versteht sich nicht als.Konkurrenzorganisation zum„Neuen Forum", sondern willmit dieser Gruppe zusammen-arbeiten. Der „DA" ist vor allemin Thüringen verbreitet undÖkologie-betont. Für den KreisEisenach wurden zahlreicheArbeitsgruppen gebildet, die einStatut und ein Progamm des„Demokratischen Aufbruch"vorbereiten sollen.

Die ersten Reformansätze desSED-Regimes werden innerhalb

der Reformbewegung noch mitSkepsis gesehen. „Man hat dieSorge, daß sich die SED an dieSpitze der Bewegung stellenkönnte, um dieser mit wenigenReformmaßnahmen den Windaus den Segeln zu nehmen," er-klärten Vertreter des Kreis-verbands Werra-Meißner desBundes für Natur- und Umwelt-schutz Deutschland, die amSamstag von Gesprächen ausder DDR zurückkehrten.

Künstler solidarisch

Ähnlich wie in Eisenach ver-läuft die Entwicklung derzeit invielen ländlichen Kreisen Thü-ringens. In Erfurt hat sichder Bezirksverband bildenderKünstler mit anderen Künstler^organsationen solidarsiert undin einer Erklärung demokrati-sche Wahlen, Presse- und Rei-sefreiheit gefordert. Das Papierwurde im Wortlaut in der „Thü-ringischen Landeszeitung" ver-öffentlicht.

Pay-TV gibt es jetzt auch in FrankfurtFrankfurt (Ihe). Die Bundes- 3 Uhr nachts ausgestrahlte Pro- richtete, können die an das Ka-

post bietet ihren Kabelkunden gramm besteht ausschließlich beinetz angeschlossenen Haus-jetzt auch in Frankfurt gegen aus Spielfilmen. Wie der Presse- halte das Pay-TV über einen imGebühren das sogenante Pay-TV referent der Frankfurter Ober- Rundfunk und Fernsehhandel er-an. Das vorerst von 10.30 bis postdirektion, Michael Behr, be- hältlichen Decoder empfangen.

PrpicifPrrlärhtin hatte sich das Perserkatzen-r i G i a V G l U a b l l l i y pärchen Amiga und Alexina vonCastell am Wochenende vor dem offiziellen Plakat einer inter-nationalen Katzenausstellung in Frankfurt gleich in einem Pokalplaziert. Die am 20. Juli geborenen shaded-silver-farbenen Kätz-chen haben einen Handelswert von je 1000 Mark.

(dpa-Funkbild)

Frankfurt (Ihe).Ein 59jährigerFahrer einesMotorrollers"ist in der Nachtzum Sonntagbei einem Ver-kehrsunfall aufder AutobahnFrankfurt-Fulda getötet worden.Wie die Polizei berichtete, wurdeder Mann bei / Gelnhausen-Höchst (Main-Kinzig-Kreis) voneinem Auto erfaßtund stürzte auf

Motorrollerfahrer

59jähriger beiUnfall getötet

die Fahrbahn.Sein Fahrzeugwurde 170 Me-ter weit wegge-schleudert. DerFahrer erlagnoch an der Un-fallstelle seinenschweren Ver-

letzungen. Die Insassen des Au-tos wurden nur leicht verletzt.Nach Vermutungen der Polizeihatte der 20jährige Autofahrerden Motorroller zu spät erkannt.

„Rhein-Main"

Nebel legteden Flugverkehrzeitweilig lahm

Frankfurt (Ihe). Wegen dich-ten Nebels mußten am Samstag-morgen am Frankfurter Flug-hafen 50 Flüge gestrichen wer-den. 23 Maschinen wurden aufandere Flughäfen umgeleitet.Auch auf den hessischen Stra-ßen mußten die Autofahrer we-gen schlechter Sicht einen Gangzurückschalten.

Wie Hans-Wolfgang Cloeter,Verkehrsleiter vom Dienst aufdem Rhein-Main-Flughafen, be-richtete, betrugen die Sicht-weiten auf dem Rollfeld von„Rhein-Main, zeitweilig nur15.0 Meter. Annuliert wurden22 Landungen und 28 Starts. Dieumgeleiteten Maschinen lande-ten vor allem in Düsseldorf undKöln. Am späten Vormittag sta-bilisierte sich die Lage, und esgab nur noch Verspätungen biszu einer Stunde. Angesichts der900 geplanten Starts und Lan-dungen am Samstag stufte derVerkehrsleiter die Ausfälleund Verzögerungen als „mittel-mäßig" ein.

Den Nebelbänken in den hes-sischen Niederungen standenSonnenschein auf den Berg-spitzen von Wasserkuppe undFeldberg gegenüber. Gegen Mit-tag löste sich der Nebel auf.

Nach Ansicht des Meteorolo-gen beim Offenbacher Wetter-amt Klaus Bähnke dterht ver-mutlich der Übergang zur kaltenJahreszeit bevor. Eine Bauern-regel besage: „Wenn Simon undJudas vorbei, ist der Weg zumWinter frei". Simon und Judasist der Name der HeiligentageEnde Oktober.

VERLOCKENDE VIELFALT

Nicht abgebildet:

Nahtstrumpfhosen

mitTangaslip

Feinstrumpfhosen mit Naht,Hochferse undFlock-StroBmotiv * •

. . . wo Mode so wenig kostet

Samstag, Familienkauftag, durchgehend bis 18 Uhr geöffnet!

Page 52: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 253 Stadt Kassel Montag, 30. Oktober 1989

Ausstellung

„Vom Gewässerzur Kloake"

Kassel (b). „Bachläufe in Kas-sel - Vom Gewässer zur Kloa-ke" lautet der Titel einer Aus-stellung, die die Kasseler Ar-beitsgemeinschaft Wasser vom30. Oktober bis 17. Novemberim Gebäude der Volkshoch-schule, Wilhelmshöher Allee21, zeigt. Die Eröffnung mit ei-ner ausführlichen Erläuterungfindet am heutigen Montag, 30.Oktober, um 19.30 Uhr statt.

Am Beispiel der Drusel unddes Wahlebaches haben dieMitgieder der AG Wasser un-tersucht, wie sich die Wasser-qualität beider Bäche auf ihremWeg durch das Stadtgebiet ver-ändert. Darüber hinaus sind sieder Frage nachgegangen, wo-durch die Gewässer verunrei-nigt werden.

Ein weiteres Anliegen der AGWasser ist es, auch andere Kas-seler Initiativen vorzustellen,die sich mit der Situation derstädtischen Gewässer befassen.So wurden die Öko-AG der Ja-cob-Grimm-Schule und die Teil-nehmer eines vhs-Kurses einge-laden, ihre Arbeiten im Rahmender Ausstellung vorzustellen.

Begleitend zu der Ausstellungfindet am Donnerstag, 9. No-vember, um 20 Uhr in der Aulader ehemaligen Ingenieurschu-le, Wilhelmshöher Allee 73,eine Podiumsdiskussion zumThema Wasser statt, an der un-ter anderem Christiane Thal-gott, die Kasseler Baudezernen-tin, und Dr. Adam Onken vonder Gesamthochschule Kassel(GhK) teilnehmen werden.

Nach Unfallflucht

Fahrer stöbertVerursacher auf

Kassel (b). Der Hartnäckig-keit eines 22jähriges Fuldatalersverdankt die Kasseler Polizei,daß sie in der Nacht zum Sonn-tag - nach zunächst vergebli-cher Fahndung - doch noch denVerursacher eines Unfalls er-mitteln konnte.

Wie ein Sprecher der Kasse-ler Polizei gestern mitteilte,rammte ein zunächst unbekann-ter Autofahrer gegen 23 Uhr mitseinem Pkw den an der Korba-cher Straße geparkten Wagendes 22jährigen und setzte seineFahrt fort, ohne sich um den an-gerichteten Schaden in Höhevon etwa 2000 Mark zu küm-mern. Aufgrund eines am Un-fallort gefundenen Kühlergrillsstartete die Polizei kurz daraufein Nahbereichsfahndung, diejedoch ohne Erfolg blieb.

Der geschädigte Fuldabrückermachte sich darauf hin zusam-men mit seiner Frau und einemFreund selbst auf die Suche -und hatte tatsächlich Erfolg.Nachdem das Trio rund vierStunden lang systematisch auchStraßen in der weiteren Umge-bung abgefahren hatte, entdeck-ten es das beschädigte Unfallau-to am Brasseisberg und alar-mierte die Polizei.

Da der Halter des Fahrzeugs,ein 60jähriger Mann, sich wei-gerte, die Beamten ins Haus zulassen, brachen die Ordnungs-hüter die Tür auf und nahmenden Mann zur Blutentnahme mitauf die Wache. Dort stellten sieauch den Führerschein sicher.

Hafenstraße:

Nobelkarossen vonRowdys demoliert

Kassel (b). Schaden in Höhevon mehreren zehntausend.Mark richteten unbekannte Tä-ter in der Nacht zum Sonntagauf einem Gelände an der Ha-fenstraße in der Kasseler Unter-neustadt an, auf dem mehrereFirmen angesiedelt sind.

Laut Polizei drangen die Täterin mehrere Werkstätten und Bü-ros ein, brachen unter anderemvier Autos auf und entwendetendaraus die Radios. Darüber hin-aus zertrümmerten sie an achtNobelkarossen die Fenster undbeschädigten den Lack.

Zeugenhinweise erbittet dieKasseler Polizei unter der Ruf-nummer 78 11.

Brandstiftung in Wahlershausen / 750 000 Mark Schaden

Fachwerk-Hof in hellen FlammenKassel (b). Großfeuer in Kas-

sel-Wahlershausen: Bisläng un-bekannte Täter setzten in derNacht zum Sonntag Scheuneund Stallungen des Fachwerk-gebäudes Stockwiesen 8 vor-sätzlich in Brand und richtetennach ersten Schätzungen einenSchaden von 750 000 Mark an.Die Flammen, die die Feuerwehrerst nach einigen Stunden unterKontrolle hatte, zerstörten auchTeile eines angrenzendenWohnkomplexes.

Der Brand wurde nach Aus-kunft der Kasseler Polizei vonAnwohnern bemerkt, die - ver-mutlich als das Dach vor Hitzebarst - von einem lauten Knallaufmerksam gemacht wordenwaren. Um 23.32 ging der Alarmin der Leitstelle der Kasseler Be-rufsfeuerwehr ein, die sofort diekomplette Wachmannschaft inBewegung setzte. Als die erstenrund 30 Feuerwehrmänner amBrandort eintrafen, standenScheune und Stallungen auf ei-ner Ausdehnung von rund 300Quadratmetern in hellen Flam-men.

Der Löscheinsatz gestaltetesich nach Darstellung der Be-rufsfeuerwehr anfangs äußerstschwierig. Zum einen hatte dieFeuerwehr Mühe, sich mit ihrengroßen Fahrzeugen den Wegdurch die engen Gassen inWahlershausen zu bahnen, zumanderen reichte die Wasserver-sorgung der in der Langen Stra-ße angezapften Ringleitungnicht aus.

Hinzu kam, daß einige Hy-dranten von Autos zugeparktwaren und die Wagen weggeho-ben werden mußten. Erst nach-

MIT WENDEROHREN, die fest auf dem Fahrzeug installiert sind, bekämpfte die Berufsfeuerwehr in derNacht zum Sonntag die Flammen beim Großbrand in Wahlershausen. (2 Fotos: Herzog)

dem weitere Schlauchleitungenvon der Wilhelmshöher Alleeund vom Wahlebach her aufge-baut waren sowie die Städti-schen Werke den Wasserdruck

erhöht hatten, hieß es „Wassermarsch" aus allen Rohren.

Während vier mit Atem-schutzgeräten ausgerüsteteZwei-Mann-Trupps die Flam-men im Innenangriff bekämpf-ten, wurden draußen unter an-derem zwei - einem Wasser-werfer ähnliche - Wenderohreeingesetzt. Die Löscharbeitengestalteten sich mitunter gefähr-lich für die Feuerwehrmänner,da immer wieder Teile desDachs, der Mauern und Lehm-decken einstürzten. So ^ wurdeauch ein im Hof abgestelltesAuto durch herabfallendeTrümmer erheblich beschädigt.

Stallungen, aus denen Anwoh-ner noch vor dem Eintreffen derFeuerwehr eine Stute und ihrFohlen gerettet hatten, unter dieLupe nahmen, stellten sie fest,daß ein technischer Defekt alsUrsache ausgeschlossen werdenkann und allein vorsätzlicheBrandstiftung in Frage kommt.Laut Polizei waren die Stallun-gen zwar ge-, nicht aber ver-schlossen, so daß sich jeder un-gehindert Zugang verschaffenkonnte.

Hinweise auf den oder die un-bekannten Brandstifter erbittetdie Polizei unter der Rufnummerunter 78 11.

Freiwillige Wehren halfen Zimmerbrand

Doch nicht nur die Berufsfeu-erwehr - die abwechselnd dieFreiwilligen FeuerwehrenWest, Harleshausen, Waldau,Forstfeld, Ober- und Nieder-zwehren zu Hilfe rief - hatteProbleme, auch die Polizei hatte- im wahrsten Sinne des Wortes- alle Hände voll zu tun, denBrandort großräumig abzusi-chern. In einigen Fällen mußtendie Beamten gar körperliche Ge-walt einsetzen, um neugierigeGaffer zurückzudrängen.

Als Feuerwehr- und Polizei-UNTER DENKMALSCHUTZ stand das Fachwerkgebäude' Stockwie- Spezialisten gestern morgen diesen 8, das in der Nacht zum Sonntag ein Raub der Flammen wurde, ausgebrannte Scheune und die

Besonders auf die Unterstüt-zung der Freiwilligen Wehrenwar die Berufsfeuerwehr ange-wiesen, als parallel zum Groß-brand in Wahlershausen gegen2.40 Uhr ein Zimmerbrand ander Fichtnerstraße in der Kasse-ler Nordstadt gemeldet wurde.Auch hier mußte sich ein Truppmit Atemschutzgeräten schüt-zen, um die Flammen im erstenObergeschoß eines Mehrfami-lienhauses zu löschen. DerBrand war in Abwesenheit derBewohner durch einen techni-schen Defekt an einem Kühl-schrank entstanden. Der Scha-den beträgt etwa 5000 Mark.

Zu nächtlicher Stunde

Racheakt kamteuer zu stehen

Kassel (b). Teuer bezahlenmußte in der Nacht zum Sams-tag ein 47jähriger Kasseler ei-nen Racheakt, der sich gegen ei-nen Einwohner aus Nordshau-sen richtete.

Laut Polizei begann der Streit,als der 47jährige gegen 2.45 Uhran der Tür des Nordshäusersklingelte und ihn bat, ihm einTaxi zu bestellen. Nachdem sichder Südstädter angesichts dernachtschlafenden Zeit gewei-gert hatte, der Bitte nachzukom-men, geriet der 47jährige inRage. Mit der bloßen Faust zer-trümmerte er vor Wut mehrereFensterscheiben. Dabei zog ersich erhebliche Schnittverlet-zungen und einen Armbruch zu.

Statt mit dem Taxi nach Hau-se, fuhr er wenig später mit ei-nem Rettungswagen ins Kran-kenhaus.

KVG / Toter identifiziert

52jähriger starbnatürlichen Todes

Kassel (b). Der zunächst un-bekannte Tote, der am Samstagmorgen in einem Wagen derStraßenbahnlinie 3 im KVG-De-pot in Wilhelmshöhe entdecktworden war (wir berichteten inder „Sonntagszeit"), ist identifi-ziert. Nach Mitteilung einesSprechers der Kasseler Polizeihandelt es sich bei dem Mann,der eines natürlichen Todesstarb, um einen 52jährigen Kas-seler.

Da der Mann zuletzt von sei-ner Ehefrau getrennt in einemMehrfamilienhaus gewohnt hat-te, war er nicht vermißt worden.Aufgrund der Berichterstattungführten Nachbarn die Polizei aufrichtige Spur.

Für Benachteiligte

Rotes Kreuz gibt amSamstag Butter aus

Kassel (eg). Der KreisverbandKassel-Stadt des Deutschen Ro-ten Kreuzes teilt am 4. Novem-ber von 9 bis 16 Uhr in der He-gelsbergstraße 22 an stark be-nachteiligte Bürger und Bürge-rinnen der Stadt KasselButteraus. Pro Person werden 750Gramm abgegeben.

Das DRK bittet den betreffen-den Personenkreis, gültige Ar-beitslosen-, Sozialhilfe- undRentenbescheide mitzubringen.Auch wird darum gebeten, Tra-getaschen mitzubringen, da vomDRK keine Taschen zur Verfü-gung gestellt werden können.

Frau am Kopf verletzt BGS nach Fuldatäl

Aus der Feierwurde Fehde

Kassel (b). Übermäßiger Al-kohlgenuß sorgte am Samstagdafür, daß aus einer Familienfei-er eine Familienfehde wurde, inderen Verlauf eine Frau am Kopfverletzt wurde und ärztlich be-handelt werden mußte.

Laut Polizei feierte eine jugo-slawische Familie in einerKleingartengaststätte am Quell-bachweg in der Nordstadt einBeschneidungsfest. Im Verlaufder Feier, an der rund 70 Perso-nen teilnahmen, kam es aus derPolizei bislang ungeklärtenGründen zu einem handfestenStreit. Etwa acht Gäste bewar-fen sich auf dem Hof mit Back-steinen und schlugen sich. ,

Gewalt angewandt

Erst der Polizei gelang es, dieStreithähne zu trennen. Um denlaut Polizei erheblich unter Al-koholeinwirkung stehenden„Haupttäter" zu beruhigen,mußten die Beamten gar Gewaltanwenden. Nachdem ihm eineBlutprobe entnommen wordenwar, wurde er zur Ausnüchte-rung in den Gewahrsam ge-bracht.

CDU ist „bitterenttäuscht"

Kassel (sgr). „Bitter ent-täuscht" zeigt sich die CDU-Fraktion Kassel über die BonnerEntscheidung, das Bundes-grenzschutzkommando Mittenach Fuldatal zu verlegen. Dabei einem Gespräch mit Staats-sekretären und Bundestagsab-geordneten am Dienstag in Bonnbei einer Delegation der Frakti-on der Eindruck entstanden sei,daß die Entscheidung des Haus-haltsausschusses vertagt wür-de, um nochmals Für und Widerzu überprüfen, müsse die Bon-ner Nachricht gerade im Hin-blick auf die gemeinsamen Be-mühungen des überwiegendenTeils der politischen Kräfte fru-strieren, meinte Fraktionsvor-sitzender Wolfgang Frei.

Bei aller Verärgerung bestehejedoch der Trost, daß die Behör-de in der Nachbargemeinde Ful-datal und damit im Bereich desZweckverbandes Kassel bleib'e.Insofern könne man die Ent-scheidung nicht mit dem frühe-ren Abzug von Verwaltungennach Südhessen oder mit Stand-ortentscheidungen gegen Kas-sek zugunsten von Städten inanderen Bundesländern verglei-chen, sagte Frei.

Auch in Arnstadt Tausende bei Dialog mit PolitikernDie Aufbruchsstimmung in derDDR und die Forderung nachVeränderungen hat auch diekleineren Städte und Gemein-den längst erfaßt, Mehrere tau-send Bürger haben am Samstagin verschiedenen Städten an

dem von ihnen geforderten Dia-log mit den politisch Verant-wortlichen teilgenommen. Dar-unter war auch eine Veranstal-tung in Kassels PartnersatdtArnstadt. Vor dem Rathaus hat-ten sich Tausende zum Dialog

mit dem OberbürgermeisterBernd Markert (2. v. Links) unddem Mitglied des Kreisvorstan-des der Liberal-demokratischenPartei Deutschlands, FriedrichProx (links) eingefunden.

(Foto: dpa)

Page 53: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

' - • * » HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMEINEHESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

A L L G E M E I N E g UNABHÄNG,GPreis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 254 • Dienstag, 31.10.1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Von Grünen zur SPD

Steht WechselSchilys bevor?

München (dpa). Einer der pro-filiertesten Vertreter der Grü-nen, Otto Schily, geht mögli-cherweise zur SPD. Nach Infor-mationen der „SüddeutschenZeitung" will Schily in dennächsten Tagen seinen Austrittbekanntgeben. Kurze Zeit spä-ter soll dann der Vorstand desSPD-Unterbezirks München-Land zusammentreten, um Schi-ly als Direktkandidaten für denWahlkreis München-Land zupräsentieren. Schily weilt zurZeit auf Vortragsreise in Italien.

Remscheid:

Rätsel umKrankheit

25 Remscheidern,die nach dem Ab-sturz eines Kampf-flugzeugs an einerrätselhaften Haut-krankheit leiden,wurde psychologi-sche Beratung ange-boten. Bodenprobenhaben keine radio-aktive Verseuchungergeben. „Blick indie Zeit".

Koedukation

Vorstoßin Kiel

In ihrem Entwurffür ein neues Schul-gesetz sieht Schles-wig-Holsteins Kul-tusministerinRühmkorf (Kiel)vor, daß Jungen undMädchen zwar ge-meinsam erzogen, inEinzelfällen aber ge-trennt unterrichtetwerden können.Siehe Kultur.

Europapokal

ZDF: ZweiSpiele live

„Fußball total"verspricht das ZDFden TV-Zuschau-ern. Heute wird ab19.30 Uhr das Euro-papokal-DuellHamburg - Saragos-sa übertragen, mor-gen soll zur gleichenZeit die Partie Stutt-gart - Leningrad ge-sendet werden. Sie-he Sport.

Lottotüftler

Traum„geplatzt"

Sie träumten vomMillionengewinn,die SiegerländerLottotüftler. Jetzt istihr Traum erst ein-mal wie eine Seifen-blase geplatzt. DasErgebnis nach demEinsatz von 620 000DM: Nur 280 000DM Gewinn. Siehe„Zum Tage" und„Blick in die Zeit"

Wales-Spiel

Matthäusfällt aus

Ohne Kapitän Lo-thar Matthäus(Foto) von InterMailand, der sicham Sonntag einenAußenbandabriß imSprunggelenk zu-zog, muß die deut-sche Fußball-Natio-nalelf das WM-Qualifikationsspielgegen Wales be-streiten. Siehe Sport

40 Jahre Sozialstaat — Graue Panther protestieren bei BlümAngeführt von Trude Unruh(links) rügte gestern eine Ab-ordnung des SeniorenbundesGraue Panther gegenüber Bun-desarbeitsminister Blüm die ih-rer Ansicht nach unzureichen-den Versorgungsrenten. Die Be-gegnung (unser Bild) fand vordem Essener Saalbau statt, indem Bund, Länder und Gemein-

den auf einem Kongreß „40 Jah-re Sozialstaat BundesrepublikDeutschland" würdigten. Dabeisagte Bundeskanzler Kohl, mankönne noch keinesfalls von ei-ner Vollendung sprechen. AlsAufgaben, die noch viel Tatkraftund Fantasie erforderten, nann-te er den Abbau der Arbeitslo-sigkeit sowie die weitere Ver-

besserung der Situation kinder-reicher Familien. Der stellver-tretende SPD-Vorsitzende undsaarländische Ministerpräsi-,dent, Oscar Lafontaine, plädier-te für eine „offensive Sozialpoli-tik, die das Menschliche in denVordergrund stellt, ohne dasÖkonomische zu vernachlässi-gen". (dpa-Funkbild)

In mehreren DDR-Städten / Allein 300 000 in Leipzig

Hunderttausende demonstriertenBerlin (dpa). In Leipzig haben

gestern abend erneut rund300 000 Menschen demon-striert. Auch aus anderen Städ-ten der DDR wie Halle (50 000Demonstranten), Schwerin(40 000), Karl-Marx-Stadt undMagdeburg (jeweils über 20 000)wurden Protestmärsche gemel-det. Die Polizei hielt sich zurück.

In Leipzig waren Transparen-te zu sehen, auf denen unter an-derem „Freie Wahlen - Volksre-.gierung" gefordert wurde. InSprechchören wurde immerwieder gerufen: „Wir sind dasVolk". Die Demonstranten for-derten auch die Zulassung des„Neuen Forums". Auf Plakatenwaren Stimmzettel für die Op-

positionsbewegung und die So-zialdemokratische Partei (SDP)gemalt. Auch Handzettel mitdem Aufruf zur Gründung einerunabhängigen Gewerkschaft„Reform" wurden verteilt. Mit-glieder des „Neuen Forums" bil-deten im Verlauf der Demon-stration eine Menschenkettevor dem verdunkelten Gebäudedes Staatssicherheitsdienstes,um eventuelle Übergriffe zu ver-hindern. Die DDR-Nachrichten-sendung „Aktuelle Kamera" be-richtete in einer Live-Schaltungvon der Demonstration in Leip-zig. In der Sendung wurde auchein Interview mit dem LeipzigerOberbürgermeister Seidel ge-zeigt. Er betonte, daß die ge-

gründeten Gesprächsgruppenfür alle Bürger offen seien.

In Ostberlin nahmen mehreretausend DDR-Bürger an Fürbitt-andachten teil. In der Gethse-manekirche rief Bischof Forckzur Besonnenheit und Gewaltlo-sigkeit auf.

DDR-Staats- und ParteichefKrenz hat am Montag den An-spruch der SED auf die führendeRolle in der DDR erneuert. VorAbsolventen von Militärakade-mien des Warschauer Paktessagte er nach Angaben derDDR-NachrichtenagenturADN, die Einheitspartei stehe„an der Spitze der Bewegung".Fortsetzung nächste SeiteSiehe „Themen des Tages"

Abstimmung über FDGB-Chef Tisch vertagtBerlin (dpa/AP). Nach über

sechsstündiger kontroverserDiskussion hat der Bundesvor-stand des DDR-Gewerkschafts-bundes FDGB am Montag seineEntscheidung für oder gegen sei-nen Vorsitzenden Harry Tischauf den 17. November vertagt.Darauf verständigte sich derBundesvorstand des FDGB amMontag abend, berichtete dieDDR-Nachrichtenagntur ADN.Über das politische Schicksal

des seit 1975 amtierenden Tischsoll dann in offener Abstimmungentschieden werden.

Tisch, Mitglied des SED-Polit-büros, hatte zu Beginn der Sit-zung die Vertrauensfrage ge-stellt, nachdem er in den ver-gangenen Tagen besonders vonder Gewerkschaftsjugend scharfkritisiert worden war. Sollte derBundesvorstand ihm das Ver-trauen aussprechen, sei er be-reit, an dem „zur Diskussion ste-

henden Arbeitsprogramm" mit-zuwirken, erklärte er nach An-gaben von ADN. Die Agenturberichtete, die meisten Rednerder Sitzung hätten ein „Opfern"Tischs abgelehnt. Die FDGB-Präsidiums-Gästehäuser inWarnemünde an der Ostsee undSchmöckwitz bei Berlin werdenlaut ADN sofort dem gewerk-schaftlichen Feriendienst' zurVerfügung gestellt.Siehe auch Kommentar

Bei Reisefreiheit für DDR-Bürger

Waigel lehntFinanzhilfe ab

München (AP/dpa). Bundesfinanzminister Waigel hat einefinanzielle bundesdeutsche Unterstützung für Westreisenvon DDR-Bürgern strikt abgelehnt. Die DDR könne ange-sichts der angekündigten Reisefreiheiten das Devisenpro-blem nicht „auf uns abwälzen".

Waigel erklärte am Montagnach einer CSU-Vorstandssit-zung in München. Der DDR seidurchaus zuzumuten, einen Teilihrer Deviseneinnahmen für dieReisemöglichkeiten seiner Be-wohner zur Verfügung zu stel-len. Er forderte von der Ostber-liner Führung, zunächst die be-reits aus dem Zwangsumtausch(450 Millionen DM), den Um-satzsteuervergünstigungen(rund 350 Millionen) und deminnerdeutschen Handel (240Millionen) zur Verfügung ste-henden Devisen für Westreisender DDR-Bürger zu nutzen.Wenn klar werde, welchen fi-nanziellen Beitrag die DDRselbst für die neue Reisefreiheiteinsetzen wolle, dann könneman auch über „andere Dingereden".

Dazu gehöre eine Förderungdes bundesdeutschen Fremden-verkehrs in der DDR. Waigelmeinte, es gebe ein großes Inter-esse bei Bundesbürgern an tou-ristischen DDR-Reisen. Bei derVerbesserung der Fremdenver-kehrsinfrastruktur könne Bonnhelfen. Ein Ausbau der Zusam-menarbeit sei auch im Umwelt-schutz möglich. Weitere wirt-schaftliche Hilfen für die DDRsollten nach Ansicht Waigels

generell an die Verwirklichungwirtschaftlicher und politischerReformen durch die neue SED-Führung geknüpft werden.

CSU-Parteichef Waigel er-klärte ferner, das Selbstbestim-mungsrecht der DDR-Bürgerhabe Vorrang vor dem Ziel derWiedervereinigung beider deut-scher Staaten. „Wenn die Men-schen Gelegenheit haben, sichfür die Freiheit zu entscheiden,werden sie auch ja zur Einheitsagen".

Bundeskanzler Kohl hat ge-stern zur Solidarität mit den insLand strömenden Aus- undÜbersiedlern gemahnt. Er nann-te laut gewordene Bedenken ge-gen die Zuwanderung Deut-scher einen „Skandal". In einerVeranstaltung zur Feier des40jährigen Bestehens des „Sp-zialstaates BundesrepublikDeutschland" sagte er, es gehenicht an, daß sich die Bundesre-publik als eines der reichstenLänder der Welt ihrer Verant-wortung entziehe. Kohl nahmdie Neuankömmlinge vor demVorwurf in Schutz, Wirtschafts-flüchlinge zu sein: „Es gibt ebennicht nur den Hunger nach Brot,sondern auch jenen nach Frei-heit," -

Großbritannien In Moskau

Thatcher amTiefpunkt

London (AP). Die Popularitätder britischen Premierministe-rin Thatcher ist derzeit auf ei-nem persönlichen wie histori-schen Tiefpunkt. Nach dem amMontag veröffentlichten Ergeb-nis einer im Auftrag der Tages-zeitung „The Independent"durchgeführten Meinungsum-frage sind nur 24 Prozent derBefragten mit der AmtsführungFrau Thatchers zufrieden. DasMeinungsforschungsinstitutNational Opinion Poll (NOP)meldete, seit man vor 50 Jahrenmit derartigen Umfragen begon-nen habe, habe noch kein Pre-mierminister so schlecht abge-schnitten.

Der NOP-Umfrage zufolge ha-ben 61 Prozent Frau Thatcherdie Schuld am Rücktritt desSchatzkanzlers Nigel Lawsonam Donnerstag zugeschrieben.Siehe „Themen des Tages"

Demo gegen KGBzerschlagen

Moskau (AP). Sowjetische Be-reitschaftspolizei ist am Montagabend in Moskau mit Gummi-knüppeln gegen Demonstrantenvorgegangen, die nach einerKundgebung für die Opfer desStalinismus vor dem Hauptquar-tier der Geheimpolizei KGB zumPuschkin-Platz marschiert wa-ren und Parolen gegen den KGBgerufen hatten. Der Nachrich-tenagentur Tass zufolge wurden40 Teilnehmer festgenommen.

Nach Angaben von Reporternder Nachrichtenagentur APmarschierten rund 500 Demon-stranten zum Puschkin-Platz.Dabei wurden Rufe wie „DerKGB ist der Feind des Volkes"laut, und es wurden Flugblätterverteilt. In der Nähe des Platzesgingen Polizei-Einheiten gegendie Menge vor. Einige Männerwurden zu Boden geschlagenund in Polizeibusse geschleppt.

Zum Tage

Midas läßt grüßenAlles, was er berührte, wurde zuGold, berichtet die Sage. Doch warKönig Midas ein glücklicher Mann?Das Volk verspottete ihn, weil einPaar Eselsohren das erlauchteHaupt zierten - bei einem Wett-streit unter Göttern hatte er aufden falschen gesetzt.

Griechische Mythologie? Daswaren doch die Comics des Alter-tums, wird mancher denken. Aberirgendwie drängt dieses Bild sichauf, wenn man vom Schicksal derjungen Computer-Tüftler liest, diemit ihrem Elektronenhirn das Lotto-System überlisten wollten. Das mitdem Gold hat nicht geklappt, dasmit den Ohren zwangsläufig.

Den Zufall besiegen, das Glückerzwingen-ein alter Traum. Millio-när werden ganz ohne Risiko, klar,da würden wir alle mitmachen wol-len. Jeder, der seinen Tippscheinabgibt, hat wohl insgeheim solcheWünsche. Und einmal muß es jaklappen. Millionen denken so, derMillionen wegen. Doch meistkommt's dann ein paar Nummernkleiner: „Achtmarkfuffzich dieseWoche für drei Richtige - na bitte,der Mensch ist ja bescheiden."

Nächste Woche sind wir alle wie-der dabei. Denn das Prinzip Hoff-nung ist rational nicht totzukriegen:Wen stört es schon, daß die „Chan-ce", vom Blitz erschlagen zu wer-den, wesentlich größer ist als die,sechs Richtige anzukreuzen?

Peter Ochs

Wallmann-Äußerung

SPD: MachtwortKohls verlangt

Bonn/Wiesbaden (AP). DerSPD-Parteivorstand hat amMontag den hessischen Mini-sterpräsidenten Wallmann we-gen seines umstrittenen Göring-Zitats scharf kritisiert und zu-gleich den CDU-Bundesvorsit-zenden, Bundeskanzler Kohl,aufgefordert,' er solle „bei seinenhessischen Parteifreunden einMachtwort" sprechen. Mit sei-ner Rede in einer Debatte deshessischen Ländtags, in derWallmann bei seinen Angriffenauf die SPD den ehemaligen na-tionalsozialistischen Reichs-tagspräsidenten Hermann Gö-ring zitiert hatte, habe der Mini-sterpräsident versucht, die So-zialdemokraten in die Nähe derNationalsozialisten zu rücken.

Wallmann hatte Mitte Okto-ber in der Debatte des Landtagsüber einen von SPD und Grünenkritisierten Nationalhymnen-Erlaß auf eine Reichstagssitzungvom Mai 1933 hingewiesen. Da-bei hatte er Göring als Zeugendafür zitiert, daß die SPD damalsdas Deutschlandlied mitgesun->en habe. Der SPD-Vorstand er-därte hierzu, Wallmann sei sichnicht einmal zu schade, den na-

tionalsozialistischen Kriegsver-brecher Göring als Zeitzeugenzu benutzen, um in einer völli-gen Verzerrung der deutschenGeschichte nachzuweisen, daßReichstagsabgeordnete der SPD1933 stillschweigend dem natio-nalsozialistischen Treiben zuge-sehen hätten".

Die endgültigen QuotenLotto: Gewinnklasse I 1 820 177,70DM; II 98 387,90 DM; III 10 582,40DM; IV 127,40 DM; V 8,50 DM.Toto:Auswahlwette: I. unbesetzt, Jackpot3 954 390,- DM; II. 51501,20 DM;III. 2843,60 DM; IV. 79,30 DM; V.6,80 DM. - Ergebniswette: I.83 161,70 DM; II. 2132,30 DM; III.168,40 DM.Rennquintett:Rennen A: Gewinnklasse I 230,10DM; II 63,10 DM.Rennen B: Gewinnklasse I 690,50DM; II 77,80 DM.Kombinationsgewinn: unbesetzt,Jackpot 62 531,40 DM.

(Ohne Gewähr)

Page 54: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 254 Politik Dienstag, 31. Oktober 1989

Namen undNachrichten

„Kein Bruch der Koalition"Der Hamburger FDP-Landes-vorsitzende Ro-bert Vogel istSpekulationenüber einenmöglichenBruch des so-zialliberalenRegierungs-bündnisses inder Hansestadtentgegengetre-ten. In einemRundfunkinter-view sagte Vo-gel jetzt, es gebe keinen Grund,die Zusammenarbeit zu been-den. Die FDP werde die Koaliti-on mit der SPD fortsetzen. Anlaßzu Spekulationen über den Zu-stand des Bündnisses warenVeröffentlichungen über einevon der Senatskanzlei zusam-mengestellte Sammlung vonÄußerungen und Parlamentsin-itiativen Vogels zur Wohnungs-baupolitik.

DDR will keine ItalienerÜber 27 000 arbeitslose Italie-ner haben sich einer Initiativedes Arbeitslosen-Komitees vonNeapel angeschlossen,, bei denDDR-Behörden um Übersied-lung und Arbeitserlaubnis fürsich und ihre Familien nachzu-suchen. Die DDR-Nachrichten-agentur ADN berichtete gesternweiter, daß dem Ersuchen in-zwischen eine Absage erteiltworden sei.

„stern"-Chef geht wiederIn der Chefredaktion des Ham-burger Magazins „stern" gibt eserneut einen Wechsel. Chefre-dakteur Herbert Riehl-Heyse,der diese Aufgabe erst vor vierMonaten übernahm-und die Re-daktion seit dem 1. Juli gemein-sam mit Michael Jürgs leitete,geht. Riehl-Heyse gab persönli-che Gründe für sein Ausschei-den an. Anfang des Jahres hatteder Verlag zwei Mitglieder derChefredaktion, Heiner Bremerund Klaus Liedtke, abberufen.

„Schuld abtragen"Ein dauerhaftes Bleiberecht für

Roma und Sintiin der Bundes-republik hatder frühere Ge-neralsekretärvon amnestyinternational,der evangeli-sche PfarrerHelmut Frenz,gefordert. Esgelte, „beson-dere Schuld ab-zutragen" und

mit einem „Lebensrecht" für alleRoma und Sinti ein „winzigesStück deutscher Geschichte ausder Nazi-Zeit zu bewältigen."

26 mal lebenslange HaftEin Gericht in Jerusalem hatden 26 Jahre alten PalästinenserAbdel Hadi Raanem gestern we-gen 16fachen Mordes im Zu-sammenhang mit einem An-schlag auf einen israelischen Li-nienbus Anfang Juli zu 16 Mallebenslanger Haft verurteilt.

Griechen wählen erneutIn Griechenland wird am kom-menden Sonn-tag zum zwei-ten Mal in die-sem Jahr einneues Parla-ment gewählt.Bei den Wahlenvom 18. Junihatte keine Par-tei die absoluteMehrheit er-reicht. Der kon-servativen Par-tei Neue Demo-kratie unter Konstantinos Mit-sotakis (Foto) werden Umfragenzufolge diesmal die meistenChancen eingeräumt.

ai: Folterungen in TürkeiObwohl die Regierung in Anka-ra internationale Verträge ge-gen die Folter unterzeichnet undratifiziert hat, werde in der Tür-kei weiterhin systematisch ge-foltert, heißt es in einem jetztveröffentlichten Report von am-nesty international. So seien seitAnfang des Jahres mehr als 500politische Gefangene gefoltertworden und zehn nach Miß-handlungen in der Haft gestor-ben.

.Fortschritt '90" / Lafontaine: Mit 50 Milliarden fördern

SPD will ,echte Sozialwohnungen'Bonn (AP). Die SPD räumt

dem sozialen Wohnungsbau inihrem RegierungsprogrammPriorität ein und will bis 1994den Bau von jährlich je 100 000Wohnungen mit insgesamt 50Milliarden Mark fördern. Beider Vorstellung der arbeits-markt- und wohnungsbaupoliti-schen Beschlüsse der Kommis-sion „Fortschritt '90" hielt derenVorsitzender Lafontaine derBundesregierung am Montag inBonn vor, das Wohnen als so-zialpolitische Aufgabe vernach-lässigt zu haben.

Ohne dauerhaft nutzbare, mitlangfristigen Belegungsbindun-gen ausgestattete „echte Sozial-wohnungen" wäre die nächsteProblemwelle schon heute für1995 programmiert, warnte der

stellvertretende SPD-Vorsit-zende. Das Milliardenprogrammkörine mit einer richtigen Priori-tätensetzung finanziert werden,meinte Lafontaine. In der näch-sten Legislaturperiode dürfe esnicht die angekündigten „unge-rechten und wirtschaftspoli-tisch unsinnigen Steuerge-schenke für Spitzenverdienerund Unternehmer geben".

Im beschäftigungspolitischenTeil ihres Programms setzen dieSozialdemokraten auf Arbeits-zeitverkürzung und Qualifizie-rung. Mit einem Arbeitszeitge-setz zur Begrenzung der Über-stunden könnten 200 000 Ar-beitsplätze geschaffen "werden,rechnete Lafontaine vor. Einstaatliches Sonderprogrammsoll helfen, 100 000 Langzeitar-

beitslose in Arbeit zu-bringen.Die Kosten in Höhe von rund 1,5Milliarden DM sollen im Vertei-digungsetat eingespart werden.

1,9 Milliarden DM, die einegeforderte Verdoppelung derWeiterbildungsmaßnahmen auf300 000 Teilnehmer kostenwürde, sollen mit Hilfe einerbesseren steuerlichen Erfassunghoher Kapitaleinkünfte finan-ziert werden., Die Union hielt den Sozialde-mokraten vor, sie sagten nichtsdarüber, wie ihre Vorhaben be-zahlt werden sollten. CDU-Ge-neralsekretär Rühe erklärte, mitden gleichen „Ladenhütern" wiemehr Staat, weniger Privatin-itiative und uneffektiven Be-schäftigungsprogrammen sei dieSPD schon früher gescheitert.

DIE AUSGEWOGENHEIT von Sozial-, Arbeits- Vorstellung der neuesten Sitzungsergebnisse,markt- und Umweltpolitik in den Vorschlägen Die kontroversen Diskussionen in der Partei sei-der „Fortschritt '90"-Gruppe unterstrichen der en nötig, um am Ende Klarheit zu bekommen,stellvertretende SPD-Vorsitzende Lafontaine „Wir sind im Konditionstraining und noch nichtund Geschäftsführerin Fuchs gestern bei der auf dem Platz", sagte Lafontaine. (dpa-Funkbild)

Prag / Nach Demo Wachsende Kritik Buschfort-Nachfolger

Anklage gegen DKP-Chef Mies Fichtner führtDemonstranten gibt Amt ab künftig AW0

Prag (AP)- Gegen 149 der 355bei den Prager Kundgebungenam Samstag festgenommenenDemonstranten soll Anklagewegen'Störung der öffentlichenOrdnung erhoben werden. Nachdem neuen Demonstrationsge-setz müssen die Angeklagtenmit Geldstrafen bis zu 3600 DMrechnen. Die Kundgebung warvon der Polizei gewaltsam auf-gelöst worden. Es gab nach offi-zieller Darstellung sieben ver-letzte Demonstranten und fünfverletzte Polizisten.

Unter den Festgenommenenwaren 17 Ausländer aus elf Län-dern. Ihr Schicksal ist noch un-gewiß. Die Demonstranten, diesich aus Anlaß des 71. Jahresta-ges der Gründung der tsche-choslowakischen Republik ver-sammelt hatten, hatten unteranderem die Ablösung desCSSR-Parteichefs Milos Jakessowie freie Wahlen gefordert.

Bonn (dpa). Der DKP-Vorsit-zende Herbert Mies (60, Foto)wird sein Amt auf dem außeror-dentlichen Parteitag im Februar1990 zur Verfü-,gung stellen.!Das kündigte erlauf einer DKP-Vorstandssit- \zung am Wo-chenende an.Mies zieht da-mit die Konse-quenzen ausder wachsen-den innerpar-teilichen Kritik,die zur Bildungeiner „Erneuerer"-Fraktion ge-führt hat. Eine wichtige Rolledürfte aber auch die Entwick-lung in der DDR spielen, dieMies am Montag vor Journali-sten als „atemberaubend" be-zeichnete. Mies stand 16 Jahrean der Spitze der Partei.

Bonn (dpa). Zum neuen Bun-desvorsitzenden der Arbeiter-wohlfahrt (AWO) ist der Vorsit-zende des Deutschen Vereinsfür öffentliche und private Für-sorge, Otto Fichtner aus Kassel(60), am Montag beim Bundes-kongreß des Verbandes in Bonngewählt worden. Der Jurist istNachfolger von HermannBuschfort (61), der das Amtnach sechs Jahren abgab.

Fichtner stammt aus Bremenund war während der soziallibe-ralen Koalition in Bonn Abtei-lungsleiter im Bundesfamilien-ministerium. Als stellvertreten-de Vorsitzende wurden dieSPD-BundestagsabgeordneteGerlinde Hämmerle (Karlsruhe)und Manfred ..Ragati (Bielefeld)neu gewählt. Überschattet wur-de die Tagung von der Affäre umdie umstrittenen Immobilien-Transaktionen der südhessi-schen AWO.

Hunderttausende demonstrierten / Chefkommentator im DDR-TV

Von Schnitzler nahm seinen HutFortsetzung

Krenz fliegt heute zu einemzweitätigen Besuch nach Mos-kau. Er wird auch mit dem demsowjetischen Staats- und Partei-chef Gorbatschow zusammen-treffen.

Auf der nächsten Sitzung desSED-Zentralkomitees wird nachAngaben von Otto Reinhold, Di-rektor der Akademie für Gesell-schaftswissenschaften beim ZKder SED, über eine Wirtschafts-reform beraten. Sie solle ein ef-fektiveres Leitungs- und Pla-nungssystem bringen, sagteReinhold im DDR-Fernsehen.

Die DDR-Liberalen haben un-terdessen das bisherige Wahl-system, in dem der SED eineführende Rolle zukommt, in Fra-ge gestellt. „Wahlregelungen,wie wir seit 1950 kennen, sind

keine Gesetzmäßigkeit der Ge-schichte", schrieb das Vor-standsmitglied der Liberaldemo-kratischen Partei Deutschlands,Bogisch, in einem Kommentardes Parteiorgans „Der Morgen".

Als zweite neue Partei nachden Sozialdemokraten soll biszum 1. Mai 1990 die Partei „De-mokratischer Aufbruch sozial,ökologisch" (DA) in der DDR ge-gründet werden. Wie am Mon-tag bekannt wurde, wurde dasam Sonntag abend von 200 De-legierten aus mehreren Bezirkender DDR beschlossen.

Die neuen Verhältnisse in derDDR haben jetzt auch ein pro-minentes Opfer des DDR-Fern-sehens gefunden. Chef-Kom-mentator Karl-Eduard vonSchnitzler nahm nach über30jähriger Agitation seinen Hut:am Montag wurde zum letzten

Male „Der schwarze Kanal"ausgestrahlt. Die Sendung mitseiner Abschiedsrede dauertenur knapp fünf Minuten. VonSchnitzler hatte kürzlich dieDemonstranten in der DDR als„Schreihälse ohne Köpfe" be-zeichnet.

Flüchtlingsstrom hält an

564 Flüchtlinge aus der DDRsind nach Angaben des Bundes-grenzschutzes am Sonntag undin der Nacht zum Montag überUngarn und Österreich in dieBundesrepublik eingereist. Inder Bonner Botschaft in Pragstieg die Zahl der ausreisewilli-gen DDR-Bürger wieder auf 70.In Warschau warteten am Mon-tag noch immer 1600 DDR-Bür-ger auf ihre Papiere.

Wohnungsnot / DGB Polen / Kohl-Besuch

„Extremismuswird gefördert"

Düsseldorf (AP). Die Woh-nungsnot in der Bundesrepublikfördert nach Auffassung desDeutschen Gewerkschaftsbun-des und des Deutschen Mieter-bundes den politischen Extre-mismus und gefährdet den inne-ren Frieden. Die Lösung derWohnungsfrage müsse derzeitauch deshalb das wichtigste in-nenpolitische Ziel sein, hieß esin einer von beiden Organisatio-nen gestern veröffentlichten„Düsseldorfer Erklärung zurWohnungspolitik". Der DGB-Vorsitzende Breit warf Bundes-bauministerin Hasselfeldt vor,ihre Vorschläge zur Behebungder Wohnungsnot seien unzu-reichend.

In der Erklärung werden diepolitisch Verantwortlichen inBund, Ländern und Gemeindenaufgefordert, zu einer neuen so-zialen Wohnungspolitik zu-rückzukehren. Der Direktor desMieterbundes, Schlich, appel-lierte an die Bundesregierung,den Mieterschutz nicht anzuta-sten.

Kontroverseum Annaberg

Warschau (dpa). Die polni-sche KP-Zeitung „TrybunaLudu" hat den geplanten Besuchvon Bundeskanzler Kohl imoberschlesischen WallfahrtsortAnnaberg (heute Chelm) alsSkandal bezeichnet. In Anna-berg war es nach dem ErstenWeltkrieg zu blutigen Kämpfenzwischen deutschen Freischär-lern und Polen gekommen, alssich eine knappe Mehrheit beider Volksabstimmung für Polenentschied. UnmittelbarerAdressat der Kritik ist der Un-terhändler der polnischen Re-gierung für das Besuchspro-gramm von Kohl, Pszon.

„Die Akzeptanz eines solchenPunktes durch Pszon", so „Try-buna Ludu" weiter, „ist einSkandal". Der Annaberg sei einOrt, der vom Blut der Aufstän-dischen im Kampf um den polni-schen Charakter dieses Landesgetränkt ist.

In Bonn gab es gestern nur dieBestätigung, daß Kohl denWunsch hat, in St. Annabergdas Kloster zu besuchen.

Umweltverbände sehen große Risiken

Gentechnik Kampf angesagtBonn (dpa). Die Umweltver-

bände der Bundesrepublik wol-len gegen die Gentechnik ge-nauso kämpfen, wie die Frie-densbewegung dies gegen, dieStationierung neuer Raketen ge-tan hat. Die als modern ange-priesene Gentechnik sei unsin-nig, ihre Risiken seien nicht ab-zuschätzen, sagten Sprecher desDeutschen Naturschutzringes(DNR), des Bundes für Umweltund Naturschutz Deutschlands(BUND) und anderer Umwelt-verbände am Montag auf einerPressekonferenz in Bonn. Die

Bevölkerung müsse dagegenmobilisiert werden.

Das von der Bundesregierungvorgelegte Gentechnikgesetzdiene den Interessen der Indu-strie, erklärten die Verbands-vertreter. Es werde die Gen-technik vor den Bürgern, nichtaber die Menschen und die Na-tur vor der Gentechnik schüt-zen. Es dürfe so nicht vom Bu-destag verabschiedet werden.Die Gentechnik ist nach An-sicht der Verbände ein Instru-ment zur „Neukonstruktion derNatur".

Parlamentswahlen in Spanien

Gonzalez regiert trotzVerlusten allein weiter

Madrid (dpa). Spaniens seit1982 mit absoluter Mehrheit derMandate regierende Sozialistenunter Ministerpräsident Gonza-lez können trotz Stimmeneinbu-ßen weitere vier Jahre allein dieMacht ausüben. Die Sozialisti-sche Arbeiterpartei Spaniens(PSOE) stützt sich nach den Par-lamentswahlen vom Sonntagaber nur noch auf eine Mehrheitvon zwei Stimmen. Von den 350Mandaten im Parlament errangsie nach dem vorläufigen, amtli-chen Endergebnis 176 statt bis-her 184 Sitze.

Gonzalez (47) kündigte an, erwerde „mit der gleichen Visionund demokratischen . Art undWeise regieren" wie bisher. Po-litische Kommentatoren be-zeichneten das Ergebnis als kla-ren Auftrag für die Fortsetzungder vor sieben Jahren eingelei-teten pragmatischen Moderni-sierungs- und Wachstumspoli-tik, mit der Spanien an die übri-;en EG-Staaten angepaßt wer-len soll. In dem Stimmenrück-

gang sehen sie aber auch denWunsch nach Änderung des-sen, was die Opposition „Arro-ganz der Macht" nennt.

Von dem Verlangen nach we-niger 'Überheblichkeit der Re-gierenden sowie vor allem einerstärkeren Berücksichtung so-zialer Belange profitierten deut-lich die Kommunisten. Die vonKP-Chef Julio Anguita ange-führte „Vereinte Linke" (Iz-quierda Unida-IU) machte einenSprung von sieben auf 17 Sitze.Die Mitte-Rechts-Oppositionkonnte gegen Gonzalez erneutwenig ausrichten. Die zweit-stärkste politische FormationSpaniens, die Volkspartei (Par-tido Populär), errang mit ihremneuen Kandidaten Jose MariaAznar (36), der das Ergebnisvon 1986 um ein Mandat auf 106verbessern konnte, lediglich ei-nen Achtungserfolg.

Als großer Verlierer der Wahlgilt Ex-Regierungschef AdolfoSuarez. Sein Demokratisch-So-ziales Zentrum (CDS) fiel von 19auf 14 Sitze zurück und wurdevon den liberalen NationalistenKataloniens sowie den Kommu-nisten auf Platz fünf verdrängt.Die CiU von Regionalregie-rungschef Jordi Pujol kam er-neut auf 18 Sitze.Siehe auch Kommentar

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach,*Peter M. Zitzmann

, Verantwortliche RedakteureChef vom Dienst: Horst Kröninger. ChefNachrichten.: Rainer Merforth. Politik: Jo-chen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden, Kultur: Dirk Schwarze, i. V.Claudia Sandner-v.Dehn, M. A., Frau u.Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wiese-mann, i. V. Ulrich Fuhrmann. Sonntagszeit:Frank Thonicke. Kassel Stadt und Land:Wolfgang Rossbach. Bezirksredaktionen:Peter M. Zitzmann. Koordination: HelmutLehnart. Hessen/Niedersachsen: EberhardHeinemann. Chefreporter: Karl-HermannHuhn. Sonderthemen: Peter Ochs.Redaktion Wiesbaden: Rolf Effenberger.Redaktion Hannover: Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter: Horst Prehm.Vertriebsleiter: Gerd Lühring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 1009, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61 / 20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61 / 20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer05 61 /20 36. Teletex5 618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7% WlwSt. (Postbezugs-preis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich: die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.

Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.

Herstellung Druckhaus Dierichs,Frankfurter Straße 168, 3500 Kassel.

Page 55: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 254 Themen des Tages Dienstag, 31. Oktober 1989

Harry Tisch aufwackligem StuhlFMoch ist Harry Tisch nicht wegvom Fenster. Aber der Stuhl desobersten DDR-Gewerkschafterswackelt gewaltig. Ob er kippt, wirdsich erst Mitte November entschei-den. Die Vertagung kennzeichnetdie verworrene Situation. Im Falleseines Falles wäre es nach Ho-necker, Mittag und Herrmann dasvierte Mitglied des alten Politbüros,das dem neuen Denken weichenmuß; womöglich gehen ihm anderevoraus. Ob er dem Sturz durch dieVertrauensfrage zuvorkommenwollte, bleibt im Busen des Beton-kopfes verborgen. Keine Frage je-doch ist es, daß die Werktätigendes „Arbeiter- und Bauernstaates"ihn in die Wüste wünschen.

Das Tischtuch ist bereits zer-schnitten. Massenweise erfolgt derAustritt aus dem FDGB, eine unab-hängige Betriebsgewerkschaft„Reform" fordert Streikrecht undMitbestimmung. Dem Versprechendes opportunistischen Taktikers,künftig einen von der SED unab-hängigen Kurs zu steuern, will nie-mand trauen. Mit Grund. Nicht nurverstimmt seine Absicht, die Fah-ne in den Wind zu hängen. VomGeiste Lenins, kann Harry Tischgar nicht anders als in den Gewerk-schaften einen Transmissionsrie-men der Partei zu sehen. Daß erein besonders eifriger Erfüllungs-gehilfe war, macht ihn nur beson-ders verächtlich.

Mit einem neuen Namen ist esdaher nicht getan. Das Systemmuß sich ändern. Die SED-Führungkann nicht hoffen, mit einem Arbei-ter- und Bauernopfer davonzukom-men. Sie steht an einem Kreuz-weg. Macht sie den Gewerk-schaftsbund so frei, wie es bishernur in seinem Namen steht, mußsie ihm auch fundamentale Rechtezugestehen. In Moskau kann sichEgon Krenz darüber informieren,wie Gorbatschow über das Streik-recht denkt, das ihm der Kongreßabgetrotzt hat. In Polen gibt eszwei rivalisierende Gewerkschaf-ten. Das beflügelt auch die Massenin der DDR. Mit einer gerechterenZuteilung der Ferienplätze werdensie sich nicht zufrieden geben.

Alfred Brugger

Spanien bleibtauf Kurs •De/er Sieger kam mit einem blauenAuge davon. Spaniens Sozialisten,die das Land seit 1982 mit absolu-ter Mehrheit regieren, wurden beiden . vorgezogenen Parlaments-wahlen zum dritten Mal hinterein-ander mit Abstand stärkste Parteiund bleiben an der Regierung.Doch die Wähler versagten ihnendie bislang gewohnte breite Mehr-heit. Immerhin: Trotz zunehmenderKritik haben die Wähler den Moder-nisierungskraftakt der Regierungvon Ministerpräsident Felipe Gon-zales, dem Spanien zunehmendein „europäisches" Niveau ver-dankt, erneut honoriert.

Dabei dürfte das persönlicheVertrauenskapital des 47jährigenRegierungschefs eine entschei-dende Rolle gespielt haben. Diegroße Mehrheit der Wähler ist heu-te ebenso pragmatisch eingestelltwie ihre Regierung. Die Spanierrückten erstaunlich schnell ab vonden ideologischen Rezepten, dienach Ende des Franco-Regimesfür die Erneuerung bereitgehaltenwurden. Die Spanier wollen besserverdienen, einen europäischen Le-bensstandard, bessere Straßen,Krankenhäuser und Schulen undkeine Experimente.

Genau das bietet den meistenvon ihnen die Regierung Gonzales,trotz aller ungelöster Probleme.Die Sozialisten, denen in der Re-gierung die linke Ideologie abhan-den gekommen ist, werden unterdem Druck der Gewerkschaftenund erstarkenden KP vermutlich ei-nige „Gesten" an den linken Sektorihrer Wählerschaft machen und mitder berühmten „Arroganz derMacht" vorsichtiger umgehen. An-sonsten bleibt es bei der bisheri-gen Generallinie: Spanien brauchtein hohes Wirtschaftswachstumohne viel staatliche Eingriffe undeine pragmatische Modernisie-rungspolitik, um sich auf dasschwierige Jahr 1992 vorzuberei-ten. Rolf Hilpert, Madrid

Das Zitat„Literatur muß in den Augen derKritiker langweilig sein, dann ist esLiteratur."

Die ErfolgsschriftstellennUtta Danella

Der Rücktritt des Schatzkanzlers brachte die resolute Regierungschefin in Bedrängnis

Premiere für die Briten: Maggie Thatcher ratlosVon unserem Korrespondenten Klaus Kämpgen, London

I n einem mit Spannung erwar-teten Fernseh-Interview, dem„schwersten ihrer ganzen Lauf-bahn", sahen die Briten ihre un-beugsame Regierungschefinzum erstenmal ratlos. Margaret-Thatcher wußte auch auf wie-derholtes Befragen nicht zu sa-gen, warum ihr Schatzkanzlerwohl zurückgetreten ist und da-mit die gegenwärtige schwere.Krise ausgelöst hat. So oft hin-tereinander hatte sie wohl nochnie hilflos bekennen müssen:„Ich weiß es nicht, natürlichweiß ich es nicht."

Wirklich nicht? Der Grundstand ja in dem Rücktritts-schreiben Nigel Lawsons, undalle Briten waren inzwischenüber die Art des Konfliktes hin-reichend informiert. Entgegendem Drängen Lawsons, des Ga-ranten ihres Wahlsiegs von1987, des Hüters der britischenWährung, hatte Frau Thatcheran ihrem persönlichen wirt-schaftspolitischen Berater Sir

Alan Walters festgehalten. SirAlan aber zeichnet sich dadurchaus, daß seine Expertenweisheitsich von der Lawsons unter-scheidet.

Unschuldig?

Wohl fünfmal fragte der promi-nente Interviewer Brian WaidenFrau Thatcher, ob der Ministerdenn geblieben wäre, wenn sieSir Alan den Laufpaß gegebenhätte. Doch die Regierungschefinwusch ihre Hände in Unschuld.Nach ihrer Ansicht war Lawsonzum Rücktritt entschlossen^ undsie habe alles versucht ihn zuhalten. „Ich habe es nicht ge-schafft, nein", sagte sie, „undwenn sie mir die Frage noch ein-mal stellen, werde ich ihnen diegleiche Antwort geben".

Der jetzt in den USA tätigeUniversitätsprofessor Sir AlanWalters hatte in einem kürzlichan die Öffentlichkeit gebrachten

Artikel von sich gegeben, daß erzusammen mit Frau Thatcherund einer kleinen, aber qualifi-zierten Minderheit dem Druckder Welt draußen standhalte.Als fast sensationell aber wurdeaufgenommen, was er über daseuropäische Währungssystemzu sagen hatte, dem sich NigelLawson behutsam näherte.

Er nannte es „halbgar". DieArgumente zugunsten des EWShätten „nie auch nur den gering-sten Grad der Einsichtigkeit" er-reicht, schrieb Walters.

Frau Thatcher aber gab imweiteren Verlauf des Interviewszu verstehen, daß ihr diese Eu-ropa-Gedanken Sir Alans wei-terhin näherliegen als die,Law-sons. Die EG-Partner müßtenerst noch die Bedingungenschaffen, die Großbritannienden Beitritt zum Währungssy-stem erlauben, betonte sie. Das„große" und „freie" Pfund, wiesie sagte, könne nicht dem „To-huwabohu" der Bestimmungen

Die letzte Bastion

Vorstoß zum „Vaterschaftsurlaub"

Grüne: Friedensdienstam WickeltischVon Hans-Ludwig Laucht, Bonner Redaktion

Waas den Müttern recht ist,soll künftig auch den Vätern bil-lig sein. So wollen es jedenfallsdie Grünen im Bundestag. Siestellten einen Gesetzentwurf vor,der das gegenwärtig geltendeMutterschaftsgesetz in ein „Mut-ter- und Vaterschaftsgesetz" um-wandeln soll. Waltraud Schoppe,Bundestagsabgeordnete undKinderbeauftragte der Grünen-Fraktion im Bonner Parlament:„Ich bin begeistert von dieserIdee. Es geht um die aktive Vater-rolle in der Gesellschaft."

Diese Rolle sieht so aus: EineWoche vor dem voraussichtli-chen Geburtstermin werden dieVäter vom Arbeitgeber eine Wo-che freigestellt, um die Geburtihres Kindes mitzuerleben.Außerdem erhalten sie im An-schluß daran, wie die Mütter,acht Wochen lang „Vater-schutz". Für Frau Schoppe, Mut-ter von zwei Kindern, liegen dieVorzüge der Grünen-Initiativeauf der Hand: „Wenn ein Kindgeboren wird, oder ein zweitesKind hinzukommt, muß sich dieFamilie neu orientieren. Dafürsollen Mutter, Vater und KindZeit zur Verfügung haben."

Die Grüne Kinderbeauftragteberuft sich auf zahlreiche Unter-suchungen, nach denen die Iden-titätsentwicklung des Kindes un-komplizierter gelinge, „wennsich das Kind an Mutter und Va-ter, am weiblichen und am männ-lichen Typus, reiben kann". Dazumüßten Väter aber mehr in derFamilie präsent sein als sie esheute sind. Frau Schoppe siehtdarin einen „Friedensdienst ander Wickelkommode".

Das setzt nach den Erfahrun-gen der Grünen-Frauen aller-dings voraus, daß die Männer die

ihnen neu zugewiesene Rolleauch annehmen. „Wir müssen sielangsam daran gewöhnen." Dennheute sei es doch noch so, daß dieMänner vor den ihnen gestelltenAufgaben innerhalb der Familie„geradezu flüchtig sind".

Hoffnungen, in den Genuß desacht Wochen langen Mutter-schafts- und Vaterschaftsurlau-bes zu gelangen, haben vorerstnur verheiratete Paare. LockereFreundschaften, die nicht ohneFolgen geblieben sind, sollennach dem Willen der Grünenspäter in die Regelung einbezo-gen werden. Am Geld dafürfehlt es nach Überzeugung derAntragsteller nicht. Schließlichseien seit 1986 rund 1,5 Milliar-den Mark Mutterschaftsgeldaus welchen Gründen auch im-mer nicht in Anspruch genom-men worden.

Ob sich die Öko-Partei mit ih-ren Vorstellungen im Parlamentdurchsetzen kann, ist mehr alszweifelhaft. Trotz florierenderSteuereinnahmen sind die Kas-sen Theo Waigels für weitereFamilienwohltaten nicht dispo-niert. Dazu gesellt sich die Un-gewißheit darüber, ob die Män-ner am Vaterschutzgesetz über-haupt interessiert sind.

Frau Schoppe hat offenbarnicht mit der Tücke des Objektsgerechnet. Ihre Absicht, denAntrag vor der Presse gemein-sam mit einem Parlamentariervorzustellen, scheiterte. Vonden männlichen Kollegen in derFraktion habe sich niemand zurVerfügung gestellt. Offenbarlegten sie keinen Wert darauf,„einen Eindruck von den schö-nen und anstrengenden Aufga-ben" in der Familie zu erha-schen.

Presse-EchoZum Wahlausgang in Spanien schreibtdie

BasIerZeiümgTatsache ist, daß Spanien un-

ter der Regierung Gonzalesdurch keine wirtschaftliche, so-ziale oder politische Krise ge-gangen ist, sondern sich durchStabilität und wirtschaftlichenAufschwung gekennzeichnethat. Spaniens Sozialisten ist esbesser als der griechischenSchwesterpartei gelungen, ihrpolitisches Kapital zu erhalten.Premier Gonzales überragt der-art, daß er als „Spaniens OlofPalme" bezeichnet1 werdenkann.

Den Weltspartag kommentiert die

480 Milliarden Mark summie-ren sich auf ganz normalenSparbüchern. Eine Umschich-tung in lukrativere Sparformenfindet unbegreiflicherweisenicht statt. Das verführt dieGeldinstitute natürlich zu ihrerseit Jahren praktizierten Ver-schleppungs-Taktik, wenn esnach Leitzins-Erhöhungen nichtnur um höhere Kreditzinsen,sondern auch um mehr Geldfürs Sparbuch geht.

Ob die Parteiführung in Prag es will odernicht: Der Aufstand der Massen macht'deutlich, daß die Erneuerung längst be-gonnen hat, schreiben die

KielerNachrichlenDer Zeitpunkt der Wende

kann nicht mehr vom sozialisti-schen Regime bestimmt werden,wenn das Volk sie in den Köpfenlängst vollzogen hat. In derTschechoslowakei ist - wie inder DDR - der Respekt vor derStaatsmacht verloren gegangen.Gorbatschows Impulse und seinCharisma schlagen überalldurch. Eine Klasse von Partei-funktionären ... versucht zu ret-ten, was noch zu retten ist.

unterworfen werden, die ande-ren Ortes gültig seien. Schonfrüher hatte sie erklärt, Großbri-tannien werde dem EWS erstbeitreten, wenn die Zeit „reif"sei. Das wurde vielfach als „nie"interpretiert.

Widerspruch

Doch jetzt widersprachen ihrgewichtige konservative Politi-ker mit Nachdruck. Der frühereAußenminister Sir GeoffreyHowe, heute stellvertretenderRegierungschef, sprach sich be-tont für das Währungssystemund für ein Festhalten an demKurs aus, zu dem sich auch FrauThatcher auf dem Madrider EG-Gipfel bekannte. Dafür lobte ihnMichael Heseltine, frühererVerteidigungsminister und ge-duldiger Nachfolge-Kandidat.

Beide Politiker bestritten, daßsie gegenwärtig die Absicht hät-ten, gegen Frau Thatcher anzu-

treten und einen Kampf um dieFührung auszulösen. Deutlicherjedoch als je zuvor ist jetzt zuerkennen, daß das entscheiden-de Kampffeld der britischen In-nenpolitik die Europafrage ist.

Die beiden so einflußreichenPolitiker, denen es in Madridgelungen war, auch Frau That-cher - und offenkundig gegenihren Willen - auf den Weg zurWährungsunion zu bringen,Howe und Lawson, haben be-zeichnenderweise inzwischenihre Ämter verloren. Doch Eu-ropa bleibt der Prüfstein. Nachder jüngsten Kabinettsumbil-dung stellte sich sofort die Fra-ge, wie denn der neue Schatz-kanzler John Major und derneue Außenminister DouglasHurd zu Europa stehen.

Hurd ist als europa-freund-lich bekannt. Ob John Major,der zwei Jahre unter Nigel Law-son arbeitete, auch in Europa-Fragen „Frau Thatchers Pudel"ist, muß sich erst zeigen.

(Karikatur: Wolf)

Die Reformbewegung erreicht die Provinz

Auch Eichsfeld blästder SED den MarschVon unserem Redaktionsmitglied Manfred Schaake

Re.eformationstag, Allerheili-gen. Hoher Gedenktag derevangelischen, hoher Feiertagder katholischen Christen. Inder DDR hatten diese Tage bis-her kaum Bedeutung. Doch da-mit scheint es vorbei zu sein.Wenn Kinder morgen, ah Al-lerheiligen, schulfrei bekom-men für den Besuch der Got-tesdienste, dann ist, das auchein .Zeichen der Bewegung,vielleicht),ein Zeichen begin-nender Reformen. Im Eichsfeldjedenfalls -• wahrscheinlichauch anderswo - haben Lehrerihren Schülern angeboten, Al-lerheiligen in die Kirche gehenzu können. „Das", sagt ein alt-eingesessener Eichsfelder,„das hat's noch nie gegeben."

„Ruck durch das Land"

„Es geht ein Ruck durch un-ser Land. Das ist fast so wieeine Befreiungsbewegung."Deutliche Worte, die beimSonntags-Gottesdienst in Din-gelstädt (Kreis Worbis) PropstJoachim Jaeger (Nordhausen)spricht. Jaeger ist Vorsitzen-der der Hauptgruppe des Gu-stav-Adolf-Werkes in der Kir-chenprovinz Sachsen. Das Gu-stav-Adolf-Werk ist ein Hilfs-werk für evangelische Min-derheiten in Diaspora-Gebie-ten. Die Menschen im Eichs-feld sind vorwiegend katho-lisch.

Seelsorger Jaeger nimmtkein Blatt vor den Mund. DenMachthabern wird, soscheint's, der Marsch gebla-sen. Und das in Anwesenheithoher Funktionäre der SED.Selbst in der Provinz findenFürbitte-Gottesdienste für dieneue Bewegung statt. Gebets-unterlagen aus Leipzig werdenins Eichsfeld geschickt.

Der Mut zur Demonstration,der Aufbruch, die Bewegungder Kirche - das alles wärenach Ansicht von Pfarrern inder DDR nicht möglich ohneungezählte grenzüberschrei-tende Verbindungen und mo-ralische Unterstützung: DiePartnerschaften zwischen Kir-chengemeinden diesseits undjenseits des Grenzzauns.„Fastjede Kirchengemeinde hat einePartnerschaft mit einer Ge-meinde in der DDR", sagt einEichsfelder Pfarrer.

Diese Partnerschaften, dieBesuche aus der Bundesrepu-blik, die materiellen und all dieanderen Hilfen - das ist fürDDR-Propst Jaeger „ein großerReichtum über Grenzen hin-weg". In der Predigt unter-streicht er die Hoffnung, daßdie Grenze „hoffentlich immergegenstandsloser wird".

Viele Kirchengemeinden,sagt er, hatten bereits resi-

gniert. Viele seien so klein ge-worden, daß sie in der Wohn-stube Platz gehabt hätten. Undjetzt auf einmal sind die Kir-chen so voll wie noch nie, weißauch Jäger: „Weil so vieleweggegangen sind."

„Es geht so nicht weiter",mahnt der Propst, „unser Landist krank". Und später: „Sokann man mit unserem Land

-nicht umgehen." Mutige Wortein aller Öffentlichkeit. Solcher-lei Töne seien bisher als Einmi-schung abgetan worden. Dochjetzt, so Jaeger in der kleinenüberfüllten Kirche, „bricht dasLand um". Was sich derzeit tut,wertet er als einen Schritt in dieBefreiung.

Fesseln abgeworfen

Jaeger hat an einer Großde-monstration in Leipzig teilge-nommen, schildert, wie einefröhlich-friedliche Menge Fes-seln abgeworfen habe, „diesich über uns gelegt haben".

Der Propst, dessen Predigtper Lautsprecher ins Freieübertragen wird, sieht ange-sichts der Bewegung „eineneue Quelle der Kraft". Mitden Marxisten („Es soll keineAusgrenzung geben") müsseman jetzt auf dem Weg der Er-neuerung bleiben, müsse mansich die Herzen erneuern las-sen, die Hände ausstreckenzur Versöhnung.

„Auch Christen haben nichtdas Wahrheitsmonopol", be-tont Jaeger, „aber wir spüren,daß wir großes Vertrauen ge-nießen. " Selbstkritisch merkter an, daß sich die Christen oftfalsch angepaßt, oft zu leiseund nicht klar genug ihre Mei-nung gesagt haben.

Frühlingserwachen

Daß man jetzt schon offenerseine Meinung sagen kann,wird am Rande einer Zusam-menkunft im Eichsfelder Hofals „Frühlingserwachen" ge-wertet. Doch bei aller Hoff-nung macht sich auch Skepsisbreit. „Wir müssen erst einmalabwarten, was aus den Ver-sprechungen wird", sagenDDR-Bürger.

Im Fleischergeschäft nebendem Eichsfelder Hof steht einSchild im Schaufenster: „Wirsuchen tüchtige Mitarbeiter,die uns helfen, die Fleisch- undWurstversorgung für die Kun-den zu sichern." Hintergrund:Ein Mitarbeiter des Geschäftesist mit seiner frisch angetrau-ten Frau nicht mehr aus denFlitterwochen in Ungarn zu-rückgekehrt. Das Ehepaar istgeflüchtet.

Page 56: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

fT.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINE UNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 255 • Mittwoch, 1. 11. 1989

taf

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

UEFA-Cup

Hamburger SV undWerder im Achtelfinale

»*

Der Hamburger SVund Werder Bremenhaben das Achtelfina-le im UEFA-Cup-Wettbewerb erreicht.Während die Ham-burger den spani-schen Klub Real Sara-gossa nach einer 0:1-Hinspiel-Niederlagemit 2:0 nach Verlän-gerung bezwingenkonnten, reichte den

Bremern eine 0:2-Niederlage in Wiengegen die dortigeAustria, weil dieHanseaten das Hin-spiel mit 5:0 für sichentschieden hatten.Unser dpa-Funkbildzeigt Hamburgs Tho-mas von Heesen (hel-les Trikot) im Zwei-kampf mit Juanito.Siehe Sport.

Preisindex

Korb jetztgünstiger

Der neue Waren-korb macht's möglich:Die Inflationsratewird nach Umstellungder Preisstatistik aufeine neue Daten-grundlage geringerausfallen. Statt dreiProzent im Jahres-schnitt werden jetzt2,8 Prozent erwartet.Siehe BerichtWirtschaftsteil. im

Kultusminister:

Unisausbauen

Eine spürbare Er-höhung der Studien-plätze an den Univer-sitäten haben gesterndie Kultusministerder Länder gefordert.Dies gelte auch für dieFachhochschulen.Den Finanzministernwarfen sie mangelndeSachkenntnis vor.Siehe Kommentarund Kulturseite.

Familiendrama

Ehefraugetötet

Ein 68jähriger, lautPolizei geistig ver-wirrter Mann hat ge-stern in Kassel seine78jährige Ehefrau ge-tötet und eine 47jäh-rige Altenpflegerinmit Hammerschlägenverletzt, weil er be-fürchtete, in einepsychiatrische Klinikzu kommen. SieheStadt Kassel.

Bush und Gorbatschow

Erster Gipfelin vier Wochen

Washington/Moskau (dpa). US-Präsident Bush und dersowjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow werdensich am 2. und 3. Dezember zu ihrem ersten Gipfel treffen.Auf der Tagesordnung stehen Wirtschaftsfragen und diejüngsten Entwicklungen in Osteuropa.

Bush und der sowjetische Au-ßenminister Schewardnadse ga-ben den Termin, der den bereitsabgemachten Gipfel im kom-menden Jahr in den USA nichtberührt, gestern zeitgleich inWashington und Moskau be-kannt. •

Der Dezember-Gipfel - es istBushs erste Begegnung mit Gor-batschow als US-Präsident -soll an einem Tag auf einemamerikanischen Kriegsschiff,am anderen Tag auf einem so-wjetischen Kriegsschiff im Mit-telmeer stattfinden. SowohlBush als auch Schewardnadseerklärten, das Treffen solle „zumbesseren Kennenlernen aufhöchster Ebene" dienen. Kon-krete Ergebnisse beispielsweiseauf dem Feld der Abrüstung sei-en nicht zu erwarten.

Bush hatte in der Vergangen-heit angedeutet, daß er von ei-nem Gipfel nur zum Kennenler-nen nicht allzuviel halte. AufFragen, was seinen Sinneswan-del zu einem Treffen dieser Artverursacht habe, wies Bush auf

das „schnelle Tempo der Verän-derungen in Osteuropa" und dasWachsen der Demokratie in La-teinamerika hin. „Ich wolltenichts versäumen, das ich bes-ser aus erster Hand von HerrnGorbatschow hören könnte."

Als ein Thema nannte er auchdie Wirtschaftslage in der So-wjetunion. Es könnte sicherlichauch erörtert werden, wie dieUSA der UdSSR wirtschaftlichhelfen könnten.

Schewardnadse widersprachdagegen nachdrücklich der Auf-fassung, daß bei der Begegnungeine mögliche Unterstützungder USA für die Reformen in derSowjetunion besprochen wer-den sollte. „Dieses Treffen hatnichts mit einer direkten Hilfefür die Perestroika zu tun. Ichbitte Sie, in diesem Zusammen-hang nicht den Begriff 'helfen'zu verwenden. Wir selbst müs-sen die Perestroika in die Tatumsetzen. Und wir besitzen al-les dafür Notwendige", sagteSchewardnadse.Siehe auch „Zum Tage"

Öko-Partei reagiert unterschiedlich

Schily verläßt Grüne undwill in SPD eintreten

Bonn (dpa). Der Grünen-Bun-destagsabgeordnete Otto Schily(Foto) will die Partei verlassen,sein Mandat niederlegen und indie SPD eintre-ten. Das bestä-tigte die Grü-nen-Vor-standsspreche- srin Ruth Ham-^merbacher amDienstag nach'einer Unterre-dung mit Schi-ly. Der 57jähri-ge Politiker undRechtsanwaltäußerte sich8

vorerst weder gegenüber seinerPartei noch öffentlich zu denGründen für seinen Schritt. Dieswill er erst morgen auf einerPressekonferenz in Bonn tun.

Mit Zurückhaltung reagiertedie SPD auf die Meldungen überSchilys Wechsel. Neue Mitglie-der seien immer „herzlich will-kommen", sagte der Parteivor-sitzende Vogel. Er schätze diepolitischen Fähigkeiten des Ab-

geordneten, der für die Mitglie-der und Wähler der Grüneneine erhebliche Orientierungs-kraft gehabt habe. Schily wirdsich voraussichtlich um eineSPD-Bundestagskandidatur imWahlkreis München-Land be-werben. Der zuständige Unter-bezirksvorsitzende Gantzer er-klärte, er rechne mit einem sol-chen Schritt. Der Wahlkreis istfest in CSU-Hand. Schily müßtedann über die SPD-Landeslisteabgesichert werden.

Mit unterschiedlichen Wer-tungen reagierten Politiker derGrünen auf die Entscheidung.„Vor den Grünen steht eineMenge wichtiger Aufgaben, fürdie wir Otto hätten gebrauchenkönnen", sagte die Fraktions-sprecherin Antje Vollmer. Diefrühere VorstandssprecherinJutta Ditfurth vom radikal-lin-ken Flügel nannte Schilys Ent-scheidung die „praktische Um-setzung seiner sozialdemokrati-schen Mentalität".Siehe auch Kommentarund „Themen des Tages"

Zum Tage

Zwischengipfelt i n e persönliche Begegnung vonGeorge Bush und Michail Gorba-tschowwar überfällig. Der amerika-nische Präsident hat lange genuggezögert, den direkten Kontakt zuseinem sowjetischen Gesprächs-partner herzustellen. Warum soll-ten die beiden Staatsmänner damitwarten, bis neue Verträge unter-schriftsreif vorliegen? Die rasantenVeränderungen im Ostblock bietengenügenden und zwingenden An-laß zur Aussprache. Man kann denZwischengipfel deshalb nur alseine glückliche Idee bezeichnen.Daß er auf zwei Kriegsschiffen imMittelmeer stattfinden soll, mag

t die Phantasie beflügeln und den' publizistischen Reiz erhöhen.Doch wenn nicht terminliche, pro-tokollarische und sicherheitstech-

i nische Gründe dafür sprächen,müßte man den Einfall für abwegighalten.

Präsident Bush scheint endlich1 begriffen zu haben, daß der Pro-zeß der Perestroika aktive Unter-stützung verdient, weil er der welt-politischen Konfrontation entge-

' genwirkt. Gorbatschow brauchtpositives Echo und Beistand desWestens, um die Gegner seinesReformkurses zu widerlegen. Aufdieser Basis kann der Gipfel ge-genseitigen Nutzen bringen. SeinErfolg hängt diesmal nicht von kon-kreten Vereinbarungen, sondernvom sichtbaren Einvernehmenüber die Zukunft Europas ab.

Achim v. Roos

GROSSE HOFFNUNGEN setzen die DDR-Bürgernach wie vor auf den sowjetischen Staats- undParteichef Gorbatschow, der mit seiner Erneue-rungspolitik auch ein Zeichen für die sozialisti-schen Staaten an der West- und Südwestflankeder UdSSR gesetzt hat. „Gorbi, hilf uns" wardaher erneut bei den Massendemonstrationen in

Leipzig am Montagabend ein eindringlicher Ap-pell, auf die Politik der DDR-Führung einzuwir-ken. Der neue DDR-Staats- und Parteichef Krenz,der gestern im Kreml vorsprach, bekundete dennauch, aus den Glasnost- und Perestroika-Erfah-rungen der Sowjets Nutzen ziehen zu wollen.

(dpa-Funkbild)

Reformprozeß / Für Diskussion über SED-Führungsanspruch

DDR-Liberale drängen auf TatenBerlin (dpa/AP). Die Liberal-

Demokratische Partei (LDPD) inder DDR fordert konkreteSchritte im Reformprozeß. „DieReden müssen jetzt in Tatenübergeleitet werden", sagte derLDPD-Vorsitzende Gerlach amDienstag in einem Interview desFDJ-Organs „Junge Welt". Erregte zugleich eine Diskussionüber den von Regimekritikern inFrage gestellten Führungsan-spruch der SED an.

DDR-Staats- und ParteichefKrenz, der gestern zu einemzweitägigen Arbeitsbesuch inMoskau eintraf, hatte zuvor dieSED-Führungsrolle bekräftigt.Am Montagabend hatten in

zahlreichen Städten der DDRüber 400 000 Menschen für Rei-sefreiheit, Reformen und freieWahlen demonstriert.

Gerlach schlug vor, über dieRolle der SED in einer Gruppeoder Gemeinschaft zu diskutie-ren, „die gesetzlich anerkanntist". Er sprach sich für ein neuesVereinigungsgesetz aus mit ge-nauen Kriterien, „unter welchenBedingungen eine Bürgerge-meinschaft als staatlich aner-kannte Organisation tätig wer-den kann". Als Ziel seiner Parteinannte Gerlach einen „Sozialis-mus, der Spaß macht". Als Bei-spiele nannte er das Recht zureisen und die Freiheit zu reden.

Krenz trifft heute im Kremlmit dem sowjetischen Staats-und Parteichef Gorbatschow zu-sammen. Gestern abend sagte erbei der Begrüßung auf dem Flug-hafen: „Die Losung ,Von der So-wjetunion lernen, heißt siegenlern', hatte ihren historischenPlatz und hat heute neuen Sinnbekommen. Wir lernen, wie un-sere sowjetischen Freunde dieUmgestaltung meistern, und wirlernen auch davon, was ihnennicht gelungen ist."

Anschließend wird Krenz amDonnerstag zu einem eintägigenArbeitsbesuch nach Warschaukommen.Fortsetzung nächste Seite

DDR-Fernsehen / Vorschlag SPD fordert „Marshall-Plan"

Verbreitung per Kabel? Spendenaufruf für PolenBonn/Düsseldorf (dpa). Für eine Verbreitung

beider DDR-Fernsehprogramme über alle Kabel-netze in der Bundesrepublik haben sich amDienstag die FDP-Generalsekretärin, CorneliaSchmalz-Jacobsen, und die SPD-Fraktion imDüsseldorfer Landtag ausgesprochen. „Durchdie offenere und kritischere Berichterstattungsind die DDR-Medien selbst zu einem Gegen-stand der Veränderungen geworden. Sie solltenals unmittelbare Informationsquelle über die Er-eignisse in der DDR den bundesdeutschen Fern-sehzuschauern zugänglich sein", forderte FrauSchmalz-Jacobsen in Bonn. Nach Angaben derBundespost kann derzeit etwa ein Drittel derbundesdeutschen Haushalte mit KabelanschlußDDR-Fernsehen empfangen.Siehe auch „Themen des Tages"

Bonn (dpa). Die SPD hat ein umfassendes wirt-schaftliches Kooperations- und Hilfsprogrammfür Polen nach dem Vorbild des „Marshall-Plans" gefordert. Mit dem „Marshall-Plan" för-derten die USA nach dem Zweiten Weltkriegden Wiederaufbau der Wirtschaft in der Bundes-republik. Gleichzeitig rief der SPD-Vorstand amDienstag die deutsche Bevölkerung zu Geld- undSachspenden für Polen auf. Angesichts der aku-ten Lebensmittelknappheit sei jetzt praktischeSolidarität nötig. Die Spenden sollen an die Ar-beiterwohlfahrt gerichtet werden, die Lebens-mittel kaufe und sie zusammen mit Sachspendendirekt nach Polen transportiere. Die Bundespostsolle dabei auf Portogebühren verzichten. DasKonto der Arbeiterwohlfahrt beim PostgiroamtKöln hat die Nummer 336 666-500.

SED-Führung

Rücktritt: Tischund MargotHonecker

Berlin (dpa). Die Ablösung deralten Politikergarde in der DDRgeht weiter: Nach der Abberu-fung von Staats- und ParteichefErich Honeckerist auch seineFrau Margotnach Informa-tionen der |„Bild"-Zeitungals DDR-Volks-1bildungsmini-sterin zurück-getreten. DerVorsitzendeder DDR-Ge-1werkschaftFDGB, HarryTisch, wird morgen seinenRücktritt erklären, meldete dieDDR-Nachrichtenagentur ADNam Dienstag abend.

Die 62jährige Margot Ho-necker ist seit 1963 DDR-Mini-sterin für Volksbildung. Bereitsam Vortag war in einem ADN-Bericht über Bildungspolitik nurvon der Leitung des Volksbil-dungsministeriums geredet undFrau Honecker nicht nament-lich erwähnt worden. Zur Nach-folgerin soll die Lehrerin undGewerkschaftsvorsitzende Hel-ga Labs (49) ernannt werden.

Der 62jährige Gewerkschaf-ter Tisch - auch Politbüromit-

glied - hatte amMontag imBundesvor-stand seinerOrganisationdie Vertrauens-frage gestellt.Ursprünglichsollte darüberaber erst am 17.November ab-gestimmt wer-den. Laut ADNwird die Sit-

zung nun bereits am Donnerstagfortgesetzt. Dem Rücktritt warheftige Kritik zunächst vor al-lem der FDJ vorausgegangen.Am Dienstag unterstützten dieBezirksverbände Dresden, Er-furt und Berlin sowie verschie-dene Einzelgewerkschaften dieRücktrittsforderung.

Page 57: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 255 Politik Mittwoch, 1. November 1989

Namen undNachrichten

Maxwell-Coup in UngarnDie ungarische Regierungszei-tung „MagyaHirlap" wurde!zu 40 Prozentan den engli-schen Presse-magnaten Ro-bert Maxwellverkauft. Dasgab das ungari-sche Fernsehenbekannt. DieZeitung werdezu einer unab-hängigen Ta- 8!geszeitung, die sich jedoch als„regierungsnah" verstehe.

US-Army: Drei UnfälleBei einem Manöver vor deramerikanischen Atlantikküstesind gestern vom Flugzeugträ-ger „Dwight D. Eisenhower"drei Seeleute und 38 Raketenüber Bord gespült worden. Tagszuvor hatte im Indischen Ozeander Pilot eines US-Kampfflug-zeugs versehentlich eine 450Pfund schwere Bombe auf denLenkwaffenkreuzer „USS Ree-ves" abgeworfen und dabei fünfMarinesoldaten leicht verletzt.Am Sonntag war ein Leutnantim Golf von Mexiko bei seinemersten Anflug auf einen Flug-zeugträger tödlich verletzt wor-den.

NRW-Wahl: SPD-EinspruchEinspruch gegen die nordrhein-westfälische Kommunalwahl am1. Oktober hat die SPD für denKreis Recklinghausen erhoben.Als Grund nannte der SPD-Un-terbezirk gestern gefälschte Un-terstützungsunterschriften fürdie Kandidatur der Republika-ner in der kreisangehörigenStadt Herten und zum Kreistag.

Hurd fordert mehr MutDer neue britische Außenmini-

ster DouglasHurd hat seineKabinettskolle-gen mehrSündhaftigkeitbei Auseinan-dersetzungenmit Premiermi-nisterin Marga-ret Thatcherempfohlen. In

f ^ - " V ^ J g einem Fernseh-interview sagteHurd, wenn ein

Streit mit der Regierungschefindrohe, neigten mehrere Mini-ster dazu, „zusammenzu-schrumpfen".

149 NS-Juristen verurteiltIn der DDR sind bis heute12 800 NS-Verbrecher rechts-kräftig verurteilt worden. DieseZahl nannte der Staatsanwaltbei der Generalstaatsanwalts-chaft der DDR, Günther Wie-land, auf einer Podiumsdiskus-sion über die Rolle der Justiz imNationalsozialismus in Ham-burg. Insgesamt seien 149 Juri-sten verurteilt worden.

„Parteiensystem wankt"Vor der „realistischen Gefahrder Auflösungdes bisherigenParteiensy-stems" in derBundesrepu-blik hat derPräsident de-.Bundesverfas-sungsgerichts,Roman Herzog,gestern ge-warnt. Wäh-rend eines Kon-gresses in Es-sen sagte Herzog, anstelle deslangjährigen „Fast-Zwei-Partei-ensystems", durch das auch ein„außergewöhnliches Maß an so-zialer Sicherheit verwirklichtworden sei, müsse heute wie inanderen modernen Industrie-staaten mit fünf Parteilagern ge-rechnet werden.

Pro-Mauer-InitiativeMit der Warnung vor der „kul-turellen Barbarei", die Mauerabzureißen, hat sich gestern inBerlin eine neugegründete In-itiative „Die Mauer muß blei-ben" zu Wort gemeldet. Die In-itiative unterstütze zwar dieVeränderungen in der DDR undsei für eine Öffnung der Gren-zen, setze sich aber zugleich fürden Erhalt des „einzigartigenpolitischen und kulturellenDenkmals" ein.

Übersiedler / Boeden Bundeswehr/Tagung Hinweise mehren sich Polen / Kohl telefonierte mit Mazowiecki

Schnüffeleibestritten

Bonn (dpa). Die Übersiedleraus Osteuropa und die Flücht-linge aus der DDR werden nachden Worten des Präsidenten desKölner Bundesamtes für Verfas-sungsschutz, Boeden, in derBundesrepublik nicht „be-schnüffelt". Boeden wies gesterndie Kritik an der gemeinsamenDatei der Verfassungsschutzbe-hörden des Bundes und der Län-der „ADOS" (Adressendoku-mentation Ost) nachdrücklichzurück. Diese Datei sei „als ob-jektbezogene Hinweisdatei"konzipiert. Sie enthalte keinePersonalien von Übersiedlern.

Boeden erläuterte, „ADOS"stütze sich auf die Erfahrung,daß in der Vergangenheit häufigvom kommunistischen Nach-richtendienst in die Bundesre-publik eingeschleuste Agentenfalsche Angaben zu ihrer Personund zu ihrem beruflichen Wer-degang gemacht hätten. EineReihe von Spionagefällen sei mitHilfe von „ADOS" aufgeklärtworden, sagte Boeden. Die Da-teien seien deshalb unverzicht-bar. Boeden unterstrich: „Es istkeine Verdächtigen-,bzw. Bela-steten-Datei".

Admiral darfnicht in UdSSR

Bonn (dpa). Der Chef des Am-tes für Studien und Übungen derBundeswehr, FlottillenadmiralElmar Schmähung, darf nicht zueiner internationalen Tagungmit Wissenschaftlern, Politi-kern und Militärs aus Ost undWest im November nach Mos-kau reisen. Das bestätigte derSprecher des Verteidigungsmi-nisteriums, Oberst WinfriedDunkel.

Die „Bild"-Zeitung berichtetegestern, daß Schmähung beimWehrdienstsenat des Bundes-verwaltungsgerichts in Mün-chen eine Einstweilige Anord-nung gegen die Entscheidungder Hardthöhe beantragt habe.

Dunkel erklärte, der Antragvon Schmähung habe aufgrunddes für alle Bundesbedienstetengeltenden Reiseerlasses nichtgenehmigt werden können. An-gehörige der Bundeswehr, dieZugang zu streng geheimen Pa-pieren haben, könnten grund-sätzlich keine Reisen in die So-wjetunion unternehmen. Ein be-sonderes dienstliches Interesse,das Voraussetzung für eine et-waige Ausnahmegenehmigungwäre, sei nicht erkennbar.

West-Ärzte baldin DDR-Kliniken?

Berlin (bf). In Berlin mehrensich Hinweise, daß es schonbald zu einem Einsatz vonWest-Ärzten in Krankenhäu-sern der DDR kommen könnte.Der Präsident der Berliner Ärz-tekammer Ellis Huber verwiesgestern auf die etwa 1000 ar-beitslosen Mediziner allein imwestlichen Teil Berlins. Erst amMontagabend hatte der DDR-Gesundheitsminister KlausThielmann in einer Fernsehdis-kussion auf die Anfrage einesZuschauers bestätigt, daß esAngebote von bundesdeutschenMedizinern gebe, bei der Ge-sundheitsversorgung in derDDR zu helfen.

In dem sehr freimütig geführ-ten Gespräch machte Thiel-mann zwar noch keine Zusas-gen, ob die Offerte der West-Arzte angenommen werde, erließ die Frage aber vieldeutig of-fen. Der aus der alternativenSzene stammende Ellis Huberverfügt über „informelle Kon-takte und Signale von drüben",daß die dortigen Verantwortli-chen inzwischen mehr Bereit-schaft zeigen, über eine solcheHilfe zu reden.

DER PARTEIRAT, das höchste SPD-Gremium zwischen den Parteitagen, befaßte sich gestern schwer-punktmäßig mit der Deutschlandpolitik. Unser Bild, das zu Beginn der Sitzung entstand, zeigtParteichef Vogel mit seinen Stellvertretern Rau und Lafontaine. Vogel und der ParteiratsvorsitzendeGansei betonten, daß die Forderungen nach Reformen nicht auf die DDR beschränkt seien. Auch dieBundesrepublik brauche Erneuerung. (dpa-Funkbild)

SPD-Parteirat betont Selbstbestimmungsrecht

„Prüfsteine" für DDR-ReformenBonn (AP). Die SPD hat „Prüf-

steine" für den Reformwillen derDDR-Führung aufgestellt undden Menschen „Respekt undtiefe Sympathie" ausgespro-chen, die im anderen deutschenStaat für gesellschaftliche Ver-änderung kämpfen. Entschei-dend für den Übergang zum Plu-ralismus seien Reise-, Informa-tions- und Meinungsfreiheit, dieAnerkennung der Reformgrup-pen sowie die Aufgabe desMachtmonopols der SED, sagteder SPD-Vorsitzende Hans-Jo-chen Vogel am Dienstag vor

Journalisten in Bonn.Vogel warnte nachdrücklich

davor, in ein „Pathos der Wie-dervereinigung" zu verfallen. Esgehe darum, die Reformgruppenin der DDR zu respektieren.Entscheidend für die Beantwor-tung der deutschen Fragen seiein Selbstbestimmungsrecht,von dem die Bürger im anderenTeil Deutschlands Gebrauchmachen könnten. Für Bonn undOstberlin müsse es gemeinsa-mes Ziel sein, gute Nachbarn im„Europäischen Haus" zu sein.Die Einheit Deutschlands könne

nur mit der Einheit Europasvollendet werden.

Der Parteirat forderte dieBundesregierung auf, Reisefrei-heit für DDR-Bürger und ökono-mische Reformen zu unterstüt-zen. „Die Chancen, daß Bürgerder DDR eine Perspektive zumBleiben in der DDR gewinnen,darf nicht an vordergründigenfinanziellen Argumenten schei-tern", heißt es in einer Ent-schließung. Wer dabei heuteseine Hilfe versage, versage mo-ralisch vor der wichtigsten Auf-gabe deutscher Politik.

Israel / Palästinenser Hamburg Erster Zivilist seit 1960

Junge Frauen Koalition legt Türkei: Özalbrutal ermordet Streit bei neuer Präsident

Tel Aviv (dpa). Bei einem derbrutalsten Fememorde währenddes Palästinenseraufstands ha-ben gestern morgen maskierteExtremisten, die in den besetz-ten Gebieten als „Strafkomman-dos" operieren, im Gaza-Strei-fen zwei junge Schwestern mitMessern und einer Axt ermor-det. Palästinensische Quellenbehaupteten, beide Frauen seiender „Zusammenarbeit" mit denisraelischen Behörden verdäch-tigt und daher „bestraft" wor-den. Ein Armeesprecher demen-tierte eine Zusammenarbeit.

Die Krankenschwester SurjaAchmed El Kadi (22) und ihre19 jährige Schwester Sumaja sei-en „mit Messern verletzt unddann mit einer Axt zerhackt"worden, so ein Militärsprecher.

Hamburg (AP). Die einzige so-zialliberale Regierungskoalitionin der Bundesrepublik hat amDienstag einer schweren Krisestandgehalten. Hamburgs ErsterBürgermeister Voscherau (SPD)und sein Stellvertreter Ingo vonMünch (FDP) erklärten nach ei-ner Senatssitzung, jetzt könntenalle Vorwürfe als erledigt ange-sehen werden.

Bei dem Streit war es um eineListe von wohnungspolitischenAnsichten des FDP-Landesvor-sitzenden Vogel gegangen, dieim Staats- und Planungsamt fürVoscherau zusammengestelltworden war. Voscherau hieltden Vorgang für korrekt, dieFDP bemängelte, daß Beamteparteipolitisch tätig gewordenseien.

Ankara (dpa). Der türkischeMinisterpräsident Turgut Özal(62) ist am Dienstag in Ankaraim dritten Wahlgang zum Präsi-denten der Türkei gewählt wor-den und wird damit Nachfolgervon Kenan Evren. Seine Amts-zeit beträgt sieben Jahre. Özalist der achte Präsident der Tür-kei und der erste Zivilist im Prä-sidentenamt seit 1960. Özal, derin den ersten beiden Wahlgän-gen nicht die erforderlicheZwei-Drittel-Mehrheit zusam-menbrachte, erhielt in der drit-ten Wahlrunde am Dienstag 263von 450 Stimmen seiner Mutter-land-Partei (ANAP). Er tritt seinAmt am 9. November an. Auchder dritte Wahlgang wurde vonallen 155 Oppositionsabgeord-neten boykottiert.

Besuch am Annabergsteht noch nicht fest

Bonn/Warschau (dpa/AP).Neun Tage vor dem Beginn derPolen-Reise von BundeskanzlerKohl (CDU) steht der umstritte-ne Besuch des Kanzlers imWallfahrtsort St. Annaberg inSchlesien noch nicht fest. Überdie endgültige Reiseroute Kohlsvom 9. bis 14. November müß-ten noch abschließende Gesprä-che stattfinden, hieß es amDienstag übereinstimmend inBonn und Warschau.

Diese offene Frage war auchThema eines Telefongesprächs,das Kohl gestern abend mit dempolnischen MinisterpräsidentenMazowiecki führte. Der Kontaktzwischen beiden Seiten werdefortgesetzt, hieß es anschließendin informierten Kreisen Bonnsund Warschaus.

Der Wunsch Kohls, an einerMesse auf dem Annaberg teilzu-nehmen, der wegen der blutigenAuseinandersetzungen Anfangder 20er Jahre zwischen Polenund Deutschen für beide Seitenein patriotisches Symbol ist, warin Warschau auf heftige Kritik

der Kommunisten gestoßen.Auch katholische Kreise äußer-ten Unverständnis, während derBischof von Oppeln, AlfonsNossol, nichts gegen eine Kohl-Visite in St. Annaberg einzu-wenden hat.

Im Kanzleramt hieß es, Kohlhabe nach wie vor den Wunsch,mit seinem „ganz unspektakulä-ren Besuch" in Annaberg einZeichen der Verständigung undAussöhnung zu setzen. Manhabe „nicht den Eindruck, daßder Kanzler diesen Programm-punkt schon gestrichen hat".Gleichwohl sei registriert wor-den, daß es in Polen jetzt „Wi-derstände" gebe., In Bonn wurde das Thema

Annaberg auch zum Diskus-sionsstoff der Parteien. SPD-Op-positionsführer Vogel äußertedie Sorge, mit einer Visite Kohlsin Annaberg könne „ein Schat-ten auf den Besuch fallen". DieFDP-Außenpolitikerin Hilde-gard Hamm-Brücher appellierte„dringend" an den Kanzler, sei-nen Besuchsplan zu überprüfen.

Im Mai 1921 blutig umkämpftBesondere Bedeutung für das

deutsch-polnische Verhältniserlangte der 385 Meter hoheAnnaberg im Nordwesten vonGleiwitz am 21. Mai 1921, alsdas deutsche Freikorps „Ober-land" ihn im Kampf gegen polni-sche Aufständische unter bei-derseits schweren Verlusten er-stürmte. Vorausgegangen wareine Volksabstimmung, in der

sich 59,6 Prozent der Bevölke-rung Öberschlesiens für denVerbleib beim Deutschen Reichausgesprochen hatten. Der Völ-kerbund entschied für eine Tei-lung Oberschlesiens. Auf derSpitze des Annabergs stehen einFranziskanerkloster und einebarocke Wallfahrtskirche ausdem 17. Jahrhundert, in der dieHeilige Anna verehrt wird.

Über führende Rolle der SED

Friedensinitiativewill VolksentscheidFortsetzung

Vertreter der „Initiative Frie-den und Menschenrechte"(IFM) kamen am Wochenendezu einem ersten landesweitenTreffen in Ostberlin zusammen,wie am Dienstag bekannt wurde.Die Vertreter aus 17 Orten derDDR schlössen sich dem Aufrufder Bürgerbewegung „Demokra-tie Jetzt" zu einem Volksent-scheid über die führende Rolleder SED an. Für mehr Demokra-tie auch in den Leitungsgremiender Kulturbereiche plädiertenKulturschaffende der DDR aufeiner Veranstaltung des Haupt-vorstandes der CDU.

Die Akademie der Wissen-schaft der DDR forderte in einervon der NachrichtenagenturADN verbreiteten Erklärungeine „geistige Erneuerung", dieKernstück der Umgestaltung imLande sein müsse. Der DDR-Journalistenverband und derVerband der Film- und Kultur- ;

schaffenden kündigten die Aus-arbeitung eines Entwurfs für einneues Mediengesetz an. ,

Auf der nächsten Sitzung desSED-Zentralkomitees wird nachAngaben von Otto Reinhold, Di-rektor der Akademie für Gesell-schaftswissenschaften beim ZKder SED, über eine Wirtschafts-reform beraten. Diese solle ein

effektiveres Leitungs- und Pla-nungssystem bringen, sagte erim DDR-Fernsehen.

In der Sondersendung „Offengefragt, öffentlich geantwortet"wurde auch über die Reisepro-blematik diskutiert. Reinholdwies dabei auch darauf hin, daßdie Ausbildung einer Fachkraftin der DDR 95 000 Mark kosteund daß durch den „Abgang"von Hunderttausenden vonDDR-Bürgern in den Westen einTeil des Reichtums abgeflossensei.

Der Staatssekretär im Mini-sterium für Außenwirtschaft,Alexander Schalck-Golod-kowski, vertrat die Ansicht, daßder Devisenbestand der DDRReisen nicht für alle Bürger zu-lasse. Erst wenn die DDR durchExportüberschüsse genug Gel-der erwirtschaftet habe, könn-ten auch Reisen finanziert wer-den, meinte der Staatssekretär.

Flüchtlingsstrom ebbt ab

Unterdessen ebbt der Zu-strom von DDR-Flüchtlingenüber Ungarn in den Westen wei-ter ab: In den vergangenen 24Stunden bis Dienstag früh ka-men nur noch 391 Übersiedlerin die Bundesrepublik.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos . ,

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv, Chefredakteure ' •• .Wolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche Redakteure

Chef vom Dienst: Rainer Merforth. Politik:Jochen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden. Kultur. Dirk Schwarze. Frauu. Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wie-semann. Sonntagszeit: Frank Thonicke.Kassel Stadt und Land: Wolfgang Ross-bach. Bezirksredaktionen: Peter M. Zitz-mann. Koordination: Helmut Lehnart. Hes-sen/Niedersachsen: Eberhard Heinemann.Chefreporter: Karl-Hermann Huhn. Son-derthemen: Peter Ochs.Redaktion Wiesbaden: Rolf Effenberger.Redaktion Hannover- Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

VerlagsleitungDr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter. Horst Prehm.Vertriebsleiter: Gerd Lühring

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61/20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61/20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer 05 61 /20 36. Teletex5 61 81 10. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreishste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7% MwSt. (Postbezugspreis 28,50 DM). :

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.Herstellung Druckhaus Dierichs Kassel,Frankfurter Straße 168, 35 Kassel

Page 58: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

äsiÄÄHESSISCHE KASSEL

1 P 3713 A

ALLGEMEINEHESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

[ A L L G E M E I N E i UNABHÄNO,GPreis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 256 • Donnerstag, 2.11.1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Publizist

H.v. Ditfurthgestorben

Freiburg (dpa). Der PublizistHoimar von Ditfurth (68) ist am

Mittwoch in ei-nem FreiburgerKrankenhausgestorben. Daswurde von sei-ner Familie undvom Institut fürökologischeMedienarbeitin Freiburg,dessen Beirat v.Ditfurth ange-hörte, bestätigt.Der Schriftstel-

ler, der in Staufen bei Freiburglebte, litt seit längerem anKrebs. Der Professor für Psy-chatrie und Neurologie wurdein den 70er Jahren vor allem alsModerator der ZDF-Sendereihe„Querschnitt" bekannt. Er ver-öffentlichte zahlreiche Bücher

naturwissenschaftlichenzuThemen, von denen viele Best-seller wurden. Ditfurth ist derVater der bekannten grünen Po-litikerin Jutta Ditfurth.Siehe auch Kultur

„Krenz der Richtige"

Gerlach fordertneue Regierung

Ostberlin (dpa). Die DDRbraucht nach Auffassung desVorsitzenden der Liberal-De-mokratischen Partei der DDR(LDPD), Gerlach, eine neue Re-gierung. Eine neue Politik seimit neuen Leuten besser zu ge-stalten, als mit den alten Leuten,sagte Gerlach gestern im An-schluß an ein Gespräch mit demEG-Kommissar und früherenBundeswirtschaftsminister Ban-gemänn in Ostberlin. Der neueStaats- und Parteichef Krenz sei„der Mann, den wir jetzt brau-chen", meinte Gerlach. Er sei„fest davon überzeugt", daß eszu der neuen Politik, die mit der„Wende" eingeleitet worden sei,keine Alternative gebe. Die Be-völkerung und die LDPD wollediese neue Politik. Die beste Si-cherung, die jetzt begonnenePolitik unumkehrbar zu ma-chen, sei die öffentliche Kon-trolle.

DDR-Metallchef

Gestolpertüber Luxusbau

Berlin (AP). ÖffentlicheKritik an mißbrauchten Pri-vilegien hat gestern zumRücktritt des Vorsitzendender IG Metall in der DDR ge-führt. Der Gewerkschafts-funktionär Gerhard Nenn-stiel legte sein Amt nieder,nachdem seine Gewerk-schaft „mit großer Bestür-zung" aus der „Berliner Zei-tung" vom Umfang seines Ei-genheimbaues erfahren hat-te. Die Zeitung berichtet inihrer Mittwochausgabe: „Dasteht ein Eigenheim mitreichlich 200 QuadratmeternWohnfläche, zehn Räume,Gasheizanlage, Bäder undDuschen, die Fenster sindBRD-Import, ein zweistöcki-ger Wintergarten ist im En-stehen." Die eingesetztenMaurer arbeiteten eigentlichin einem U-Bahn-Betriebs-werk und seien für Nenn-stiels Bau abgestellt worden.

Nennstiel will nach siche-ren Angaben das Haus nuneiner kinderreichen Familiezur. Verfügung stellen.

Ziel der Stadt

Tiefgaragebis 1992

Eine Tiefgaragemit 400 Pkw-Ein-stellplätzen unterdem Kasseler Thea-tervor- und Fried-richsplatz soll biszum dpcumenta-Jahr 1992 zusam-men mit der docu-menta-Halle fertigsein. Das wünschtdie Stadt Kassel.Siehe Lokales.

Bogdanov

Einstand inHamburg

Mit einer glanz-vollen „ Hamlet"-Premiere feierteHamburgs neuerSchauspielRaus-In-tendant MichaelBogdanov (Foto)jetzt seinen Ein-stand als Nachfol-ger Peter Zadeks.Die Titelrolle spielteUlrich Tukur. SieheKulturseite.

Rennpferd

„Aus" perUlfraschall

Wie im James-Bond-Thriller: Miteiner Ultraschall-Kanone ist einRennpferd auf demWeg zum Ascot-Sieg gestoppt wor-den. Eine hohe Ton-frequenz löst einenderartigen Höllen-lärm aus, so daß dasPferd scheut. Siehe„Blick in die Zeit".

Fußball-Europapokal

Dortmund scheitert,aber fünf weiter

Während der FCBayern Münchenmit einem 3:0 in Ti-rana im Schongangdas Europapokal-Viertelfinale imMeisterwettbewerberreichte, ereiltePokalsieger Borus-sia Dortmund mit ei-ner O.-2-Niederlagein Genua das frühe„Aus".

Nachdem derHamburger SV undBremen bereits amDienstag eine Run-de weiter kamen,schafften gesternauch der VfB Stutt-gart (5:0 über Lenin-grad) und der 1. FCKöln (0:0 in Mos-kau) den Einzug insAchtelfinale desUEFA-Pokals. •

Auch Abriß der Mauer abgelehnt

Krenz: KeineWiedervereinigung

Moskau (AP/dpa). Der neue DDR-Staats- und ParteichefKrenz hat einer Wiedervereinigung Deutschlands und einemAbbau der Berliner Mauer eine klare Absage erteilt.

Auf Fragen nach der Wieder-vereinigung erklärte Krenz zumAbschluß seiner Gespräche mitdem sowjetischen Staats- undParteichef Gorbatschow in einervon Rundfunk und Fernsehender DDR direkt übertragenenPressekonferenz in Moskau:„Diese Frage steht nicht auf derTagesordnung". Er sehe „keinenTag, an dem sie kommen könnte."Es sei „nichts wiederzuvereini-gen und nichts zu vereinigen".

Nach dem Krieg hätten sichzwei deutsche Staaten mit un-terschiedlichen Gesellschafts-ordnungen gebildet, die „Teilder Stabilität in Europa" seien.„Das ist wichtiger als das Nach-denken über eine Wiederverei-nigung", meinte er. „In Worten"habe die Wiedervereinigung„viele Anhänger", aber in derTat müsse man davon ausgehen,„daß die Stabilität in Europaviel, viel wichtiger ist".

Für die Berliner Mauer gebees „konkrete Gründe". Schließ-lich handele es sich nicht ein-fach um eine Grenze zwischenzwei Staaten. „Es' ist immerhindie Grenze zwischen zwei ge-sellschaftlichen Systemen, es istdie Grenze zwischen zwei Mili-tärblöcken. Und es ist die Gren-ze, in deren unmittelbarer Nähein beiden Staaten mit die größteWaffenkonzentration in Europa

herrscht", sagte Krenz. Die DDRhabe 15 Jahre ohne sie existierlund dabei einen wirtschaftli-chen Schaden von 100 Milliar-den DM erlitten.

„Die Mauer hat andere Grün-de, als das Zusammenkommender Menschen zu verhindern",sagte er. „Die Grenze zwischenden Staaten ist so und nicht an-ders", fügte der DDR-Staats-und Parteichef hinzu. Gleichzei-tig kündigte er noch für dieseWoche weitrejichepde Reiseer-leichterungen für DDR-Bürgeran.

Wortlautauszüge der Krenz-Redelesen Sie auf „Themen des Tages"

Krenz bekräftigte den in derVerfassung verankerten politi-schen Führungsanspruch derSED. „Selbst, wenn ich andereGedanken hätte - aber' ich habekeine anderen Gedanken - wür-de ich alles tun, um die Verfas-sung in diesem Punkt zu erhal-ten", sagte er. Er betonte, daßdie SED an ihrer „Koalition" mitden anderen politischen Partei-en in der DDR festhalten wolle.Die Existenz dieser Parteien seiein Ausdruck des „Pluralismus"im Lande.Siehe „Zum Tage"Fortsetzung nächste Seite

Nicaragua: Weiter Angriffe von Honduras aus

Waffenstillstand mitContras aufgekündigt

Managua (dpa/AP). Nicaraguahat am Mittwoch den seit 19Monaten dauernden einseitigenWaffenstillstand' mit den vonden USA unterstützten rechts-gerichteten Contra-Rebellenaufgehoben. In einer Erklärungder sandinistischen Regierungin Managua hieß es zur Begrün-dung, die Angriffe der von Hon-duras aus operierenden Contrashätten nicht nachgelassen.

Ortega beschuldigte US-Prä-sident Bush, den „Krieg" in Ni-caragua zu fördern. Die von denUSA gewährte nicht-militäri-sche Hilfe für die Contras werdevon diesen als logistische Ver-sorgung bei ihren Angriffenmißbraucht. Nicaragua werdeerst dann wieder einen Waffen-stillstand verkünden, wenn mitder Entwaffnung der Contras in

Honduras begonnen werde.Ursprünglich hatte Ortega

seinen Schritt bereits am Sams-tag in Costa Rica bekanntgebenwollen, hatte aber damit auf demgesamtamerikanischen Gipfel-treffen in San Jose für erhebli-che Mißstimmung gesorgt. Busherklärte, er werde die Politik ge-genüber Nicaragua überdenken,wenn Ortega den Waffenstill-stand aufkündige.

Insgesamt befinden sich nachoffiziellen Angaben aus Mana-gua rund 4000 Rebellen, dienach dem mittelamerikanischenFriedensplan bis zum 5. Dezem-ber entwaffet sein sollten, inHonduras. In den vergangenen19 Monaten seien von den Con-tras 3500 Nicaraguaner getötetworden.Siehe auch Kommentar

GUTGELAUNT stellten sich in Moskau Kremlchef Gorbatschowund der neue DDR-Staats- und Parteichef Krenz der internationa-len Presse., Gorbatschow drückte Krenz für den von ihm einge-schlagenen Reformkurs die Daumen und meinte: „Ihr werdet esschaffen." (dpa-Funkbild)

DDR öffnet Grenze zur CSSR

Bonner Botschaftwieder Zufluchtsort

Prag (dpa). Mit der Aufhe-bung der Visumpflicht für DDR-Bürger bei Reisen in die CSSRist die Zahl von Zufluchtsu-chenden in der Bonner Botschaftin Prag wieder sprunghaft ange-stiegen. Augenzeugen berichte-ten am späten Mittwoch nach-mittag von rund 600 Menschenauf dem Gelände. Eine ersteGruppe von Flüchtlingen erhieltbereits im Laufe des Tages vonder DDR-Botschaft in der tsche-choslowakischen HauptstadtAusreisepapiere und sollte nocham späten Abend mit einem Busin Bayern eintreffen. Als Flucht-grund gaben die DDR-Bürgermangelndes Vertrauen auch indie neue Ostberliner Führungunter Egon Krenz an.

Auch in den kommenden Ta-gen dürfte nach Einschätzungwestlicher Beobachter der Zu-strom von Ausreisewilligen beider Bonner Mission anhalten.

Nach einer Meldung der amtli-chen Ostberliner Nachrichten-agentur ADN fuhren am Mitt-woch rund 8000 DDR-Bürger alsTouristen in das Nachbarland.

Die DDR hatte auf dem Höhe-punkt der großen Flüchtlings-welle den visafreien Reisever-kehr in die CSSR unterbunden,diese Maßnahme aber zum 1.November wieder aufgehoben.

In der Obhut der bundesdeut-schen Botschaft in Warschauhalten sich derzeit noch mehrals 1000 DDR-Flüchtlinge auf.Sie sind in Auffangstellen au-ßerhalb der Mission unterge-bracht und erhalten nach undnach von der DDR-Botschaftihre Entlassungsurkunden.

Der Zustrom von DDR-Flüchtlingen über Ungarn istweiter rückläufig. In den 24Stunden bis Mittwoch früh wur-den 312 Neuankömmlinge ge-zählt. Am Vortag waren es 391.

Freikaufaktion „still" beendetHamburg. (AP). Die Freikauf-

aktionen von politischen Gefan-genen aus DDR-Gefängnissensind nach Informationen der Ta-geszeitung „Die Welt" in der ver-gangenen Woche beendet wor-den. So still wie die humanitärenBemühungen der Verantwortli-chen in Bonn und Ostberlin baldnach dem Mauerbau von DDR-

Anwalt Wolfgang Vogel eingefä-delt wurden, so still sind die Ent-lassungen - insgesamt rund30 000 - abgeschlossen worden,schreibt das Blatt. „Wir hoffen,daß es nicht zu neuen Verurtei-lungen aus politischen Gründenkommen wird", sagte Vogel amMittwoch in einem Telefonge-spräch mit der Zeitung.

Zum Tage

Denken lernenOolange der Lertspruch lautete:von der Sowjetunion lernen heißtSiegen lernen, war die Welt derSED in Ordnung. Sonst mochtenichts in Ordnung sein, am wenig-sten die Verhältnisse im Lande, esgenügte, daß die Gesinnung inOrdnung war. Und eigentlich kames nicht einmal auf diese an, son-dern nur auf das, was davon zumöffentlichen Gebrauch bestimmtwar. Es herrschte das Prinzip Le-benslüge.

Daß damit kein- Staat mehr zumachen ist, hat Egon Krenz, derNachfolger Honeckers, wohl ver-standen. Und wenn er nach Mos-kau fuhr, so nicht mehr, um Siegenzu lernen. Sondern was9 Wohldoch, um Denken zu lernen. Mehrals einen Begriff von der Realitätkonnte ihm der leidgeprüfte Gorba-tschow nicht mitteilen. Und Krenzhat es vorgezogen, davon mög-lichst wenig zu begreifen.

Wenn er der Mauer eine langeZukunft verheißt, so spricht er

(noch in alten Kategorien. Verän-dert - und das ist schon was - hatsich jedoch der Ton. Oder wannhätte man einen SED-Chef schonin der Weise vernommen, daß ereinen Gedanken wie den, daß dieSED ihren alleinigen Führungsan-spruch aufgeben könnte, für denk-bar hält? Krenz hat die Idee verwor-fen. Daß er sie überhaupt sieht,zeigt, wieviel unter der Decke deroffiziellen Verleugnung schon anGedanken vorbereitet ist.

Lothar Orzechowski

Frühere Alkem

Gericht stopptProduktion

Kassel (ari). Die HanauerBrennelementefabrik, frühereAlkem, wird die Produktion vonBrennelementen für Atomreak-toren zumindest vorläufig in Tei-len einstellen müssen: Der Hessi-sche Verwaltungsgerichtshof(VGH) hat gestern auf einen Eil-antrag die für bestimmte Produk-tionsprozesse erteilte Genehmi-gung des Hessischen Ministersfür Reßktorsicherheitals „rechts-fehlerhaft" bezeichnet.

Da am sofortigen Vollzug „of-fensichtlich rechtswidriger Ver-waltungsakte" kein öffentlichesInteresse bestehe, sei die soge-nannte aufschiebende Wirkungder gegen die Genehmigung ge-richteten Klagen wiederherge-stellt worden, erklärte der Senat.Gegen diese Entscheidung gibt eskein Rechtsmittel.

Die Urteile, mit denen der Se-nat den gegen den Genehmi-gungsbescheid gerichteten Kla-gen stattgab, sind dagegen nochnicht rechtskräftig: Die Revisionwurde zugelassen.

Bereits 1990 möglich

Papst wirdUdSSR besuchen

Rom (dpa). Papst JohannesPaul II. wird möglicherweise imkommenden Jahr die Sowjetuni-on besuchen. Zwischen Vertre-tern des Vatikans und Moskaussei grundsätzlich Übereinkunftüber eine- solche Reise erzieltworden, allerdings sei ein Ter-min noch nicht festgelegt, sagtelaut italienischen Zeitungen derSprecher der sowjetischen Au-ßenministeriums, Gremizkich.

Lotto am MittwochZiehung A: 1, 28, 32, 33, 39, 40 Zu-satzzahl: 13.Ziehung B: 16, 18, 25, 38,. 39, 48Zusatzzahl: 20.Spiel 77: 6 6 9 4 3 9 5.

(Ohne Gewähr)

Page 59: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 256 Politik Donnerstag," 2. November 1989

Namen undNachrichten

Hoff mann erlitt HörsturzHeiko Hoffmann (CDU) mußsich auf ärztli-chen Rat eineWoche Ruhegönnen: •'•-, DerOppositions-führer im KielerLandtag .-.erlittauf dem linkenOhr einen Hör-sturz und muß-te in der. Uni-versitätsklinikbehandelt,:wer-den; Minister-präsident Engholm übersandteein Genesungsschreiben undmit ihm auch ein Beispiel derneuen politischen Kultur inSchleswig-Holstein: „Vielleichtfördert es die Gesundung, wennich Ihnen sage, daß Menschenwie Sie in der Politik unersetz-barsind."

Truppen räumten PlatzDie seit dem Pekinger Massakeraufdem Platz des HimmlischenFriedens stationierten Truppensind in der Nacht zum Mittwochabgezogen worden. Sie wurdenin einem Zeremoniell von Ein-heiten der bewaffneten Polizeiabgelöst, die jetzt die Wache aufdem weiten Platz übernommenhaben.

Havel aus Klinik entlassenDer tschechoslowakische Bür-gerrechtler und Träger des dies-jährigen Friedenspreises, desDeutschen Buchhandels, Va-clav Havel, ist gestern in Pragaus dem Krankenhaus entlassenworden, Der Dramatiker fuhrsofort in sein nordöstlich VonPrag gelegenes Landhaus, umsich dort zu erholen. ,

Sturzversuch überstandenDie pakistanische Ministerprä-

sidentin Bena-zir Bhutto hatgestern die här-teste parlamen-tarische

•Machtprobe ih-rer,, bisherigen^fttszeit bfe-

standWT:"- E$i;

von der Oppo-sition einge-brachtes:. Miß-,trauensvotumerzielte im Par-

lament lediglich 107 Ja-Stim-men und verfehlte damit um 12Stimmen die notwendige Mehr-heit zum Sturz der 36jahrigenRegierungschefin.

Genfer Gericht entscheidetDie Entscheidung eines GenferGerichts über den Einspruchder Familie Barschel gegen denAbschlußbericht der Genfer Ju-stiz zum Tod des früherenschleswig-holsteinischen Regie-rungschefs soll am 1,5. Novem-ber bekannt gegeben werden.Das Gericht befaßte sich gesternfast vier Stunden hinter Ver-schlossenen Türen mit dem Ein-spruch der Familie gegen dasErgebnis des Berichtes, Barschelhabe Selbstmord begangen. -.'*-

Iran: Weltweiter HaftbefehlDer islamische Wächterrat inTeheran hat gestern ein Gesetzgebilligt, das die Regierung, er-mächtigt, amerikanische Bürgerbei Vergehen gegen die Interes-sen Irans überall in der Weltfestnehmen zu lassen und vorein Gericht in den Iran zu brin-gen. Die Antragssteller hattengeltend gemächt, daß das US-Justizministerium das FBI er-mächtigt habe, auf Fahnungsli-sten stehende Personen im Aus-land ohne Zustimmung der je-weiligen Regierung zu verhaften

UNO will StoltenbergDer ehemalige norwegische Au-ßenministerThorvald Stol-tenberg ist ein-ziger Kandidatfür die Nachfol-ge des Schwei-zers Jean-Pier-re Hocke alsUNO-Flücht-lingskommis-sar. Dies wurdeam Sitz derVereinten Na-tionen in NewYork bekannt. Der 58jahrigeNorweger ist erst seit wenigenWochen Botschafter seines Lan-des bei den Vereinten Nationen.

Sowjetunion Aus- und Übersiedler Ungarisches Parlament

Kürzungen SPD gegenam Wehretat Bevorzugung

Moskau (AP/dpa). Die Sowjet-union hat ihr Defizit für denHaushalt 1990 gegenüber demlaufenden Budget um die Hälftegekürzt. In einer gemeinsamenSitzung beider Kammern des so-wjetischen Parlaments stimmteder Oberste'Sowjet am Dienstagabend mit 375 gegen Sechs Stim-men für die „Vorlage,, die besqn.-,ders im _\fej;teidigu.n,gshaushaltund bei den Kapita.Jinvestitio-'nen für neue Betriebe und Be-triebsausrüstungen starke Kür-zungen vorsieht. *

Wie Tass berichtete, sieht derHaushalt Einnahmen von 429,9Milliarden Rubel und Ausgabenvon 489,9 Milliarden und damitein Defizit von 60 MilliardenRubel (nach offizieller Umrech-nung rund 180 MilliardenMark) vor. Sollte die Regierungdies verwirklichen, würde daseine Halbierung des diesjähri-gen Defizits bedeuten. Das Defi-zit '90 soll durch Ausgabe vonStaatsanleihen an Unternehmenund ; Organisationep gedecktwerden. .

Staats- und Parteichef Gorba-tschow sagte, der Haushalt sei„nicht zufriedenstellend", dochdas Beste,, was im Rahmen reali-stischer ~ Überlegung möglichsei. Um ihn umzusetzen, „müs-sen wir härter arbeiten, als wirdas jemals zuvor getan haben."

Nordenham (dpa). Gegen.eineBevorzugung von Aus- undUbersiedlern hat sich das Vor-standsmitglied der SPD-Bundes-tagsfraktion, Margitta Terborg,am Mittwoch in Nordenham(Landkreis Wesermarsch) ge-wandt. So halte sie die Sonder-erlaubnis für Trabbis ehemali-ger DDR-Bürger für „unsinnig,ökologisch verantwortungslosund für eirien Verstoß gegen denGleichbehandlungsgrundsatz",sagte Frau Terborg. Außerdemmüsse alles vermieden werben,was zu einem „Verdrängurtgs-wettbewerb im Kampf um, eineWohnung oder, um einen Ar-beitsplatz [ zwischen?-'Alt- *ündNeubürgern führe. ;. ' '";

Rühe: Stimmungsmache / . :

CDU-Generalsekreträr Rühewarf demgegenüber den Sozial-demokraten vor, eine Stimmunggegen . DDR-Flüchtlinge . zuschüren. Die von SPD-Politi-kern vertretene Auffassung,DDR-Flüchtlinge würden in-, derBundesrepublik „verhätschelt",sei. ein politischer .und morali-scher Skandal. Wenn jemand inder Vergangenheit verhätscheltworden sei, dann „wir in derBundesrepublik durch Frieden,Freiheit und Wohlstand".

„Aus" fürDonaukraftwerk

Budapest (dpa). Das ungari-sche Parlament hat das endgül-tige Aus für den Bau des um-strittenen DönaukraftwerkesNagymaros beschlossen. DieRegierung soll nun in Verhand-lungen mit der CSSR den Ver-trag über das gemeinsame Kraft-werksprojekt Gabcikovo/Nagy-maros modifizieren. Dem Parla-mentsbeschluß war bereits einvon der Regierung einseitig ver-fügter Baustopp vorausgegan-gen, nachdem UmweltschützerSorge um die Trinkwasserver-sorgung geäußert hatten.

Volksabstimmung

Außerdem beschloß das Par-lament mit großer Mehrheit, am26. November eine Volksbefra-gung zur bevorstehenden Präsi-dentenwahl durchzuführen. Ur-sprünglich war für diesen Tagbereits dessen Wahl durch dieBevölkerung vorgesehen.

Ausgelöst wurde die Wahl-verschiebung durch eine Initia-tive des oppositionellen BundesFreier Demokraten (SZDSZ). Erhatte seine Forderung, die Präsi-dentenwahl erst nach den freienParlamentswahlen im Frühjahrabzuhalten, mit 110 000 Unter-schriften bekräftigt.Siehe auch Kommentar

Bundesamt für Strahlenschutz nahm Arbeit unter Protesten aufBundesumweltminister KlausTöpfer hat gestern in Salzgitterunter Protesten einer Gruppevon Kernkraftgegn'ern (unserBild) das Bundesamt für Strahrlenschütz eröffnet. Als Präsi-denten des nach einem Beschlußdes Bundestages vom Dezember1988 gegründeten Amtes führteTöpfer den bisherigen Präsiden-

ten des Instituts für Strahlenhy-giene (ISH) in München, Profes-sor Alexander Kaul, in sein Amtein.

Bei dem neuen. Amt sollen dieAufgaben des Bundes beimStrahlenschutz, der kerntechni-schen Sicherheit und der Eht*sorgung radioaktiver Abfällezusammengefaßt werden. Für

die ersten 38 der später in Salz-gitter vorgesehenen 340 Be-schäftigten des Strahlenschutz-amtes stehen gegenwärtig ange-mietete Räume zur Verfügung.Im kommenden Jahr wird miteinem Neubau begonnen, fürden im Bundeshaushalt 33 Mil-lionen DM eingeplant sind.

(dpa-Funkbild)

KremlGhef betönt „stabile Beziehungen" Erfassungsstelle:

Gorbatschow: SEDhat große Dinge vorFortsetzungGorbatschow und Krenz hobenin einem gemeinsamen Kommu-nique die Bedeutung „stabiler,gleichberechtiger und gutnach-barlicher Beziehungen" zwi-schen der DDR und der Bundes-republik Deutschland hervor.Gorbatschow bekräftigte er-neut, daß „alle Fragen,, die dieDDR betreffen, nirgendwo an-ders als in der Hauptstadt derDDR entschieden werden". Gor-batschow: „Die SED hat großeDinge vor."

„Freie Gewerkschaften"

Die in der DDR „zu vollzie-hende Wende ist nur mit freien,starken, eigenständigen Ge-werkschaften möglich". DieseGrundsatzposition wird in ei-nem von der FDGB-Zeitung„Tribüne" gesterü veröffentlich-ten Papier der Gewerksqhafts-hochschule „Fritz Heckert" ver-treten, einen Tag nachdem Ge-werkschaftschef Harry Tischseinen Rücktritt ankündigte.

Man müsse Schluß machen „mitdem rapiden Autoritätsverfalldieser bedeutenden Massenor-ganisation der Werktätigen". Esgehe „um die Rettung und Be-wahrung der Einheitsgewerk-schaften als wirkliche. Interes-senvertreter der Werktätigen."

Notwendig seien „gesetzlicheRegelungen für gewerkschaftli-che und staatliche Organe imKonfliktfall (einschließlich Ar-beitsniederlegung)". Gefordertwird außerdem der Schutz derGewerkschaftsfunktionäre vor„ungerechtfertigten Kritikenund Maßreregelungen" und eine„neue Konzeption für die ge-werkschaftliche Pressearbeit",

Ein Entwurf für eine Ände-rung des Paragraphen 213 desDDR-Strafgesetzbuches überden „ungesetzlichen Grenz-übertritt" wird bereits in Kürzevorgelegt werden. Justizmini-ster Heusinger erklärte gestern:„Es wird eine Neufassung diesesParagraphen geben." Nötig sei-en ferner 30 weitere Gesetze imZusammenhang mit Bürger- undMenschenrechten.

Rechtshilfefür DDR möglich

Salzgitter (dpa). Nach einerJustizreform in der DDR könntedie Zentrale Erfassungsstelle inSalzgitter möglicherweise Ost-berlin im Wege der RechtshilfeUnterlagen über Gewaltakte inDDR-Haftanstalten zur Verfü-gung stellen. Das erklärte ge-stern der stellvertretende Leiterder Behörde, StaatsanwaltHans-Jürgen Grasemann.'

Mit Hilfe der Unterlagenkönnten in der DDR dann Über-griffe von Bediensteten gegen-über Häftlingen nachgeprüftwerden. Solches Verhalten ste-he in der DDR unter Strafe. Bis-her werde es aber nicht geahn-det, da Eingaben nicht bearbei-tet worden seien. Als Beispielnannte Grasemann das Schick-sal einer inhaftierten Erzieherin.Nachdem sie einer von einemBediensteten geschlagenen Zel-lenkameradin zur Hilfe kommenwollte, sei sie in kniehohemWasser angekettet und besin-nungslos geschlagen worden.

Grasemann begrüßte denVorschlag, über den Fortbe-stand der Erfassungsstelle nach-zudenken, wenn die Menschen-rechtsverletzungen in der DDRaufhörten.

Abrechnung mit Wirtschaftspolitik

DDR-Generaldirektor:Radikal umdenken

Berlin (AP/dpa). Mit der heuti-gen „tatsächlichen produktivenArbeitszeit" in der DDR kannder Lebensstandard westlicherIndustrieländer nicht erreichtwerden. „Das Leistungsprinzipist gründlich verbogen." Sorechnete der Generaldirektordes Werkzeugmaschinenkom-binats „7. Oktober", Heinz War-zecha (SED), in einem Gesprächmit der „Berliner Zeitung" (Ost-berlin) mit der bisherigen Wirt-schaftspolitik ab. Wenn einDDR-Bürger das Angebot in ei-nem westdeutschen Warenhaussehe, so kompensiere er es nichtdurch die Tatsache, daß zumBeispiel seine Kinder eine gesi-cherte Berufsausbildung hätten.„Was hier bleibt, ist ein Gewichtauf der Waagschale zuungun-sten des Sozialismus".

Warzecha forderte die Be-kanntgabe der jährlichen Infla-tionsrate. Man müsse radikalumdenken und Schluß machen„mit der Politik eines schlei-chenden und nur scheinbar ver-tuschten ( Preisauftriebs beson-ders bei bestimmten Konsumgü-tern, die, obwohl sie in Exquisit-und Delikatläden angebotenwerden, im unteren, bestenfallsmittleren internationalen Ni-

veau liegen". Es werde für dieMenschen immer weniger über-schaubar, was sie sich für ihrerarbeitetes Geld kaufen können.Offenheit und Ehrlichkeit seiennotwendig. Die Lohnskala müßtesich „unter dem Einfluß der Lei-stungsentwicklung und der Infla-tionsrate bewegen", wozu stän-dig zu aktualisierende Tarifver-träge und Lohnvereinbarungenzwischen FDGB und Regierungnotwendig wären.

SED-Politbüromitglied Scha-bowski hat sich für eine Kürzungder umfangreichen Subventio-nen in der Wirtschaft der DDRausgesprochen. In einem Inter-view der Düsseldorfer Zeitschrift„Wirtschaftswoche" sagte Scha-bowski: „Subventionen sind fürmich keine heilige Kuh." Er kün-digte außerdem eine Überprü-fung an, ob die Organisation derIndustrie in großen Kombinatenökonomisch noch sinnvoll sei.

EG-Kommissar Bangemann(FDP) ist gestern mit DDR-Au-ßenhandelsminister Beil zusam-mengetroffen, um ihn über denkünftigen EG-Binnenmarkt zuinformieren. Es sei an der Zeit,mit der DDR über den Binnen-markt zu sprechen, sagte Bange-mann.

El Salvador / Gewerkschaftszentrale

10 Tote bei BombenanschlagSan Salvador (AP). Bei einem

Bombenanschlag auf eine Ge-werkschaftszentrale in San Sal-vador sind nach Angaben derPolizei am Dienstag zehn. Men-schen getötet und 29 verletztworden. Der linksgerichteteSalvadorianische Nationale Ge-

werkschaftsbund rief aus Pro-test gegen den Anschlag zu ei-nem landesweiten Generalstreikauf. Dieser wurde gestern aller-dings kaum befolgt. Gewerk-schaftsführer beschuldigtenAngehörige der Streitkräfte, dieTat begangen zu haben.

Lockerbie-Absturz / Warnung erhalten?

PanAm geht gegenUS-Regierung vor

London (dpa/AP). Die Flugge-sellschaft PanAm hat jetzt ge-richtliche Schritte gegen die US-Regierung im Zusammenhangmit dem Terroranschlag gegenden PanAm-Jumbo bei Locker-bie eingeleitet. Die Fluglinie willnachweisen, daß die US-Behör-den 24 Stunden bevor das Flug-zeug über der schottischen Ort-schaft explodierte vom israeli-schen Geheimdienst Mossadüber einen bevorstehenden An-schlag gewarnt worden war.

Auch Beamte des deutschenBundeskriminalamts hätten US-Beamte auf „verdächtige Aktivi-täten" in der Ladezone auf demFrankfurter Flughafen 90 Minu-ten vor dem Start der Unglücks-maschine hingewiesen, heißt esam Mittwoch in einem Berichtder Londoner Zeitung „Indepen-dent". Anwälte, die die Familiender Todesopfer vertreten undeine Entschädigung in Höhe von300 Millionen Dollar (ein Dollaretwa 1,80 DM) von PanAm for-derten, bezeichneten das Vorge-hen der Fluggesellschaft als Ab-lenkungsmanöver.

Die britische Zeitung „Times"

sieht wachsende Hoffnungen,doch noch die Attentäter zu fin-den, die am 21. Dezember ver-gangenen Jahres den Absturzverursachten. Anzeichen dafürseien eine jüngst aufgedeckteschwedische und maltesischeVerbindung.

Die maltesische Fluggesell-schaft Air Malta hat dagegen ge-stern Berichte zurückgewiesen,wonach die Bombe möglicher-weise aus Malta gekommen ist.Die in einem Londoner Zei-tungsbericht erwähnte Maschi-ne der Air Malta, die am fragli-chen 21. Dezember von Vallettanach Frankfurt geflogen sei,habe 39 Passagiere und 55 Ge-päckstücke an Bord gehabt. AllePassagiere und Gepäckstückeseien identifiziert worden. AnBord der Maschine habe sichnachweislich kein herrenloserKoffer befunden. Ein BKA-Spre-cher in Wiesbaden erklärte, esgebe Anhaltspunkte dafür, daßein Libyer oder ein Mann mitlibyschem Akzent auf MaltaKleidungsstücke gekauft habe,die an der Absturzstelle gefun-den worden seien.

HESSISCHE/NIEDERSACHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche Redakteure

3hef vom Dienst: Rainer Merforth. Politik:Jochen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden. Kultur: Dirk Schwarze. Frauu. Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wie-semann. Sonntagszeit: Frank Thonicke.Kassel Stadt und Land: Wolfgang Ross-bach. Bezirksredaktionen: Peter M. Zitz-mann. Koordination: Helmut Lehnart. Hes-sen/Niedersachsen: Eberhard Heinemann.tiefreporter: Karl-Hermann Huhn. Son-

derthemen: Peter Ochs.Redaktion Wiesbaden: Rolf EffenbergerRedaktion Hannover' Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter: Horst Prehm.Vertriebsleiter: Gerd Lühring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61/20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61/20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer 05 61 '20 36. Teletex5 618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7% MwSt. (Postbezugspreis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.Auflage werktags über-270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit ..OberhessischePresse", Marburg, ..Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.Herstellung Druckhaus Dierichs KasselFrankfurter Straße 168. 35 Kassel

Page 60: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 256 Themen des Tages Donnerstag, 2. November 1989

Ungarn probtdie DemokratieDie Republik Ungarn hat sich vonder kommunistischen Alleinherr-schaft losgesagt und den Weg zueinem Mehrparteiensystem einge-schlagen. Ganz reibungslos kannein solcher Prozeß nicht ablaufen.Anders als in Polen spielen dieKommunisten bei der Demokrati-sierung eine aktive Rolle. Ihr Re-formflügel setzte die Gründung ei-ner neuen Sozialistischen Parteidurch, die den Ballast der stalinisti-schen Vergangenheit abwarf undsich den Wählern im nächstenFrühjahr als fortschrittliche demo-kratische Kraft präsentieren will.Ob ihr das gelingt, erscheinthöchst fraglich, denn die Mehrheitder Ungarn fürchtet, daß sich hin-ter dem neuen Firmenschild dochder alte Laden verbirgt.

Um wenigstens einen Zipfel derMacht zu behalten, hoffte der so-zialistische Oberreformer ImrePozsgay, noch vor den ersten Par-lamentswahlen durch Volksabstim-mung zum Staatspräsidenten ge-wählt werden zu können. Der op-positionelle Bund Freier Demokra-ten hat ihm einen Strich durch sei-ne Rechnung gemacht. Er setzteeine Volksbefragung über denWahlmodus des Staatsoberhaup-tes durch und gewann damit Zeit,einen eigenen Kandidaten aufzu-bauen. Stimmt die Mehrheit derBevölkerung für Direktwahl, so trittdas bürgerliche Lager im Januargegen Pozsgay an. Wird die neueVerfassung bestätigt, nach derdas Parlament den Staatspräsi-denten bestellen soll, so scheintden Demokraten die Mehrheit oh-nehin sicher zu sein.

Ungarns Kommunisten drohttrotz ihres Reformeifers dasSchicksal der polnischen Genos-sen. Sie werden die Macht abge-ben müssen, weil das Volk auf al-les, was sich sozialistisch nennt,allergisch reagiert. Ihre einzigeChance, an der Macht teilzuhaben,Wäre Uneinigkeit in der demokrati-schen Bewegung.

Achim v. Roos

EinmütigeEmpörungrxleine Gefechte in abgelegenenGebieten - so beschreiben Regie-rungsbeamte in Washington dieZwischenfälle, die Daniel Ortega,der Präsident von Nicaragua, zumAnlaß genommen hat, den seit an-derthalb Jahren geltenden Waffen-stillstand nicht zu verlängern undoffen militärisch gegen die Contrasvorzugehen. Ortega ist zur glei-chen Zeit auf den Bildschirmendes amerikanischen Fernsehensvor offenen Särgen zu sehen. Fürsein kleines Land, so seine an dieUSA und an die UNO gerichteteBotschaft, ist jeder Tote ein Opferzuviel.

Ortega will mit seinen dramati-schen Aktionen den Blick darauflenken, daß eine wichtige Bedin-gung des Friedensplanes nicht er-füllt ist: Die Entwaffnung und De-mobilisierung der Contras. Dochhandelt es sich um eine Empfeh-lung, der vor allem die USA, vonderen finanzieller Unterstützungdie Contras leben, nicht zuge-stimmt haben. Washington will dieContras nicht aufgeben, solangenicht in freien Wahlen über dasSchicksal Nicaraguas entschiedenworden ist.

Zunächst hat Ortega jedoch vorallem erreicht, daß der amerikani-sche Kongreß und die öffentlicheMeinung sich in seltener Einmütig-keit empören. Bush als erfahrenerPolitiker weiß, daß solche Einmü-tigkeit nicht lange anhalten muß. Erwird, schon um den Rückhalt imeigenen Lager nicht zu verlieren,kaum umhin können, die Contraswieder militärisch zu unterstützen.Doch er dürfte zögern, den Kriegwieder voll aufzunehmen, seiner-seits den Weg zu freien Wahlen zuverlassen. „Jener kleine Mann" inManagua hat sich, wie Washingtones sieht, eine Blöße gegeben. Dawäre es töricht, ihm die Verantwor-tung für ein mögliches Scheiterndes Friedensplanes abzunehmen.

Siegfried Maruhn, Washington

Das Zitat„Die Leute, die heute die Tsche-choslowakei regieren, sind diesel-ben, die vor zwanzig Jahren diePanzer gerufen haben. Was sollman von denen erwarten?"

. Der exiltschechische AutorPavel Kohout

uf Westberlin kommt nebendem Polenmarkt möglicherwei-se schon bald ein neues Händ-lerproblem zu: Wenn die Mut-maßungen des Deutschen Insti-tuts für Wirtschaftsforschung(DIW, Berlin) zutreffen, dannwird die Stadt nach angekündig-ter Aufhebung der Reisebe-schränkungen künftig vonDDR-Bürgern „überschwemmt",die - ähnlich wie ihre polni-schen Nachbarn - in erster Linieals Klein- und Kleinsthändlerauftreten, um an harte West-währung zu kommen.

Die DDR-Bürger brauchen für Reisen Westgeld - aber woher?

Das große DevisenrätselVon unserem Redaktionsmitglied Ulrich Brehme

„Unerschwinglich"

Ansonsten aber wird sichnach DIW-Einschätzung im In-nerdeutschen Reiseverkehr aufabsehbare Sicht real kaum et-was ändern. Der für die DDRzuständige DIW-Ostexperte Dr.Heinz Vortmann gegenüber un-serer Zeitung: „Die Bundesrepu-blik wird für DDR-Bürger ohneWest-Verwandte als Reiselandmangels Devisen selbst bei Bon-ner Hilfe weitgehend uner-schwinglich bleiben."

Zunächst: Rund sieben Mil-lionen Besucher aus der DDRwurden im vergangenen Jahr imBundesgebiet und Westberlinregistriert - allesamt fast mittel-

los. Denn bislang erhaltenWestreisende in der DDR ein-mal im Jahr von ihrer Staats-bank 15 D-Mark im Verhältnis1:1 umgetauscht, und darüberhinaus bekommen sie im Bun-desgebiet beim ersten Besuchein „Begrüßungsgeld" von 100DM. 115 DM stehen ihnen alsoim günstigsten Fall zur Verfü-gung. Klar, daß also nur diejeni-gen gen Westen reisen können,die hier Verwandte haben, wel-che den Aufenthalt finanzielltragen. '

Und daran wird sich nach An-sicht des DIW so schnell auchnichts ändern. Grund ist die fürsozialistische Staaten typischenotorische Devisenknappheit.Ein „hausgemachtes Problem",das mit dem dortigen Wirt-schaftssystem zusammenhängt.Genauer: Zu wenig Güter sindweltmarktfähig, weswegen auchkeine oder zu wenig „harte"

Währungen ins Land kommen.Gibt es Lösungen, diesen Zu-

stand zu ändern? Ein scheinba-rer Ansatz wäre es, daß dieDDR-Bürger ihr dort Erspartesmitbringen und hier zumSchwarzmarktkurs 1:11 tausch-ten. Laut DIW kommt dies abernicht in Frage. Denn tatsächlichist die Ost-Mark im Westen sogut wie nichts wert. Fritz Hoh-mann, Referatsleiter „Inner-deutsche Wirtschaftsbeziehun-gen" im Bundeswirtschaftsmini-sterium: „Das Geld kann manbedenkenlos verbrennen".

Da sowohl Geld- wie auchGütermenge geplant sind, ist dasPreissystem völlig verzerrt.Zwar hat Ostberlin den Kurs imVergleich zur D-Mark auf 1:1festgelegt, doch entspricht ebendieser Wechselkurs in keinerWeise der realen Kaufkraft.Würde man beispielsweise dieBinnenwährung DDR-Mark von

heute auf morgen freigeben, wä-ren wir nach DIW-Berechnun-gen innerhalb kürzester Zeit beiRelationen von 1:50 oder gar1:100. Das heißt: Auch der ge-genwärtig häufig genannteSchwarzmarkt-Kurs von 1:11entspricht nicht den realen Ver-hältnissen. Dr. Vortmann: „Die-ser Kurs gibt lediglich die Situa-tion in Teilmärkten wieder".

Folge: Den Gästen aus derDDR würde ihr Geld sozusagenin der Hand wegschmelzen, unddie DDR-Wirtschaft " daheimwürde aufgrund des daraus re-sultierenden dramatisch anstei-genden Zahlungsbilanzdifizitsvollends zusammenbrechen. Al-lenfalls langfristig - nach Ge-sundung der Wirtschaft undnach Einführung marktwirt-schaftlicher Kriterien - sei alsoan eine Konvertierbarkeit (freierTausch zu Marktkursen) derDDR-Mark zu denken.

Ebensowenig seien andereschnelle Lösungen denkbar.Dies gilt zum Beispiel für denVorschlag, die DDR sollte dankihrer Einnahmen aus der Tran-sitpauschale (jährlich 525 Mil-lionen DM) den Westreisendenmehr an Devisen bewilligen alsdie genannten 15 D-Mark. Der„Knackpunkt": Verdoppelt oderverdreifacht sie den Betrag, ko-stet es dem Staat mehrere 100Millionen DM, die für dringendbenötigte Westgüter wegfielen.Auch wäre den Touristen damitnicht viel gedient, denn auch mit45 DM läßt sich bei uns nichtallzuviel bewerkstelligen.

Kassen sind leer

Und auch eine neue' HilfeBonns wäre zur Problemlösungnach DIW-Berechnungengrundsätzlich kaum geeignet.Natürlich könnte auf das „Be-grüßungsgeld" draufgesatteltwerden, könnten statt 100 DMnunmehr 300 DM pro Kopf aus-gegeben werden. Doch auch beiuns sind die öffentlichen Kassenleer, zudem läßt sich damit nichtmehr als ein zwei-Tages-Tripbei großer Sparsamkeit finanzie-ren. Und die politische Durch-setzbarkeit bei uns ist eine wei-tere Frage.

Ob's klappt? (Aus: Kölner Stadt-Anzeiger / Pielert)

Presse-EchoDas Treffen Bush/Gorbatschow kom-mentiert die

MMM OSNABRÜCKERE S ZEITUNGDie Begegnung auf den

Kriegsschiffen - fast schon eine1

antiquierte Bezeichnung - wür-de maßlos unterschätzt, säheman in ihr nur eine Chance zumlockeren Kennenlernen. Auchwenn konkrete Ergebhisse nichtzu erwarten sind, werden diebeiden Staatsmänner Weichenfür die nächstes Jahr in denUSA stattfindende formelle Gip-felkonferenz stellen und damitderen Erfolgschancen erhöhen.Bush und Gorbatschow könnenausloten, wie weit die Möglich-

keiten für die nächsten Abrü-stungsmaßnahmen über den be-kannten Rahmen hinausrei-chen.

Anders sieht das die Londoner

THE TIMESPräsident Bush und seine Be-

rater sollten nicht nur an dieMöglichkeiten, sondern auch andie Gefahren einer so hastig or-

§anisierten Begegnung denken,ie sollten sich an den letzten

Gipfel erinnern, der so kurzfri-stig in einem Drittland einberu-fen wurde - das jetzt berüchtigteTreffen von Reykjavik im Jahr1986.

Egon Krenz im Wortlaut / Gegen „Träume" vom Mauer-Abbau:

„Machen wir reale Schritte"D«'er neue erste Mann derDDR, Egon Krenz, hat gesternin Moskau eine Pressekonfe-renz vor internationalen Jour-nalisten gegeben und dabei zurdeutschen Frage wichtige Aus-sagen gemacht. Im Folgendendokumentieren wir Wortlaut-auszüge, die von dpa übermit-telt wurden.

Berliner Mauer:

...Man möge.nicht vergessen,daß es sich hier nicht einfachum eine Grenze zwischen zweiStaaten handelt. Es ist immer-hin die Grenze zwischen zweigesellschaftlichen Systemen,es ist die Grenze zwischen zweiMilitärblöcken. Und es ist dieGrenze, in deren unmittelbarerNähe in beiden Staaten mit diegrößte Waffenkonzentration inEuropa herrscht...

Natürlich kann diese Grenzenicht Raketen aufhalten, abersie ist ein gewisser Schutzwall,ist sie schon. Und bitte ziehenSie auch in Betracht, daß dieseGrenze viel später gezogenwurde, als sie schon existierthat. Wir haben 15 Jahre in derDDR gelebt, ohne daß dieseGrenze so bestanden hat. Sieist nämlich erst 1961 so gezo-gen worden. Und diese Zeit hatuns mehr als 100 Milliardengekostet. Und was 100 Milliar-den wert sind zu Preisen derdamaligen Zeit, das braucheich sicherlich Ihnen, meine Da-men und Herren, nicht zu er-klären. Die Deutsche Demo-kratische Republik ist ein gutentwickeltes Land, sie hat einegute Wirtschaft, aber 100 Mil-

liarden sind eine gewaltigeSumme, und man muß darandenken, daß solche Gründeheute noch existieren, und des-halb habe ich vorhin meineMeinung dazu.gesagt: Machenwir reale Schritte und keineTräume.

Europäisches Haus:

...Was das europäische Hausbetrifft, so bin ich dafür, daßjeder sich sein Zimmer so ge-mütlich wie möglich einrichtetoder seine Wohnung... Undwas unsere Nachbarn betrifft,und Nachbarn, aus denen Bür-ger der DDR in andere Ländergegangen sind, so werden sieverstehen, daß dies eine Ange-legenheit zwischen den Län-dern und meinem Land ist. Wirhaben verschiedene Lösungengefunden und eins möchte ichhier auf jeden Fall sagen: Eswird zwischen uns und den an-deren sozialistischen Ländernkein Problem geben, das wirnicht gemeinsam lösen können.Das ist das Neue an den Bezie-hungen zwischen den soziali-stischen Ländern.

Erneuerung in der DDR:

...Und es gibt Zeiten, wo mandann alleine die Verantwor-tung übernehmen muß. Undunter Leitung Erich Honeckersist in der Deutschen Demokra-tischen Republik viel Gutesund viel Bleibendes entwickeltwerden, daß ich mich dieserZeit nicht zu schämen brauche.Und ich finde, zur Politik ge-

hört auch Anständigkeit.wir Kommunisten sind anstän-dige Menschen.

Und zu dieser Anständigkeitzähle ich, daß ich die Politik,die ich vertrete, die Politik derErneuerungen, für die mich dasZentralkomitee gewählt hat,daß ich diese Politik durchfüh-re, ohne dafür gewissermaßenErich Honecker für alles ver-antwortlich zu machen, wasvorher war.

Wiedervereinigung:

...Was die Frage der Wieder-vereinigung betrifft, da muß ichIhnen sagen, daß ich fest davonüberzeugt bin, daß diese Frage'nicht auf der Tagesordnungsteht. Es ist nichts wiederzu-vereinigen, weil Sozialismusund Kapitalismus auf deut-schem Boden so noch nie zu-sammengestanden haben, undes ist auch nichts zu vereini-gen, weil sich in der Entwick-lung der Nachkriegszeit diese'beiden deutschen Staaten her-ausgebildet haben, unter-schiedlichen Bündnissen ange-hören. Und ich würde hinzufü-gen - das ist meine Hauptbe-gründung - daß sie ein Teil derStabilität in Europa darstellen.Und mir scheint, daß die Stabi-lität in Europa, die Erhaltungdes Friedens, die ja auch Aus-wirkungen auf die Situation inder Welt hat, viel, viel wichti-ger ist als über die unreale For-derung nach einer Wiederver-einigung oder einer Vereini-gung nachzudenken. Und des-halb sehe ich keinen konkretenTag voraus.

Polen-Reise Kohls / Eine mißverstandene Geste der Aussöhnung / Wird der „Abstecher" gestrichen?

Schlesiens Annaberg wirft lange SchattenVon unserem Redaktionsmitglied Jürgen Nolte

Eine gut gemeinte Absichtdroht sich in ihr Gegenteil zuverkehren; was als Geste derVerständigung und Aussöh-nung gedacht war, hat alte Gei-ster des Mißtrauens und natio-nale Emotionen geweckt: Dergeplante Abstecher Bundes-kanzler Kohls auf den Annabergbei Gleiwitz im Rahmen seinesPolen-Besuchs hat die Vorberei-tungen für die Reise am 9. No-vember in einer Weise über-schattet, daß man nur nochschwerlich um die Streichungdieses Programmpunkts oderzumindest um eine Abänderungdes Ablaufs herumkommenwird. In Bonn und Warschausieht man gleichermaßen dieGefahr, daß eine Visite auf demAnnaberg - im Mai 1921 Schau-platz blutiger Kämpfe zwischenPolen und Deutschen - die an-gestrebte umfassende Neuge-staltung der deutsch-polnischenBeziehungen belasten könnte.

Dabei hatte das Kanzleramt

den Wunsch Kohls, an einerMesse in der Wallfahrtskircheteilzunehmen, eher beiläufig indie Programmliste aufgenom-men. Dies sei „das denkbarHarmloseste" und keinesfallsetwa als Demonstration für dieRechte der deutschen Minder-heit in Polen gedacht, hieß es.Der Kanzler wolle vielmehr an-gesichts der seit einiger Zeit ge-übten Praxis, daß in der Kloster-kirche Messen abwechselnd aufPolnisch und Deutsch gelesenwürden, seinen Respekt vor die-sem sichtbaren Zeichen derAussöhnung bekunden.

Einen eifrigen Fürsprecher füreinen Besuch auf dem Annabergfand Kohl in dem Oppelner Bi-schof Nossol. Doch der Kir-chenmänn steht mit seiner An-sicht mittlerweile ziemlich al-lein da, er unterschätzte ebensowie der deutsche Kanzler die„patriotische Bedeutung" desAnnabergs für die Polen. DiesenAspekt hatte bereits vor einer

Woche Außenminister Skubis-zewski im deutschen Fernsehenhervorgehoben und die Be-suchsabsicht Kohls als „nichtglücklich" bezeichnet.

Die Kritik Bischof Nossols,der Minister habe erst mit sei-nen Äußerungen die Angele-genheit zum „Problem" erhoben,bestätigte die kommunistischeParteizeitung „Trybuna Ludu"auf drastische Weise: Sie ver-warf jede Bereitschaft, denWunsch Kohls hinzunehmen,als „Skandal". Und Polens nicht-kommunistischer Regierungs-chef Mazowiecki sah sich demVorwurf ausgesetzt, „polnischePatrioten verraten" zu haben.Der Hintergrund: ZwischenWarschau und Bonn hatte be-reits weitgehende Einigkeit überdie Besuchsziele des Kanzlersgeherrscht. Bei einer Ortsbe-sichtigung auf dem Annabergwar schon über Geschenke ge-sprochen worden, die er demKloster machen könnte.

Nun will auch Mazowieckivon einer solchen Visite nichtsmehr wissen und dürfte dafür indem Telefongespräch mit Kohlam Dienstagabend um Ver-ständnis geworben haben. DerPremier, dessen Regierung oh-nehin unter starkem Druckdurch die Kommunisten steht,will der KP nicht die Chancegeben, mit nationalistischen Ar-gumenten Punkte im Volk zusammeln. Da aber daran auchKohl nicht interessiert seinkann, wird er wohl das Seinetun, um die Mißhelligkeit ausder Welt zu schaffen.

Die Empfindsamkeit der Po-len, wenn es um ihren Patriotis-mus geht, ist von der jüngerenGeschichte des Landes her ver-ständlich. Bei den drei Teilun-tgen von 1772, 1773 und 1795hatte Polen seine Eigenstaat-lichkeit verloren, wobei Ruß-land, Preußen und ÖsterreichNutznießer waren. Erst 1918nach dem Zusammenbruch der

Mittelmächte im Ersten Welt-krieg und der russischen Okto-berrevolution entstand unterFührung Pilsudskis ein neuer•unabhängiger polnischer Staat,der seine östlichen Gebiete inschweren Kämpfen mit der Ro-ten Armee behauptete.

Im Westen fielen nach den Be-stimmungen des Versailler Ver-trages fast die gesamte ProvinzPosen und der größere TeilWestpreußens an Polen. InOberschlesien sprachen sich ineiner Volksabstimmung knapp60 Prozent der Bevölkerung fürden Verbleib zu Deutschlandaus. Die Folge war nach zweivorhergegangenen ein weitererpolnischer Aufstand, der vondeutschen Freikorps - unter an-derem mit der Erstürmung desAnnabergs - niedergeschlagenwurde. Am Ende wurde durchVölkerbunds-Beschluß der klei-nere, aber industriell wertvolle-re Teil Oberschlesiens Polen zu-gesprochen.

Page 61: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

7m fM X}<h F

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSIS KASSEL1 P 3713 A

UNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 257 • Freitag, 3. 11. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 Anzeigen 203-3

Tarifrunde 1990

IG Metall erwägtWechselstreiks

Stuttgart (AP). Die IG Metallerwägt, für den Fall eines Ar-beitskampfes im nächsten Jahrihre Forderungen nach der 35-Stunden-Woche und nach mehrLohn mit Hilfe von „Wechsel-streiks" von Betrieb zu Betriebdurchzusetzen. Das teilte derstellvertretende Vorsitzendeder Gewerkschaft, Zwickel, amDonnerstag mit. Im Gegensatzzur früheren Praxis sollen neueStreikkonzepte ausführlich ander Basis diskutiert werden.Bericht auf „Themen des Tages".

Forget besiegt

Beckermit Mühe

Boris Becker stehtbeim Tennis-Grand-Prix-Turnier in Pa-ris im Viertelfinale.Der 21jährige Lei-mener besiegte denFranzosen Guy For-get mit viel Mühe6:7, 6:4 und 7:6.Nächster Gegner istder Australier Wal-ly Masur. SieheSport.

Padberg-Morde.

Richter:lebenslang

Detlef Meyer (33,Bild) ist im soge-nannten Padberg-Prozeß wegen zwei-fachen Mordes zulebenslanger Frei-heitstrafe verurteiltworden. Er hatte beider Entführung des15 Monate alten Pa-trick Padberg Omaund Kind getötet.„Blick in die Zeit".

4,8 Mrd. DM

Ford kauftJaguar

Für umgerechnetrund 4,8 Mrd. DMübernimmt Ford denbritischen Autoher-steller Jaguar. Bis-her hatte sich Jagu-ar erbittert gegeneine Übernahme ge-wehrt. Die Über-nahme wurde durchdie britische Regie-rung ermöglicht.Siehe Wirtschaft.

EKD-Synode

Frauenund Kirche

Über eine Frauen-quote in Kirchen-gremien berät amSonntag die EKD-Synode. 40 Prozentsollen in „Teilschrit-ten" angestrebt wer-den. Der KasselerBischof Jung hälteine Bischöfin vordem Jahr 2000 fürmöglich. Siehe Kul-turseite.

Wasserkraft

EAM zahltmehr

Frohe Kunde fürdie rund 150 Besit-zer kleinerer Was-serkraftwerke in derRegion: Der Strom-versorger EAMzahlt den Kraft-werkseigner für ihrin das EAM-Netzeingespeisten Strom15 Prozent mehr.Siehe auch Wirt-schaft.

Expertenrunde der Bonner Koalition:

Mehr Geld für den WohnungsbauBonn (dpa). Nach mehrstündi-

gen Beratungen hat sich eineExpertenrunde der Koalition amDonnerstag auf weitere Maß-nahmen zur Belebung des Woh-nungsbaus verständigt.

Sie umfassen eine deutlicheAufstockung der Bonner Mittelfür den sozialen Wohnungsbauum 400 Millionen auf zwei Mil-liarden DM im nächsten Jahrund in einer ähnlichen Größen-ordnung in den beiden Folgejah-ren. Die zusätzlichen Geldersollen im dritten Förderweg ver-geben werden, der die Darlehenund die Sozialbindungen von 40auf sieben bis zehn Jahre ver-kürzt. Das Mietrecht soll teil-

weise gelockert werden. Außer-dem wird die Bundesregierungaufgefordert, den Verkauf vonBauland zur Verbesserung derWohnungsversorgung zu ver-stärken.

300 Millionen DM Sofortmit-tel will der Bund zur Schaffungvon rund 20 000 Wohnungenfür Studenten zur Verfügungstellen. Weitere 300 Millionenhätten die Länder aufzubringen,400 Millionen die Bauherrenvon Studentenwohnungen. DieWohnungen sollen bereits 1990errichtet werden können.

Wie dpa weiter erfuhr, mußüber einige Einzelheiten noch inder abschließenden Koalitions-

runde am kommenden Dienstagim Beisein der Parteivorsitzen-den beraten werden. Dazu gehö-ren weitere Abschreibungser-leichterungen, die nach Anga-ben aus Teilnehmerkreisen „vielGeld kosten". Über den Umfangund den Zeitpunkt der allgemei-nen Erhöhung des Wohngeldessoll im Verlauf des nächstenJahres entschieden werden.

Die nordrhein-westfälischeWissenschaftsministerin hatteam Donnerstag bekanntgege-ben, daß die Landesregierung inDüsseldorf für die nächsten bei-den Jahre 40 Millionen DM fürden studentischen Wohnungs-bau zur Verfügung stellen wolle.

Neubaustrecke: Schienenstrang Hannover - Kassel fertigMit Pauken und Trompeten fei-erte die Bundesbahn gestern denLückenschluß für den Nordab-schnitt der Neubaustrecke Han-nover-Würzburg. Um 11.45 Uhrgab Niedersachsens „Landes-mutter" Heidi Adele Albrechtals Patin für den MündenerTunnel das Kommando. Sekun-den später senkten vier Gleis-

baumaschinen das letzte StückSchiene auf der rund 150 Kilo-meter langen Strecke zwischenHannover und Kassel an derWerrabrücke in das Schotter-bett ab. Die verlegten Gleiseverlaufen über 108 Brücken mitinsgesamt rund elf km Längeund durch 16 Tunnel mit einerGesamtlänge von rund 35 km.

Damit rückte die Bundesbahnihrem erklärten Ziel, die Neu-baustrecke Hannover-Würz-burg Ende Mai 1991 in Betriebzu nehmen, wieder ein beträcht-liches Stück näher, wie der Prä-sident der BundesbahndirektionHannover, Werner Remmert,vor zahlreichen Gästen verkün-dete. (til/Foto: Barth)

Umfrage: In die Kirchen zieht es nur die wenigsten

70 Prozent der Bundesbürger glauben an GottHamburg (dpa/AP). Nach

Umfrageergebnissen glauben70 Prozent der bundesdeut-schen Bevölkerung an Gott.„Dabei ist die Gläubigkeit derKatholiken mit 83 Prozent weithöher als die der Protestantenmit 68 Prozent", erklärte eineSprecherin vom Allensbacher

Institut für Demoskopie ge-stern in Hamburg. Nach ihrenWorten liegt die Gottesgläu-bigkeit bei den über 60jährigenKatholiken mit 92 Prozent amhöchsten. Den niedrigstenWert wiesen Protestanten imAlter zwischen 16 und 29 auf:57 Prozent.

Den Gottesdienst hingegenbesuchen nur fünf Prozent derProtestanten und 25 Prozentder Katholiken regelmäßig. Je-der zweite von ihnen ist über60 Jahre alt. Die Umfrage ergabauch, daß Männer mehr zwei-feln als Frauen.Siehe „Zum Tage"

Annelis Kimmel führt FDGB

Rücktrittswellein der DDR

Ost-Berlin (AP/dpa). Der Reformprozeß in der DDR führtjetzt zu umfangreichen personellen Konsequenzen. An derSpitze der DDR-Einheitsgewerkschaft steht nach dem Rück-tritt Harry Tischs eine Frau. Zurückgetreten sind auch zweiVorsitzende der insgesamt vier DDR-Blockparteien. Volksbil-dungsministerin Margot Honecker ließ sich erwartungsge-mäß von ihrem Amt entbinden. Ein SED-Bezirkschef wurdeseines Amtes enthoben.

Mit. der Ablösung des FDGB-VorsitzendenTisch und der]Wahl der Ost-!Berliner Be- jzirkschefin An-!

nelis . Kimmel;(Foto) zur neu-en Bundesvor-sitzenden hatdie Einheitsge-werkschaft, dievon einer Aus-trittswelleheimgesuchtwird, die Weichen für einen po-litischen Kurswechsel gestellt.Der 62jährige Tisch begründeteseinen Verzicht gestern mit derNotwendigkeit einer „grundle-genden Wende". Diese sei nichtmöglich, „wenn der Vorsitzendedieser Organisation einen Ver-trauensverlust erlitten hat".

Frau Kimmel wurde vom Bun-desvorstand in offener Wahl mit174 Stimmen bei zwei Enthaltun-gen gewählt. Die 55jährige Me-chanikerin ist seit 1981 Volks-

kammerabgeordnete und ~ leitetden Ost-Berliner FDGB-Bezirk.Sie gehört, wie ihre VorgängerTisch und Warnke, der SED an.

Die Neugewählte sprach in ih-rer ersten Stellungnahme von derChance, „einen Weg zu echterErneuerung zu finden". Natür-lich sei nicht alles zu verwerfen,was in der Vergangenheit gelei-stet wurde, doch die bisherigeArbeit müsse „konstruktiv inFrage gestellt werden". OberstesGebot der Gewerkschaftsarbeithätten „stets die Interessen allerWerktätigen" zu sein. SpürbareVerbesserungen der Arbeits-,Lebens-, Wohn- und Umweltbe-dingungen müßten „gegenüberden Staatsorganen durchgesetztwerden".

Zwei Vorsitzende der Block-parteien, die unter der Führungder SED die „Nationale Front"bilden, legten gestern ihre Ämternieder: Gerald Götting (CDU)und Heinrich Homann (NDPD).Fortsetzung nächste SeiteSiehe auch „Themen des Tages"

Schleppende Abfertigung durch DDR-Mission

1300 Flüchtlinge in PragPrag/Bonn (dpa/AP). Unge-

achtet der Ostberliher Ankün-digung einer innenpolitischenWende ist die Zahl der DDR-Bürger, die in der Botschaft derBundesrepublik in Prag Zu-flucht suchen, gestern auf rund1300 gestiegen. Viele hatten dieAufhebung der Visumpflicht so-fort zur Flucht genutzt. Es han-delt sich zumeist um junge Leu-te. Es wird befürchtet, daß „Tau-sende weitere auf den Weg nachPrag sind". Allein am Mittwochfuhren rund 8000 DDR-Bürgerals Touristen in die CSSR, be-richtete ADN.

Unter den Zufluchtsuchendensind auch 200 bis 300 Kinder.Gestern wurde damit begonnen,die Zelte im Garten des PalaisLobkowitz wieder aufzuschla-gen. Der Bonner BotschafterHermann Huber will die tsche-choslowakische Regierung umEinwilligung bitten, die DDR-Bürger außerhalb der Botschaftunterzubringen.

Ein großes Problem stellt daslangsame Ausfüllen der Ausrei-

seformale in der DDR-Missionin Prag dar. Sie kann täglichhöchstens 100 Anträge zur Ent-lassung aus der DDR-Staatsbür-gerschaft erledigen.

In der Obhut der bundesdeut-schen Botschaft in Warschauhalten sich derzeit noch rund900 DDR-Flüchtlinge auf. ÜberUngarn trafen am Mittwoch undin der Nacht zum Donnerstagweitere 386 DDR-Flüchtlinge inBayern ein.

200 kehrten zurück

Rund 200 DDR-Übersiedlersind hingegen in den vergange-nen Wochen mit Hilfe des Deut-schen Roten Kreuzes (DRK) inihre Heimat zurückgekehrt.Und es gebe mehr und mehr An-fragen , von Rückkehrwilligen,erklärte gestern der Präsidentder Hilfsorganisation, BothoPrinz zu Sayn-Wittgenstein. Erhalte die Zahl von 200 Zurück-gekehrten nur „für die Spitzedes Eisbergs".

Zum Tage

Mit GottGclott ist tot" hat Nietzsche verkün-det. Die Mehrheit der Bundesbür-ger glaubt dem deutschen Philoso-phen nicht, sie glaubt an Gott. Daßdie Katholiken gefestigter sind alsdie Protestanten, verwundertnicht. Sie mißtrauen aus Traditiondem Zweifel. Doch bei beiden Kon-fessionen bleibt ein Rest. DessenBekenntnis kommt auch ohne Gottzurecht.

Ohne ihre Kirchen glauben vieleGläubige auszukommen. Sie hal-ten sich dem Gebäude fern, dasman gemeinhin Gotteshaus nennt.Sie dienen Gott auf ihre Weiseoder auch nicht. Die Reformen ha-ben sie dem Altar nicht näherge-bracht. Manche Kirche, sofern sienicht im Dorf steht, gleicht einemLeergebäude. Selbst die flottenRhythmen der Jugendgruppen be-wegen keine Massen mehr.

Traut man der Umfrage, machensich viele Gläubige ihren eigenenGlauben zurecht. Sie sehen-nichtso eng auf Bibel und Katechismus.Im Geist der Aufklärung vermeidensie gar die Flucht ins Seelenheil.Freilich, wenn es dem Tode zu-geht, klammern sich viele an dasewige Leben. Das lehrt der Alltag,dazu bedarf es nicht der Demosko-pie. Der Jugend den Zweifel, demAlter den Trost. Die Kirchen, ir-gendwo im Jenseits verankert,sind von dieser Welt, wenn sie dasabsegnen. Die Zeit der Gottesbe-weise ist vorbei. Doch etwas bes-seres als den Glauben wissenauch die Ungläubigen nicht. Daßder Atheismus nicht gesellschafts-fähig ist, zeugt für den Funken inuns. Auch wenn die Kirchen dar-aus nicht mehr Flammen zu schla-gen vermögen. Alfred Brugger

DDR/ EG

Weg frei fürHandelsvertrag

Ost-Berlin (dpa). Die DDR istan einem raschen Abschluß ei-nes Handelsvertrages mit derEG interessiert. Er sei „sehr da-für", einen solchen Vertragschnell abzuschließen, sagteDDR-Staats- und ParteichefKrenz nach einem Gespräch mitdem EG-Kommissar und frühe-ren BundeswirtschaftsministerBangemann (FDP) gestern inOst-Berlin. Ein solcher Vertragmüßte auf gleichberechtigterBasis und zu beiderseitigemVorteil abgeschlossen werden,meinte er. Bangemann sagte, esgebe keine Hindernisse mehr füreinen solchen Handelsvertrag.Siehe Kommentarund „Themen des Tages"

DDR / Wieder Proteste

Hunderttausendauf der Straße

Berlin (AP). In der DDR haben;estern abend wieder mehr alslunderttausend Menschen de-

monstriert. Es gab Protestaktio-nen in Gera, Erfurt, Halle undGuben im Bezirk Cottbus. Al-lein in Gera forderten 70 000 dieZulassung des „Neuen Forums"und Demokratie. Alle Demon-strationen blieben friedlich.

Quoten vom MittwochslottoZiehung A: Gewinnklasse I unbe-setzt, Jackpot 1 019 234,20 DM; II509 617,10 DM; III 7800,20 DM; IV98,60 DM; V 6,10 DM.Ziehung B: Gewinnklasse I unbe-setzt, Jackpot 1966 612,40 DM; II56 624,10 DM; III 3614,30 DM- IV59,20 DM; V 4,40 DM.

(Ohne Gewähr)

Page 62: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 257 Politik Freitag, 3. November 1989

Namen undNachrichten

Streibls nobler KaufZum Preis von'1,3 MillionenMark hat sichBayerns Mini-sterpräsidentMax Streibl(CSU) einGrundstücknahe demNymphenbur-ger Schloß fürsein Privathausgekauft. Fürdas 1130 Qua-dratmeter gro-ße Areal, dasStreibl der Caritas abkaufte, er-hielt der Regierungschef denZuschlag, nachdem er den in ei-nem Schätzgutachten festgeleg-ten Kaufpreis um etwa zehn Pro-zent überboten hatte.

Demo-Verletzter starbEin 56 Jahre alter Dortmunder,der am Abend der nordrhein-westfälischen Kommunalwahlam 1. Oktober bei einer Demon-stration gegen den Wahlerfolgder Republikaner mit einemHerzinfarkt zusammengebro-chen war, ist am Mittwochabend gestorben. Der Mann,Anhänger der rechtsextremenFreiheitlichen Deutschen Ar-beiterpartei (FAP), war von lin-ken Demonstranten getretenund mit Bierflaschen beworfenworden. Bei einer Attacke hatteer einen Herzinfarkt erlitten.

Flucht mit SchafherdeMit mehr als 1000 Schafen isteine achtköpfige Familie aus Ru-mänien nach Ungarn geflüchtet.Die vier Männer, zwei Frauenund zwei Kinder brachten nebenden Schafen noch drei Pferde,vier Esel sowie ein Auto mit.

Baustopp am Bundestag?Der FDP-Bundestagsabgeordne-

ste Wolf gangI Lüder hat ge-I stern ange-sichts der Ko-I stenexplosion• beim NeubauIdes Bundesta-ges einen sofor-Itigen teilweisenI Baustopp vor-igeschlagen.I Wenn ent-i schieden wür-•de, nur den Ple-

narsaal zu errichten und die Ar-beiten am Eingangs- und Präsi-dialbereich unmittelbar zu be-enden, könnte eine „an das Ko-stenbewußtsein des Parlamentserinnernde Bundesbauruine"des Architektenbüros Behnischund Partner entstehen, schriebLüder in Anfragen an die Bun-desregierung.

Prag: Nur drei vor GerichtNur drei der 359 bei einer Op-positionsdemonstration in Pragam vergangenen Samstag festge-nommenen Menschen müssenvor Gericht. Nur bei diesen dreibestehe der Verdacht „straf-rechtlicher Tätigkeit" sagte einSprecher des CSSR-Innenmini-steriums. 85 Demonstrantenmüßten dagegen Strafen zahlen.Alle Festgenommenen seien in-zwischen freigelassen worden.

Warnung vor IRA-TerrorBundesinnenminister WolfgangSchäuble(CDU) hat aufdie Gefahr neu-er Terroran-schläge der in-schen Unter-grundbewe-gung IRA aufbritische Ein-richtungen hin-gewiesen. Beieinem Ge-spräch mit ho-hen britischenOffizieren betonte Schäuble ge-stern, die Schutzmaßnahmenmüßten intensiviert werden.

Lichtdefekte als SignalDie israelische Polizei hat in denvergangenen Wochen rund5000 arabische Autofahrer ausden besetzten Gebieten mit Buß-geldern belegt, weilsie nachtsnur mit einem intakten Schein-werfer fuhren. Die häufigen„Defekte" waren kein Zufall,denn die betroffenen Fahrer fuh-ren bewußt „einäugig", um stei-newerfenden Aktivisten des Pa-lästinenser-Auf Stands anzuzei-gen, daß sich „Brüder" nähern.

Kohls Polen-Reise / Teltschik nach Warschau

Annaberg-Besuch wirdvermutlich gestrichen

Warschau (dpa). Die von Bun-deskanzler Kohl im Rahmen sei-ner Polen-Visite beabsichtigteTeilnahme an einem deutsch-sprachigen Gottesdienst auf demAnnaberg wird vermutlich vomBesuchsprogramm gestrichen.Das Vorhaben des Kanzlers warin Polen heftig kritisiert worden.

Kanzlerberater Teltschik, dergestern überraschend nachWarschau reiste, schloß in ei-nem Interview nicht aus, daß derReiseplan geändert wird. NachInformationen der „FrankfurterRundschau" hat Kohl bereits aufden Programmpunkt Annabergverzichtet. Dies sei bei einem Te-lefongespräch des Kanzlers mitdem polnischen Ministerpräsi-denten Mazowiecki am Don-nerstag vereinbart worden.

Regierungssprecher Klein teil-te zu dem halbstündigen Telefo-nat lediglich mit, die beiden Re-gierungschefs hätten abgespro-chen, daß Teltschik „zur Feinab-stimmung" der Kanzler-Reisenach Warschau fliegen solle.Kohl und Mazowiecki wolltennach Abschluß seiner Gesprä-che von Teltschik erneut mitein-ander telefonieren.

Der Annaberg in Oberschle-sien, wo Anfang der 20er Jahreblutige Kämpfe zwischen Deut-

schen und Polen stattfanden, istfür beide Seiten ein patriotischesSymbol. Der Streit um diese Rei-se-Etappe des Kanzlers zeigtnach Teltschiks Worten, „wieweit weg wir noch von der Aus-söhnung zwischen unseren bei-den Völkern sind". „Wir sind da-bei, entweder vor Ort, also aufdem Annaberg, eine Lösung zufinden oder eine andere Lösung",meinte Teltschik.

Auch gestern wurde in polni-schen Zeitungen der geplanteAnnaberg-Besuch kritisert. DieZeitung der Solidarität, „GazetaWyborcza", wandte sich aberauch gegen den „hysterischenTon" der kommunistischen „Try-buna Ludu", die hinter der Ab-sicht des Kanzlers eine „Revan-che" für die schlesischen Auf-stände wittere.

SPD-Parteichef Vogel forderteKohl auf, auf den Annaberg-Be-such zu verzichten: „Es wäre fa-tal, wenn sich hier ein zweitesBitburg anbahnen würde." Damitspielte Vogel auf den umstritte-nen Auftritt von Kohl und US-Präsident Reagan im Juni 1987auf dem Soldatenfriedhof vonBitburg an, auf dem auch Mit-glieder der Waffen-SS begrabensind.Siehe auch Kommentar

GEW: An DDR-Schulen

„Wehrkundeabschaffen"

Bonn (dpa). Der Vorsitzendeder Gewerkschaft Erziehungund Wissenschaft (GEW), Die-ter Wunder, hat die Lehrerge-werkschaft in der DDR aufgefor-dert, „jeder Art von vormilitäri-scher Erziehung" abzuschwörenund dem bisherigen Wehrkund-eunterricht eine klare Absagezu erteilen. Die GEW legte amDonnerstag in Bonn als Ergebniseines über einjährigen Diskus-sionsprozesses mit der DDR-Lehrergewerkschaft Unterrichtund Erziehung (GUE) ein Posi-tionspapier zur Friedenserzie-hung in beiden deutschen Staa-ten vor. Das Papier war AnfangOktober von der GUE-Vorsit-zenden und möglichen neuenDDR-Bildungsministerin HelgaLabs überraschend zurückgezo-gen worden.

Hervorgehoben wird in demText, daß der Lehrer nicht seineAutorität zur Indoktrination(massive Beeinflussung) miß-brauchen, sondern Beispiel ge-ben solle, wie man mit Toleranzandere Auffassungen gelten las-sen kann. Nicht akzeptiert wur-de von der DDR-Seite ebensowie die Absage an den Wehr-kundeunterricht auch dieGEW-Forderung, in der Schulemüsse auf jede Sanktionsgewaltgegenüber Schülern und Leh-rern bei abweichenden Positio-nen verzichtet werden.

„Drogenkrieg" Mitterrand und Kohl:

DIE SHOW GESTOHLEN wurde US-PräsidentGeorge Bush am Mittwoch von einem dreijähri-gen Mädchen namens Jessica. Vor zwei Jahrenhielt die 58stündige, dramatische Rettungsak-tion für das in einen Brunnen gefallene, damals18 Monate alte Kind die amerikanische Öffent-lichkeit in Atem. Bei einer Verleihung eines zu

ihren Ehren gestifteten Preises für Bürgerein-satz in Washington zeigte die Kleine wenig Rep-sekt vor dem US-Präsidenten: Sie nahm ihmeinfach die Brille von der Nase und setzte siesich selbst auf. Bush gab das Mädchen darauf-hin lachend seiner Mutter Reba McClure zu-rück. dpa-Funkbild

DDR / Götting (CDU) und Homann (NDPD) zurückgetreten

Bewegung in den BlockparteienFortsetzung

Götting (65) legte in einer Prä-sidiumssitzung sein Amt nieder.Er war seit Gründung der DDRan hervorragender Stelle an derGleichschaltung der CDU imSozialismus beteiligt und seit1966 Chef seiner Partei.

Der 78jährige Heinrich Ho-mann bat um „Entbindung" vonseinem Amt „in Anbetracht undin Einschätzung der Situation inder Partei sowie aus gesundheit-lichen Gründen". Die NDPDwar 1948 unter maßgeblichemEinfluß der SED gegründet wor-den. Sie sollte vor allem ehema-lige NSDAP-Mitglieder und Of-fiziere in die neue Ordnung ein-gliedern. Homann und Göttingsind auch stellvertretendeStaatsratsvorsitzende.

Der Rücktritt der langjährigenDDR-Ministerin für Volksbil-dung, Margot Honecker, ist ge-stern abend in Ost-Berlin offi-ziell bestätigt worden. Die Ehe-frau des früheren Staats- und

Parteichefs Honecker hatte be-reits am 20. Oktober den Mini-'sterrat schriftlich gebeten, sieaus „persönlichen Gründen"von dieser Funktion zu entbin-den. Margot Honecker war seit1963 für die Erziehung in derDDR zuständig, die in jüngsterZeit heftig kritisiert wurde.

Der Erste Sekretär der SED imBezirk Suhl, Albrecht, bislangdienstältester unter den 15 SED-Bezirkschefs ist seines Amtesenthoben worden. Der 60jährigewar in den letzten Monaten we-gen seiner „arroganten Amts-führung" verstärkt ins Kreuz-feuer der Kritik geraten. DerSED-Chef von Gera, Ziegen-hahn, bat nach 27 Jahren „ausgesundheitlichen Gründen" umseinen Rücktritt.

Der Vorsitzende des Verfas-sungs- und Rechtsausschussesder Volkskammer der DDR,1Weichelt (SED), sprach sich fürein verändertes Wahlgesetzaus. „Es sollte die Auswahl zwi-

schen mehreren Kandidaten er-möglichen und die öffentlicheKontrolle in jeder Phase derStimmenauszählung garantie-ren", zitierte ihn das SED-Zen-tralorgan „Neues Deutschland".

Das Politbüromitglied Bier-mann, Generaldirektor des Je-naer Kombinats Carl Zeiss undeiner der Topmanager der DDR,kritisierte die jetzige Strukturder DDR-Wirtschaft als „Fehl-entscheidung". Die schlechte Si-tuation in vielen Wirtschafts-zweigen sei selbstverschuldet.Biermann forderte die Rückkehr„kleiner, flexibler Betriebe".

Die DDR hat fünf sowjetischeFilme, die in der Gorbatschow-Ära gedreht wurden, wieder zu-gelassen. Das vor einem Jahrausgesprochene Verbot derAufführung von Streifen wie„Die Kommissarin" oder „Undmorgen war Krieg" sei rückgän-gig gemacht worden, berichteteADN.

Krenz mit Gesprächen in Warschau zufriedenWarschau (dpa). Der neue

Staats- und Parteichef der DDR,Egon Krenz, hat gestern abendseinen kurzen Arbeitsbesuch inWarschau abgeschlossen undist nach Ostberlin zurückgeflo-gen. Er hatte in Warschau nichtnur mit dem kommunistischen

Staatspräsidenten Wojciech Ja-ruzelski und Parteichef Mieczy-slaw Rakowski, sondern auchmit dem nichtkommunistischenMinisterpräsidenten TadeuszMazowiecki gesprochen. Auchnach dieser Unterredung äußer-te Krenz sich zufrieden. Man

habe offen miteinander gespro-chen, und „wenn man offen mit-einander spricht, findet manauch für komplizierte Fragen ei-nen Weg". Die Begegnung mitMazowiecki sei eine neue und„gute Erfahrung" für ihn gewe-sen.

Richterin und ReformprozeßSenator getötet unterstützen

Bogota (dpa). Die RegierungKolumbiens hat gestern eineGroßfahndung mit zahlreichenHausdurchsuchungen in denStädten Bogota und Medellinangeordnet, nachdem am Vor-tag ein Senator und eine Richte-rin von mutmaßlichen Komman-dos der Rauschgift-Mafia er-mordet worden waren.

Der Senator Luis Madero vonder oppositionellen Sozialkon-servativen Partei wurde vor sei-nem Büro in Bogota von Unbe-kannten erschossen. Die Richte-rin Mariela Espinosa wurde vorihrem Haus in Medellin vonsechs Männern ermordet, dieanschließend in zwei Autosflüchteten.

Mafia-Zentrale entdeckt

Die kolumbianische Polizeihat unterdessen in der Nähe derStadt Medellin die „Kommando-Zentrale" des Mafia-Chefs Pa-blo Escobar Gaviria entdeckt,der den größten Rauschgift-Schmuggelring der Welt leitet.

Bonn (dpa/AP). Bundeskanz-ler Kohl und der französischeStaatspräsident Francois Mit-terrand stimmen in der Beurtei-lung des Reformprozesses in derUdSSR, Polen, Ungarn und derDDR weitgehend überein. Dasberichteten die beiden Regie-rungssprecher Hubert Vedrineund Hans Klein gestern abendnach einer ersten UnterredungKohls mit Mitterrand zum Auf-takt der- zweitägigen deutsch-französischen Regierungskon-sultationen.

Laut Vedrine sind beide Poli-tiker davon überzeugt, daß derReformprozeß unterstützt wer-den muß und daß diese Unter-stützung koordiniert werdenmuß und Sache der ganzen Eu-ropäischen Gemeinschaft ist.

Außerdem erörterte Kohl mitseinem Gast laut Klein „diedeutsche Frage im europäischen,Zusammenhang".

Während der Konsultationensollen auch Leitlinien für eineumfassende Zusammenarbeitbeider Staaten in der Energiepo-litik beschlossen werden.

Neues Gesetz fraglich Bundestag

Kein Geld für Schily legtNaturschutz? Mandat nieder

Bonn (dpa). Das geplante neueNaturschutzgesetz wird mögli-cherweise für diese Legislaturpe-riode auf Eis gelegt, falls nicht inKürze fehlende 120 MillionenDM Bundesmittel von Finanzmi-nister Waigel (CSU) zugesagtwerden. Wie gestern verlautete,gibt es bisher keinen Termin fürdie Behandlung des im Umwelt-ministerium bereits fertiggestell-ten Gesetzentwurfs im Bundes-kabinett. Das Gesetz, das einedeutliche Verbesserung des Na-turschutzes bringen soll, müßtenoch bis Jahresende auf den par-lamentarischen Weg gehen, umbis nächsten Sommer verab-schiedet zu werden. Der Deut-sche Heimatbund forderte Bonnauf, die Novelle unverzüglich zuverabschieden. Der Betrag ma-che nur 0,04 Prozent des Bundes-haushalts aus.

Bonn (dpa). Nach seinem amDonnerstag erklärten Parteiaus-tritt will der bisherige Grünen-Bundestagsabgeordnete Schilyin der kommenden Woche seinBundestagsmandat niederlegenund dann „so schnell wie mög-lich" in die SPD eintreten.

Vor der Presse in Bonn be-gründete Schily seinen Partei-austritt mit den mangelndenMöglichkeiten für eine pragma-tische Reformpölitik bei denGrünen. Die „Fundamentali-sten" in der Partei würden oft zu„destruktiven Mehrheiten" bei-tragen. Er gab zu, daß auch dieAussicht, bei den Grünen we-gen deren Rotationsbeschlüssennicht noch einmal ein Parla-mentsmandat erhalten zu kön-nen, zu seiner Entscheidung bei-getragen habe.Siehe „Themen des Tages"

Palme-Mord / Revision Nicaragua

Pettersson Contra-Führerfreigesprochen will verhandeln

Stockholm (dpa). Das Stock-holmer Oberlandesgericht hatgestern den Schweden ChristerPettersson von der Anklage desMordes an Olof Palme mangelsBeweisen freigesprochen. NachAuffassung des Gerichtes kannes nicht als erwiesen angesehenwerden, daß der Täter mit Chri-ster Pettersson identisch ist.

Der einstimmig erfolgte Frei-spruch für den fast drei Jahrenach dem Attentat auf Schwe-dens damaligen Ministerpräsi-denten Olof Palme erstmals in-haftierten Pettersson kam er-wartungsgemäß, nachdem dasGericht schon kurz nach Ab-schluß der Hauptverhandlungim Oktober dessen Freilassungverfügt hatte. Der 43jährige warin erster Instanz zu lebenslangerHaft verurteilt worden.

Tegucigalpa (dpa). Der Mili-tärführer der von den USA ge-stützten Contra-Rebellen hatein Gesprächsangebot der nica-raguanischen Regierung ange-nommen.

Wie Contraführer EnriqueBermudez am Donnerstag in derhonduranischen Hauptstadt er-klärte, habe er zwar keine offi-zielle Einladung zum Dialog er-halten, er erwarte jedoch eineentsprechende Mitteilung vonden internationalen. Beobach-tern der Vereinten Nationenund der Organisation Amerika-nischer Staaten (OAS). Die Con-tra-Rebellen, die in Nicaraguaoperieren, haben nach seinenWorten nicht die Mittel, umeine größere Offensive der Re-gierung standzuhalten und müß-ten in ihre Lager in Honduraszurückweichen.

HESSISCHE/NIEDERSACHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,h von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureChef vom Dienst: Rainer Merforth. Politik:Jochen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden. Kultur: Dirk Schwarze, Frai/u. Reise: Hse.Methe-Huber. Sport: Rolf Wie-semann. Sonntagszeit: Frank Thonieke.Kasse) Stadt und Land: Wolfgang Ross:bacn. Bezirksredaktionen: Peter M. Zitz-mann. Koordination: Helmut Lehnart. Hes-sen/Niedersachsen: Eberhard Heinemann.Chefreporter: Karl-Hermann Huhn. Son-derthemen: Peter Ochs.Redaktion Wiesbaden: Rolf EffenbergerRedaktion Hannover- Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter. .Horst Prehm.Vertriebsleiter: Gerd Lührmg

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61 / 20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61/20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer 05 61 /20 36. Teletex5 618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlipher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7% MwSt. (Postbezugspreis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier". Herzberg.Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.Herstellung Druckhaus Dierichs Kassel.Frankfurter Straße 168, 35 Kassel.

Page 63: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Y"T"

I HESSISCHE/NIEDERSACHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

UNABHÄNGIG

Preis 1,40 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 258 • Samstag, 4.11.1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Bochum siegt

St. Pauli holtAuswärtspunkt1. BundesligaBochumHomburg

LeverkusenSt. Pauli

DüsseldorfWaldhof

2. Bundesliga

SaarbrückenHertha BSC

AachenMünster

OsnabrückKick. Stuttgart

1:01:10:0

3:07:11:0

Aktion

adventLiebe Leser!Menschen zu helfen, die un-verschuldet in Not geratensind, ist uns allen gerade inder Vorweihnachtszeit einbesonderes Anliegen. Des-halb möchte die Aktion ad-vent auch in diesem Jahrwieder um Ihre Hilfe bitten,damit wir den vielen einsa-men, alten und in Armut le-benden Mitbürgern eineFreude bereiten können.Alle Spendenbeträge wer-den den bedürftigen Fami-lien und Einzelpersonen invollem Umfang zugute kom-men.Verlag, Redaktion und Druk-kerei der HNA stellen für dieAktion advent wiederum10 00 Mark zur Verfügung.Wo Not gelindert werdenkann, schildern wir ab heutein beispielhaften Fällen imInnern der Ausgabe. Dortfinden Sie auch die näherenEinzelheiten über unsereAktion.Allen Lesern und Kunden,die sich mit Spenden an derAktion advent beteiligen,möchten wir schon heuteherzlichen Dank sagen.

Verlag und Redaktion

Aus- und Übersiedler

Wehrdienst wirdangerechnet

Bonn (lte). Übersiedler aus derDDR und Aussiedler aus ande-ren Ostblockländern im wehr-pflichtigen Alter können grund-sätzlich nicht vor Ablauf vonzwei Jahren zur Bundeswehreingezogen werden. Wehr-dienst, der in Streitkräften desfüheren Heimatlandes bereitsabgeleistet wurde, wird voll an-gerechnet. Das stellte am Frei-tag ein Sprecher des Bundesver-teidigungsministeriums auf An-frage unserer Zeitung klar,nachdem in den vergangenenTagen unterschiedliche Äuße-rungen von Bonner Politikern zudiesem Thema gemacht wordenwaren.

Gediente Aus- und Übersied-ler brauchen in der Regel nichtmehr mit einer Einberufungrechnen, weil der Grundwehr-dienst etwa in der NationalenVolksarmee (NVA) mit 18 Mo-naten länger ist als in der Bun-deswehr (15 Monate).Siehe „Themen des Tages"

Im UEFA-Pokal gegen Neapel

Tmum-Los für BremenEin Traum-Los

zog Fußball-Bun-desligist WerderBremen gestern inZürich bei der Aus-losung für das Ach-telfinale im UEFA-Pokal: Titelverteidi-ger SSC Neapel mitseinem Star DiegoMaradona ist am22. November undam 6. Dezember derGegner der Hansea-ten, die das ersteTreffen in der Stadt

am Fuße des Vesuvsaustragen. DerHamburger SV trifftim Kampf um denEinzug ins Viertelfi-nale zunächst zuHause auf den FCPorto, der 1. FCKöln gastiert imHinspiel bei RoterStern Belgrad, undder VfB Stuttgartbestreitet die ersteBegegnung beim FCAntwerpen. SieheSport.

Kassel

Spätwerkvon Klee

1939, ein Jahr vorseinem Tod, hatteder Maler undZeichner Paul Klee(Foto) eine äußerstproduktive Phase.Aus dieser Zeit prä-sentiert ab morgendas Kasseler Mu-seum Fridericianumrund 120 Bleistift-zeichnungen. SieheKultur

Bausparer

EherGeld?

Bausparer sollenschneller als bisheran ihr Geld bekom-men. Dies sehenPläne Bonns zurFörderung desWohnungsbauesvor. Die Vorstellun-gen sollen nächsteWoche von derKoalitionsspitze ab-gesegnet werden.Siehe Wirtschaft.

Asterix

30 Jahrealt

Seit 30 Jahrenverprügelt er dieRömer: Asterix, Eu-ropas beliebtesterComic-Held, feiertin diesen Tagen run-den Geburtstag. Al-les über Asterix,Obelix und die an-deren lustigen Gal-lier morgen in der

Sonntagszeit

Prager Botschaft / 6000 erwartet TV-Rede / Krenz informiert Bürger

Alle Flüchtlinge Alte SED-Gardedürfen ausreisen scheidet aus

Hamburg (dpa/AP). Alle DDR-Flüchtlinge in der bundes-deutschen Botschaft in Prag dürfen sofort und auf direktemWeg in die Bundesrepublik ausreisen. Diese Entscheidungbot die DDR-Regierung am Freitag abend an.

Hamburg (dpa). DDR-Staats- und SED-Parteichef Krenzhat Freitag abend angekündigt, daß eine Reihe alter undlanggedienter Spitzenfunktionäre aus dem Politbüro der Par-tei ausscheiden wird.

Ost-Berlin reagierte damit aufdie sich während des Tages zu-spitzende Situation in der Bot-schaft. Im Zuge der neuenFlüchtlingswelle - vorüberge-hender Visumszwang war am1. November wieder aufgeho-ben worden - hatten mittlerwei-le erneut über 4500 Menschenin der Mission Zuflucht gesucht.Die ersten Züge mit Botschafts-flüchtlingen sollen am Samstagmorgen, gegen 7 Uhr, Prag ver-lassen. Die bayerische Grenz-polizei rechnet aufgrund desweiteren Zustroms mit etwa6000 Menschen.

Wie RegierungssprecherKlein am Abend in Bonn mitteil-te, war der Chef des Bundes-kanzleramtes, Rudolf Seiters,kurz vor 20 Ühr von Ost-Berlindarüber unterrichtet worden,daß die DDR allen Zufluchtsu-chenden in der Vertretung „dieAusreise auf direktem Weg ge-stattet". Das DDR-Außenmini-sterium habe dem Leiter derStändigen Vertretung in Ost-Berlin, Franz Bertele, erklärt,„daß die Ausreisemodalitäten,also die Frage der Transportmit-

tel zwischen der Bundesrepu-blik und der Regierung derCSSR unmittelbar vereinbartwerden können".

Den ganzen Tag über bemühtesich Bonn um eine Lösung dessich anbahnenden neuenFlüchtlingsdramas. Zu dem ge-fundenen Ausweg beigetragenhaben offenbar Seiters sowieBundesaußenminister Gen-scher. Bundeskanzler HelmutKohl, der die Lösung begrüßte,habe in den Abendstunden inKontakt mit Seiters und Gen-scher gestanden, so Klein wei-ter. Diese hätten sich „über Ost-Berlin und Prag um einen Aus-weg aus den für die betroffenenMenschen immer unerträgli-cher werdenden Lage bemüht".

Nach Aufhebung der Visum-pflicht für Reisen in die CSSRwaren Tausende von DDR-Bür-gern aufgebrochen. Viele vonihnen suchten die Bonner Ver-tretung auf, um so in den We-sten auszureisen. Am Freitagwaren die Zustände in der Bot-schaft katastrophal.Siehe auch „Zum Tage"und „Themen des Tages"

In einer Rundfunk- und Fern-sehanspraChe nannte Krenz da-bei den für Außenpolitik zustän-digen Hermann Axen (73), denfür Kultur und Wissenschaftverantwortlichen Kurt Hager(77), Staatssicherheitschef ErichMielke (81), den Vorsitzendender Parteikontrollkommission,Erich Mückenberger (79), sowieden Ersten stellvertretendenMinisterpräsidenten AlfredNeumann (79). Hager und Miel-ke gehörten seit Mitte der 50erJahre dem Politbüro an.

Laut Krenz hat das Politbüroein Aktionsprogramm zur Er-neuerung in Politik, Wirtschaftund Gesellschaft beschlossen,das im Entwurf der am Mitt-woch beginnenden zehnten Ta-gung des Zentralkommitees vor-gelegt werden soll. „Wir wollenvolle Souveränität des Volkesder DDR", sagte Krenz. Not-wendig seien wahrheitsgetreueInformation, Meinungsvielfalt,Toleranz unter Andersdenken-den und ehrliches Ringen umgemeinsame Lösungen.

Der Staats- und Parteichefschlug weiter die Einrichtungeines Verfassungsgerichtshofesvor. Außerdem plädierte er füreinen zivilen Wehrersatzdienst.Umfangreiche Reformen kün-digte er für Wirtschaft und Bil-

dung an. Wahlfunktionen sollenkünftig zeitlich begrenzt sein.Praktiken übertriebener Reprä-sentation und die Inanspruch-nahme von Sonderrechten müß-ten verschwinden.

An die Bürger, „die sich mitdem Gedanken der Ausreise ausder DDR tragen, appellierteKrenz: „Vertrauen Sie unsererPolitik der Erneuerung. Ihr Platzist hier. Wir brauchen Sie." Of-fenbar im Blick auf die nicht ab-reißende Fluchtwelle sagte erweiter: „Sollten Sie sich den-noch anders entscheiden, wen-den Sie sich vertrauensvoll andie zuständigen Behörden. Es istder kürzere und bessere Weg."

In der Zeitung der Ost-Libera-len „Der Morgen" wurde gesterngefordert, die Regierung sollezurücktreten und der LDPD-Vorsitzende Gerlach zum Nach-folger des Volkskammerpräsi-denten Sindermann (SED) vor-geschlagen werden.

Aus der DDR-Gewerkschafts-szene wurde ein neuer Rücktrittbekannt: Der Vorsitzende derGewerkschaft Kunst, Bischoff(58), verzichtete auf sein Amt.Zurückgetreten ist gestern auchder Leipziger Oberbürgermei-ster Seidel.Fortsetzung nächste SeiteSiehe „Themen des Tages"

Z u m Tage

f ,

«**~ * * • ~ $

, A...." ... S * "*— ""••-'- ""»

IM FREIEN mußte gestern ein Teil der DDR-Bürger campieren, diein die Bonner Mission in Prag geflüchtet waren. Das Botschaftsge-bäude war hoffnungslos überfüllt. (dpa-Funkbild)

Polenbesuch Kohls / Programm geändert

Tiefes MißtrauenWenn Egon Krenz gehofft habensollte, die Massenflucht aus derDDR durch einen schnellen Stim-mungsumschwung stoppen zukönnen, sieht er sich enttäuscht.Die plötzliche Dialogbereitschaftder SED, das Auswechseln der al-ten Funktionärsgarde und die An-kündigung eines Reisegesetzeshaben nichts bewirkt. Zu tief miß-trauen die Menschen dem abge-wirtschafteten Regime, zu sehrfürchten sie, daß die DDR ihreGrenzen doch wieder dichtmacht.Viele Tausende halten nichts vonder versprochener! Wende, siewählen den sich abermals öffnen-den Weg in die Freiheit.

Was treibt die Massen erneut indie Prager Botschaft, wenn siedemnächst ohnehin frei reisen undausreisen dürfen sollen? Es kannnur die feste Überzeugung sein,daß sich im Arbeiter- und Bauerpa-radies nichts ändern wird. EgonKrenz hat den Bürgern bisher kei-nen Mut zum Ausharren gemacht.Sein Moskauer Gastspiel war eineherbe Enttäuschung. Daß Beton-köpfe rollen, Polizeischergen ver-folgt werden und Medien offenerberichten, halten viele nur fürBeschwichtigungsversuche. DerDruck im Kessel steigt weiter.Oder wird die unverminderte Ab-stimmung mit den Füßen die neueFührung doch noch dazu bringen,aus kosmetischen Veränderungenechte Reformen zu machen?

Achim v. Roos

Junge Union:

Auch in Bonn„verjüngen"

Erlangen (dpa). Zum Auftaktdes Deutschlandtages 1989 derJungen Union (JU) hat derenscheidender Vorsitzender Chri-stoph Bohr am Freitag in Erlan-gen eine „Verjüngung" in denUnionsparteien und der Bundes-regierung gefordert. Eine Partei,die sich nicht personell erneue-re, gebe sich selbst auf, betonteer. Die Wahlergebnisse der Uni-on bei den letzten Kommunal-und Landtagswahlen nannteBohr ebenso wie CDU-General-sekretär Volker Rühe in einemschriftlichen Grußwort alarmie-rend. Rühe kündigte an, er wolledazu beitragen, daß die Jugend-politik in der Union wieder einstärkeres Gewicht erhalte. Da-bei gehe es ihm vor allem um dieJugend in den Haupt- und Be-rufsschulen, um die Lehrlingeund die jungen Soldaten, dievielfach in der öffentlichen Dis-kussion keine Lobby hätten.

Statt Annaberg: Messe in KreisauBonn (dpa). Bundeskanzler

Kohl hat auf den umstrittenenBesuch in Annaberg in Polenverzichtet und wird stattdessenzusammen mit dem polnischenMinisterpräsident ThadeuszMazowiecki bei seiner bevor-stehenden Reise an einemdeutsch-polnischen Gottes-dienst in Kreisau in Nieder-schlesien teilnehmen, wo sich inden 40er Jahren deutsche Per-sönlichkeiten zum Widerstandgegen den Nationalsozialismuszusammengeschlossen hatten.Kohl \ind Mazowiecki verein-barten diesen Messebesuch ge-stern bei einem Telefonge-spräch, nachdem der Wunschdes Kanzlers, Annaberg inOberschlesien zu besuchen, aufstarke Kritik gestoßen war.

Wie RegierungssprecherKlein mitteilte, hatte der Bischofvon Oppeln, Alfons Nossol, amMittwoch Kohl gebeten, von

seiner Einladung zur Teilnahmean einer Messe in Annabergnicht mehr Gebrauch zu ma-chen: Es bestehe die Gefahr, daßsich eine gutgemeinte Absicht inihr Gegenteil verkehre.

Zu der Messe in deutscherund polnischer Sprache in Krei-sau werden auch Angehörigeder deutschen Minderheit in Po-len eingeladen. Das von Kohlgeplante Gespräch mit Vertre-tern der deutschen Volksgruppewird dagegen in Warschaustattfinden.

Kanzlerberater Horst Telt-schik ist gestern zur Vorberei-tung des Besuchs zum Gut Krei-sau gefahren. Zuvor beriet er inWarschau noch über die offenenEinzelheiten des Programms.Kohl und Mazowiecki wollendarüber Anfang der Wochenoch einmal telefonieren.

Klein betonte, daß der OrtKreisau, nach dem der Wider-

standskreis um den Grafen Hel-muth James von Moltke be-nannt wurde, bis heute an das„andere Deutschland" in derZeit des Nationalsozialismus er-innere. Er symbolisiere „im tief-sten Sinne den Willen zu Frie-den, Aussöhnung und Zusam-menarbeit zwischen Deutschenund Polen".

Mit „Bestürzung und Trauer,aber zugleich auch mit Empö-rung", reagierte der Vorsitzendeder Landsmannschaft Schlesien,Hupka, auf die Absage des Be-suchs des Kanzlers auf dem An-naberg. Der stellvertretendepolnische RegierungssprecherHenryk Wozniakowski be-zeichnete die Messe in Kreisauals „eine gute Wahl", die jetztden Polen ermögliche, Kreisauund den „Kreisauer Kreis" in ihrBewußtsein aufzunehmen.Siehe auch Kommentarund „Themen des Tages"

Page 64: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 258 Politik Samstag, 4. November 1989

Namen undNachrichten

Wahl 1990: Damen-DuellDie Bundesvorsitzende der Ar-beitsgemeinschaft Sozialdemo-kratischer Frauen (AsF), IngeWettig-Danielmeier (links), istin Münden (Kreis Göttingen) alsSPD-Kandidatin des Bundes-

r^T

Wiedervereinigung Deutschlands

Mitterrand hat„keine Angst"

tagswahlkreises Göttingen no-miniert worden. Die niedersäch-sische Landtagsabgeordnetetritt damit bei der Bundestags-wahl 1990 gegen Bundestags-präsidentin Rita Süssmuth(rechts) an. Diese war 1987 indiesem Wahlkreis direkt ge-wählt und vor wenigen Tagen zueiner erneuten Kandidatur auf-gefordert worden.

DDR-Medien: UmweltdatenIm DDR-Bezirk Dresden sindgestern erstmals Umweltdatenveröffentlicht worden. Wie dieNachrichtenagentur ADN mel-dete, sollen künftig einmal in derWoche die gemessenen Schwe-feldioxidwerte über die Medienverbreitet werden.

Czaja wird 75 Jahre altDer Präsident des Bundes der

Vertriebenen iIfBdV), HerbertI Czaja, wirdI morgen 75 Jah-re alt. Politisch

|ijngagiert sichICzaja in derICDU. Inner-llialb und außer-Ihalb der Parteijivar er bei der(Gründung ver-|ichiedener .Or-ganisationen

der Heimatvertriebenen dabei,wurde Sprecher der Oberschle-sier und schließlich 1970 zumPräsidenten des Bundes derVertriebenen gewählt. Seit 1953ist er Mitglied des Bundestags.

Mainz: Diäten erhöhtDer rheinland-pfälzische Land-tag hat rückwirkend zum 1. Julieine Erhöhung der Diäten fürdie 100 Abgeordneten beschlos-sen. Nach dem Gesetz, das vonCDU, SPD und FDP gegen dieStimmen der Grünen verab-schiedet wurde, steigen die zuversteuernden Diäten um 2,3Prozent von monatlich 6397,50DM auf 6544,64 DM.

Liechtenstein will in UNODas Fürstentum Liechtensteinwill der UNO beitreten. Wie ge-stern in Vaduz mitgeteilt wurde,soll ein entsprechender Antragim nächsten Jahr gestellt wer-den, damit die UNO-Vollver-sammlung im Herbst 1990 dar-über beraten könne. Der UNO

. gehören zur Zeit 159 Staaten an.

Ehrung für Miep GiesDie 78jährige Holländerin MiepGies, eine der—letzten Überle-benden der 14*ehemaligen Be-wohner des„Anne-Frank- •Hauses" in derPrinsengracht263 in Amster-dam, ist in DenHaag mit demBundesver-dienstkreuz I.Klasse ausge-zeichnet worden. Sie hatte beidem Versuch, die zwischen1942 und 1944 in dem Haus un-tergetauchten Menschen vorder deutschen Besatzungsmachtzu verbergen, eine entscheiden-de Rolle gespielt.

Baikal-Amur-Trasse stehtDie ostsibirische EisenbahnlinieBaikal-Amur-Magistrale ist fürden Verkehr freigegeben wor-den. Die 3102 Kilometer langeTrasse verbindet die Städte Ust-Kut nordwestlich des Baikal-Sees mit dem Pazifikhafen Kom-somolsk am Amur.

Bonn (dpa). Der französischeStaatspräsident Mitterrand hältden Wunsch der Deutschennach einer Wiedervereinigungim Rahmen einer „friedlichenund demokratischen Entwick-lung" auf der Grundlage desSelbstbestimmungsrechts für le-gitim. „Ich habe keine Angst vorder Wiedervereinigung", sagteMitterrand am Freitag in Bonnnach zweitägigen Gesprächenmit Bundeskanzler Kohl.

Sollte die Entwicklung dazuführen, „daß die Deutschen eineinziges Volk in einem einzigenStaat sein wollen, so muß das aufdem Willen des deutschen Vol-kes beruhen und niemand kannsich dagegen stellen", sagte Mit-terrand. Diese Entwicklunggehe auch die anderen Länder inEuropa an, doch: „Was zählt,ist, was die Deutschen wollenund was sie können."

Frankreich werde in einemsolchen Fall seine Politik der Si-tuation so anpassen, daß es „imbesten Interesse Frankreichsund Europas" ist, betonte Mit-terrand, der demnächst der DDReinen Staatsbesuch abstattenwill. Das Thema Wiedervereini-gung wird nach seiner Ansichtdas Ende dieses Jahrhunderts

bestimmen. Es dürfe nicht aufder Grundlage von „Befürchtun-gen" erörtert werden.

Als noch offene Frage be-zeichnete Mitterrand die künfti-ge Entwicklung der DDR, wel-che Menschen dort in die Füh-rung gelangen werden und obauch dort von einer Wiederver-einigung die Rede sein wird.Kohl und Mitterrand waren sichdarin einig, daß eine dynami-sche Entwicklung der Europäi-schen Gemeinschaft eine wich-tige Voraussetzung für den Re-formprozeß in Ost-Europa ist.Kohl sagte, daß es für die Bun-desrepublik kein „Wanken zwi-schen den verschiedenen Wel-ten" gebe: „Unser Platz ist in Eu-ropa, unser Ziel ist die EinigungEuropas." Das deutsche Pro-blem sei nicht mit einer „antie-uropäischen Stimmung" zu lö-sen. Der Kanzler wandte sichauch gegen eine „ständige Vor-mundschaft" gegenüber denBürgern der DDR, zeigte sichaber davon überzeugt, daß derWille zur Selbstbestimmung inder DDR vorherrschend ist.Doch gebe es für die Lösung derdeutschen Frage weder ein Zeit-maß noch eine Planung.Siehe auch Kommentar

AN DER ERSTEN ARBEITSSITZUNG des deutsch-französischenVerteidigungsrates in Bonn nahmen gestern auch FrankreichsStaatspräsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl teil.

(dpa-Funkbild)

Große Probleme in Ost-Berlin

1100 Ärzte und Schwestern wegBerlin (dpa). 1100 Ärzte und

Schwestern aus staatlichen Ein-richtungen in Ost-Berlin habenin jüngster Zeit die DDR verlas-sen. Das berichtete am Freitagdie Ost-„Berliner Zeitung". DasGesundheits- und Sozialwesensei schwer belastet, es laufe einNotkonzept. Wie es heißt, wirdauf Ärzte und Schwestern desRegierungskrankenhauses unddes' Krankenhauses der Volks-polizei zurückgegriffen.

Nach Angaben des bundes-deutschen Ärzteverbandes

Marburger Bund haben etwa10 000 Mediziner, Schwesternund Pfleger in den vergangenenJahren der DDR den Rücken ge-kehrt. Schleswig-Holsteins Mi-nisterpräsident Engholm hat un-terdessen angeregt, für eine be-grenzte Zeit westdeutsche Me-diziner in die DDR zu schicken,um bei Engpässen durch dieFluchtwelle auszuhelfen. Sokönnten junge Ärzte einen Teilihres Praktikums auch in Kran-kenhäusern der DDR absolvie-ren.

Entführungsbericht offenbar erlogen

„Neues Deutschland" bedauertOst-Berlin (dpa). Das SED-

Zentralorgan „Neues Deutsch-land" hat einen eigenen Bei-trag im Zusammenhang mitder Flüchtlingswelle bedauert.Unter der Überschrift „Ichhabe erlebt, wie BRD-Bürger'gemacht' werden" hatte am21. September ein Koch in demBlatt geschildert, daß er vonBudapest nach Wien quasientführt worden sei.

Dazu schrieb das „NeueDeutschland" am Freitag „ineigener Sache", die Veröffent-lichung sei bei Lesern auf Kri-tik gestoßen. Die Redaktionhabe zahlreiche Zuschriftenerhalten, in denen die Darstel-

lung bezweifelt worden sei.„Wir müssen diese Kritik mitdem heutigen Erkenntnisstandakzeptieren und bedauerndeshalb die Veröffentlichung."

Der Koch hatte angegeben,ein junger Mann habe sich ihmgegenüber als Schlepper betä-tigt. Inzwischen - so das„Neue Deutschland" - habendie Eltern dieses jungen Man-nes dem Blatt eine Gegendar-stellung übermittelt. Darinheißt es, ihr Sohn sei zwar injener Zeit über Budapest undWien ausgereist, habe auchKontakt mit dem Koch gehabt,sich aber des angegebenen De-likts nicht schuldig gemacht.

Schadensbericht / Grüne: „Regierung will vertuschen"

Immer mehr Laubbäume sterbenBonn (dpa/AP). Das Wald-

sterben hat in diesem Jahr we-gen des trockenen Sommers inder Bundesrepublik wieder zu-genommen. Das geht aus dergestern von den Grünen vorabveröffentlichten diesjährigenWaldschadensbilanz hervor.Danach waren insgesamt 53Prozent der Wälder geschä-digt, 0,6 Prozent mehr als imVorjahr.

Besonders betroffen von deranhaltenden Verschmutzungvon Luft und Boden sind dieLaubbäume. Nach Angabendes Umweltexperten der Grü-nen im Bundestag, Wilhelm

Knabe, sind bei steigenderTendenz fast 70 Prozent der Ei-chen und mehr als 65 Prozentder Buchen geschädigt.

In scharfer Form attackierteder Abgeordnete der Grünendie Bundesregierung. Er warfihr vor, mit einem „faulen Ta-schenspielertrick" das amtlichzugegebene Waldschadensbildvon derzeit 53 auf nur noch15,9 Prozent schönen zu wol-len. Es sei ein „faustdickerSkandal,,, daß künftig die bis-herige Schadstufe 1 („geschä-digter Wald") aus der Bilanzgetilgt und nur noch als „Vor-warnstufe" getrennt geführt

werden soll. Im übrigen solledie in der kommenden Wochevon LandwirtschaftsministerIgnaz Kiechle vorzulegendebisherige „Waldschadenserhe-bung" den unverfänglicherenTitel „Walderhebung" tragen.

Ein Sprecher des Landwirt-schaftsministeriums wies dieKritik zurück: Die Statistikwerde wie bisher geführt undder Begriff „Warnstufe" der„Schadstufe 1" lediglich hinzu-gefügt. Nach Ansicht VonForstwissenschaftlern handelees sich bei dem leichten Nadel-und Blattverlust um eine „na-türliche Schwankungsquote".

EG / Grenzkontrollen Kolumbien/Drogenkrieg Sowjetunion

1990 nochkein Abbau

Richterstreik 18 000 Kumpelin Medellin im Ausstand

Bühl (dpa). Die Innenministerder Bundesländer sind gegen ei-nen Abbau der Grenzkontrollenzwischen der Bundesrepublik,Frankreich und den Benelux-Ländern zum vorgesehenenZeitpunkt am 1. Januar 1990.Die zweitägige Innenminister-konferenz in Bühl (Kreis Ra-statt), die am Freitag zu Endeging, hielt es für vordringlich,zunächst Ausgleichsmaßnah-men wie ein grenzüberschrei-tendes Informations- und Kom-munikationssystem zwischenden fünf Ländern aufzubauen.Bundesinnenminister WolfgangSchäuble (CDU) bestätigte vorJournalisten, daß sich 1990 anden Grenzen nichts ändern wer-de.

Bogota (AP). Aus Protest ge-gen den Mord an einer Richterinund einem Abgeordneten sindgestern alle 42 Bundesrichter inder kolumbianischen Stadt Me-dellin in einen unbefristetenStreik getreten. Ein Sprechersagte, sie würden ihre Arbeiterst wieder aufnehmen, wenndie Regierung sie vor den Kil-lern der Rauschgifthändlerwirksam schütze. Der Verbandder Richter und Justizangestell-ten rief zu einem zweitägigenAusstand auf.

Bei der Explosion einer Auto-bombe in Bogota wurde gesterneine Frau mit ihrem kleinenKind und ihr Neffe getötet. Vierweitere Menschen sind zum Teilschwer verletzt worden.

Moskau (AP). Tausende vonBergarbeitern im sowjetischenKohlerevier Workuta nördlichdes Polarkreises haben sich demStreik der Kumpel in der GrubeWorgaschor angeschlossen, dervor einigen Tagen begonnen hat-te. Streikführer teilten mit, bisFreitag morgen hätten 18 000Bergleute aus zwölf von insge-samt 13 Gruben die Arbeit nie-dergelegt. Die Behörden warntenunterdessen, daß eine Auswei-tung des Streiks im Winter zuVersorgungsengpässen führenkönne. Die Bergleute beklagensich darüber, daß nach einemAusstand im Juli die gemachtenZusagen - bessere Lebens- undArbeitsbedingungen - nicht ein-gehalten worden seien.

Neue Beratungen über Waffenstillstand?

Großoffensive gegen Contras in NicaraguaManagua (AP). Nach der Be-

endigung des Waffenstillstandsmit den Contras haben die nica-raguanischen Streitkräfte eineGroßoffensive gegen die rechtenRebellen eingeleitet. Das bestä-

tigte der nicaraguanische Präsi-dent Ortegä am Donnerstag ineinem US-Interview. Seine Re-gierung verteidige sich gegendie Contra-Guerilleros, die ingroßem Umfang nach Nicaragua

eingedrungen seien.Wie gestern bekannt wurde,

wollen die Regierung Nicaragu-as und die Contras kommendeWoche in der UNO über einenneuen Waffenstillstand beraten.

Opposition in DDR gewinnt an Boden

Lobende Worte für ,Neues Forum'Fortsetzung

In einem Gespräch mit demHamburger Magazin „Stern"stellte Gerlach als erster promi-nenter Politiker) der DDR eineBeteiligung der Oppositionsbe-wegung „Neues Forum" anWahlen in Aussicht. Er äußertedie Erwartung, daß das „NeueForum" vom Innenministeriumzugelassen werde.

Der Vorsitzende des Sekreta-riats des Nationalrats der Natio-nalen Front, Werner Kirchhoff,hat den Mitgliedern des „NeuenForums" die „konkrete Mitar-beit an realen Veränderungenzur weiteren sozialistischenEntwicklung" in der DDR ange-boten. Die neue Vorsitzende desDDR-GewerkschaftsbundesFDGB, Annelis Kimmel, erklär-te gestern, manche Ziele des„Neuen Forums" könne mandurchaus mitvertreten.

Rheinsberg

DDR-Atomkraftwerkwird stillgelegt

Berlin (AP). Zum ersten Malsoll in der DDR ein Atomkraft-werk stillgelegt werden. HansScheel, Vizepräsident des Staat-lichen Amtes für Atomsicher-heit und Strahlenschutz, sagtegestern gegenüber der amtli-chen Nachrichtenagentur ADN,das 70-Megawatt-KraftwerkRheinsberg „wird sicher baldstillgelegt, weil es eben die Le-bensgrenze erreicht hat". Die-sen Schritt solle Anfang der90er Jahre unternommen wer-den. Der älteste Reaktor derDDR (1966 fertiggestellt), habezunächst der Energiegewinnunggedient, später Trainings- undForschungszwecken.

Der Vorsitzende der „ParteiDemokratischer Aufbruch", derRostocker RechtsanwaltSchnur, rechnet damit, daß sei-ne Partei schon bei den Volks-kammerwahlen 1991 antretenkönne. Dies erklärte er in einemZeitungsinterview.

„Hoher Reingewinn"

Im SED-Zentralorgan „NeuesDeutschland" sind erstmals For-derungen nach einer „umfassen-den Wirtschaftsreform" veröf-fentlicht worden. In dem amFreitag abgedruckten Grund-satzpapier heißt es, „Berüh-rungsängste mit dem Reformbe-griff auf ökonomischem Gebietsollten wir nicht haben". Es gebedafür „eindeutige Erfordernisseund Zwänge - ja, auch besorg-niserregende Anlässe". Autoren

sind Wolfgang Heinrichs, Di-rektor des Zentralinstituts fürWirtschaftswissenschaften, undWolfgang Krause, Abteilungs-leiter in der Ost-Berliner SED-Bezirksleitung. Beide stellen„das Streben nach hohem Rein-gewinn" in den Vordergrund.

Wegen Zusammenrottung,Rowdytum und „Widerstandesgegen staatliche Maßnahmen"hat das Kreisgericht Dresden-Ost am Freitag drei Männer imAlter von 18 bis 23 Jahren zuempfindlichen Freiheitsstrafenverurteilt. Es erkannte nachAngaben von ADN auf Haft-strafen zwischen zwei Jahre undzwei Monaten bis zu vier Jahrensowie auf eine Geldstrafe inHöhe von 3000 Mark. Bei derVerhandlung ging es um die Er-eignisse am Abend des 4. Okto-ber, als Züge mit DDR-Bürgernaus Prag in den Westen fuhren.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

Chefredakteur .Lothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche Redakteure

Chef vom Dienst: Rainer Merforth. Politik:Jochen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden. Kultur: Dirk Schwarze. Frauu. Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wie-semann. Sonntagszeit: Frank Thonicke.Kassel Stadt und Land: Wolfgang Ross-bach. Bezirksredaktionen: Peter M. Zitz-mann. Koordination: Helmut Lehnart. Hes-sen/Niedersachsen: Eberhard Heinemann.Chefreporter: Karl-Hermann Huhn. Son-derthemen: Peter Ochs.Redaktion Wiesbaden: Rolf Effenberger.Redaktion Hannover: Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter: Horst Prehm.Vertriebsleiter: Gerd Lühring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61 / 20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61 / 20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer 05 61 /20 36. Teletex5 618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7% MwSt. (Postbezugspreis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Wetta-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.Herstellung Druckhaus Dierichs Kassel,Frankfurter Straße 168, 35 Kassel.

Page 65: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 258 Themen des Tages Samstag, 4. November 1989

Ein Ort alsBekenntnis

Kreisau statt Annaberg - das istkein Kompromiß, sondern eindeu-tig die bessere Wahl. Das diploma-tische Verwirrspiel, das durch sei-ne Zuspitzung in der öffentlichenDiskussion hochbrisant wurde, istmit dieser Entscheidung für War-schau und für Bonn zufriedenstel-lend beendet worden.

Das einstige Schlachtfeld Anna-berg schmeckt im Bewußtsein derPolen bitter nach deutscher Unter-drückung. Dies nicht empfundenzu haben, mag man Bonn anla-sten. Der Punkt ist jetzt jedoch ab-gehakt. Auch Kreisau ist ein ge-schichtsträchtiger Ort. Die Ge-schichte, für die er steht, ist diedes deutschen Widerstandes ge-gen die Hitler-Diktatur. Damit wirddie Begegnung hier zu einem un-mißverständlicheren Symboldeutsch-polnischer Aussöhnung.Kreisau nämlich wird Bekenntnisnicht nur zu Friedenswille, sondernauch zu deutscher Schuld an Po-len. Wo man derer gedenkt, diesich gegen die Machthaber deseigenen Volkes gewandt haben,gedenkt man auch der Opfer die-ser Machthaber.

Wie immer das Besuchspro-gramm von Bundeskanzler Kohl inPolen aussehen mag, der gemein-same Gottesdienstbesuch mitdem polnischen Ministerpräsiden-ten Mazowiecki wird gewiß im Mit-telpunkt des Interesses an dieserReise stehen. Es gab bereits Stim-men, die im Verzicht auf den Be-such des Annabergs eine „deut-sche Niederlage" sehen. Ihnenwird Kreisau vermutlich erst rechtnicht passen. Deren Vorstellungendavon, was deutsche Interessengegenüber Polen denn seien, pas-sen allerdings nicht in die Zeit vonVersöhnung und Verständigungzwischen Ost und West.

Mit Kreisau statt Annaberg stehtdie Polenreise des Kanzlers untereinem hoffnungsvolleren Stern.

Peter M. Zitzmann

Unter demMantel Europas

t g o n Krenz, der mit dem Mut derVerzweiflung um den Erhalt dessozialistischen StaatsgebildesDDR kämpft/ muß sich allmählichwie in einem Strom vorkommen,der ihn in das Meer der deutschenEinheit spülen könnte. Alarmsigna-le von allen Seiten; selbst aus derSowjetunion kommen von promi-nenter Seite Äußerungen, in deneneiner Beendigung der „unnormalenLage in Deutschland" das Wort ge-redet wird. Trotzig schleudertezwar der neue SED-Chef in Moskausein Nein gegen Wiedervereini-gung und Abbau der Mauer her-aus, aber der Boden schwankt un-ter ihm nicht nur im eigenen Land.

Die Vision Gorbatschows vom„Gemeinsamen EuropäischenHaus" ist der Sprengsatz, seinekonsequente Politik der Nichtein-mischung das schleichende Giftfür den Bestand des maroden Ar-beiter- und Bauernstaates. Und in-dem die neue Ostberliner Führungentgegen der Warnung Erich Ho-neckers einen Spalt der Reform-schleusen öffnete, um nichts Ge-ringeres als einen Aufstand zu ver-hindern, hievte sie sich selbst aufdie Verliererstraße.

Im Ausland stellt die Wiederver-einigung bereits ein festes Kalküldar, Frankreichs Staatschef Mitter-rand hat es soeben wieder bestä-tigt. Das offizielle Bonn, das in die-ser so überraschend auf die Welt-bühne getretenen Frage immernoch um Fassung ringt, übt sichklugerweise in diplomatischer Zu-rückhaltung so wie jemand, der dieAussicht auf ein kaum mehr fürmöglich gehaltenes Geschenknicht durch grobe Begehrlichkeitverspielen will.

Denn die Antwort darauf, waseinmal aus ihrer DDR werden soll,gebührt kraft Selbstbestimmungausschließlich den Deutschen drü-ben. Es könnte ja auch ein weiter-hin selbständiger, aber wirklich de-mokratischer oder in Konfödera-tion mit der Bundesrepublik ver-bundener Staat sein. Aber wieauch immer: Europa wird die Mut-ter sein, unter deren Mantel sichalle Deutschen wiederfinden wer-den. Jürgen Nolte

Das Zitat„Wenn Talkmaster anfangen, nachdem Maul der Zuschauer zu reden,ist das der Anfang vom Ende."

Joachim Fuchsberget

Botschaft in Prag wieder überfüllt / Warum sie fliehen

Glaube an Wende fehltVon AP-Korrepondent Manfred Hees

E i n offenes Scheunentor nachWesten muß man nutzen", be-gründet ein 25jähriger Leipzigerseine Flucht in die Prager Bot-schaft der Bundesrepublik. Wierund 15 000 andere Flüchtlingein den vergangenen Wochensteht er am Zaun der Botschaft.Diesmal jedoch nicht wie allevor ihm mit der Sorge, ob er aufdiesem Weg in den Westenkommt, sondern mit der absolu-ten Gewißheit des positivenAusgangs. Für ihn und die mitt-lerweile schon mehr als 4000anderen lautete die Frage ledig-lich, wann der Zeitpunkt derAusreise in die Bundesrepublikgekommen sein wird.

„Betonschädel"

Den „Startschuß" für den neu-en Exodus gab für einige offen-bar DDR-Staats- und ParteichefEgon Krenz selbst. „Seine Pres-sekonferenz in Moskau wurdelive bei uns im Fernsehen über-tragen. Als er jede Hoffnung aufWiedervereinigung begrub,wußte ich, jetzt mußt du raus",schildert ein junger Familienva-ter aus Dresden' seine Überle-gungen. „Das sind doch die glei-chen Betonschädel wie früher.Was soll sich denn ändern. Derkorrupte Sozialismus bei unsbekommt doch nur ein neuesKleid", pflichtet ihm ein Maurer

aus Karl-Marx-Stadt bei.Das an Kriseneinsätze ge-

wöhnte Personal der Botschaftwurde von der Heftigkeit derneuen Fluchtlingswelle über-rannt. Hilfsgüter mußten in allerEile aus der Bundesrepublikherangeschafft werden.

Während noch immer neueFlüchtlinge mit dem Ruf „Wirhaben es geschaut" in der Bot-schaft eintrafen, wurden vonLastwagen Betten, Decken undSchlafsäcke abgeladen und indas Gebäude gebracht. „Endlichmacht Arbeit mal Spaß und hateinen Sinn", freute sich ein jun-ger Mann beim Bettenschlep-pen. Die Betten mußten teilwei-se im Freien im Garten der Bot-schaft aufgestellt werden, da dieGroßzelte noch nicht aufgebautwaren. Mehrere hundert Kinderwurden im Gebäude unterge-bracht.

Straßen verstopft

„Wir schlafen überall, auchauf den Treppenstufen", schil-dert eine junge Krankenschwe-ster die ersten zwei Nächte inder Botschaft. Rätselratenherrschte am Freitag über dieZahl derer, die noch kommenwerden. Schon am Freitag be-richteten Reisende und Neuan-kömmlinge, daß die Straßen von

der DDR-Grenze nach Pragüberfüllt seien.

Anfang Oktober waren 15 000Menschen über Prag in den We-sten gekommen, dann hatte Ost-Berlin die Grenze dichtgemacht.Seit der neuerlichen Aufhebungdes Visumzwanges am Mitt-woch kamen mehr als 1000Flüchtlinge täglich. Die Bot-schaft suchte m Freitag nach ei-nem Ausweichquartier. Es gabjedoch noch kein grünes Lichtvon den tschechoslowakischenBehörden.

System untauglich

Kaum Hoffnung bestand, daßmit dem derzeitigen System derBearbeitung der Ausreisepapie-re die Flut zu bewältigen sei.Flüchtlinge werden in Gruppenmit Bussen zur DDR-Botschaftgebracht, dort registriert, ihrePapiere nach Ost-Berlin gelei-tet, und nach Zustimmung vondort kann die Ausreise erfolgen.

Etwa 100 Anträge werden aufdiese Weise pro Tag erledigt.„Wir brauchen eine andere Re-gelung", meinten Flüchtlinge.Immer wieder tauchten Speku-lationen über eine „ungarischeLösung" - Öffnung der CSSR-Grenze Richtung Westen fürDDR-Bürger - auf, diesmal je-doch mit Billigung Ost-Berlins.

Versuchsballon (Aus: Die Welt / Klaus Bohle)

DDR-Bürger: Schwierigkeiten mit dem neuen Selbstbewußtsein

„Manchmal denke ich, ich träume"Von dpa-Korrespondentin Gudrun Dometeit

Oeit drei Wochen werden wirförmlich überrollt mit Anfra-gen", sagt die 45jährigeDresdner Ärztin. „FamiliäresLeben ist bei uns nicht mehrmöglich." Die Frau ist in derStadt an der Elbe eine der An-sprechpartnerinnen des neuge-gründeten „Neuen Forums" inder DDR. Fragen und Angebotezur Mitarbeit häufen sich. Gan-ze Brigaden treten zum „NeuenForum" über. Der Wunsch, ak-tiv zu werden, geht quer durchalle Schichten, vom Arbeiter biszum Akademiker. Auch Sektio-nen der SozialdemokratischenDeutschen Partei und des De-mokratischen Blocks bildetensich in der Elbe-Stadt.

„Alle nach Sibirien!"

„Wenn ich frei habe, bin ichbei jeder Demo dabei", sagt einTaxifahrer. „Man muß doch dieJugend unterstützen." Zuneh-mend, so meint der etwa 50jäh-rige, nähmen auch ältere Bürgeran den Protesten teil. „DieseKommunisten, 40 Jahre lang ha-ben sie wie die Könige auf unse-re Kosten gelebt", schimpft er.„Jetzt müssen sie Rede und Ant-wort stehen, aber eigentlichsollte man sie alle nach Sibirienverbannen."

In Dresdens Hoflrirche gegen-

über der berühmten Semper-Oper versammeln sich amAbend vor allem junge Leute zuFriedensgebeten. Auf die Unter-stützung der Kirchen sind dieneuen Reformbewegungen nochimmer stark angewiesen. DieKirche stellt dem immer nochnicht legalisierten „Neuen Fo-rum" Räume zur Verfügung.„Ich bin dabei, damit sich in die-sem Scheißland irgendwas än-dert," sagt ein 18jährigerSchlosserlehrling.

In der restaurierten Semper-Oper verlesen die Schauspieleran jedem Aufführungsabend ei-nen mutigen Aufruf um Mitver-antwortung und Eigenverant-wortlichkeit: „Zu lange ist dieSaat für Mißtrauen und Furchtgesät worden. Die Verantwortli-chen, die heute guten Willenssind, ernten die Früchte. Glaub-würdiger Wandel erfordert denMut zu personellen Verände-rungen. Für die, die ihre Parteiund ihren Staat in Mißkredit ge-bracht haben, gibt es nur eineehrliche Konsequenz: Den Platzzu räumen für die Glaubwürdi-gen."

Zurückhaltender gibt sicheine SED-Funktionärin in derBezirksparteileitung Dresdens.„Sicher wird sich was ändern,aber das muß alles wohlüberlegtsein und darf nicht übers Kniegebrochen werden." Und eine

Journalistin der Zeitung derOst-CDU „Union", die seit neue-stem wegen ihrer offenen Arti-kel reißenden Absatz unterDDR-Bürgern findet, meint:„Wir können seit einigen Wo-chen schreiben, was wir wollen,aber diesen neuen Anforderun-gen sind wir gar nicht gewach-sen. Wir kennen unsere Rechtenicht." Völlig ungewohnt sei es,plötzlich den Polizei-Chef Dres-dens interviewen zu können.

Die Skepsis bleibt

Die Sprecherin des „NeuenForums sagt: „Die Leute müssenerst einmal wieder Selbstbe-wußtsein lernen. Sie müssenmerken, daß sie nicht gleich be-straft werden, wenn sie ihreMeinung sagen." Trotz allerFortschritte, insbesondere derDialog-Bereitschaft des reform-orientierten Dresdner Oberbür-germeisters Wolfgang Berghoferund des SED-BezirksparteichefsHans Modrow, bleibt sie skep-tisch. „Nach dem Parteitag imnächsten Frühjahr werden dieZügel bestimmt wieder angezo-gen." Und dann? „Ein halbesJahr gebe ich mir noch, um denletzten Versuch zu wagen.Wenn es bis dahin keine glaub-würdigen Zeichen der Verände-rung gibt, dann gehe ich."

Aus- und Übersiedler / Bundeswehr

Keine Reservetruppefür StoltenbergVon unserem Redaktionsmitglied Jürgen Nolte

Oie sind begehrt als Maurer,Schlosser oder Krankenpfle-ger, die Tausende junger Män-ner, die seit Wochen aus derDDR in den Westen strömen,denn sie können vielfach Lö-cher in Problembereichen derbundesdeutschen Wirtschaftstopfen. Muß sich da nichtauch VerteidigungsministerStoltenberg vergnügt die Hän-de reiben, weil ihm hier eineReservetruppe zur Auffüllungder sich lichtenden Reihen derBundeswehr heranwächst?

Gesetzlich festgelegt

Alerte Politiker, voll desschönen Drangs, möglichst alserste mit bemühtem Sachver-stand zu Wort zu kommen, ha-ben sich umgehend auch die-ses Themas bemächtigt. So be-fand Bernd Wilz von derCDU/CSU-Bundestagsfraktionunlängst bei einem Truppen-besuch im hessischen Arolsen,es sei nicht auszuschließen,daß frühere Soldaten der Na-tionalen Volksarmee (NVA)auch noch zur westdeutschenArmee eingezogen würden.Aber dann kämen die ehemali-gen DDR-Bürger ja auf eineGesamtdienstzeit von fast dreiJahren, gab demgegenüberChristoph Bohr, Vorsitzenderder Jungen Union, zu beden-ken. Und da solches unzumut-bar sei, solle man, so seine For-derung, den Dienst in derNVA anrechnen. Beide Her-ren hätten sich ihre gedankli-chen Anstrengungen ersparenkönnen, denn im Wehrpflicht-gesetz ist genau.festgelegt, wie„der Bund" mit Über- und Aus-siedlern zu verfahren hat.

Zunächst einmal gilt grund-sätzlich, daß Deutsche, die ausder DDR oder anderen Ost-blockländern in die Bundesre-publik kommen, nicht vor Ab-lauf von zwei Jahren eingezo-

gen werden können. Und zurFrage eines bereits geleistetenWehrdienstes in den Streit-kräften des früheren „Aufent-haltsstaates" bestimmt der Pa-ragraph 8 unter anderem: „DerWehrdienst soll angerechnetwerden, wenn er auf Grund ge-setzlicher Vorschrift geleistetworden ist."

Da dieser aber in der DDRmit 18 Monaten und in der So-wjetunion gar mit zwei Jahrendeutlich über dem 15 monati-gen Wehrdienst in der Bun-deswehr liegt, können gedien-te Aus- und Übersiedler davonausgehen, daß sie den grauenRock nicht mehr anziehenmüssen. Auch eine Teilnahmean Wehrübungen und damitEinbindung in die Mobilisie-rungsplanung entfällt, weil, soder zuständige Referent desBundesverteidigungsministe-riums, Schattenberg, dies auf-grund der andersgeartetenAusbildungsgrundlagen etwain der NVA nicht möglich sei.

Vielfach Härtefälle

Ungedienten gibt die Hardt-höhe mindestens zwei JahreZeit, um sich gesellschaftlichund beruflich in ihrer neuenHeimat einzurichten. Sie dürf-ten zudem vielfach zu denHärtefällen zählen, bei denenauf eine Einberufung verzich-tet oder diese hinausgescho-ben werden kann. Und werdann älter als 28 Jahre ist,braucht, wie alle anderen Bun-desbürger auch, ohnehin nichtmehr zum „Bund".

Besonderer Sicherheits-überprüfungen müssen sichehemalige DDR-Bürger bei ei-nem Einzug in Bundeswehr-Kasernen nicht unterziehen,es sei denn, sie wollen Berufs-soldat werden und kommenmit waffentechnisch „sensi-blen" Bereichen in Berührung.

Kreisauer Kreis

Widerstandgegen HitlerDer Kreisauer Kreis war eine1942 gegründete Widerstands-gruppe gegen, das nationalsozia-listische Regime um den GrafenHelmuth James von Moltke. Ih-ren Namen hat sie nach dem Ortihrer Zusammenkünfte, dasMoltkesche Gut Kreisau in Nie-derschlesien - jetzt ins Ge-spräch gekommen als eine Sta-tion der Polenreise Kohls. DerGruppe gehörten unter anderemder spätere Bundestagspräsi-dent Eugen Gerstenmaier undder von den Nazis 1944 zumTode verurteilte SPD-PolitikerJulius Leber an.

Viele hingerichtet

Ziel des Kreisauer Kreiseswar die Abschaffung der natio-nalsozialistischen Gewaltherr-schaft und die Schaffung einerrechtsstaatlichen Ordnung inDeutschland. Auch gesell-schaftliche Reformen wurdenvon den Mitgliedern in einemam christlichen Menschenbildorientiertem Programm „Grund-sätze für die Neuordnung" um-rissen. Nach dem gescheitertenAttentat auf Adolf Hitler am 20.Juli 1944 wurden zahlreicheMitglieder der Widerstands-gruppe, darunter Graf Moltke,hingerichtet.

Nach Angaben des Bundes-presseamtes gehen die Anfängeder Widerstandsgruppe umGraf Moltke schon auf das Jahr1938 zurück. Außer in Kreisau(heute: Krzyzowa) habe sich dieGruppe der Hitler-Gegner auchin Berlin und anderen Orten zumehr als 100 Besprechungen ge-troffen. Der Name „KreisauerKreis" stammt nicht von den Be-teiligten selbst, sondern von ei-nem Beamten des NS-Sicher-heitsdienstes, der nach dem 20.Juli 1944 die Untersuchung ge-gen die Gruppe leitete.

(dpa)

Presse-EchoMit dem Streit um den Annaberg befas-sen sich viele Kommentare.

WESTFALENPOST(Hagen)

Ein besonderes Zeichen derVersöhnung setzen zu wollen,ist lobenswert. Aber spätestenshier hätten Kohls Berater ihremChef sagen müssen, daß der An-naberg dafür zum jetzigen Zeit-punkt nicht der richtige Ortist... Er ist immer noch ein Sym-bol des deutsch-polnischen Ge-gensatzes und stark mit nationa-len Emotionen belastet. DieserOrt, an dem Deutsche und Polenstarben, wäre in der Tat bestensgeeignet, ein Versöhnungszei-chen zu setzen - aber die Zeit istoffensichtlich noch nicht reif.

Münchner MerkurMÜNCHNER ZEITUNG

Mag ja sein, daß Kohl dieSprengkraft dieses Symbols inPolen verkannt hat, als er fürdort eine Versöhnungsgesteplante. Gewiß wäre grundsätz-lich bei derartigen Gesten eherZurückhaltung angebracht, weilsie meist Gefühle aufwühlen...Dennoch sind einige der polni-schen Reaktionen der vergange-nen Tage hysterisch. In Polenhaben vor allem die Kommuni-sten die offenbar von der neuennicht-kommunistischen Regie-rung bereits hingenommenenReisepläne Kohls heftig angegrif-fen. Versöhnung und Respektvor der Meinung anderer wer-den im sozialistischen Denkenimmer noch klein geschrieben.

Frankfurter Rundschau

Die keineswegs unrealistischeVorstellung, auf-dem Annabergkönnten deutschstämmige undpolnische Demonstranten an-einandergeraten, sobald derBundeskanzler die Treppen zumFranziskanerkloster hinauf-steigt, hatte sich auch bei denBonner Reiseveranstaltern zueinem Alptraum gesteigert.

Page 66: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE

ALLGEMEKASSEL1 P 3713 A

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE \\

ALLGEMEINE UNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 259 Montag, 6. 11. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Letzte Meldung

Horowitzgestorben

Der aus Rußlandstammende PianistWladimir Horowitzist 86jährig an einemHerzinfarkt gestor-ben. Das teilte seinManager gesternabend in New Yorkmit. Horowitz war be-kannt als vorzügli-cher Liszt-, Tschai-kowski- und Rachma-ninow-Interpret.

Formel 1

Erfolg fürBoutsen

Der Belgier ThierryBoutsen gewann inströmendem Regendas Abschlußrennender Formel 1 in Ade-laide/Australien.Weltmeister Prostgab wegen „lebensge-fährlicher" Witterungfreiwillig auf, Titel-verteidiger Sennaschied nachUnfall aus. einem

Tennis

Beckergewinnt

Durch einen souve-ränen 6:4, 6:3, 6:3-Fi-nalerfolg über denSchweden Stefan Ed-berg gewann derWeltranglistenzweiteBoris Becker (Foto mitSiegestrophäe) amSonntag nachmittagzum zweiten Malnach 1986 das Ten-nis-Grand-Prix-Tur-nier von Paris.

Drube trifft

KSV-Siegin Meppen

Überraschung inder 2. Fußball-Bun-desliga. Durch einenTreffer von MichaelDrube (Foto) in der67. Spielminute feier-te der TabellenletzteKSV Hessen Kassel -*beim SV Meppen den 'zweiten Auswärts- *sieg der Saison, dendritten Erfolg über-haupt.

DDR-Minister stellt neues Gesetz vor

Westreisen schonWeihnachten ohneBeschränkung

Berlin (dpa). DDR-Bürger können wahrscheinlich noch vorWeihnachten ohne jede Beschränkung in den Westen rei-sen. DDR-Innenminister Dickel kündigte Sonntag abend an,das neue Reisegesetz solle spätestens am 20. Dezembervon der Volkskammer verabschiedet werden. Das Gesetzregele auch die Ausreise aus der DDR völlig neu und schaffeden bisherigen Republikflucht-Straftatbestand im Kern ab.

Dickel, der das neue Gesetz inden Grundzügen in der DDR-Nachrichtensendung „Aktuel-len Kamera" erläuterte, sagte ineinem auch von ADN verbreite-ten Interview: „Wir werden ...alles tun, um ... allen unserenBürgern ohne Einschränkungendie Gelegenheit zu geben, dahinzu reisen, wohin sie wünschen."Das Visum für die Besuchsrei-sen soll „in der Regel" auf 30Tage im Jahr befristet sein, kannin dringenden Fällen aber auchverlängert werden. Wer von derAuslandsreise nicht zurück-kehrt, macht sich nach den Be-stimmungen des neuen Repu-blikflucht-Paragraphen auchnicht mehr strafbar.

Dieser neue Paragraph stelltnur noch die „unmittelbare Ver-letzung der Grenzordnungselbst" unter Strafe, teilte Dickelmit. Alle anderen bisherigenStraftatbestände wie Republik-

flucht und Verletzung des Tran-sitverkehrs werden danach aus-genommen. Bislang waren dafürin schweren Fällen Strafen biszu acht Jahren vorgesehen.

Bei dem Wunsch auf Ausreiseaus der DDR muß künftig einAntrag bei der zuständigenDienststelle der Innenverwal-tung gestellt werden. Diese ent-scheidet innerhalb von drei bismaximal sechs Monaten überden Antrag. Eine solche Frist seinotwendig, um „eine Reihe vonFragen mit dem Bürger, der aus-reisen will, klären zu können".

Für die Ausstellung eines Rei-sepasses und eines Visums ist indem Gesetz, der im Entwurf heu-te in der DDR-Presse veröffent-licht wird, eine Bearbeitungszeitvon 30 Tagen vorgesehen. Indringenden Fällen kann dieseFrist auf drei Tage, bei besonde-ren Problemen sogar noch mehrverkürzt werden.

15 000 kamen über CSSRRund 15 000 Menschen aus

der DDR sind am Wochenendeohne besondere Formalitätenüber die Tschechoslowakei indie Bundesrepublik ausgereist.Die DDR-Führung hatte ihrenBürgern am Freitag abend erst-mals einen Weg in den Westenfreigegeben. Die Möglichkeitzur direkten Ausreise über dieCSSR in die Bundesrepublik be-steht bis zum Inkrafttreten desneuen Reisegesetzes.

Seit Samstag nacht rollte derFlüchtlingstreck - ob in eigenem„Trabbi", in Sonderzügen oderBussen - ununterbrochen in

Richtung bayerischer Grenze.Am Sonntag reisten stündlichrund 200 Übersiedler mit eige-nen Pkw über die fünf tsche-chisch-bayerischen Straßen-Grenzübergänge in den Freistaatein. Dem neuen Flüchtlingsan-sturm war die Aufnahmekapazi-tät der bayerischen Notaufnah-melager nicht gewachsen. DerBundesgrenzschutz richtete des-halb gemeinsam mit der Bundes-wehr neue Aufnahmestellen ein,unter anderem an der Wasser-kuppe in Hessen.Siehe „Zum Tage" und„Themen des Tages"

Amtierender DDR-Volksbildungsminister:

Wehrerziehung ausgesetztBerlin (dpa). Das heftig um-

strittene DDR-UnterrichtsfachWehrerziehung ist nach denWorten des amtierendenVolksbildungsministers Gün-ter Fuchs in diesem Schuljahr

ausgesetzt. „Ich gehe davonaus, daß wir es damit abgesetzthaben", sagte Fuchs gestern inOst-Berlin. Die endgültigeEntscheidung treffe aber derMinisterrat.

J f -

* *

„AB IN DEN WESTEN" - Tausende von DDR-Bürgern nutzen am Wochenende die von Ost-Berlingewährte freie Ausreisemöglichkeit über die CSSR in den Westen: Der Andrang war so groß, daßsich die „Trabbis" vor dem Grenzübergang Schirnding zeitweise auf einer Länge von zehn Kilome-tern auf CSSR-Gebiet stauten. (dpa-Funkbild)

Nach Ostberliner Massendemonstration

Bonn forciert freie Wahlen in DDRBonn (AP/dpa/jtr). Einen Tag

nach der Massendemonstrationin Ost-Berlin haben zahlreicheBonner Politiker die DDR-Füh-rung aufgefordert, durch freieWahlen den Willen des Volkeszu respektieren. BundeskanzlerKohl sagte vor der Jungen Uni-on in Bonn, die Ausreise vonrund 150000 DDR-Bürgern sei„keine Lösung". „Unsere Lands-leute in der DDR" sollten „dortin ihrer angestammten Heimatihr Leben führen können, ihrGlück finden können". Dazu sei-en Reformen dringend notwen-dig.

SPD-Chef Vogel betonte, diegegenwärtige DDR-Führung seigut beraten, wenn sie das vonihr beanspruchte Machtmono-pol „aufgibt und anerkennt, daßsich ein politischer Führungsan-spruch künftig nur noch aus

dem Ergebnis freier Wahlenherleiten kann". Vogel appel-lierte an alle, „die sich mit demGedanken der Übersiedlung tra-gen, sorgfältig zu prüfen, ob siejetzt nicht in der DDR den De-mokratisierungsprozeß unter-stützen und sich dort engagierensollten." Das Andauern der Ab-wanderung könnte im übrigendie SED-Führung zu dem Fehl-schluß verleiten, die Volksbe-wegung werde sich vielleichtdoch verlaufen und lasse sichaussitzen.

In einer für die DDR bishereinmaligen Massendemonstra-tion hatten am Samstag rundeine Million Bürger in Ost-Ber-lin den alleinigen Machtan-spruch der SED in Frage gestelltund zu weitreichenden Verän-derungen aufgerufen. Währendder Abschlußkundgebung auf

dem „Alex" sagte der DDR-Schriftsteller Stefan Heym:„Wir haben in den letzten Wo-chen unsere Sprachlosigkeitüberwunden und sind dabei,den aufrechten Gang zu erler-nen." Und dies in Deutschland,„wo bisher sämtliche Revolutio-nen danebengingen und die Leu-te immer gekuscht haben, unterdem Kaiser, unter den Nazisund später auch".

Eine Woge der Zustimmungging durch die Menge, als derChef der DDR-Liberalen, Ger-lach, die Forderung nach demRücktritt der Regierung erneu-erte. Der Schriftsteller HeinerMüller sagte während der Ver-anstaltung: „Wenn in der näch-sten Woche die Regierung zu-rücktreten sollte, darf auf De-monstrationen getanzt werden."Fortsetzung nächste Seite

Libanon / Staatspräsident Griechenland / Wahlen

Mouawad gewählt Konservative legten zuBeirut (dpa). Das libanesische Parlament hat

gestern in einem nördlich von,Beirut liegenden Dorf einen neu- jen Staatspräsidenten gewählt.Im zweiten Wahlgang stimmten j52 von 58 Abgeordneten für den ••als gemäßigt geltenden maroniti-:sehen Christen Rene Mouawad !(64). Mouawad genießt offenbar \die Unterstützung Syriens und jder Moslems sowie die still- jschweigende Billigung ' derchristlichen Miliz, der libanesi-schen Streitkräfte und der ein-flußreichen christlichen Falan-ge-Partei. Der christliche Regierungschef Aounerklärte dagegen, die Wahl sei „null und nichtig".

Athen (dpa/AP). Die griechischen Konservati-ven von Konstantinos Mitsotakis dürften bei dengestrigen Parlamentswahlen gesiegt haben. Da-nach sah es am späten Abend nach der Auszäh-lung der Hälfte der Stimmzettel aus. Zum ande-ren ergaben sich aber auch ein leichter Zuwachs,für die Pasok-Sozialisten von Andreas Papan-dreou sowie Einbußen für das „Linke Bündnis"der moskautreuen und Euro-Kommunisten. Die-se Ergebnisse gaben den Konservativen 47,3Prozent, der Pasok 40,2 Prozent und dem linkenBündnis 10,4 Prozent. Die Konservativen wür-den danach die absolute Mehrheit knapp verfeh-len. Bei den Parlamentswahlen am 18. Juni die-ses Jahres hatten die Konservativen 44,25 Pro-zent erhalten, die Sozialisten 39,15 Prozent unddas linke Bündnis 13,12 Prozent.

Zum Tage

Sorge statt TriumphUnangemessen war schon zu Be-ginn des Flüchtlingsstroms aus derDDR der Triumph über die „Abstim-mung mit den Füßen", in den einigehierzulande verfielen. Ganz undgar nicht mehr angebracht sindderlei selbstgefällige Gefühle an-gesichts dessen, was sich jetzt ander deutsch-tschechoslowaki-schen Grenze abspielt: Denn dieAbstimmung über das SED-Regi-me hat längst und viel eindrucks-voller auf den Straßen der DDReingesetzt. Die neuerliche Mass-senflucht ist demgegenüber einVorgang, den man zwar mit Ver-ständnis für die Betroffenen, an-sonsten aber nur mit großer Sorgebetrachten muß.

Noch haben längst nicht alleFlüchtlinge der „ersten Stunde" ei-nen Arbeitsplatz, geschweige eineangemessene Unterkunft erhalten,und das soeben von Bonn verkün-dete Wohnungsbauprogrammgreift erst im nächsten Jahr. Nunwerden diese Probleme riesen-groß, und die Neuankömmlingedurften recht bald zu spüre/t be-kommen, daß ihr Erscheinen dasPotential an sozialen Spannungenin der Bundesrepublik nicht geradevermindert.

Erst mal abwarten, wie das inder DDR wird, zurück können wirimmer noch - mögen viele denken.Der Ostberliner Führung, deren Re-nommee ohnehin zum Teufel ist,mag die Entwicklung momöglichgar nicht so unlieb sein: Die west-deutsche Wohnungsnot bietet ei-nen latenten, und die Rückkehr fru-strierter ehemaliger DDR-Bürger ei-nen zusätzlichen Propaganda-An-satz. Jürgen Nolte

Nach Protesten

Gertrud Hohlergeht nicht zu VW

Wolfsburg (dpa). Die Litera-tur-Professorin und Unterneh-mensberaterin Gertrud Höhlerwird nicht für den Volkswagen-Konzern tätig. Eine entspre-chende Meldung des „Spiegel"wurde dpa gestern in Wolfsburgbestätigt. Weitere Angabenwurden nicht gemacht. Laut„Spiegel" hatten einige Vor-standsmitglieder, die Betriebs-räte und Arbeitnehmervertreterim Aufsichtsrat heftig gegen diegeplante Einstellung, der Profes-sorin für ein Jahresgehalt von500 000 DM protestiert. Es er-scheine wenig sinnvoll, für sieeine neue Stabsplanstelle einzu-richten, während überall imKonzern gespart werde.

Neuer Vertrag mit Polen

Jugendaustauschwird verdoppelt

Bonn (dpa). Der Jugendaus-tausch zwischen der Bundesre-publik und Polen soll auf 10 000Begegnungen von Jugendlichenbeider Länder verdoppelt wer-den. Dies sieht ein Abkommenvor, das bei der bevorstehendenReise von Kanzler Kohl unter-zeichnet werden soll. Dazu sollein deutsch-polnischer Jugen-drat gebildet werden.

Lotto- und TotozahlenLotto: 9, 27, 32, 37, 44, 47, Zusatz-zahl: 45.Toto: 2, 0, 0, 0, 1,0,0, 1, 1,0, 1.Auswahlwette: 4, 10, 25, 27, 30, 34,Zusatzspiel: 3.Rennquintett:Rennen A: 12, 1, 14.Rennen B: 31, 22, 26.Spiel 77: 1, 4, 3, 9, 9, 4, 2. *Süddeutsche Klassenlotterie: GroßeLose der Woche mit 3 000 000 DMLosnummer 177 310 und 1-000 000DM Losnummer 503 051.

(Ohne Gewähr)

Page 67: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. Politik Montag, 6. November 1989

Namen undNachrichten

Erstmals Gegen-DemoZum ersten Mal in der 72jahri-gen Geschichte der UdSSR pla-nen Bürgerrechtler in Moskaueine Gegenkundgebung zur offi-ziellen Militärparade und De-monstration am morgigen Ge-denktag der Oktoberrevolution.Wie Anatoli Dozenko vomukrainischen Helsinki-Komiteevor westlichen Journalisten inMoskau mitteilte, wollen meh-rere „demokratische Organisa-tionen" aus verschiedenen Tei-len der Sowjetunion mit ihreneigenen Losungen an der Kun-gebung teilnehmen.

,Drogenhandel bekämpfen'Papst Johannes Paul II. hat am

Sonntag zu ei-nem entschlos-senen Vorge-hen gegenRauschgift-händler aufge-rufen. In einerAnsprache vor

I mehreren tau-! send Gläubigen; auf dem Peters-i platz in Rom

s a 8 t e d a s O b e r "haupt der Ka-

tholischen Kirche, der Kampfgegen, die Drogen sei eine dergrößten Herausforderungen derheutigen Zeit. Es sei notwendig,die Interessen der „Händler mitdem Tod" aufzudecken, die mitdem Leid von Millionen vonMenschen spielten.

Dialog Christen - JudenDie Verständigung zwischenJudentum und Christentum isteine» Daueraufgabe, an der im-mer nodh gearbeitet werdenmuß. Das betonten namhafte Po-litiker und Kirchenvertreter amSonntag bei der Gründung derBuber-Rosenzweig-Stiftung zurFörderung der christlich-jüdi-schen Zusamnfenarbeit in Bad-Nauheim. Die Stiftung soll künf-tig das Gespräch zwischenChristen und Juden vertiefenund sich besonders der Erfor-schung des Judentums anneh-men.

Wunsch: WehrbeauftragterDer stellvertretende Vorsfttzeri-

de der'«FDP-Bundestags-fraktion, UweRonneburger(Foto), würdegern Wehrbe-auftragter desBundestageswerden. „Wennmir eine solcheAufgabe ge-stellt würde,würde ich siegerne überneh-

men", meinte er in einem Inter-view. Der derzeitige Wehrbe-auftragte, Willi Weiskirch(CDU), will aus gesundheitli-chen Gründen im März näch-sten Jahres nicht noch einmalkandidieren.

Votum für TempolimitDer Deutsche Naturschutzring(DNR) hat Bundesumweltmini-ster Töpfer aufgefordert, demschwedischen, dänischen undholländischen Beispiel zu folgenund den Ausstoß an Kohlendio-xid (CO 2) auf dem jetzigen Ni-veau einzufrieren. Als Sofort-maßnahme müsse die Bundesre-gierung ein Tempolimit von 100beziehungsweise 80 Km/h aufAutobahnen und Landstraßeneinführen.

SPD mit LafontaineDer saarländische Ministerprä-

sident OskarLafontaine(Foto) ist anVSonntag beimLandespartei-tag der SPD-Saar mit großerMehrheit zumSpitzenkandi-daten für dieLandtagswahlin knapp dreiMonaten ge-wählt worden.

Von 376 Delegierten stimmtenbei 14 Gegenstimmen 356 fürden Regierungschef und Lan-desvorsitzenden. Die Saar-SPDhatte bei der Wahl 1985 mit 49,2Prozent erstmals die absolute.Mehrheit im Landtag errungen.Die CDU schickt Bundesum-weltminister Töpfer als Gegen-kandidat ins Rennen.

Truppenabzug Keine fünfte Amtszeit Leistungsnormen / DPG

Streit um These Thatcher denkt Attacke gegenLafontaines an Rückzug Postminister

München (dpa). Der saarlän-dische Ministerpräsident undstellvertretende SPD-Vorsit-zende Lafontaine hat den Abzugder US-Streitkräfte aus der Bun-desrepublik für den Fall ver-langt, daß die Sowjetunion mitihren Truppen die DDR verläßt.In einem Interview sagte Lafon-taine: „Sollten die Sowjets tat-sächlich, wie angekündigt, ihreTruppen aus der DDR abziehen,müssen auch die Amerikanerbereit sein, mit ihren Streitkräf-ten die Bundesrepublik zu ver-lassen." Die Stationierung frem-der Truppen auf deutschem Bo-den sei „kein Selbstzweck".

Die Anregung Lafontainesschafft nach Ansicht des Ge-schäftsführers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Bohl, nichtmehr Sicherheit, sondern Un-friede. Polen, Tschechen undBalten würden sich bedanken,wenn sowjetische Truppen ausder DDR in ihre Gebiete ver-schoben werden sollten. Fürmehr Sicherheit, für einen ech-ten Ausgleich zwischen Westund Ost seien Lafontaines Vor-schläge unbrauchbar.

London (AP). Die britischePremierministerin Thatcher haterstmals einen konkreten Ter-min für ihren Rückzug aus derPolitik genannt. Sie wolle ihrekonservative Partei noch in dienächsten Wahlen führen, da-nach aber die Führung der To-rys abgeben, sagte sie. Auf dieFrage, ob sie eine fünfte Amts-zeit anstreben werde, antworte-te die 64jährige Regierungsche-fin: „Nein, denn ich denke, daßes Zeit für einen anderen ist, dieFackel zu übernehmen. Aberich will, daß die Fackel nochbrennt und strahlend brennt."

Wahlen vor 1992

Thatcher kam 1979 an dieMacht und wurde 1983 und1987 wiedergwewählt. Sie mußin dieser, höchstens fünfjähri-gen Legislaturperiode vor demSommer 1992 Wahlen aus-schreiben. Diese wolle sie nochfür ihre Partei gewinnen, sagteThatcher in dem Interview, waseine vierte Amtszeit in DowningStreet 10 bedeuten würde.

Mannheim (dpa). Mit scharfenAngriffen auf den anwesendenPostminister Schwarz-Schilling(CDU) hat der Vorsitzende derDeutschen Postgewerkschaft(DPG), van Haaren, den 16.Kongreß seiner Organisation amSonntag in Mannheim eröffnet.Bereits vor Beginn der Veran-staltung hatten knapp 200 orga-nisierte Postler gegen die Wei-gerung des Minister demon-striert, mit der Gewerkschaftüber eine tarifvertragliche Re-gelung von Leistungsnormen zuverhandeln.

Nach Darstellung van Haar-esn stellt die Anhebung der Lei-stungsnormen für die Postbe-diensteten zum 1. April diesesJahres den schwersten Konfliktzwischen den Beschäftigten unddem Postministerium dar. Mitdiesem Eingriff genau zum Zeit-punkt der Arbeitszeitverkür-zung um eine Stunde sei der Be-schäftigungseffekt von 12 000bis 13 000 Arbeitsplätzen ver-nichtet worden. Damit habe derMinister im Verhältnis zur Ge-werkschaft „das Faß zum Über-laufen" gebracht, meinte er.

J-V*

43

• : • . : •• L .

DDR-Kultusminister erwartet Rücktritt des gesamten PolitbürosIn der DDR fanden gestern er-neut zahlreiche Aussprachen zuaktuellen Problemen im Landstatt. Während des sogenanntenSonntagsgesprächs im LeipzigerGewandhaus vertrat der Mini-ster für Kultur, Hans-JoachimHoffmann (rechts), „die Ansicht,daß das Politbüro geschlossenzurücktritt, um den neuen Gene-ralsekretär eine echte Chance zugeben," berichtete die DDR-Nachrichtenagentur ADN. Fer-

ner meinte er, daß die DDR „soschnell wie möglich eine neueRegierung" brauche. Hoffmannist Mitglied des Zentralkomiteesder SED, das ab Mittwoch Perso-nalfragen beraten wird. Von den„Sonntagsgesprächen" in Ost-Berlin, an denen auch Mitgliederdes SED-Zentralkomitees teil-nahmen, berichtete ADN: „Fastohne Widerspruch blieb dieAussage eines parteilosen Bür-gers, die SED könne sich refor-

mieren, wie sie wolle, ohne Legi-timation durch wirklich freieWahlen werde sie nicht glaub-würdig." Die Vorsitzende derGewerkschaft Unterricht undErziehung in der DDR , HelgaLabs, erklärte bei einer Ausspra-che in Ost-Berlin, sie werde„nicht die künftige Volksbil-dungsministerin" und damitNachfolgerin der zurückgetrete-nen Margot Honecker.

(dpa-Funkbild)

Großdemonstration in Ost-Berlin / Massenflucht über CSSR

EKD: Bedrückender VorgangFortsetzung

Aus Dresden und Guben (Be-zirk Cottbus) wurden gesternabend neue Kundgebungen ge-meldet, an denen sich jeweilsetwa 10 000 Menschen beteilig-ten. Nach Angaben der DDR-Nachrichtenagentur ADN wur-de in Dresden unter anderem füreinen besseren Umweltschutzdemonstriert. In Guben seienbei einer Anhörung „Betroffene,Beteiligte und Geschädigte derPolizeieinsätze vom 7. und 8.Oktober" zu Wort gekommen.1Die Demonstranten hätten eineunabhängige,, Untersuchungs-kömmission gefordert., Der Rat der 'Evangelischen •Kirche in Deutschland (EKD)hat inzwischen die Masseri-flucht aus der DDR als einen be-drückenden Vorgang bezeich-net. „Daß sich immer mehr Men-

schen entschlossen haben, dieDDR zu verlassen und sich aufden Weg nach hier zu machen,ist und bleibt bedrückend - soverständlich die unterschiedli-chen Motive im einzelnen auchsein mögen", sagte der Ratsvor-sitzende Kruse auf der Tagungder EKD-Synode in Bad Krozin-gen. Der Verlust sei überall inder DDR zu spüren.

DGB-Chef Breit warnte dieDDR-Flüchtlinge gestern vor Il-lusionen. Zur Eröffnung desKongresses der Deutschen Post-gewerkschaft sagte er in Mann-heim: „So willkommen uns dieMenschen sind, die zu uns kom-men, so deutlich müssen wir ih-nen aber auch sagen, daß unserTeil Deutschlands kein Paradiesist, daß sie hart um wirtschaftli-chen Wohlstand und soziale Si-cherheit kämpfen müssen".

Auch müsse man ihnen sagen,„daß unser ganzer Respekt denMenschen gilt, die in ihremLand bleiben und für demokrati-sche Reformen kämpfen".

Bundestagspräsidentin Süss-muth (CDU) appellierte in Göt-tingen an ihre Partei: „Wir dür-fen nicht warten, bis der Tag Xkommt, sondern müssen schonjetzt vorbereitend tätig werden".Sie forderte, den kleinen Grenz-verkehr auch für partei- undwirtschaftspolitische Kontaktemit verantwortlichen Funktio-nären in den benachbartenKommunen und Kreisen zu nut-zen. Nach Gesprächen, die siein Ostberlin geführt hatte, wissesie, daß in dieser Woche in derDDR „alles auf den Verhand-lungstisch" kommt. Das neueReisegesetz sei nur Teil einesumfassenden Konzepts.

Rau: Einheit der Deutschen kommt auf die TagesordnungNach Meinung des- stellver-

tretenden SPD-Vorsitzendenund nordrhein-westfälischenMinisterpräsidenten Rau wer-den durch geänderte DDR-Rei-segesetze Probleme entstehen,„von denen manche in Bonnüberhaupt noch keine Vorstel-lungen" hätten.

Rau äußerte in einem Inter-view die Überzeugung, „daß dasThema der Einheit der Deut-schen auf die Tagesordnungkommt". Es sei allerdings rich-tig, „wenn wir jetzt von uns ausdas Thema nicht forcieren". Ersei sicher, daß es in den näch-sten Monaten in der DDR „sehr

viel Bewegung geben wird".Der Vorsitzende der polni-

schen Gewerkschaft Solidarität,Walesa, ist der Ansicht, daß„die deutsche Teilung künstlichist und aufhören muß". Das geheaber nicht von einem zum ande-ren Tag, erklärte er in einem In-terview.

Kampf gegen Republikaner

Etablierte Parteienräumen Fehler ein

Tutzing (dpa). Spitzenpoliti-ker der etablierten Parteien ha-ben im Zusammenhang mit denWahlerfolgen der rechtsradika-len Republikaner (REP) eigeneFehler eingeräumt. Auf einerTagung der Evangelischen Aka-demie Tutzing am Wochenendekritisierte SPD-Bundesge-schäftsführerin Fuchs, dieVolksparteien starrten „wie einKaninchen auf die Schlange". Essei wichtig, den REP-Wählernklarzumachen, daß „Republika-ner wählen kein Kavaliersdeliktist".

Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Geißler räumte ein,daß sich die Bindekräfte an dieParteien gelockert hätten. DerKommunismus sei nicht mehrbedrohlich, in einer Zeit des„rasanten Wandels" würdenaber viele Bürger „mit der Kom-plexität der Gesellschaft nichtmehr fertigwerden". Den Bun-desbürgern müsse bewußt wer-den, daß „unsere Zukunft nichtin einen Nationalstaat neuerPrägung" liegt, sondern in einemZusammenleben mit „mehrFremden und Ausländern - undnicht mit weniger".

Als „Plattform allgemeinerProtesthaltung" charakterisier-te CSU-Generalsekretär Huberdie Republikaner. In dem „Sam-melbecken von Protestwählern"denke nur ein kleiner Teilrechtsradikal. Nach Ansichtvon FDP-GeneralsekretärinSchmalz-Jacobsen haben dieParteien in den vergangenenJahren „ein mangelndes Gespürfür eigenes Versagen" aufge-bracht. Grünen-Sprecher Fückswertete die Erfolge der REP als„Reaktion auf die multikulturel-le, pazifistische, antiautoritäreund feministische Entwicklungin der Bundesrepublik". :

Der Erfolg der neuen Rechtenhänge nicht von ihrer eigenenStärke, sondern vom Zustandund der Schwäche der Unions-parteien ab, meinte der Politolo-ge Claus Leggewie. Er nannte eskein Drama, „wenn die REP's inden Bundestag kommen" - aller-dings nur, wenn die großen Par-teien „nicht im vorauseilendenGehorsam deren Argumenteübernehmen".

Ein Verbot der REP wurdevon allen Tagungsteilnehmernabgelehnt.

Potentielle Mörder" / Briefwechsel mit Arzt

Weizsäcker hält Äußerungüber Soldaten für beleidigend

Hamburg (AP). Bundespräsi-dent von Weizsäcker hat in ei-nem Brief die Ansicht vertreten,mit der Aussage, jeder Soldatder Bundeswehr sei ein „poten-tieller Mörder", werde die Gren-ze zwischen Meinungsfreiheitund Beleidigung überschritten.Über dieses Schreiben berichtet„Der Spiegel" in seiner neuestenAusgabe.

Das Schreiben Weizsäckersvom 25. Februar 1988 ist dieAntwort des Präsidenten auf ei-nen Brief des Arztes PeterÄugst, der Soldaten als „poten-tielle Mörder" bezeichnet hatteund deswegen angeklagt und in-zwischen zweimal freigespro-chen wurde. „Der Spiegel" ver-öffentlicht den Brief von Äugstund die Antwort Weizsäckers.

Der Bundespräsident schriebunter anderem: „Intensiv habeich über das nachgedacht, wasSie zur Meinungsfreiheit ge-schrieben haben... Daß die Mei-nungsfreiheit nicht jede Schmä-hung rechtfertigt, gehört... zu

unserem Recht und unseremRechtsempfinden. Die Grenzezu ziehen ist überaus schwierig.Nach meinen Empfindungen ha-ben Sie sie mit Ihrer Äußerung...überschritten."

Äugst hatte sich an Weiz-säcker gewandt, weil der Bun-despräsident den ersten Frei-spruch des Arztes im Dezember1987 als „unverständlich" kriti-siert hatte und Äugst dadurchsein Revisionsverfahren bela-stet sah.

Generalinspekteur Weilers-hof berichtete inzwischen in ei-nem Interview, er lasse derzeitdurch Juristen prüfen, ob erselbst als „erster Soldat, die ver-fassungsgerichtliche Überprü-fung" des Frankfurter Urteilsbetreiben könne. Wellershofweiter: „Wenn das Bundesver-fassungsgericht erklärt, daß soein Satz gedeckt ist durch dasRecht auf Meinungsfreiheit,dann gibt es am nächsten Tageinen Generalinspekteur weni-ger."

Personalwechsel geht weiter

Neuer SED-Chef im Bezirk LeipzigBerlin (AP/dpa). Der Personal-

wechsel in der SED geht weiter:Die Partei im Bezirk Leipzigwählte gestern Roland Wötzelzum neuen SED-Bezirkschef.Der aus „gesundheitlichenGründen" nach 19 Jahren ausdem Amt scheidende SekretärHorst Schumann habe die „trau-rige Erfahrung" beklagt, daß Pro-bleme, auf die die Bezirksleitungin den zurückliegenden Jahrenmit Nachdruck hingewiesenhabe, „von der Parteiführungnicht entsprechend beachtet"

worden seien, meldete die Nach-richtenagentur ADN.

Einsatz von Wehrpflichtigen

Das durch die Fluchtbewe-gung geschwächte DDR-Ge-sundheitswesen wird von De-zember an vorübergehend durch2000 Wehrpflichtige verstärkt.Das Verteidigungsministeriummeinte, der Einsatz sei nichtidentisch mit erwarteten Rege-lungen für einen Zivildienst.

HESSISCHE7NIEDERS ACHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche Redakteure

Chef vom Dienst: Ramer Mevforth Politik.Jochen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden. Kultur: Dirk Schwarze. Frauu. Reise: UseMethe-Huber. Sport: Rolf Wie-semann. Sonntagszeit: Frank Thonicke.Kassel Stadt und Land: Wolfgang Ross-bach. Bezirksredaktionen: Peter M. Zitz-mann. Koordination: Helmut Lehnart. Hes-sen/Niedersachsen: Eberhard Heinemann.Chefreporter Karl-Hermann Huhn. Son-derthemen: Peter OchsRedaktion Wiesbaden: Rolf EffenbergerRedaktion Hannover1 Harald BirkenbeulRedaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht

Verlagsleitung

Dr Dietrich Batz, Rainer Dierichs. WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter Horst Prehm.Vertriebsleiter: Gerd Lühring

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61 .'20 3-0. Tel Anzeigenan-nahme 05 61720 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer 05 61 '20 36 Teletex5 618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr 29 Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25.60 inkl.Zustellung und 7% MwSt (Postbezugspreis 28,50 DM).Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kundigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kundigungserklä-rungAuflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege. „Harzku-rier'1, Herzberg.Auflage „Sonntagszeit", über 200 000Exemplare.Herstellung Druckhaus Dierichs Kassel,Frankfurter Straße 168, 35 Kassel

Page 68: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 259 Themen des Tages Montag, 6. November 1989

EigenartigeLogikUnUmgerechnet fast 700 MilliardenDM wird Amerika im kommendenJahr für seine Verteidigung ausge-ben. Das ist eine gewaltige Sum-me, zwar weniger als die US-Mili-tärs gefordert, aber auch mehr alsdie Entspannungsgläubigen er-hofft hatten. Der Kompromißetat,dem die beiden Häuser des Kon-gresses und Präsident Bush nunzustimmen dürften, spiegelt denSchwebezustand wider, in demsich die Verteidigungsplanung desWestens befindet.

Am deutlichsten wird die Unge-wißheit bei den Ausgaben fürgleich zwei neue Raketensysteme.Die Regierung erhält Geld sowohlfür die Umrüstung der MX-Fernra-kete auf Schienen wie für die Ent-wicklung der neuen, mobilen Mid-getman mit nur einem Sprengkopf.In Genf wird zwar über die Ab-schaffung oder Reduzierung derstrategischen, landgestützten undmobilen Waffen verhandelt, dochglaubt Washington erst dann aneinen Erfolg, wenn auch die USAselbst in jeder Kategorie etwaszum Abschaffen hat.

So wie der Kongreß dieser ei-genartigen Logik folgt, so erwarteter vom Präsidenten Verständnis fürdie regionalen Interessen der Ge-setzgeber. Einige teure Waffensy-steme werden nur deshalb nocham Leben erhalten, weil mächtigeRüstungskonzerne und die Erhal-tung von Arbeitsplätzen es for-dern. Bemerkenswert ist jedoch,daß das Lieblingsprojekt von Ex-Präsident Reagan, das Programmfür eine Rüstung im Weltraum, erst-mals weniger Mittel erhält. SDI istnicht mehr tabu, es steht deshalbauch den Verhandlungen mit derSowjetunion nicht mehr im Wege.

Besondere Worte der Ermah-nung finden sich im neuen Budgetfür die Europäer. Amerika will seineAusgaben in Übersee begrenzen,es will vor allem verhindern, daßdie Verbündeten ihre Verpflichtun-gen durch stille Truppenreduzie-rungen zu Lasten der USA lockern.Der warnende Hinweis Washing-ton, daß die USA ihrerseits Streit-kräfte abziehen könnten, hätte voreinigen Jahren noch in EuropaSchrecken ausgelöst. Das ist vor-bei. Auf beiden Seiten des Atlan-tiks wird vorsichtig reduziert, wieim Ostblock auch.

Siegfried Maruhn, Washington

Presse-Echo

Zum neuerlichen Flüchtlingsstrom ausder DDR bemerkt der

Von einem Vertrauensbonuskann Egon Krenz nicht zehren.Die abermalige Massenfluchtvon mehreren Tausend DDR-Bürgern über Prag unter-streicht Enttäuschung undSkepsis, ja Ablehnung, die demSED-Chef entgegenschlagen.

Zum selben Thema der

5rt)it>nt3rc>nlDtt23oteDie Fortsetzung der Massen-

flucht...hat inzwischen auch zu-sätzliche Funktion für die DDR-Führung. Politisch und volks-wirtschaftlich mag dieser Exo-dus ein schmerzhafter Aderlaßsein. Für die SED-Versuche,Glaubwürdigkeit zu schaffen,muß die Tolerierung dieserFlucht als Vorgriff auf das ange-kündigte Reisegesetz geradezuwillkommen sein. Gleichzeitigverringert sich so das Protest-und Verweigerungspotential inder DDR-Jugend.

„Die Erklärungen von BundeskanzlerKohl und Präsident Mitterand zum Ab-schluß der zweitägigen deutsch-franzö-sischen Konsultationen in Bonn erhellenschlaglichtartig, welchen Rang dieDeutsche Frage in der internationalenDiskussion eingenommen hat", meintder

_ m Mannheimer ^ .

MORCEI

Im Gegensatz zu Honecker-Nachfolger Krenz halten unserewestlichen Nachbarn einen ein-zigen deutschen Staat nicht füreine Utopie. Ja, diese Vorstel-lung gewinnt so starke Kontu-ren, daß die Diskussion regel-recht über die Grenzen in dieBundesrepublik hineingetragenwird. Die deutsch-französischeZusammenarbeit, so scheint es,hat sich beim Gipfel in Bonn ein-mal mehr als Schrittmacher be-währt. In diesem Fall auch alsein Schrittmacher, der Ängsteum Deutschland abbauen soll.

Stasi-Chef wird abgelöst

Erich Mielke, derMann fürs GrobeW ie kaum eine andere Ent-scheidung symbolisiert die be-vorstehende Ablösung ErichMielkes (Foto)die Verdrän-

ung der DDR-aründergene-

ration von derMacht. MielkesKarriere hattein den Straßen-schlachten derWeimarer Re-publik begon-nen, nach Mas-sendemonstra-tionen auf Stra-ßen der DDR ging sie zu Ende.

Jahrzehntelang leitete derjetzt 81jährige das DDR-Mini-sterium für Staatssicherheit(SSD) und gewährleistete mitGewalt, Überwachung und Ein-schüchterung die Herrschaft derSED. Für die neue Politik desöffentlichen Dialogs, mit der diePartei unter Egon Krenz um Ver-trauen wirbt, war der Armeege-neral kein glaubwürdiger Ver-treter mehr.

Der gebürtige Berliner hatteseine Laufbahn in der WeimarerRepublik als Journalist des KP-Organs „Rote Fahne" begonnenund kam durch Mitarbeit im Par-teiselbstschutz mit dem illegalenKampf in Berührung. Als 1931 inBerlin zwei Polizisten hinter-rücks erschossen wurde, galt erals mutmaßlicher Schütze.

Mit gefälschten Papieren ent-kam Mielke nach Belgien, dannin die UdSSR, studierte an derKaderschmiede InternationaleLeninschule und ging 1936 nachSpanien, um auf der Seite derRoten Brigaden" gegen Franco

zu kämpfen. Im Zweiten Welt-krieg kämpfte Mielke in der Ro-ten Armee, nach 1945 organi-sierte er den Aufbau der politi-schen Polizei in der damaligensowjetischen Besatzungszone.

Honecker Rücken gestärkt

Er überdauerte als Staatsse-kretär den Sturz der beiden Sta-si-Minister Zaisser und Woll-weber und rückte 1957 selbst andie Spitze. 1951 wurde er Mit-glied des Zentralkornmitees und1958 der Volkskammer, SeinenSprung ins Politbüro 1976 ver-dankt Mielke Erich Honecker,dem er in der schwierigen Zeitder Ablösung Walter Ulbrichtsden Rücken gestärkt hatte. Ho-necker dankte es ihm auch mitder Beförderung zum Armeege-neral 1980.

Mielke gilt als wendiger,schlauer Mann, der niemals un-kontrolliert reagiert. Er sei sichnicht zu schade gewesen, Ge-fangene in den Zellen aufzusu-chen, um ihnen einen Schaupro-zeß anzudrohen und sie zur Zu-sammenarbeit aufzufordern.„Verbundenheit" mit dem einfa-chen Mann demonstriert Mielkebis heute als Vorsitzender' deszehnmaligen DDR-Fußballmei-sters BFC Dynamo, der deshalbauch als „FC-Stasi" bezeichnetwird. (dpa)

DDR-Bürger nutzen Öffnung der CSSR-Grenze

,Dem Krenz glaubt niemand'Von Alison Smale und Manfred Hess (AP)

Oo sah es gestern auf tsche-choslowakischer Seite an derGrenze bei Eger aus: Pausenlosfuhren junge DDR-Bürger inRichtung Westen, zum langer-sehnten Ziel Bundesrepublik.„Wir konnten es zunächst garnicht glauben, aber dann hieß esnur noch ab in den Westen", soschilderte ein Schreiner amSonntag die Stimmung in seinemFreundeskreis, nachdem sich inder DDR die Nachricht von derMöglichkeit der freien Ausreiseüber die Tschechoslowakei ver-breitet hatte.

Für einige DDR-Bürger warEger allerdings das Ziel der Rei-se: Ältere Menschen, die jünge-re zur Grenze fuhren und dannin die Heimat zurückkehrten.Sie zögerten aber nicht, sich derKritik der jungen Leute an derDDR-Führung anzuschließen.

Vor allem der neue Staats-und Parteichef Egon Krenz gerätimmer wieder ins Kreuzfeuerder Kritik der Ausreisenden.„Dem glaubt niemand, aberwirklich niemand", sagt ein jun-ger Mann aus Plauen, demSchauplatz vieler Demonstra-tionen für Reformen in den letz-ten Wochen. „Auch gestern wareine", berichtet der Mann, dermit zwei Freunden in einem Lo-kal beschlossen hat, die neueAusreisregelung nur zu einemTagesbesuch in der Bundesre-publik auszuprobieren, was -wie sich später herausstellte -aber nicht möglich war.

ten Familie schaltet sich ins Ge-spräch ein und sagt: „Seit 20Jahren werden wir nur ausge-beutet. Mein Mann ist Diabeti-ker. Sie haben ihm gesagt, erbraucht Insulinspritzen, die esbei uns nicht gibt.... Nur derEgon (Krenz), der kriegt sie."Diese Frau und ihr Mann sinderst vor kurzem aus der SEDausgeschlossen worden - „alsVerräter der Arbeiterklasse",sagt sie und fügt hinzu, daß jetztviele aus Partei und Gewerk-schaft austräten. Ihre Hoffnun-gen für das Leben im Westen:„Unsere Kinder, die sollen esanders haben."

„Müssen demonstrieren" Umweg über Prag

,lch halt's nicht mehr aus"

„Ich bin erst 20, aber was ichschon alles durchmachen muß-te, reicht fürs ganze Leben",meint eine Frau. Sie hat ihremMann, der zur Zeit in der Natio-nalen Volksarmee dient, nichteinmal Bescheid gesagt, daß siejetzt zu den erst vor drei Mona-ten in Leverkusen gebliebenenEltern fährt. „Ich halt's nichtmehr aus", sagt sie, zitternd vor,Kälte und wohl auch vor Zu-kunftsangst. „Meine Eltern sindweg, ich wollte die Bude ausräu-men..., die haben's aber nichtzugelassen. Wenn ich nicht ein-mal das Zeug haben kann...."Die darin enthaltene Fragebleibt unbeantwortet.

Ein anderer, knapp 40 Jahrealt, freut sich fast über seinenEntschluß, in der DDR zu blei-ben und für echte Reformen zukämpfen. Er hat eine befreunde-te Familie zur Grenze gebrachtund fährt gleich wieder nachHause. „Wir müssen weiter de-monstrieren", sagt er mit derSelbstsicherheit derer, die sichgewiß sind, daß die SED demmassiven Druck aus dem Volknicht mehr völlig standhaltenkann. „Wir sind das Volk", be-tont er und berichtet von derjüngsten Demonstration in Er-furt: „Wir waren 50 000. Einerist aufgestanden und hat ge-meint, wenn man Boxer ist undim Ring am Boden liegt, dannwirft man meistens das Hand-tuch. , Wann werft ihr das Hand-tuch?1 hat er geschrieen, undalle haben gejubelt."

Die Mutter aus der befreunde-

Einige, die bei Eger über dieGrenze fahren, haben vorsichts-halber den Umweg über die Bon-ner Botschaft in Prag genom-men, die in den vergangenenWochen Fluchtpunkt für insge-samt mehr als 20 000 Flüchtlin-ge war. „Man kann ja nie wis-sen. Besser man fragt noch maleinen offiziellen Vertreter derBundesrepublik", meinte einMann aus Plauen. „Ruck, zuckging's an der Grenze", sagte ein33jähriger Maurer aus Leipzignoch immer völlig verblüfft vonder problemlosen Grenzüber-schreitung von der DDR in dieTschechoslowakei. Erst vor derBonner Botschaft hatte er amSamstag im Morgengrauen ererfahren, daß er ohne Kofferaus-packen mit seiner Frau und denbeiden Kindern im eigenen„Trabi" direkt weiter in die Bun-desrepublik fahren konnte.

.Wollt ihr nicht erstmal den neuen Spielplan abwarten?" (Karikatur: Wolf)

Neuer JU-Vorsitzender

Gröhe: Laßt unsDampf machenJZr ist smart und engagiert:Hermann Gröhe (28), der amWochenende als Nachfolgervon Christoph Bohr mit großerMehrheit gewählte neue Vorsit-zende der 216 000 Mitgliederzählenden Jungen Union, derNachwuchsorganisation derCDU. Er ist seit den 60er Jahrenerstmals wieder ein JU-Chef,der vom Mitglieder stärkstenLandesverband Nordrhein-Westfalen auf den Schild geho-ben wurde.

Gröhe kommt aus der evange-lischen Jugend und ist gegen-wärtig wissenschaftlicher Mit-arbeiter an der Universität Köln.Am liebsten möchte er, so verräter nach der Wahl, später an derNahtstelle von Politik und Ad-ministration seine beruflicheHeimat finden. Zunächst ist erjedoch eingetreten, einen neuenVersuch zu starten, um Politikder Jugend schmackhafter zumachen, sie dafür zu begeistern,was gegenwärtig nicht nur derJungen Union, sondern allen po-litischen Jugendverbändenrecht schwer fällt.

„Laßt uns Dampf machen fürdie Interessender Jugend",lautete seinevom Delegier-tenvolk mit Be-geisterung auf-genommeneDevise. Gröhe(Foto) und sei-nen Mitstrei-tern geht es da-bei offenkundigaber auch umdies: Der Mit-

gliederschwund soll aufgefan-gen, für mehr Nachwuchs in deneigenen Reihen gesorgt werden.

Den Hebel für eine stärkereMitwirkung der Jungen möchteer an der parlamentarischen Ba-sis, in den Gemeinderäten,ebenso wie im Bundestag anset-zen. Die auch von CDU-Chef,Bundeskanzler Kohl, als uner-träglich eingestufte Situation,daß immer weniger Vertreter derjungen Generation in den parla-mentarischen Gremien zu findensind, möchte Gröhe umkehren.

„Mängel beim Namen nennen"

Gröhe will noch ein weiteres:Parteibeschlüsse sollen stärkerauf ihre Verwirklichung hin ab-geklopft werden, Mängel in derbundesdeutschen Wirklichkeitsollen beim Namen genanntwerden, so etwa im Sozialbe-reich, wo beispielsweise jungenFamilien mehr geholfen werdenmüsse, oder beim Umgang mitWehrpflichtigen in der Truppe.

Die Partei solle quirlige Um-triebe nicht als lästig, sondernals wohltuend empfinden, meintder Jungjurist aus Neuss. Zwei-fellos wird dieses Faktum seinergeographischen Herkunft vomheimischen Landesverbandauch als eine wichtige Hilfebeim Werben um junge Wählerbei den kommenden Wahlenempfunden. (dpa)

Währrend man die Kritik ander Koedukation, der gemeinsa-men schulischen Erziehung vonJungen und Mädchen, im Hessi-schen Kultusminsterium als„Unsinn" (Pressereferent Wal-ter Siebert) bezeichnet, zeigendie jüngsten Forschungsergeb-nisse über dieBenachteili-gung von Mäd-chen in Kiel be-reits eine Wir-kung: dieschleswig-hol-steinische Kul-tusministerinEva Rühmkorf(Foto) denktlaut darübernach, welcheKonsequenzensich aus der formulierten Kritikergeben könnten. Wir fragtensie, wie sie die umzusetzen ge-denkt.

Frage: Sie wollen darauf hinwir-ken, daß Jungen und Mädchenoptimale Chancen in der schuli-schen Bildung bekommen. Des-halb enthält Ihr Entwurf eines neu-en Schulgesetzes die sogenannte„Öffnungsklausel". Das heißt,Jungen und Mädchen können, woes pädagogisch sinnvoll erscheint,getrennt unterrichtet werden. Anwelche Bereiche denken Sie?Eva Rühmkorf: Wir verfolgen inder Diskussion gegenwärtig

Getrennter Unterricht für Jungen und Mädchen? / Rühmkorf:

„Erst Gefahren in Griff kriegen"Von unserem Redaktionsmitglied Elke Bockhorst

zwei Fragestellungen: Wie kanndie vorhandene Begabung vonMädchen in den naturwissen-schaftlichen Fächern, insbeson-dere Chemie und Physik durchspezielle Lernangebote geför-dert werden? Entweder im koe-dükativen Rahmen oder im ge-trennten Unterricht. Und ana-log: Wo haben denn heute jungeMänner Defizite? In der partner-schaftlichen und familiären At-mosphäre und, worauf vor allemdie Privatwirtschaft hinweist,im kommunikativen Bereich.Wir diskutieren, wie in diesenbeiden Bereichen gesonderteAngebote für Jungen und Mäd-chen gemacht werden können.Im Januar wird eine Fachtagungzur Fragestellung „Mädchenund naturwissenschaftliche Fä-cher im Unterricht" stattfinden,an der Elternvertretungen, Leh-rer und Lehrerinnen, Schülerund Schülerinnen teilnehmen.

Frage: Das heißt, Sie sind nochmitten in der Diskussion. Es gibtkeine konkreten Ansätze?

Rühmkorf: Nein. Es deutet sichder Schwerpunkt Mädchen undPhysik, Chemie, Informatik an.In diese Richtung geht auch eineEmpfehlung der für Frauen zu-ständigen Stellen in Bund undLändern an die Kultusminister.

Frage: Die Frankfurter Erziehungs-wissenschaltlerin Hannelore Faul-stich-Wieland'äußerte kürzlich aufeiner Podiumsdiskussion auch Be-denken gegen getrennten fnior-matikuntenicht. Sie hatte die Er-fahrunggemacht, daß Jungen sichmehr als zuvor auf ihre Vorurteilezurückzogen und behaupteten:„Ihr könnt das nicht!" Die Mäd-chen hatten ja keine Gelegenheit,ihnen das Gegenteil zu beweisen.Rühmkorf: Wir haben Frau Faul-stich-Wieland deshalb zu unse-rer Fachtagung eingeladen. Siewird ein Referat halten und eineArbeitsgruppe leiten, in der ge-nau solche Themen erörtertwerden. Was mir wichtig er-scheint, ist, daß darüber über-haupt erst einmal im Land dis-kutiert wird. Wir können das ja

nicht per Erlaß anordnen. Esmuß die Bereitschaft für einekonkrete Umsetzung geben.

Frage: Wie stehen Ihrer Meinungdie Chancen, daß Schulleitungen,Lehrer und Lehrerinnen die Mög-lichkeit des getrennten Unterrichtsnutzen, wenn der Gesetzentwurfdurchkommt.Rühmkorf: Das kann ich heutenoch nicht absehen. Ich wollteformal die Möglichkeit eröffnen.Das Gesetz ist ja nicht für zweiJahre sondern für längere Fri-sten geplant. Und ich wollte mitder Gesetzesformulierung deut-lich machen, daß ich nicht zuden Feministinnen gehöre, diesagen: „Wir müssen wiederMädchenschulen einrichten."Ich gehöre zu den Feministin-nen, die Koedukation kritisch,im Interesse der Mädchen dis-kutieren wollen.

Frage: Sie sagen, daß Sie darübernachdenken, wie bisherige Er-kenntnisse in die Lehrerfortbildungeinfließen könnten. Wie kann man

Ihrer Meinung nach Schulverwal-tung und Schulleitungen an dasThema heranführen?Rühmkorf: Im Ministerium, undwir sind ja die oberste Schulauf-sicht, habe ich von Anfang andeutlich gemacht, daß diesesThema einer meiner durchgän-gigen Arbeitsschwerpunkte ist.Und ich kann hier im Hausschon Lernprozesse feststellen,in der Art und Weise, wie dar-über diskutiert wird. Auch inden Schulleiterdienstversamm-lungen weise ich immer wiederdarauf hin, daß Schule auch dieAufgabe hat, Rollenfixierungenzu beseitigen. Außerdem baueich auf so etwas wie ejn Schnee-ballsystem, auf die Initiative in-teressierter Lehrkräfte.

Frage: Glauben sie, daß der Ge-setzentwurf in der vorliegendenForm durchkommen wird?Rühmkorf: Ja. Die Formulierungist im Konsens mit der Mehr-heitsfraktion zustande gekom-men. Ich werde getrennten Un-terricht aber nicht anordnen.Die Gefahr, von der Sie spra-chen, die Frau 'Faulstich-Wie-land andeutet, die müssen wirvorher in den Griff kriegen. Esmüssen qualifizierte Alternati-ven zur bisherigen Unterrichts-praxis erarbeitet werden. An-derthalb, zwei Jahre werden wirnoch brauchen.

Page 69: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

r

HESSISCHE/NIEDERSACHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISCHE

ALLGEMEKASSEL1 P 3713 A

UNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 260 • Dienstag, 7.11.1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Polens Kommunisten

Neue Partei,neues Programm

Warschau (dpa). Die polni-schen Kommunisten wollen -wie zuvor die Kommunisten Un-garns - bei ihrem nächsten Par-teitag im Januar eine neue Parteimit neuem Namen und Pro-gramm gründen. In dem Entwurffür eine Programmerklärung,heißt es, die Vereinigte Arbei-terpartei (PVAP) habe keineMöglichkeit mehr, das Vertrau-en des Volkes zu erringen undsomit sei „ihre Zeit zu Ende".Die neue Partei solle eine demo-kratische Organisation werden.

Bernhard/Berlin

WenigNeues

Man kennt die Zu-taten, die Maschineläuft wie am Schnür-chen: Bei der Urauf-führung eines Stük-kes von ThomasBernhard (Foto) inBerlin „Elisabeth II"gibt es kaum Neues.Gallige Harne auf diedumme Menschheitwird ausgeschüttet.Siehe Kultur.

Winter kommt

Schneeim Süllen

Der Winterkommt: Von einerleichten Pulver-schneedecke wargestern morgenganz Bayern über-zogen. Leider hieltdie weiße Prachtnicht lange vor. Inden Alpen schneitees ausgiebig bis indie Tallagen. Siehe„Blick in die Zeit".

Teststrecke

Daimlerins Elsaß?

Das StuttgarterAutomobilunter-nehmen Mercedes-Benz will seine neu-en Wagen künftigentweder im Elsaßoder bei Papenburgin Niedersachsentesten. Eine Ent-scheidung ist inetwa einem Jahr zuerwarten. SieheWirtschaft.

Neu beim KSV

Raab undein Finne

Fußball-Zweitli-gist KSV Hessenleiht zwei weitereSpieler bis zum Sai-sonende aus: Ge-stern unterschriebder Ex-KarlsruherBernhard Raab (23),heute kommt derfinnische National-spieler Tommi Paa-vola (23). SieheSport.

Fußball-WM

Voll imZeitplan

Bei den Vorberei-tungen auf die Fuß-ball-WM 1990 lie-gen die italienischenOrganisatoren, vorallem beim Stadien-bau, voll im Zeit-plan. Das wurde ge-stern vom Organisa-tionskomitee auf ei-ner Pressekonferenzbei Frankfurt er-klärt. Siehe Sport.

Reisegesetz veröffentlicht

DDR-Oppositionbleibt skeptisch• Berlin (dpa/AP). Die oppositionellen DDR-Gruppen haben

sich mit großer Zurückhaltung über das neue Reisegesetzgeäußert, das gestern in Ost-Berlin veröffentlicht wurde undmöglicherweise noch vor Weihnachten in Kraft treten soll.

Das Mitglied der Demokratie-bewegung „Neues Forum", Se-bastian Pflugbeil, erklärte in ei-nem Interview, die Bürger hät-ten schlechte Erfahrungen mitneuen Gesetzen gemacht. Rei-sen sei zudem nicht das primäreProblem. Vielmehr müsse dieFührung durch andere Schrittedie Ernsthaftigkeit ihrer Re-formbemühungen beweisen.

Weitere Berichte zum Reisegesetzfinden Sie auf „Themen des Ta-ges". Dort steht auch der Kommen-tar.

Auch der Geschäftsführer desOstberliner Bezirksverbandsder Sozialdemokratischen Par-tei in der DDR (SDP), ThomasKrüger, reagierte mit Skepsisauf den Gesetzentwurf. Schließ-lich habe das Volk „mit den Fü-ßen abgestimmt" und erst da-durch solche Entscheidungenerzwungen. Ob die Fluchtwellenun gestoppt werde, vermöge ernicht vorherzusagen. Es kommedarauf an, wie die Bürger sichvon den neuen politischenGruppen repräsentiert fühlten.

In Bonn erklärte das SPD-Prä-sidium, der Entwurf sei enttäu-schend, er enthalte weniger als

CSSR-Grenze

Über 23 000reisten aus

Prag (AP). Der Flüchtlings-treck über der Tschechoslowa-kei wird immer größer: „Bis ge-stern abend reisten seit Öffnungder Grenzen am Samstag über23 000 DDR-Bürger in die Bun-desrepublik aus. Die DDR selbstsprach von 23 300 Flüchtlingenbis Montag mittag.

Der Andrang an den bayeri-schen Grenzübergängen Schirn-ding und Waidhaus schwoll imLaufe des Tages auf rund 150Menschen pro Stunde an. Auchdie Zahl der Flüchtlinge, die inZügen kämen, habe die Erwar-tungen des Sonderstabs über-troffen, sagte der Sprecher beimGrenzschutzkommando Süd inMünchen, Klaus Papenfuß. Erberichtete, die unerwartet großeZahl habe das Problem der Un-terbringung weiter verschärft.Der Koordinationsstab werdevermutlich in der Nacht dieZahl von 51 Notlagern weiteraufstocken müssen.

angekündigt. BürokratischeHürden würden das Mißtrauender DDR-Bürger weiter verstär-ken.

Die Bundesregierung sprachvon einem „klaren Fortschrittgegenüber der bisherigen Pra-xis". Die Ministerin für inner-deutsche Beziehungen, Wilms(CDU), verwies aber auf zahlrei-che „bürokratische Fallstricke"und „Gummiparagraphen".Nach dem Gesetzentwurf, derbis zum 30. November zur öf-fentlichen Diskussion gestelltwird, haben Privatreisende kei-nen Anspruch auf Reisezah-lungsmittel (Devisen). In einerMitteilung des Ministerratswird um Verständnis dafür ge-beten, daß „komplizierten Un-tersuchungen zur Art und Wei-se der Bereitstellung von Fi-nanzmitteln" noch nicht abge-schlossen werden konnten.

Ministerin Wilms meintedazu, die DDR müsse zunächsteinen Teil ihrer Deviseneinnah-men dafür zur Verfügung stel-len. Die DDR nehme westlicheWährung durch Transitgebüh-ren, innerdeutschen Handel,den Mindestumtausch bei Ein-reisen und ihre westlichen Fir-men im Ausland ein.Fortsetzung nächste Seite

„Uberreaktion" bedauert

Reform auchbeim Stasi?

Berlin (AP). Auch beim Staats-sicherheitsdienst der DDR kün-digt sich eine Wende an. Gene-raloberst Rudi Mittig, Stellver-treter des Stasi-Ministers, er-klärte gestern, die Staatssicher-heit wolle „gründlich überprü-fen, inwieweit unsere Arbeitden gegenwärtigen und abseh-baren Bedingungen noch ent-spricht". Ausdrücklich bedau-erte Mittig „Befugnisüberschrei-tungen und Überreaktionen vonAngehörigen unseres Organs".Er verwahrte sich gleichzeitigaber gegen „zunehmende Dis-kriminierungen, Beleidigungenbis hin zu Gewaltandrohungengegen Dienststellen und Mitar-beiter unseres Ministeriums".

Die „Bild" berichtete, die Hälf-te der 30 000 hauptamtlichenMitarbeiter werde entlassenund in Fabriken, Kliniken oderauf den Feldern eingesetzt. DerStasi solle zudem dem Innenmi-nisterium unterstellt.

l.

Zum Tage

Abgefahren

}

DER VORLÄUFIG LETZTE SONDERZUG mit DDR-Flüchtlingen fuhr gestern morgen in Prag ab.Neuankommende Ausreisewillige müssen nun fahrplanmäßige Züge benutzen, um in die Bundesre-publik zu gelangen. (dpa-Funkbild)

riumpelnd auf Reformen zu setztsich der SED-Zug in Bewegung.Doch er ist längst vom D-Zug derEntwicklung überholt. So schnellkönnen die Bürokraten gar nichtschalten, wie die Bürger jetzt ihreSache selbst verwalten. Sie neh-men sich die Freiheiten heraus, dieihnen lange genug verwehrt wur-den.

So fahren sie einfach los. MitTrabbi oder Eisenbahn über dieGrenze ins gelobte Land. Einigesagen ganz offen, daß sie sich nurmal umschauen wollen. Wenn ihrLeben hier nicht so läuft wie ge-dacht, kehren sie zurück. DasRecht darauf haben sie bereits.Derweil brütet man in Ost-Berlin einneues Reisegesetz aus. Es ver-heißt Fortschritt gegenüber Ho-neckers Kurs, bedeutet aber Rück-schritt, gemessen an ungebrem-ster Hoffnung. Vor allem ist dasReisepapier schön Makulatur. DerZug ist abgefahren.

Die Menschen drüben erwartenjetzt klare Signale. Eine gelbe Am-pel erweckt nur Mißtrauen. Siekann auf grün springen oder aufrot. Die Vorbehalte kleben wieGummi zwischen den Zähnen.Nicht reisen dürfen, weil öffentlicheOrdnung oder Moral es verbieten,das glaubt man zu kennen. WerKür laufen will, fürchtet die Willkür.Und den Spießrutengang durchdie Ämter sind sie alle leid.

Daher herrscht in der DDR Skep-sis vor. Bemerkenswert ist die Re-aktion der Parteien hier. Einschrän-kendes Lob von der Regierung,

j reservierter Tadel von der Opposi-t ion. Sie speisen sich aus der ge-meinsamen Sorge, wie es dennweitergehen soll. Die Deutschendrüben zum Bleiben zu bewegen,soll der einen Ermunterung dienenwie der anderen Abmahnung anden Staat, der sie gängelt. Indeshält der Strom derer an, die ihreReisefreiheit wörtlich nehmen.

Alfred Brugger

DDR-Städte

Massendemoshalten an

Leipzig (dpa/AP). Auch nachder Veröffentlichung eines libe-raleren DDR-Reisegesetzes ha-ben gestern abend wieder Hun-dertausende von DDR-Bürgernbei Demonstrationen in vielenStädten des Landes gegen diepolitische Führung in Ost-Berlindemonstriert. In Leipzig undDresden gingen jeweils mehrerehundertausend Menschen aufdie Straßen. Es waren die bishergrößten Demonstrationen in bei-den Städten, meldete auch dieNachrichtenagentur ADN.

In Leipzig forderten die De-monstranten3 auf zahlreichenTransparenten eine „Reisege-setz ohne Einschränkungen".Außerdem hieß es immer wie-der: „Freie Wahlen", „Schlußmit dem Führungsanspruch"(der SED) sowie „Egon, Du bistam Ruder, steure den richtigenKurs". Ein Arbeiter sagte untertosendem Beifall: „Wie kommtder Staat dazu, uns Reisefreiheitzu versprechen, mit einem Bet-telsack auf dem Rücken."

Die endgültigen QuotenLotto: Gewinnklasse I 679 538,20DM; II 143 748,40 DM; III 3942,40DM; IV 88,10 DM; V 8,20 DM.Toto:Auswahlwette: I. unbesetzt, Jackpot4 959 945,10 DM; II. 67 037- DM;III. 4826,60 DM; IV. 114,30 DM; V.10,10 DM. - Ergebnis wette: I.31 877,70 DM; II. 967,40 DM; III.85,70 DM.Rennquintett:Rennen A: Gewinnklasse I 2738,60DM; II 405,70 DM.Rennen B: Gewinnklasse 140,70 DM;II 8,40 DM.Kombinationsgewinn: unbesetzt,Jackpot 73 485,80 DM.

(Ohne Gewähr)

Flüchtlings- und Aussiedlerstrom / „Wohnungsbau stärker fördern'

Kommunen: Jährlich 10 Mrd. nötigBonn (dpa). Städte und Ge-

meinden haben Bund und Länderin dramatischen Appellen aufge-fordert, wegen des anhaltendenFlüchtlingsstroms aus der DDRund dem nicht nachlassendenZuzug von Aussiedlern aus denosteuropäischen Ländern dieKommunen mit Milliardenbeträ-gen zu unterstützen. Die Notun-terkünfte seien „hoffnungslosüberbelegt", erklärten der Präsi-dent des Deutschen Landkreista-ges, Joseph Köhler, und der Vi-zepräsident des Deutschen Städ-tetages, Herbert Schmalstieg, amMontag nach einer Sitzung desVorstandes der Bundesvereini-gung der kommunalen Spitzen-verbände.

Im Vorfeld der heutigen Ent-scheidung der Bonner Koalitionüber zuzätzliche Wohnungsbau-

anreize verlangten die kommu-nalen Spitzenverbände, zu de-nen auch der Deutsche Städte-und Gemeindebund gehört, zu-sätzliche Mittel in Höhe vonzehn Milliarden DM jährlich inden gesamten 90er Jahren. Dievom Bund vorgesehene Auf stok-kung der Mittel für 1990 von 1,6Milliarden auf etwa 2,0 Milliar-den DM reiche „vorne und hin-ten nicht", um die Wohnungsnotzu beseitigen, erklärte Schmal-stieg. Von den geforderten zehnMilliarden DM soll der Bund ge-mäß der Entschließung der Bun-desvereinigung „den entschei-denden Beitrag" leisten, „gegebe-nenfalls auch durch eine Steuer-erhöhung".

Die CDU gab gestern zu erken-nen, daß außer einem Woh-nungs-Programm in Höhe von

rund zwei Milliarden DM jähr-lich vom Bund mehr nicht zu er-warten ist. CDU-Generalsekre-tär Rühe verwies darauf, daß aufden Bund enorme weitere Zah-lungen durch die Beibehaltungdes Begrüßungsgeldes für DDR-Bürger zukämen.

Ehemalige DDR-Bürger, dievoraussichtlich den Winter inWohnwagen auf einem Hambur-ger Campingplatz verbringenmüssen, beklagten sich gesternöffentlich über beengte Wohn-und Lebensverhältnisse, Mangelan Möglichkeiten zur Kinderbe-treuung und hohe finanzielle Be-lastungen. So seien vier Perso-nen in einem Wohnwagen mit9,5 Quadratmetern unterge-bracht. Dafür müßten monatlich320 DM Gebühren gezahlt wer-den.

Anstieg um knapp 20 000

176 800 Aus- undÜbersiedler arbeitslos.. Nürnberg (dpa). Die Zahl der arbeitslosenÜbersiedler aus der DDR ist von September aufOktober um 16 400 auf 61 700, die der Aussied-ler aus Osteuropa um 3300 auf 115 100 gestie-gen. Im Oktober kamen 57 000 Übersiedler(23 800 mehr als im Vormonat) in die Bundesre-publik. Bei den Aussiedlern wurden im Oktoberrund 33 000 Zuzüge registriert. Das teilte gesterndie Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg mit.Präsident Franke erklärte, die von den Neuan-kömmlingen mitgebrachten Qualifikationenstimmten nicht immer mit den „Anforderungs-profilen" der Arbeitplätze überein, so daß eineberufliche Weiterbildung notwendig werde. DerProzeß der beruflichen Eingliederung braucheZeit. - Arbeitsmarktbericht nächste Seite.

Sendestart am 15.11.

Privatfunk-Lizenz inHessen für Radio FFH

Kassel (hpo). Ab 15. November wird es auch inHessen einen privaten Rundfunksender geben:Radio FFH. Die von Zeitungsyerlegern gegrün-dete Gesellschaft Privat-Funk und FernsehenHessen erhielt gestern die begehrte Lizenz fürein ganztägiges, landesweites Vollprogramm.

Die Entscheidung der Versammlung der Hessi-schen Landesanstalt für privaten Rundfunk inKassel fiel einstimmig aus, da es Radio FFH in denvergangenen Wochen gelungen war, die meistenMitbewerber als Gesellschafter aufzunehmen. Da-durch und durch die vorgesehene Einrichtungeines Programmbeirats sieht die Behörde die vomGesetz geforderte größtmögliche Meinungsvielfaltin den Sendungen gewährleistet.Bericht und Kommentar auf der Hessenseite

Page 70: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 260 Politik Dienstag, 7. November 1989

Namen undNachrichten

SPD soll mitredenFür das geplante neue Auslän-derrecht wollendie Bonner Ko-alitionsfraktio-nen eine mög-lichst breiteparlamentari-sche Grundlageschatten undauch die SPD-Opposition mit-einbeziehen.Die SPD habedas Angebotangenommen,sich an den Beratungen zu betei-ligen, so der innenpolitischeSprecher der FDP-Fraktion,Burkhard Hirsch. Das FDP-Prä-sidium habe bekräftigt, daß dasGesetz noch in dieser Legislau-turperiode in Kraft treten soll.

0,8% mehr EinwohnerDie Einwohnerzahl in der Bun-desrepublik ist bis zum 31. De-zember 1988 gegenüber 1987um 477 000 oder 0,8 Prozent auf61715 000 gestiegen. DiesenAnstieg führt das StatistischeBundesamt auf den verstärktenZuzug aus anderen Ländern zu-rück, der das Geburtendefizitmehr als ausgeglichen habe.1988 seien 649 000 Ausländerin die Bundesrepublik gekom-men, 359 000 seien in ihre Hei-mat zurückgekehrt. Unter den255 000 zugezogenen Deut-schen waren 203 000 Aussied-ler und 40 000 Übersiedler.

Hardthöhe verweigertDas Verteidigungsministeriumlehnt eine Teilnahme an einerFernsehdiskussion mit demArzt Peter Äugst über dessenumstrittene Äußerung, alle Sol-daten seien „potentielle Mör-der", ab. Das Ministerium, so einSprecher, führe mit dem „Ange-klagten Äugst" keine öffentlicheAuseinandersetzung. Der Ortdafür sei das Gericht.

Kein BeratungsgesetzVor der Bundestagswahl wird es

kein Beratungs-gesetz für unge-wollt schwan-gere Frauenmehr geben:„Das Bera-tungsgesetzwird jetzt end-gültig zu denAkten gelegt",erklärte FDP-Generalsekre-tärin CorneliaSchmalz-Ja-

cobsen. Die Vorsitzenden derKoalitionsparteien hätten in ei-ner Koalitionsrunde festgestellt,„daß es keinen Sinn mehr hat,weiter darüber zu reden".

Momper-Kritik an PragDer Berliner Regierende Bürger-meister Walter Momper hat beiseinem CSSR-Besuch der PragerFührung vorgeworfen, sie denkeheute „noch wie die Führungder DDR vor acht Wochen".Auch die tschechoslowakischenMachthaber glaubten, „nicht dieTapeten wechseln zu müssen".

Auch tagsüber Licht an?Alle motorisierten Verkehrs-teilnehmer auf bundesdeut-schen Straßen sollten auch amTage mit Licht fahren. Auf einerTagung von Berufskraftfahrer-verbänden meinten die Teilneh-mer, daß dadurch die Sicherheitim Straßenverkehr deutlich er-höht werden könne.

„Vorgegaukelter" WaldVor einer Verharmlosung derWaldschädenwarnt die inKassel ansässi-ge Gewerk-schaft Garten-bau, Land- undForstwirt-schaft. Vorsit-zender GüntherLappas fordertedie Bundesre-gierung auf,„sich der Reali-tät zu stellenund nicht durch Schönfärbereieinen Wald vorzugaukeln, denes gar nicht mehr gibt". Mankönne das Waldsterben nichtbekämpfen, indem man den bis-herigen „Waldschadensbericht"in einen „Waldbericht" umbe-nenne; dies habe das Ministeri-um im nächsten Jahr vor.

Flüchtlinge sorgen für starke Zunahme beim Kräfteangebot

Arbeitslosenzahl kaum verringertNürnberg (dpa/eg). Die Zahl

der Arbeitslosen in der Bundes-republik hat sich im Oktober nurleicht verringert. Bei einer Ab-nahme von 7104 waren zum Mo-natsende 1 873 672 Männer undFrauen ohne Beschäftigung. DieArbeitslosenquote blieb nachden Angaben der Bundesanstaltfür Arbeit vom Montag in Nürn-berg unverändert wie im Sep-tember bei 7,3 Prozent, bezogenauf die abhängig Beschäftigten.Ende Oktober 1988 waren 2,074Millionen Arbeitslose regi-striert.

Der Präsident der Bundesan-stalt, Franke, sprach in seinerMonatspressekonferenz von ei-nem „sehr bewegten Monat". DieEntwicklung sei durch eine au-

ßerordentliche Zunahme beimKräfteangebot - besonderen An-teil daran hatte der starkeFlüchtlingszustrom aus der DDR- und durch eine anhaltendwachsende Kräftenachfrage ge-prägt. So stieg die Zahl der offe-nen . Stellen um 11200 auf300 280, das sind knapp 104 000mehr als im Vorjahr. Bei den Ar-beitsvermittlungen sei mit214 700 das beste Ergebnis seit1973 erzielt worden.- Die Kurzarbeit blieb auch imOktober ohne nennenswerte Be-deutung. Zur Monatsmitte wa-ren 50 200 Arbeitnehmer betrof-fen - das waren zwar 3900 mehrals im September, aber 47 900weniger als vor einem Jahr.

Die Zahl der Erwerbstätigen

war im September um 332 000größer als ein Jahr zuvor. Mit27,95 Millionen Beschäftigten istein neuer Höchststand seit demBestehen der Bundesrepublik er-reicht worden. Seit dem Beschäf-tigungstief im Herbst 1983 hatdie Zahl der Erwerbstätigen um1,5 Millionen zugenommen.Etwa 70 Prozent des Gewinnsbetreffen Vollzeitarbeitsplätze.

In Nordhessen verringertesich die Arbeitslosenzahl im Ok-tober gegenüber dem Vormonatum 760 auf 38 729, die Arbeitslo-senquote nahm um 0,2 Prozent-punkte auf 7,3 Prozent ab. InSüdniedersachsen sank die Er-werbslosenzahl um 331 auf17 908. Die Quote ging von 9,8auf 9,6 Prozent zurück.

Konservative verfehlen knapp absolute Mehrheit

Griechenland: Wieder Patt im ParlamentAthen (AP). Die Griechen ha-

ben bei der Parlamentswahl amSonntag keine klaren politi-schen Verhältnisse geschaffen,die Aussicht auf eine rasche Re-gierungsbildung bieten, undwerden womöglich demnächstzum drittenmal in diesem Jahran die Wahlurnen gerufen. DieWähler machten die konserva-tive Partei Neue Demokratie(ND) zur stärksten politischenKraft, verhalfen ihr aber nichtzur absoluten Mehrheit.

Die ND gewann drei Mandatehinzu und kam auf 148 der 300Parlamentssitze. Auch die Pan-hellenische Sozialistische Be-wegung (PASOK) des früherenMinisterpräsidenten Papandre-ou legte um drei Mandate aufjetzt 128 Mandate zu. Verliere-rin ist die kommunistisch ge-führte Allianz der Linken unddes Fortschritts, die von ihrenbisher 28 Mandaten sieben ver-lor. Drei Sitze gingen an unab-hängige Kandidaten.

Funktionäre der ND kündig-ten gestern an, ihr VorsitzenderMitsotakis werde heute mitStaatspräsident Sartsetakis überdie unklare politische Lage be-raten und als Führer der stärk-sten Parlamentsfraktion als er-ster den Auftrag für die Regie-rungsbildung erhalten. Solltedies nicht möglich sein, mußSartsetakis innerhalb von 30Tagen eine neue Parlaments-wahl ausschreiben.Siehe auch Kommentar

• \

ÜBERBLEIBSEL einer Massenflucht: Nachdem rund 6000 DDR-Bürger am Wochenende diePrager Botschaft der Bundesrepublik in Richtung Westen verlassen hatten, blieben zahlreiche„Trabbis" und einige leere Kinderwagen zurück. (dpa-Funkbild)

Skepsis über neues Reisegesetz

„Grüne Partei" in DDR geplantFortsetzung

In dem Entwurf heißt es wei-ter: „Die Bürger der DeutschenDemokratischen Republik ha-ben das Recht, in das Auslandzu reisen." Für diese Reisen sei-en ein Paß und „eine darin ein-getragene Genehmigung - Vi-sum - erforderlich". Soweit zwi-schenstaatlich vereinbart,könnten Dienst- und Privatrei-sen in das Ausland paß- und vi-safrei erfolgen.

Genehmigungen müssen da-nach mindestens einen Monatoder frühestens drei Monate vorReiseantritt beantragt werden.In dringenden Fällen sei die An-tragstellung an keine Frist ge-bunden. Gegen Entscheidungender Behörden kann demnächstBeschwerde eingelegt werden.Die Gesetzesvorlage sieht vor,daß eine Genehmigung nur inAusnahmefällen versagt wer-den darf, „wenn dies zum Schutzder nationalen Sicherheit, deröffentlichen Ordnung, der Ge-sundheit- oder der Moral oder

der Rechte und Freiheiten ande-rer notwendig ist".

Inzwischen schreitet in derDDR der Prozeß der Demokrati-sierung weiter fort. Die Sozial-demokratische Partei in derDDR gründete in Ost-Berlin ih-ren ersten Bezirksverband. An-fang 1990 will sich zudem eine„Grüne Partei" konstituieren. Ineinem in Ost-Berlin verbreitetenGründungsaufruf setzen sich dieUnterzeichner für einen „konse-quenten ökologischen Umbau"der DDR ein.

Nur noch bis September

In der Berufsausbildung wirdin der DDR das Fach Staatsbür-gerkunde nur noch bis zum 1.September 1990 weitergeführt.Allerdings gebe es künftig keineverbindlichen Stoffgebiete, kei-ne Leistungskontrollen und kei-ne Abschlußprüfung in diesemFach mehr, teilte der Staatsse-kretär für Berufsbildung, Bodo

Weidemann, mit. Auch die Teil-nahme an der vormilitärischenAusbildung werde nicht mehrobligatorisch sein. Stattdessenkönnten sich Jugendliche an„Formen der körperlichen Er-tüchtigung oder an einem Erste-Hilfe-Lehrgang" beteiligen.

Veränderungen gibt es auchauf kirchlicher Ettene. Dem Bi-schof der evangelischen Lan-deskirche Greifswald, HorstGienke, ist das Mißtrauen aus-gesprochen worden. Gienke'hatte am Sonntag die Vertrau-ensfrage gestellt, wobei die Syn-odalen mit 32 gegen 30 Stimmenentschieden, daß der Bischofnicht mehr das Vertrauen zurWeiterführung seines Amtesbesitze. Gienke hatte sich schar-fe Kritik aus den eigenen Reihenzugezogen, als er im Zusammen-hang mit der Domeinweihung inGreifswald die Berichterstat-tung der DDR-Medien lobte, dieder Kirchenblätter in beidendeutschen Staaten aber zum Teilkritisierte.

DDR-Gewerkschaftsbund fordert die 40-Stunden-WocheDer DDR-Gewerkschaftsbund

FDGB hat gestern die Einfüh-rung der 40-Stunden-Woche inder DDR gefordert. Bisher gilteine allgemeine Arbeitszeit von43 Stunden und 45 Minuten. Inder Gewerkschaftszeitung „Tri-

büne" verlangte die neue FDGB-Vorsitzende Annelis Kimmelaußerdem die Errichtung einesMinisteriums für Arbeit und So-zialpolitik.

Keine eindeutige Stellung be-zog die neue Gewerkschaftsvor-

sitzende zum Streikrecht. VieleMitglieder gingen davon aus,daß Streiks volkswirtschaftlicheVerluste mit sich brächten, sag-te sie. Daran aber könne nie-mandem in der DDR gelegensein.

Wertewandel bei den Studenten:

Weniger alternativ,mehr aufstiegsorientiert

Bonn (dpa). Unter den Stu-denten zeichnet sich ein deut-licher Wertewandel ab. Mehrals in früheren Jahren sind sieheute aufstiegsorientiert, stre-ben nach höherem Einkom-men, bejahen den Staat und diebestehenden Institutionen derDemokratie. Sie lehnen Ge-walt als Mittel der politischenAuseinandersetzung ab, sindaber protestbereiter als früher,zumindest wenn es um ihre ei-genen Belange geht.

Dies sind Ergebnisse aus ei-ner vom Bundesbildungsmini-sterium gestern in Bonn vorge-

stellten Untersuchung zu „Stu-dienerfahrungen und studenti-sche Orientierungen". In „er-drutschartiger" Weise habendanach in den vergangenensechs Jahren „alternative Ori-entierungen" in der Studen-tenschaft an Zustimmung ein-gebüßt. Darunter verstehendie Forscher unter anderemAbkehr von traditionellen Lei-stungsnormen und Ausstiegaus beruflichen Zwängen. ImGegenzug rücke der eigenematerielle Wohlstand stärkerin den Mittelpunkt.Siehe auch Kommentar

Bei Polen-Besuch / Keine Gebietsansprüche

Kohl will WarschauerVertrag bekräftigen

Bonn/Warschau (dpa/AP).Bundeskanzler Kohl will bei sei-nem am Donnerstag beginnen-den Polen-Besuch den War-schauer Vertrag von 1970 in al-len Teilen bekräftigen? Dazu ge-hört vor allem die Zusicherung,daß die Bundesrepublik keineterritorialen Gebietsansprüchean Warschau stelle.

Das teilte der stellvertretendeRegierungssprecher Dieter Vo-gel am Montag in Bonn mit. DieBekräftigung des WarschauerVertrages als Grundlage der ge-genseitigen Beziehungen werdesich in der Gemeinsamen Erklä-rung niederschlagen, die zumAbschluß des Kanzler-Besuchsveröffentlicht werden solle.

Vorausgegangen war ein er-neutes, „knapp viertelstündigesTelefongespräch" Kohls mit dempolnischen MinisterpräsidentenMazowiecki. Dabei habe es, soVogel, „keine polnischen Ände-rungswünsche, die sich auf dieGrenzfrage beziehen", gegeben.Mazowiecki selbst stellte vordeutschen Journalisten in War-

Kohlendioxid

schau fest: „Wir .wünschen, daß(der Vertrag) eindeutig interpre-tiert wird als endgültige Ent-scheidung über unsere Gren-zen."

Vogel machte deutlich, daßBonn nicht die Absicht habe,den Vertrag „neu zu verhandelnoder neu zu interpretieren".Eine Gemeinsame Erklärungkönne schließlich auch nicht diebestehende Rechtslage ändern.Dazu gehöre auch die Tatsache,daß es noch keinen Friedensver-trag für Deutschland als Ganzesgebe.

„Einheit europäische Frage"

Im Rahmen eines Arbeitsbe-suchs in Wien bezeichnete derpolnische Außenministrer Sku-biszewski die Möglichkeit einerdeutschen Wiedervereinigungals „Tatsache in der langen Per-spektive". Die Schaffung einer„neuen Macht in Mitteleuropa"sei heute eine gemeinsame euro-päische Frage.

Lummer-Ermittlungen

Bonn denkt Staatsanwaltan neue Steuer für Einstellung

Braunlage (hos). Die Bundes-regierung überlegt gegenwärtig,zur Reduzierung der Kohlendio-xid-Emissionen die Einführungeiner CO2-Steuer. Wie derStaatssekretär im Bundeswirt-schaftsministerium, Beckmann,in Braunlage mitteilte, könneeine solche Steuer z.B. dazu füh-ren, technische Innovationen zurSenkung des CO2-Ausstoßesschneller voranzutreiben. Einessei jedoch klar: Bonn werde kei-nen Alleingang unternehmen.Zumindest EG-weit müsse eineCO?-Steuer abgestimmt werden.

Die Bundesregierung lehne, soBeckmann, Öko-Steuern nachArt des SPD-Modells ab. Die Ra-senmäher-Methode bekämpfeden Treibhauseffekt nicht. DieCO,-Steuer sei aber eine gezielteMaßnahme dagegen. Die Bun-desrepublik trage derzeit etwazu 3,5 Prozent zum weltweitenC02-Ausstoß bei.

Berlin (dpa). In der Affäre umdie Ost-Kontakte des CDU-Poli-tikers Lummer hat die Staatsan-waltschaft beim Berliner Land-gericht die Einstellung der Er-mittlungen empfohlen. Der Vor-gang wurde dem Berliner Kam-mergericht zur endgültigen Ent-scheidung zugeleitet, teilte derVorsitzende des parlamentari-schen Untersuchungsausschus-ses zur Aufhellung der Affäre,Klaus Wienhold (CDU), mit.Nach seinen Worten wurde dieEinstellung der Ermittlungenunter anderem mit Verjährungder Angelegenheit begründet.

Lummer, der von 1981 bis1986 Berliner Innensenatorwar, wird vorgeworfen, frühereKontakte zu einer DDR-Agen-tin und zum Staatssicherheits-dienst der DDR längere Zeitverschwiegen und später unzu-reichend Auskunft gegeben zuhaben.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureChef vom Dienst: Rainer Merforth. Politik:Jochen Prater. • Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden. Kultur: Dirk Schwarze. Frauu. Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wie-semann. Sonntagszeit: Frank Thonicke.Kassel Stadt und Land: Wolfgang Ross-bach. Bezirksredaktionen: Peter M. Zitz-mann. Koordination: Helmut Lehnart. Hes-sen/Niedersachsen: Eberhard Heinemann.Chefreporter. Karl-Hermann Huhn. Son-derthemen: Peter Ochs.Redaktion Wiesbaden: Rolf EffenbergerRedaktion Hannover: Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter: Horst Prehm.Vertriebsleiter: Gerd Lühring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61/20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61/20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer05 61 /20 36. Teletex5618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7% MwSt. (Postbezugspreis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare. .Herstellung Druckhaus Dierichs Kassel,Frankfurter Straße 168, 35 Kassel.

Page 71: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nrv260 Themen des Tages Dienstag, 7. November 1989

Die Karrierefest im BückMuf die akademische Jugend ist,so scheint's, Verlaß. Sie hat all dasgelernt, was man über eine moder-ne Leistungsgesellschaft wissenmuß, und bemüht sich redlich dar-um, das Gelernte für sich umzuset-zen. Das heißt: Die eigene Karriereist fest im Blick, Wohlstand undWohlverhalten im System sind alsWerte anerkannt.\ Ist die Studentenwelt wirklich so

.heil? Daß die Ergebnisse der vomBund.esbildungsministerium vorge-legten Untersuchungen zutreffen,ist leicht zu erkennen: Zu keineranderen Zeit bestand an den deut-schen Hochschulen ein derart gro-ßes Mißverhältnis zwischen einge-richteten Studienplätzen und zu-gelassenen Studenten, und den-noch ertragen die Hochschüler dieunhaltbaren Zustände mit einerbeispiellosen. Geduld. Schicksal,so scheinen sie zu denken; alsobemühen sie sich, das beste dar-

. aus' zu rnachen,.,um bald die ersteSprösse jder Karriereteiter erklim-men.vZu können. >;'• '"••',. '• •

Es ist niemandem zum Vorwurfzu wachen, wenn er die Regelndes Systems konsequent für sichanwendet. Undes ist auch nicht zu

, verdenken, wenn jemand,'der erstum seine Durchschnittsnote an der

• Schule kämpfen und dann den Nu-.merus clausus an der Uni überwin-den mußte, nun auf Erfolg undWohlstand.fixiert ist.

Sieht man in den künftigen Aka-demikern aber nicht nur Erfolgs-menschen, sondern auch die An-gehörigeneiner sozialen und politi-schen ' Elite, dann kann einemangst und bange werden. Denndie Liebe zur Karriere hat die Lustan der Politik, zumal an der Hoch-schulpolitik, verdrängt. Wo aberdie künftigen Denker der NationDistanz zur Politik halten und keinkritisches Potential (auch den eige-nen Verhältnissen gegenüber)mehr besitzen, stehen die Chan-cen zur Bewältigung neuer Proble-me äußerst schlecht.

Dirk Schwarze

EnttäuschtesGriechenlandA us der lähmenden Übergangs-zeit eines unnatürlichen Zweck-bündnisses zwischen Konservati-ven und Kommunisten geht diegriechische Innenpolitik chaoti-schen Verhältnissen entgegen.Mitsotakis und seine Neue Demo-kratie haben die absolute Mehrheitabermals verfehlt. Damit ist dieHoffnung geschwunden, daß Grie-chenland endlich eine handlungs-fähige und integre Regierung be-kommt, die seine längst verlorenewirtschaftliche Stabilität zurückge-winnen könnte.

Dem im Juni abgewählten Regie-rungschef Papandreou haben dieWähler der Sozialistischen Bewe-gung nicht verübelt, daß er sichdemnächst vor Sondergerichtenverantworten muß. Seine Populari-tät scheint trotz der Korruptions-und Abhörskändale ungebrochen!Dagegen mußte die kommunisti-sche „Vereinigte Linke" den Paktmit Mitsotakis büßen. Ihr Versuch,sich als reinigende Kraft zu profilie-ren, enttäuschte viele ihrer Wähler.Nach dieser Quittung werden esdie Kommunisten wohl nicht wa-gen, das Bündnis mit den Konser-vativen fortzusetzen. Aber auchmit Papandreou haben sie wenigim Sinn, da sie fürchten müssen,von den Sozialisten aufgesogen zuwerden...Insgeheim hatten sie .ge-hofft, nicht noch einmal Züngleinan der Waage zu sein. Doch dieseRolle werden sie nun wohl oderübel spielen müssen.

Eine neue Periode der politi-schen Unsicherheit ist Gift für diegriechische Wirtschaft. SteigendeInflation, hohe Arbeitslosigkeit unddrohender Sfaatsbankrott habendas Land schwer geschädigt. Ter-roranschläge begleiten den Macht-kampf der fanatisierten Gruppen.Auch nach dieser Wahl dürfte derenttäuschte Nato- und EG-Partnervon einer Regierung mit Autoritätund langem Atem leider weit ent-fernt sein.. • Achim v. Roos

Das Zitat:„Man hält mich für mürrisch, weilich keine Dummkopfe ertrage.Aber muß man,sich denn wirklich,vpn solchen Leuten die Zeit steh-len lassen?" .

Der spanische Literatur-Nobel-preisträger Camilo Jose Cela

DDR-Reisegesetz: Wieder werden die Menschen vertröstet

Die bürokratische MauerVon unserem Mitarbeiter Peter Gärtner, Berlin

Wi,ieder einmal werden dieMenschen in der DDR vertrö-stet. Noch am Wochenende for-derten sie auf Transparentenund Spruchbändern „Ohne Visavon Berlin bis Pisa". Doch dar-aus scheint mal wieder nichts zuwerden. Der lang erwartete Ent-wurf für ein neues Reisegesetz,der gestern veröffentlicht wur-de, ist ganz nach dem alten real-sozialistischen Motto ausgefal-len: Alles wird gewährt, dochnichts ist selbstverständlich. 28Jahre nach der Abriegelung derGrenzen wird vor der Reisefrei-heit erst einmal eine bürokrati-sche Mauer aufgerichtet. 30Tage Wartezeit auf eine ver-bindliche Entscheidung - das istdoch etwas lang.

Neu ist allerdings, daß dieBürger jetzt darüber diskutierendürfen. Nach „breiter öffentli-cher Aussprache" soll der Ge-setzentwurf im Laufe des De-zembers der Volkskammer zurVerabschiedung zugeleitet wer-den. Erste Reaktionen zeigenvor allem aber, daß die Geduldder Menschen längst erschöpftist. Wieder sollen wohl ganzePersonenkreise im Netz der Be-hörden stecken bleiben, siehtman von den vom Reisen ohne-hin ausgeschlossenen „Geheim-nisträgern" ab. Und das von vie-len DDR-Bürgern erträumteWeihnachtsiest unter einemWest-Baum muß auf das nächsteJahr verschoben werden.

Devisenfrage ungeklärt

Völlig ungeklärt ist dabei wei-terhin, mit wieviel Devisen dieReisenden künftig von ihremStaat ausgestattet werden. Bis-lang durften die Menschen zwi-

schen Ostsee und Erzgebirgeeinmal im Jahr ein „Almosen"von 15 Mark im Verhältnis 1:1bei der DDR-Staatsbank umtau-schen. Die Rückfahrkarte mitder Eisenbahn, egal wohin, gabes ebenfalls für DDR-Mark. Undin der Bundesrepublik erhält je-der Bürger des zweiten deut-schen Staates ein einmaliges„Begrüßungsgeld" in Höhe von100 DM. Um wirklich ein paarTage im italienischen Pisa zuverbringen, reicht das wederhinten noch vorn.

Recherchen umsonst

Die Partei- und Staatsführungwill die Atempause, bis das neueReisegesetz wohl noch vor Jah-resfrist in Kraft treten wird, nut-zen, um zu sondieren, wo undwieviel an sogenannter Valuta-Mark überhaupt locker zu ma-chen ist. Aber im Grunde ge-nommen können sich die Funk-tionäre die Recherchen sparen.Die DDR ist allein mit 7 Milliar-den Dollar bei internationalenBanken verschuldet, brauchthänderingend Investitionsmittelfür neue (westliche) Technolo-gie, um die veraltete Wirtschaftflott zu machen. Jede West-Mark für freies Reisen - manmuß es so drastisch formulieren- ist eine zuviel, um eine Ent-wicklung zur Verarmung nachpolnischem Muster zu verhin-dern.

Es scheint, als habe die SED-Führung auch unter Egon Krenznoch immer nicht begriffen, daßdie Menschen in der DDR ihrLeben selbst in die Hand neh-men wollen und dies auch kön-nen. Ungarn und Polen habenbinnen kürzester Zeit gelernt,

wie und wo man Devisen herbe-kommt. Und die Deutschen inder DDR haben dabei noch denVorteil, daß die DM ohnehinseit Jahren im eigenen Land alsanerkannte und hochgeschätzteZweitwährung existiert. Zudemhaben Hunderttausende Gutha-ben auf Banken zwischen Kielund München, andere Devisen-konten bei der DDR-Staatsbank.

Doch den italienischen Traumhaben ohnehin die wenigsten.Den meisten reicht einfachschon, nach 28 Jahren mal wie-der nach West-Berlin zum Hin-schauen und Einkaufen zu fah-ren. Die DDR-Bürger bleibenmit den Beinen auf dem Teppich.Zumal es der Mehrheit, die imLand bleiben will, längst nichtmehr nur um Reisefreiheit geht.Was sie erwartet, sind wirklichetiefgreifende strukturelle Ver-änderungen im gesellschaftli-chen Leben - und diese sofort.Ansonsten könnte das Reisege-setz vor allem dafür benutztwerden, die eigene Ausreise zubeschleunigen.

Drei bis sechs Monate

Denn nach der neuen Vorla-ge, die auch die Übersiedlung inden Westen vorsieht, soll eineEntscheidung über die Ausreisevon DDR-Bürgern noch immerdrei bis sechs Monate dauern.Zu lange, um die Massenfluchtüber die CSSR und Ungarn auf-zuhalten. Viel Zeit bleibt derSED-Führung schließlich nichtmehr, um eindeutige Reformsig-nale zu setzen. Und der Entwurffür das neue Reisegesetz ist kei-neswegs eine Ermutigung, eherein Musterbeispiel für längstüberholtes altes Denken.

„Und wenn zur Bescherung keiner mehr da ist?" (Aus: Westdeutsche Allgemeine / Pielert)

Heute beginnen die Wahlen in Namibia

Abschied von der FremdherrschaftVon AP-Korrespondent Greg Myre

In demokratischer Wahl soll abheute in der letzten KolonieAfrikas eine Nationalversamm-lung gewählt werden, die eineVerfassung ausarbeitet und eineRegierung bildet. Wenn der Pro-zeß nicht noch in letzter Minutescheitert, wird Namibia nachdrei Jahrzehnten kaiserlich-deutscher und sieben Jahrzehn-ten südafrikanischer Herrschaftim April 1990 unabhängig.

Die Zukunftsaussichten sindgut: Namibia ist reich an Roh-stoffen und könnte mit ausländi-scher Hüte eine verarbeitendeIndustrie errichten, die zusam-men mit der Landwirtschaft die1,2 Millionen Einwohner er-nährt. Und die Südwestalrikani-sche Volksorganisation (Swa-po), die wahrscheinlich als Sie-ger aus den Wahlen hervorgeht,hat frühere Forderungen nacheiner Planwirtschaft aulgegebenund will alle Gruppen am Auf-bau beteiligen.

Den Weg in die Unabhängig-keit öffnete ein Abkommen ausdem Jahre 1988, in dem sichKuba verpflichtete, alle Trup-pen aus Angola abzuziehen, undSüdafrika Namibia die Freiheitversprach. Seit April 1989 istdie UNO-Beobachtergruppe imLand, die die Einhaltung allerVereinbarungen und die Wahlvom 7. bis 11. November über-wachen soll. Ihr gehören rund6000 Soldaten, Polizisten undVerwaltungsexperten aus ei-nem Dutzend Staaten an, darun-ter auch 50 Angehörige desBuhdesgrenzschutzes. Aber dieUNO-Gruppe steht nur nebendem südafrikanischen General-Administrator Louis Pienaar,der Namibia im Auftrag Pretori-as regiert.

Ihren stärksten Rückhalt hatdie Swapo im Norden des Lan-des, im Ovambo-Stamm, dergrößer ist als alle anderen neunStämme zusammen. Einziger

größerer Konkurrent ist die De-mokratische Turnhallen-Alli-anz (DTA), der aber das Odiumeiner „Marionette Südafrikas"anhängt, weil sie mit Hilfe Pre-torias gegründet wurde.

Die Persönlichkeit des Swapo-Führers Sam Nujoma, der wahr-scheinlich Namibias erster Prä-sident werden wird, erwecktnicht nur Vertrauen. Der Sohneines Wanderarbeiters, der überdie Gewerkschaftsarbeit zur Po-litik kam, gründete 1958 mit an-deren die VolksorganisationOvamboland, aus der die Swapohervorging. Ausländische Jour-nalisten und Politiker schilder-ten den heute 60jährigen mehr-heitlich als sehr schlicht den-kenden Menschen, der entwederKlischees wiederhole oder aberunüberlegt rede. Seine Stärke seies, zwischen konkurrierendenFraktionen einen Konsens zuvermitteln und sich mit klugenBeratern zu umgeben.

DDR-Flüchtlinge:

„Reisegesetznützt nichts"Von M. Präcklein (dpa)

LJie Veröffentlichung desEntwurfs für ein neues Reise-gesetz hat offenbar kaum ei-nen fluchtwilligen DDR-Bür-ger von seinen Übersied-lungsplänen in die Bundesre-publik abgehalten. LangeSchlangen von Trabbis ste-hen auch am Montag nach-mittag noch vor dem ober-fränkischen GrenzübergangSchirnding. Stündlich wer-den weit über 100 Personenabgefertigt. „Das neue Reise-gesetz nützt nichts", ist dieStimmung im Rotkreuz-Zeltbei einem Teller voll heißerNudelsuppe.

„Was bringt uns das Recht,jährlich 30 Tage in ein x-be-liebiges Land der Welt reisenzu können, wenn wir nur 18Tage Urlaub haben?", fragtein 35jähriger Kfz-Schlosser.Es fehlt der DDR an Devisen,um ihren Bürgern die Reisenauch finanziell zu ermögli-chen: „Mit 15 Mark pro Tagkommen wir nicht weit. Daliegen wir ja doch wieder nurden Verwandten im Westenauf der Brieftasche."

Die Hoffnung auf grundle-gende Reformen im DDR-Sy-stem ist nicht sehr groß beiden Neuankömmlingen: „Daändert sich nichts in fünf biszehn Jahren." Zu tief sitztetwa bei einem 22jährigenMonteur das Mißtrauen ge-genüber Behörden und Par-teiapparat: „Der Krenz hat imPrinzip dieselbe Machtfüllewie der Honecker. Da hatsich nichts geändert."

Einfach unzufrieden

„Es geht nicht um das feh-lende Obst und die fehlendeSchokolade", ergänzt derKfz-Schlosser. Er hofft, seineFrau - eine „Geheimnisträge-rin" bei der NationalenVolksarmee - und seine Kin-der eines Tages nachholen zukönnen. „Wir sind einfachunzufrieden." Im Westen er-warten sie einfach „mehrMöglichkeiten", arbeits- undfreizeitmäßig und bezüglichder gesellschaftlichen Akti-vitäten.

Eine mögliche Rückkehrist für kaum einen im Zelt einThema, selbst dann nicht,wenn die SED ihr Machtmo-nopol aufgeben sollte, waskaum einer annimmt: „Esmuß auch wirtschaftlich vor-an gehen."

Die Stimmung am deutsch-tschechoslowakischenGrenzübergang Schirndingist lange nicht so euphorischwie noch vor Wochen in Pas-sau oder später am Bahnhofin Hof. Daran ist nicht nurdas naßkalte Wetter schuld.„Es besteht für die Flüchtlin-ge kein Risiko mehr", be-gründet Polizeihauptkom-missar Egid Osiander vomBundesgrenzschutz dienüchterne Atmosphäre.

CSSR / Bürger fragen:

Letztes Bollwerkdes Stalinismus?Von Manfred Hees (AP)

Oeit Wochen ziehen sie durchsLand: Flüchtlinge aus der DDRim Bruderland Tschechoslowa-kei. „Flüchtlinge kommen in dieCSSR. Das ist ein Anachronis-mus", sagt ein junger Prager bit-ter. „Hier wird jeder niederge-knüppelt, der nach Reformenruft, und gleichzeitig fliehenMenschen vor einem ähnlichenRegime zu uns. Und jetzt kom-men sie auch noch auf diesemWeg zur geforderten Freiheit,und im Land gibt es plötzlichReformbewegungen", so eineweitere Meinung am Stamm-tisch eines Bierlokals in der Pra-ger Innenstadt.

Die seit September über dieTschechoslowakei und speziellPrag hereingebrochene Flucht-welle von DDR-Bürgern hat inder CSSR gemischte Gefühleausgelöst. Die Stimmung reichtvon ehrlicher Anteilnahme undHilfsbereitschaft bis hin zu offe-ner Ablehnung und zum neidi-schen Blick ins Nachbarland mitseinem „Ostberliner Herbst".„Im August 1968 waren dochDDR-Truppen dabei, als sie denPrager Frühling niedergewalzthaben. Und jetzt sollen wir ih-nen auch noch helfen", ist zuhören. Die Verbitterung in Tei-len der Bevölkerung ist groß.

„Am Samstag vor einer Wo-che haben sie bei uns 10 000 Re-formwillige mit Schlagstöckenvom Wenzelsplatz vertrieben,und an diesem Samstag demon-strieren eine Million Menschenin Ostberlin - versteh' da einernoch den realen Sozialismus",sinniert ein Heizer über seinemBier und schüttelt nur noch denKopf. „Bleiben wir als letztesBollwerk des Stalinismusübrig?" Diese Frage schwingt beiallen Diskussionen mit.

Eher teilnahmslos

Trotz der Ereignisse in Ost-Berlin und ihren Auswirkungenauf die Tschechoslowakei, dieein Transitland für Flüchtlingewurde: Der Funke scheint nochnicht übergesprungen zu sein.Die meisten Tschechoslowakenverfolgten die Menschenkara-wanen durch ihr Land eher teil-nahmslos. Wie schon zuvor fürdie Menschenmengen in derBonner Botschaft in Prag ist dasInteresse eher gering; wenn vor-handen, beschränkt es sich eherauf die menschliche Dimension.„Die vielen Menschen in derBotschaft, man muß wohl irgendetwas tun", so die übliche Be-merkung der Prager Taxifahrer,wenn Fahrgäste mit dem ZielBonner Botschaft einsteigen.

Vereinzelt kamen in den ver-gangenen Tagen immer wiederBürger zur Botschaft, die Le-bensmittel oder Kleidung brach-ten, doch im Gegensatz zur er-sten Fluchtwelle Anfang Okto-ber gab es keinen offenen Beifallmehr. Damals hatten PragerBürger die Flüchtlinge und ihre„Freiheit"-Rufe auf den Straßenmit Applaus bedacht und warendaraufhin von Spezialeinheitender Polizei vertrieben worden.

Presse-Echo

Das Thema DDR beherrscht weiter dieKommentarspalten

(Ludwigshafen)Christa Wolfs Appell - „Stell

dir vor es ist Sozialismus undkeiner geht weg" - ist die Lo-sung, durch Demonstrationenund Diskussionen vor Ort dieLähmung abzuschütteln, Bür-gerrecht und Bürgerpflicht inwirklich demokratischer Weiseeinzuklagen, durchzusetzenund wahrzunehmen. Im Klar-text heißt dies, eine Partei, diesich selbst so diskreditiert hatwie die SED, muß ihre Füh-rungsrolle zur Disposition stel-len. In Polen und Ungarn habendie Kommunisten ihr Machtmo-nopol verloren. Die SED-Versu-che, durch lauwarme Reforman-kündigungen den allumfassen-den Machtanspruch der Parteibehaupten, werden kaum grei-fen.

Das DDR-Volk wird nie mehrwie früher bei staatlich angeord-neten Kundgebungen derStaats- und Parteiführung hul-digen. Dieses Volk zwischenElbe und Oder ist nämlich gera-

de dabei, die niederdrückendenLasten abzuwerfen und einenaufrechten Gang zu erlernen.

(Oberndorf)Die Bürger der DDR proben

den demokratischen Aufbruch.Großer Zorn, viel Hoffnung undnoch mehr Mißtrauen bewegensie zum Protest. Spätestens seitder Massendemonstration vomWochenende und der neuerli-chen Fluchtwelle ist nichtsmehr wie vorher. Der SED drohtein Orkan des Unmuts, der diePartei von der politischen Büh-ne fegen könnte. Punktuelle Re-formen, die das bestehende Sy-stem verbessern, und die Ablö-sung von Honeckers alter Gardereichen kaum noch aus. Eine all-zu lange gegängelte und unter-drückte Bevölkerung meldetsich so unüberhörbar zu Wort,daß es fraglich erscheint, ob derneue Staats- und ParteichefKrenz die lange aufgestauteWut noch einmal kanalisierenkann. Für Glasnost und Pere-stroika ä la Gorbatschowscheint es zu spät.

Page 72: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINE

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMEINEUNABHÄNGIG

Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 261 • Mittwoch, 8.11. 1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

Sozialwohnungsbau

Bund erhöhtMittel auf2 Mrd. pro Jahr

Bonn (dpa/AP). Die BonnerKoalition hat am Dienstag einneues wohnungspolitisches Pa-ket geschnürt. Nach den Okto-ber-Beschlüssen über kurzfristi-ge Ausbaumaßnahmen stehenjetzt mittelfristig wirkende Maß-nahmen im Vordergrund. Ver-einbart wurde, die Bonner Mittelfür den sozialen Wohnungsbauvon 1990 bis 1993 auf jährlichzwei Milliarden DM zu erhöhen.Die Länder sollen einen Beitragin gleicher Höhe leisten. Bisherwar in der Finanzplanung desBundes für diesen Zeitraum einBetrag von nur 4,5 MilliardenDM vorgesehen.

Die Koalitionsspitze einigtesich ferner darauf, Zwischenfi-nanzierungskredite für Bauspa-rer mit 2,5 Prozent zu subventio-nieren und für private Bauherrenbereits in den ersten zehn Jahreneine Abschreibung von 85 Pro-zent zuzulassen. Für den studen-tischen Wohnungsbau werdenim nächsten Jahr 300 MillionenDM bereitgestellt, bei Bedarf imFolgejahr erneut.

120 000 Bewilligungen?

Nach Angaben von Bundes-bauministerin Gerda Hassel-feldt (CSU) sollen nunmehr von1990 an jährlich etwa 120 000Sozialwohnungen bewilligt wer-den, 20 000 mehr als bisher ge-plant. In Kreisen der Koalitiongeht man davon aus, daß beiUmschichtung der Baukapazitä-ten bereits 1990 insgesamt rund400 000 neue Wohnungen - ein-schließlich der freifinanzierten -genehmigt werden.

Im Mietrecht werden Kündi-gungsmöglichkeiten in einigenBereichen gezielt erleichtert, beiFerienwohnungen Zeitmietver-träge zugelassen. Erleichterun-gen im Baurecht und bei den Ge-nehmigungsverfahren werdenauf vier Jahre befristet. Dazusoll im Frühjahr 1990 ein Gesetzgeschaffen werden. Vor allemwolle der Bund aber auch zumBau von Notunterkünften fürdie Aus- und Übersiedler beitra-gen, sagte die Ministerin.

Feriendörfer

In Luftgesprengt

Korsische Sepa-ratisten haben zweiim Bau befindlicheTouristenanlagenmit 135 Wohnungenbei Porto Vecchioan der Südküste derMittelmeerinsel ge-sprengt. Die Separa-tisten hatten die In-vestoren vor Neu-anlagen gewarnt.„Blick in die Zeit".

Für Klinsmann

Angebotbis 1994

Super-Angebotfür Jürgen Klins-mann (Foto): Deritalienische Fußball-meister Inter Mai-land möchte den 25Jahre alten deut-schen Nationalstür-mer, dessen Vertrag1992 ausläuft,schon jetzt bis 1994an sich binden. Sie-he Sport.

Jugendliteratur

Preiseverliehen

Zum 33. Mal wur-de der Jugendlitera-turpreis vergeben.Die Bilderbuch-Aus-zeichnung erhieltenNele Maar/VerenaBallhaus, für ihr Kin-derbuch wurde IvaProchazkova geehrt,für Jugendbücher In-geborg Bayer undCynthia Voigt. SieheKultur.

Versicherungen

„Unnötig,zu teuer"

Die Bundesbürgergeben nach Schät-zungen der Ver-braucherverbändejährlich Milliarden-beträge für unnötigeoder zu teure Versi-cherungen aus. Vorallem vor Kapital-Lebensversicherun-gen wird gewarnt.Siehe Wirtschafts-teil.

DDR-TV:

Leipzigverfällt

Das DDR-Fernse-hen hat die Wendegeschafft: Wo bis-her der „SchwarzeKanal" Karl-Eduardvon Schnitzlers lief,wurde am Montagschonungslos derVerfall Leipzigs ineiner Reportagedargestellt. Der Be-richt steht auf „The-men des Tages."

Geplantes Reisegesetz praktisch gescheitert / Bleibe-Appell an Bürger

DDR-Regierung zurückgetretenOst-Berlin (AP/dpa). Unter dem Druck des anhaltenden

Flüchtlingsstroms und heftigster Kritik auch aus den eige-nen Reihen ist die Regierung der DDR am Dienstag abendgeschlossen zurückgetreten. Mit seinem Schritt verband derMinisterrat einen dringenden Appell an alle Bürger, im Landzu bleiben. Dem am Montag veröffentlichten Entwurf für ein

neues DDR-Reiserecht wurden bereits gestern keine Chan-cen mehr auf Verwirklichung eingeräumt: Der Verfassungs-und Rechtsausschuß der Volkskammer und die im Parla-ment vertretene Freie Deutsche Jugend (FDJ) wollen dieRegierungsvorlage nicht akzeptieren und fordern weitausfreiere Regelungen.

Mit der Rücktrittserklärungdes Ministerrats wurde die vonDDR-Staats- und ParteichefKrenz angekündigte umfassen-de personelle Erneuerung derFührungsspitze in Ost-Berlinüberraschend schnell eingelei-tet. Vor der heute beginnendenSitzung des SED-Zentralko-mitees hatte gestern abend auchdas SED-Politbüro in Ost-Berlinüber personelle Änderungendes Parteiführungsorgans bera-ten. Beobachter rechnen damit,daß auch dieses Gremium ge-schlossen zurücktreten wird.Die SED-Parteihochschule for-derte einen Sonderparteitagnoch in diesem Jahr. Eine vor-gezogene Sitzung der DDR-Volkskammer, dem Parlamentdes Landes, in der nächsten Wo-che wird nicht mehr ausge-schlossen.

Die DDR-Regierung, an derenSpitze Willi Stoph (75) steht,wird ihre verfassungsmäßigenAufgaben noch bis zur Abberu-

fung und der Wahl eines neuenMinisterrates durch die Volks-kammer wahrnehmen, erklärteder erste Ostberliner Regie-rungssprecher Wolfgang Meyeram Abend vor Journalisten.

„Brauchen alle und jeden"

In der von Meyer verlesenenErklärung des Ministerratesheißt es: „Jeder, der sich mit derAbsicht trägt, die DDR zu ver-lassen, soll seinen Schritt noch-mals überlegen. Unser soziali-stisches Vaterland braucht alleund jeden." Die Regierung wen-de sich an alle Bürger der DDR,„in dieser politisch und ökono-misch ernsten Situation alleKräfte dafür einzusetzen, daßalle für das Volk, die Gesell-schaft und die Wirtschaft le-bensnotwendigen Funktionenaufrechterhalten werden".

Im DDR-Fernsehen hat sichder Generalsuperintendent der

evangelischen Kirche von Ber-lin-Brandenburg, Krusche, ImZusammenhang mit dem Rück-tritt der DDR-Regierung fürschnellstmögliche „freie, gehei-me Wahlen" ausgesprochen0^traue der Volkskammer in ihrerjetzigen Form nicht zu, eineneue Regierung zu wählen, sodaß „in der Bevölkerung Ver-trauen wächst", erklärte er ineiner Diskussionsrunde. DieSondersendung war angesichtsdes Massenexodus von Zehn-tausenden von DDR-Bürgernkurzfristig ins Programm ge-nommen worden. Sie trug denTitel: „Warum wollt ihr weg?"

Gegen Visumpflicht

Zu dem Entwurf für ein neuesReisegesetz, der ursprünglichbis zum 20. Dezember von derVolkskammer verabschiedetwerden sollte, erklärte der Ver-fassungs- und Rechtsausschuß

nach Angaben der DDR-Nach-richtenagentur ADN, die Be-stimmungen würden nicht derErwartungshaltung der Bürgerund damit auch nicht einer an-gestrebten Wiedererlangungder politischen Glaubwürdig-keit des Staates gerecht.

Generell sollte auf die Visum-pflicht bei Privat- und Dienstrei-sen verzichtet werden. Auchsollte der Bereich Ausreise ineinem anderen Gesetz geregeltwerden. Zudem sollten der Zu-gang zu Devisen geklärt, Ableh-nungsklauseln für den Reisepaßneu gefaßt und die zeitliche Be-schränkung auf 30 Tage über-dacht werden.

Das FDJ-Sekretariat erklärtelaut ADN, es sei unverständ-lich, daß der Entwurf „so vielebürokratische Regelungen undInkonsequenzen" enthalte.

Fortsetzung nächste SeiteSiehe „Zum Tage"

Massenansturm von DDR-Bürgern

Flüchtlingslager„brechend voll"

München (dpa). Der Massen-ansturm von DDR-Flüchtlingenüber die offene CSSR-Grenzedroht die Aufnahmekapazitätder 50 Erstaufnahmelager inBayern zu sprengen. „Fast allesind brechend voll", hieß esdazu beim Bundesgrenzschutz(BGS). Allein bis gestern abendsuchten nach Schätzungen derBehörden seit dem frühen Mon-tag morgen knapp 15 000 DDR-Bürger eine Unterkunft in derBundesrepublik.

Bis heute morgen rechnete derGrenzschutz mit weiteren 6000bis 8000 Flüchtlingen. Die Zahlder Übersiedler, die über Prag inden Westen reisen wollen, hatsich jetzt etwa bei 4000 pro Tageingependelt. Täglich bringendrei Sonderzüge die Flüchtlingenach Schirnding. Da auch derZustrom von DDR-Bürgern mitAutos und Bussen nicht abrei-ßen werde, sollen die Lagerschnell geräumt und weiterePlätze geschaffen werden.

So wurden gestern in Bayernneue Erstunterkünfte für über500 Ubersiedler eingerichtet.Auch im hessischen Schwar-zenborn sollen auf einem Trup-penübungsplatz 800 Flüchtlinge

untergebracht werden. Eben-falls im Schwalm-Eder-Kreistrafen gestern in.einer Kasernein Fritzlar DDR-Übersiedler ein- man hat sich dort auf 350 ein-gestellt. Dazu kommen laut BGSin Hessen weitere Plätze, die zu-nächst in Fulda, Hünfeld undBad Hersfeld Plätze in BGS-Un-terkünften freigemacht werden.„Dennoch sind wir weiter aufder Suche nach Unterbrin-gungsmöglichkeiten", umriß einBGS-Sprecher die Situation.

Um die Lager schnell zu räu-men, wurde das Aufnahmesy-stem vereinfacht: Mit Autos an-kommende DDR-Bürger wurdenin andere, nahegelegene Unter-künfte dirigiert. Zu dem Auf-nahmeverfahren wurde nur einFamilienmitglied vorgeladen,das Begrüßungsgeld überreichtedas Rote Kreuz.

Die Gesamtzahl der Flüchtlin-ge seit Öffnung der CSSR-Gren-ze am Freitag hat sich bis ge-stern abend, auf fast 35 000 er-höht. Seit Öffnung der ungari-schen Westgrenze am 11. Sep-tember sind nach BGS-Angabenfast 100 000 DDR-Bürger in dieBundesrepublik gekommen.Siehe „Themen des Tages"

UdSSR: Revolutionsfeiern von Protesten begleitetDie Feiern zum 72. Jahrestag

der Oktoberrevolution sind ge-stern in der Sowjetunion erst-malig von Protesten begleitetworden. In Moskau zogen in ei-ner erstmals von den Behördengenehmigten Gegendemonstra-tion mehr als 10 000 Oppositio-nelle unter der Losung „72 Jahreauf dem Weg ins Nirgends"durch die Stadt (Foto). In der

moldawischen HauptstadtKischinjow verhinderten Tau-sende von Bürgern die Militär-parade und trieben die auf demSiegesplatz versammelte Partei-führung in die Flucht. Die Mos-kauer Gegendemonstration warvon einer Wählergruppe umden Reformpolitiker Boris Jelzinorganisiert worden. Die Milizverweigerte einen Marsch zum

Roten Platz. In einem noch niedagewesenen Fernseh-Inter-view von der Tribüne des Lenin-Mausoleums sprach KremlchefGorbatschow von einem „Da-moklesschwert" über seiner Re-formpolitik. Die Militärparadedauerte diesmal, statt wie frühermehrere Stunden, nur rund 15Minuten. Siehe auch Kom-mentar. (dpa-Funkbild)

Zum Tage

Auf den KnienUnerwartet kommt der Rücktrittdes DDR-Ministerrates (das ist dienominelle Regierung) nicht mehr,aber umstürzend ist der Vorganggleichwohl. Für die Rapidität derEreignisse fehlen einem inzwi-schen schon die Worte. Bricht derSED-Staat tatsächlich zusammen,und das innerhalb weniger Wo-chen? Gibt er sich selbst auf? Oderversucht das Regime, indem essich in seinen Repräsentanten sel-ber stürzt, nur wieder Boden unterdie Füße zu bekommen, und sei'seinen Boden ganz unten?

Das letztere ist zu vermuten. DieSED geht ihren Canossa-Weg, umin Sack und Asche zu retten, wasin angemaßtem Stolz nicht mehr zuretten ist. Und doch könnte es füralle Bußgänge und Gesten derSelbsterniedrigung schon zu spätsein. Wo die Irreführung der Men-schen über Jahrzehnte Herr-schaftsgesetz war, verfällt auchdas ehrlich Gemeinte dem Unglau-ben, solange es aus der gleichenQuelle kommt.

Systemreparatur ist dann nichtmehr möglich. Die einmal in Ganggekommene Entwicklung, die manmit Fug und Recht als eine revolu-tionäre zu betrachten hat, gehtüber solche Versuche hinweg. Inder DDR findet eben dies statt,eine Revolution. Und obschon sieunblutig, ja gewaltlos verläuft, teiltsie mit allen Revolutionen dasSchicksal des Ungewissen Aus-gangs. Lothar Orzechowski

IG Metall-Forderung

8 - 9% mehr und35-Std.-Woche

Stuttgart (dpa). In der bundes-deutschen Metallindustrie liegtjetzt die erste exakte Zahl fürdie Tarifrunde 1990 auf demTisch: Die Gewerkschaft soll inBaden-Württemberg acht bisneun Prozent mehr Lohn undGehalt sowie die Einführung der35-Stunden-Woche als „Nor-malarbeitszeit" fordern, schlugder Stuttgarter IG Metall-Be-zirksleiter Walter Riester ge-stern vor der Großen Tarifkom-mission in Leinfelden bei Stutt-gart vor. Der derzeitige Tarif-vertrag in der Metallindustrielauft zum 31. März 1990 aus.

In den baden-württembergi-schen Metallbetrieben mit ihrenrund einer Million Beschäftigtensoll dieser Vorschlag in denkommenden Wochen intensivdiskutiert werden.

Nachtfahrverbot

EG akzeptiertVorschlag Wiens

Brüssel (dpa). Die Europäi-sche Gemeinschaft (EG) hat dievon Österreich angebotenenAusnahmeregelungen bei derEinführung des Nachtfahrver-bots für Lkw akzeptiert. EinSprecher der EG-Kommissionsagte, Vergeltungsmaßnahmengegen das zum 1. Dezember inKraft tretende Fahrverbot seien„nicht aktuell". Bundesver-kehrsminister Zimmermann(CSU) hatte Sanktionen gegenWien gefordert, im EG-Ver-kehrsministerrat aber kaum Un-terstützung gefunden. Die Aus-nahmeregelung nannte er ge-stern unzureichend. .

Sie sieht vor, daß Lastwagen,die verderbliche Waren, Milch,lebende Tiere oder Zeitungentransportieren, für die Dauer voneinem halben Jahr vom'Nacht-fahrverbot ausgenommen sind.Ab 1. Juni 1990 können Spedi-teure eine Ausnahme für weiteresechs Monate beantragen.

Page 73: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 261 Politik Mittwoch, 8. November 1989

Namen undNachrichten

Streß im TestDie Ursachen für Streß von Be-amten und An-gestellten im öf-fentlichenDienst läßtNordrhein-Westfalens In-nenministerHerbertSchnoor durchdas , Max-Planck-Institütuntersuchen.Etwa 1300 Be-dienstete desLandes werden anonym überdas Klima an ihrem Arbeits-platz, Arbeitsbedingungen, Me-dikamentenkonsum sowieTrink- und Rauchgewohnheitenbefragt, so ein Sprecher des Mi-nisteriums. Die Umfrage solledazu beitragen, streßminderndeMaßnahmen zu entwickeln undErkenntnisse darüber zu ge-winnen, wie Mitarbeiter rück-sichtsvoller geführt werdenkönnen.

Carter mahnt BushNach Ansicht des früheren US-

PräsidentenJimmy Carter(Bild) hat dieRegierung derUSA noch kei-ne überzeugen-de Antwort aufdie Politik dessowjetischenStaats- undParteichefs Mi-chail Gorba-tschow gefun-den. In einer

Rede vor führenden Persönlich-keiten aus Politik und Wirt-schaft forderte er PräsidentBush auf, trotz der wachsendenEigenständigkeit Europas auchkünftig die Führungsrolle in derwestlichen Allianz für sich zubeanspruchen.

Hahn statt Roter SternEin Wetterhahn soll statt desbisherigen Roten Sterns auf derKuppel d~es"'neüg6tiscKäri Parla-mentsgebäudes in Budapest dieneueYZeit anzeigen." Die Pafla-menfsverwaltujig hat eine Aus-schreibung für die Demontagedes 1,6 Tonnen schweren undim Durchmesser drei Meter gro-ßen kommunistischen Symbolsveröffentlicht. Der eiserne Hahnzierte, die Kuppel bereits vordem Roten Stern.

Smog in DDR-MedienIn Leipzig, Ost-Berlin und aride-ren Städten der DDR werdenjetzt die Smogwerte öffentlich inden Medien bekanntgegeben.Da Ost-Berlin-nicht über die ge-eignete Technik verfügt, um dieVerschmutzung der Luft durchStaub und Stickoxide ,zu mes-sen, bot der Westberliner Senatan, mit entsprechenden Gerätenauszuhelfen. Nach Auskunftvon Senatssprecher WernerKolhoff soll bei einem Treffenmit dem Umweltministerium derDDR über gemeinsame Schrittein Smog-Situationen und zurLuftreinhaltung besprochenwerden.

Lubbers-Team vereidigtDie niederländische KöniginBeatrix hat ge-stern in DerHaag die heueRegierurig un-ter dem bisheri-gen christde-mokratischenMinisterpräsi-denten RuudLubbers (Bild)vereidigt. Dieneue; Mitte-Links-Koalitionstellt die dritteder Seit 1982 von Lubbers ge-führten Regierungen. Bisherführte der Christdemokrat eineMitte.-Rechts-Koalition.

Nicht ins WarenhausDie FDP-GeneralsekretärinCornelia Schmalz-Jacobsen willnicht als Verkäuferin in einemWarenhaus arbeiten. Eine ent-sprechende Einladung der Ge-werkschaft Handel, Banken undVersicherungen (HBV) zu ei-nem Praktikum, um die Arbeits-bedingungen' kennenzulernen,lehnte sie als „Effekthascherei"ab. Die HBV reagierte mit demAngebot auf die Forderung derPolitikerin, das Ladenschlußge-setz, völlig abzuschaffen.

Kanzler morgen nach Polen / Streitigkeiten

Weiter Tauziehen um ErklärungBonn (dpa). 48 Stunden vor

Beginn der als „historisch" be-zeichneten Visite waren die Vor-bereitungen der sechstägigenPolen-Reise von BundeskanzlerKohl gestern immer noch nichtabgeschlossen. Nach Auskunftvon Kanzlerberater Teltschikhat Warschau noch den Wunschgeäußert, aus dem Entwurf dergeplanten gemeinsamen Erklä-rung von Kohl und Ministerprä-sident Mazowiecki eine Passagezu streichen, mit der die katholi-sche Kirche gebeten werden soll,in Polen Messen in deutscherSprache anzubieten. Dazu liegtinzwischen ein neuer Formülie-rungsvorschlag aus Bonn vor.

Aus den Darlegungen Telt-schiks zu den Verhandlungenmit Polen wird deutlich, daß inder geplanten gemeinsamen Er-klärung umstrittene Fragen aus-geklammert werden sollen. So istin dem Text von einer deutschenMinderheit - wie das die deut-sche Seite zunächst wollte -

nicht ausdrücklich die Rede. Inder Rahmenvereinbarung wirdauch kein fester Betrag der deut-schen Kredithilfe für Polen ge-nannt, wie das Warschau zu-nächst plante.

Nach schwierigen internenBeratungen haben die parlamen-tarischen Geschäftsführer vonCDU/CSU und FDP am spätenDienstag abend in Bonn einenKompromiß zur Frage der

Heute ab 8.57 Uhr im ZDF: Debattezur Lage der Nation aus dem Bun-destag.

polnischen Westgrenze gefun-den. Nach dpa-Informationensoll ein Entwurf für einen Ent-schließungsantrag der Koali-tionsparteien zu diesem Pro-blem heute zunächst den Vor-ständen beider Fraktionen vor-gelegt und dann im Rahmen derDebatte über den Kanzler-Be-richt zur Lage der Nation in den

Bundestag eingebracht werden.In dem Antrag wird einerseits

die Rede von Bundesaußenmini-ster Genscher (FDP) vor derUNO-Vollversammlung in NewYork widergegeben, der sich fürden dauerhaften Bestand derOder-Neiße-Grenze ausgespro-chen hatte. Zum anderen wirdder rechtliche Standpunkt derCDU/CSU betont, wonach dieAnerkennung der polnischenWestgrenze im WarschauerVertrag die Bundesrepublik bin-det, von einem wiedervereinig-ten Deutschland aber bestätigtwerden muß.

Die Kontroverse in der Koali-tion war durch die SPD ausge-löst worden, die heute einen ei-genen Entschließungsantrag zudieser Frage einbringen will.Darin fordert die SPD den Bun-destag auf, sich Genschers Hal-tung zur Westgrenze Polens zueigen zu machen.Siehe auch „Themen desTages" und Kommentar

Friedlicher Ansturm auf Wahllokale in NamibiaDie Wahl zur verfassungsge-benden Versammlung in Nami-bia hat gestern mit einem friedli-chen Ansturm auf die Wahllo-kale begonnen. Die UNO-Erie-densmacht UNTAG war „über-rascht" von der Beteiligung der

Wähler, die bis zum Samstagtäglich zwölf Stunden Gelegen-heit haben, ihre Stimme abzuge-ben. UNTAG-Sprecher FredEckhard zeigte sich gegenüberJournalisten „erleichtert" i und„beeindruckt" von dem friedli-

chen Verhalten der Einwohner,die in glühender Hitze fünfStunden lang in Schlangen stan-den. Auf unserem Bild weist einPolizist schwarzen Wählern denWeg zum Stimmlokal.

(dpa-Funkbild)

DDR-Regierung zurückgetreten

Aggressive Stimmung bei DemoFortsetzung

Es sei dringend erforderlich,„daß umgehend Regelungenzum Erwerb von Reisezahlungs-mittelh, durch die Bürger undVarianten zu deren Erwirtschaf-tung zur Diskussion gestelltwerden", meinte die FDJ.

Der amtierende DDR-Finanz-minister Höfner hatte am Mon-tag abend einen Valutafonds zur,Ausstattung von DDR-Reisen-den mit Devisen ins Gesprächgebracht. In diesen Fonds könn-ten Westgeldeinnahmen einflie-ßen - unter anderem aus demZwangsumtausch und der Tran-sitpaüschale.

Während der gestrigen Bera-tungen des Politbüros prote-stierten rund 5000 meist jungeLeute gegen den von Bürger-rechtsgruppen beanstandetenWahlbetrug bei der Kommunal-

wahl vom 7. Mai. Sie skandier-ten: „Freie Wahlen, alle Machtdem Volke!". Die Stimmung waraggressiver als bei der Massen-demonstration am Samstag.Tausende pfiffen während desProtestzuges mit Trillerpfeifen.Die Polizei griff nicht ein. De-monstrationen gab es am Abendauch in Wismar (50 000 Teil-nehmer), Nordhausen (35 000)und Meiningen (20 000).

In einem offenen Brief ver-langte gestern die FDJ, das Zen-tralkomitee der SED müsse aufseiner Tagung prüfen, welchePolitiker „ihre politische Ver-antwortung nicht wahrgenom-men, ihre Macht und ihren Ein-fluß mißbraucht und sich da-durch diskreditiert haben"... Neben seiner Forderung nachÄnderung des Reisegesetzesverlangte der Verfassungs- und

Rechtsausschuß der Volkskam-mer am selben Tag auch einesofortige Plenarsitzung derVolksvertretung über die Kriseder DDR. Die Abgeordneten desAusschusses legten Vorschlägefür eine Veränderung derRechtsordnung der DDR vor,die die Rechtsgleichheit allerBürger garantiere. Nie wiederdürften basisdemokratischeEntwicklungen an der Volks-kammer vorbeilaufen.

Im Zusammenhang mit denDemonstrationen am 7. Oktoberin Karl-Marx-Stadt ist ein Er-mittlungsverfahren gegen einenVolkspolizisten eingeleitet wor-den. Bei der Konstituierung ei-nes Ausschusses zur Untersu-chung von Vorgängen bei demProtestmarsch wurde mitgeteilt,daß 15 Anzeigen gegen dieVolkspolizei eingegangen sind.

Herleshausen/Wartha (sff).Die Grenzkontrollorgane derDDR fertigen jetzt bei der Aus-reise schneller ab als bisher.Seit Montagfrüh berichtenPkw- und Lastwagenfahrer,daß die Kontrollen am Über-gang Wartha/Thüringen imVergleich zur bisherigen Pra-xis wesentlich großzügiger ge-handhabt würden. Nach Anga-ben eines Sprechers des Zollsam Grenzübergang Herleshau-sen (Werra-Meißner-Kreis)verkürzen sich dadurch auchdie Wartezeiten erheblich.

Freude herrscht zum einenbei den Reisenden. Rückbänkemüßten beim DDR-Zoll nichtmehr herausgeschraubt und

DDR/Grenze

Kontrollengelockertdie Motorhauben nicht mehrgeöffnet werden. Auch dasDurchwühlen des Kofferrau-mes unterbleibe; Ein DDR-Grenzer soll nach Aussagenvon Bundesbürgern den Um-schwung mit der Frage begrün-det haben, wonach man dennnoch suchen solle. Schließlichkönnte jetzt jeder DDR-Bürgerüber die CSSR ausreisen.

Auch bei den Transportfahr-zeugen wird die Ladung nichtmehr nach möglichen Flücht-lingen durchsucht, ebenso kei-ne Spürhunde mehr zur Fahn-dung eingesetzt, sondern zu-meist nur noch die Papierekontrolliert, wie dies auch aufwestlicher Seite üblich ist. DieGrenzer achten beim Rund-gang um die Lastzüge geradenoch darauf, ob alles ver-schlossen sei.

Ein Fernfahrer gab an, deneinzigen Straßenübergang zwi-schen Hessen und der DDR inlediglich fünf Minuten passiertzu haben. Bislang mußten dieTrucker oft mehrere StundenZwangspause einlegen.

KKW Brunsbüttel Hensel zurückgetreten

„Ganze Menge Neuer Zwist invon Problemen" Grünen-Fraktion

Kiel/Brunsbüttel (dpa/AP).Schleswig-Holsteins Energiemi-nister Jansen (SPD) hat die Er-laubnis zum geplanten Wieder-anfahren des KernkraftwerksBrunsbüttel (Kreis Dithmar-schen) an der Unterelbe verwei-gert. Bei der Jahresrevision desKraftwerks sei „eine ganzeMenge von Problemen aufge-deckt" worden, sagte Jansen amDienstag in Kiel. Aus techni-schen und juristischen Gründenverweigere er daher die geplan-te Wiederanfahrgenehmigungzum 12. November.

Der Minister verwies aufschadhafte und fehlendeSchrauben, große Leitungsrisseund die mögliche Gefahr vonLeitungsbrüchen am Druckge-fäß .des Siedewasserreaktors.Die Überprüfung habe ergeben,daß bereits ein Jahr nach einemAustausch 65 von insgesamtüber 200 Befestigungsschrau-ben an den sogenannten Isola-tionsventilen schadhaft sind.Die Ventile sollen bei einemRohrbruch verhindern, daß ra-dioaktiver Dampf aus dem Si-cherheitsbehälter strömt undzugleich eine Kernschmelze ein-tritt. '

Wegen der in Brunsbüttelfestgestellten Schäden ordneteBundesumweltminister Töpferdie Überprüfung von sechsKernkraftwerken in der Bundes-republik an.

4

Bonn (dpa). Die deutschland-politische Sprecherin der Grü-nen im Bundestag, Karitas Hen-sel (Foto), hat am Dienstag die-ses Amt nachscharfer Kritikan ihrem Frak- £•tionsvorstand .*"niedergelegt. ^Die Fraktions- £führung um VAntje Vollmer, f-'Helmut Lippelt |und Jutta Oe- Wsterle-Schwe- trin übe Zensur &<;und einen büro- *kratischen L~ AMachtanspruch aus, verteileMaulkörbe und verhindere dieWeiterentwicklung derDeutschlandpolitik der Grünen,schrieb sie in einer Mitteilung.

Hinter der Kritik von FrauHensel stecken neben persönli-chem Streit möglicherweiseauch die inhaltlichen Differen-zen in der Deutschlandpolitikder Grünen. Während FrauHensel dort die bisherige Posi-tion auf strikte Anerkennungzweier Staaten vertrat, bekann-ten sich zahlreiche andere Ab-geordnete zur Möglichkeit einernationalen Vereinigung.

In der Fraktion wurde die Er-klärung von Frau Hensel mit Be-troffenheit aufgenommen. Voll-mer und Lippelt wiesen die Kri-tik ihrer Kollegin aber zurück.

Zentralregister-Daten Ex-Botschafter

Bonn: Zugriff Kein Verfahrenfür Polizei gegen Schoeller

Wiesbaden (dpa). Für einendirekten Zugriff der Polizei aufDaten im Bundeszentralregisterhat sich BundesinnenministerSchäuble ausgesprochen. DieBeamten brauchten zur wirksa-men Bekämpfung von Straftatenschnelle Auskünfte aus Infor-mationssammlungen andererBehörden, erklärte dey Unions-politiker gestern zu Beginn einerArbeitstagung des Bundeskri-,minalamtes (Bka) in Wiesbaden.Die Polizei könne bereits daszentrale Verkehrsinformations-system „Zevis" und das zentraleAusländerregister „AZR" un-mittelbar abfragen.

Im Berliner Bundeszentralre-gister, das der Generalbundes-anwalt führt, werden alle Datenvon Strafverurteilungen undEntmündigungen, aber auchEntscheidungen über Auswei-sung und Abschiebung vonAusländern, Paßentzug und Ab-lehnungen oder Widerruf einesWaffenscheins gespeichert.

Bonn (dpa). Der ehemaligedeutsche Botschafter in War-schau, Franz Joachim Schoeller,hat bereits am Sonnabend imAuswärtigen Amt seine Entlas-sungsurkunde erhalten. Diesbestätigte, gestern ein Ministe-riumsspreeher. In Bonn gehen-Beobachter nunmehr davon aus,daßrder, 63. Jahre alte Diplomat,,der mit einem Antrag auf vorzei-tigen Ruhestand, „aus gesund-heitlichen Gründen" möglichen-idisziplinarrechtlichen Schritten^zuvorgekommen war, nun keinVerfahren mehr zu befürchtenhabe. Die Sache habe sich erle-digt, hieß es. ~

Schoeller war offensichtlichin dubiose Waffenhändler-Ge-schäfte verstrickt. Bei derenFörderung setzte er schriftlichsein Botschafter-Prestige ein.Offenbar kannte er aber nichtoder nicht vollständig den Hin-tergrund seines Bekannten ausdem Düsseldorfer Wanenhänd-ler-Milieu.

UdSSR / Workuta am Polarkreis

Minister erfolglos: Streik dauert anMoskau (dpa). Die Bergleute'in

Workuta am Polarkreis setzenihren Streik trotz der Gesprächemit dem sowjetischen Kohlemi-nister Michail Schtschadow fort.„Der Besuch des Ministers warnutzlos, da er keine Vollmachtenhat", erklärte ein Sprecher desStreikkomitees gestern der dpa.Man erwarte weiterhin die Ent-sendung einer hochrangigen Re-gierungsdelegation, mit der übereine Verbesserung der Lebens-verhältnisse verhandelt werden

könne. Die Kumpel hatten be-reits ein Gespräch mit Regie-rungschef Ryschkow gefordert.

In Workuta wächst unterdes-sen die Furcht vor einer wirt-schaftlichen Blockade. NachAngaben des Sprechers wurdeeine Anweisung bekannt, wo-nach alle Firmen, die ihre Kohleaus Workuta beziehen, die Stadtboykottieren sollten. Die Behör-den in Moskau wollten zudemStaatsaufträge für die Bergwerkein Workuta stornieren.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche RedakteureChef vom Dienst: Rainer Merforth. Politik:Jochen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden. Kultur Dirk Schwarze. Frauu. Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wie-semann. Sonntagszeit: Frank Thonicke.Kassel Stadt und Land: Wolfgang Ross-bach. Bezirksredaktionen: Peter M. Zitz-mann. Koordination: Helmut Lehnart. Hes-sen/Niedersachsen: Eberhard Heinemann.Chefreporter: Karl-Hermann Huhn. Son-derthemen: Peter Ochs.Redaktion Wiesbaden: Rolf Effenberger.Redaktion Hannover Harald Birkenbeul.Redaktion Bonn: Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter: Horst Prehm.Vertriebsleiter.- Gerd Lühring.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168, Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61/20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61 / 20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635. Telekopierer 05 61 /20 36. Teletex5 618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29. Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7% MwSt. (Postbezugspreis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.Auflage werktags übe'r 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit „OberhessischePresse", Marburg, . „Hersfelder Zeitung",„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.

Auflage „Sonntagszeit" über 200 000Exemplare.Herstellung Druckhaus Dierichs Kassel,Frankfurter Straße 168, 35 Kassel.

Page 74: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 261 Themen des Tages Mittwoch, 8. November 1989

Ein Beginnsoll es sein

INicht als Abschluß, sondern alsden Beginn neuer, vertrauensvollerBeziehungen sieht der Bundes-kanzler die Gemeinsame Erklärungzwischen Bonn und Warschau.Man darf Helmut Kohl glauben,daß es ihm damit ernst ist. Dasdeutsch-polnische Verhältnis istseit den Zeiten des Großen Fried-rich so etwas wie eine Einbahnstra-ße ins Verhängnis. An den Teilun-gen Polens waren die Deutschennach Kräften beteiligt. An denSturm auf den Annaberg und denHolocaust von Auschwitz knüpfensich schreckliche Erinnerungen.

Die mühsamen Verhandlungenüber eine tragbare Basis des künf-tigen Zusammenlebens zeigen,daß die Wunden der Vergangen-heit längst nicht verheilt sind. Aberder Dialog zwischen den beidenschwer geprüften Völkern sollteauch nicht dazu führen, daß dieeine Seite eine vermeintliche Lö-sung der Probleme auf Kosten deranderen sucht. Nicht der Täter,das Opfer bestimmt den Zeitpunktder Versöhnung.

Die Oder-Neiße-Linie markierteine willkürlich gezogene Grenze.Für die von den Sowjets nach We-sten abgedrängten Polen ist siedennoch ein Symbol für den Be-stand der Nation. Darüber sindsich Reformer und Kommunisteneinig. Wer daran rührt, erzeugtMißtrauen, auch wenn er dasRecht auf seiner Seite wähnt.

Die Bundesregierung fühlt sichan Wort und Geist des WarschauerVertrages gebunden. Darüber, wiedieser Vertrag zu interpretieren ist,zerbrechen sich die Völkerrechtlerden Kopf. Helmut Kohl wird beiseinen Partnern wenig Verständnisfür seine Haltung finden. Aber diePolen sollten auch wissen, daß inBonn niemand ernsthaft darandenkt, ihre Westgrenze in Frage zustellen. Trotz des Wortgetöses aufWählerstimmen schielender Politi-ker. Hans-Ludwig Laucht, Bonn

Wenn Lenindas erlebt hätte

öoweit ist es gekommen. Selbstder höchste Feiertag der KPdSUwird geschändet, deren Machtan-spruch öffentlich bestritten. In derHauptstadt der Weltrevolution for-miert sich die Opposition, in einerder unruhigen Provinzen muß diealte Garde vor dem Volkszornflüchten. Gorbatschow sieht dasDamoklesschwert über sich, der-weil die Armee ohne Glanz undGloria an ihm vorbeizieht. In Worku-ta streiken die Arbeiter, denennach den Worten des Staatsgrün-ders dieser Staat gehört, und stra-fen die Partei mit Mißachtung. Le-nin, folgt er dem unfrommenSpruch, müßte sich im Mausoleumumdrehen.

Von der Zentralgewalt geht kei-ne Macht mehr aus. Im Namen derPerstroika hat sie der oberste Re-former dem Willen der Massen an-heimgegeben. Doch der nimmt an-dere Wege, als sie der (vorläufigoder überhaupt) letzte NachfolgerLenins ebnen wollte. Die Werktäti-gen verzweifeln an der täglichenNot. Die Nationen im Riesenreichzerfetzen das Banner des Interna-tionalismus, das die Russen vorsich hertrugen. Und die Radikaienum den Volksktribun Jelzin wartennur auf ihre Stunde, um mit denzaghaften Reformern aufzuräu-men.

Das ergibt ein explosives Ge-misch, bei dem ein Funke genügt,um 72 Jahre danach eine andereRevolution zu entfesseln. Der Jä-ger gleicht immer mehr einem Ge-jagten. Noch brilliert Gorbatschowmit seiner Kraft der Analyse undNerven. Seine Stärke ist das Sym-bol, das er verkörpert. Im Mittel-punkt seiner Politik steht derMensch, hat er verkündet. Dochleicht könnte es sein, daß sich dieMenschen nicht nach seinem Bildeformen lassen. An den Ränderndes einstigen kommunistischen Im-periums hat der Zerfall schon be-gonnen. Jetzt bedroht er das Zen-trum. Wie gefährlich eine Erkran-kung des zentralen Nervensy-stems ist, wissen nicht nur Medizi-ner zu berichten. Die Geschichteist voll von derartigen Fall-Studien.

Alfred Brugger

Das Zitat„Wir brauchen nicht dauernd zusagen, daß wir die Nummer einssind. Es ist zwar wahr, aber lassenwir das doch die anderen sagen."

Helmut Kohl

Deutsch-polnisches Verhältnis / Irritationen zuhauf

Helmut Kohls schwierige MissionVon Hans-Ludwig Laucht, Bonner Redaktion

Weenn Helmut Kohl morgenseine Reise nach Polen antritt,steht er vor einer der schwierig-sten Missionen seiner Kanzler-schaft. Das deutsch-polnischeVerhältnis ist immer noch vonSkepsis, ja Mißtrauen gekenn-zeichnet, obwohl Willy Brandt1970 mit dem Abschluß desWarschauer Vertrags den müh-seligen Weg zur Normalisierungder beiderseitigen Beziehungeneingeleitet hatte. Das Bild vomKniefall des damaligen Bundes-kanzlers in der polnischenHauptstadt ging um die Welt.

Grenzfrage im Vordergrund

An den Irritationen schon imVorfeld des immer wieder ver-schobenen Besuchstermins istdie Bundesregierung nicht ganzunschuldig. In der Innenpolitikstand und steht sie nach der Ab-sage des Kanzler-Abstecherszum Annaberg nach wie vor un-ter dem Druck der Vertriebe-nenverbände. Außenpolitischsieht sie sich dem Verlangen derGastgeber nach einem klären-den Wort zur polnischen West-grenze ausgesetzt, nachdemvornehmlich Politiker der Uni-on, allen voran der CSU-Vorsit-zende Waigel, die Grenzfrageals „offen" bezeichnet hatten.

Kohls Unterhändler in War-schau, Horst Teltschik, bemüh-te sich in insgesamt elf Ver-handlungsrunden um das Kon-zept einer gemeinsamen Erklä-rung, in der der Willen beiderParteien „von der Normalisie-rung des Verhältnisses zur Aus-söhnung" zu kommen, zum Aus-druck kommt. Bis dahin, so siehtes Teltschik, ist allerdings nochein weiter Weg. Auch der Re-gierungschef ist sich klar dar-über, daß mit seiner Visite dienoch bestehenden Problemezwischen den beiden Ländernnicht völlig gelöst werden kön-nen. »Es war nie unser Ehrgeiz,den Warschauer Vertrag neu zuverhandeln."

Polen will Garantie

Das Hauptproblem stellt sichmit der Oder-Neiße-Linie. Telt-schik machte klar, daß HelmutKohl auch in der polnischenHauptstadt an der Auffassungfesthalten wird, wonach der Be-stand der polnischen Westgren-ze die Bundesrepublik Deutsch-land, nicht aber ein wiederver-einigtes Deutschland bindet.Teltschik dazu weiter: „Mehr istdazu nicht zu sagen." Die Polenverlangen dagegen eine aus-drückliche, klare in die Zukunft

gerichtete Garantie.Nach den Worten des Kanz-

lerberaters ist die gemeinsameErklärung „bis zu 99 Prozent"abgeschlossen. Umstrittene Fra-gen wie die der deutschen Min-derheit in Polen wurden ausge-klammert. In der 15 Seiten lan-gen Erklärung ist vom Minder-heitenproblem nicht ausdrück-lich die Rede. Beide Seiten einig-ten sich auf die Formulierungvom „Prinzip der Gegenseitig-keit". Was für Polen in der Bun-desrepublik gilt, soll auch fürdie Deutschen in Polen bindendsein. Dabei stehen die Möglich-keiten, Sprache und Kultur zupflegen, im Vordergrund.

Zurückhaltend reagierten diePolen auch auf deutschen Wün-schen an die katholische Kirche,künftig Messen in deutscherSprache anzubieten. Die War-schauer Regierung bat ihrerseitsdarum, diese Passage aus derErklärung zu streichen. DieBundesregierung will einen neu-en Vorschlag anbieten, überdessen Inhalt sich Teltschiknoch ausschwieg. Kohls außen-politischer Berater ließ durch-blicken, daß noch mit einer Rei-he von „Überraschungen" zurechnen sei.

Insgesamt umfaßt die Erklä-rung neun Kapitel, die von dergemeinsamen Verantwortung

für den Frieden in Europa, vonder wirtschaftlichen und finan-ziellen Zusammenarbeit überden Umweltschutz und humani-täre Fragen bis hin zur Bekräfti-gung des Gewaltverzichtes unddem Ausbau des Jugendaustau-sches reichen. Dem Bundes-kanzler ist an zahlreichen Be-gegnungen der Menschen ausbeiden Ländern besonders gele-gen. Im vergangenen Jahr rei-sten 3000 Jugendliche nach Po-len, 2000 junge Polen kamen zuGegenbesuchen.

Exklusive Delegation

Der Bundeskanzler reist miteiner exklusiven Delegation.Die Gastgeber wollten es so. Siesind vor allem an hochrangigenVertretern der Finanzen undWirtschaft interessiert. Im Ge-folge Kohls befinden sich zahl-reiche Bundesminister, von Au-ßenminister Genscher bis Um-weltminister Töpfer. Neben denAbgeordneten aller Parteienwerden Kardinal Hengsbach fürdie katholische Kirche und derevangelische MilitärbischofBinder die Sondermaschine desKanzlers besteigen. HessensMinisterpräsident Walter Wall-mann will für die heimischeWirtschaft werben.

Presse-EchoBeherrschendes Thema ist das DDR-Reisegesetz

g WESTFALENPOST(Hagen)

Die DDR-Führung ist mit demneuen Reisegesetz über ihren ei-genen Schatten gesprungen. DieMauer wird mit dieser Regelungzu einem historischen Relikt.Und trotzdem: Die Begeisterungauf den Ostberliner Straßen hältsich in Grenzen. Helfen könnenjetzt nur noch unkonventionelleIdeen. Und da ist das Politbüroin Ost-Berlin so unflexibel wiedie Bundesregierung ideenlos.

SÜDWEST PRESSE(Ulm)

Ein politischer Befreiungs-schlag für die immer bedrohli-cher in die Ecke gedrängte SED-und DDR-Führung sollte dieneue Reiseregelung werden.Doch der Wunsch von EgonKrenz und seinen Genossenwird ein Traum bleiben. Weildie DDR-Einwohner in demneuen Gesetz keineswegs dieheiß ersehnte Reisefreiheit se-hen, wird die SED-Spitze nichtvom politischen Druck von un-ten befreit. Das neue Reisege-setz ist zweifellos ein Schritt indie richtige Richtung. Aber jetztmuß nicht mehr nur die Rich-tung stimmen. Jetzt muß dasZiel sofort erreicht werden - dievöllige Reisefreiheit. Die jedochwird nicht gewährt.

WESTFALEN-BLATT(Bielefeld)

Dafür, daß die neuen Reisege-setze das erste Indiz für eine Po-litik der Wende in der DDR seinsollen, sind sie bescheiden aus-gefallen. Aus der Reisefreiheitwurde ein Urlaub in Raten, Geldgibt's auch nicht. Freiheit fürdreißig Tage im Jahr? Das istlächerlich, das hat wenig mitdem Menschenrechtskorb derKSZE-Schlußakte in Helsinki zutun.

fjannoDcrfrtie flllocmcinrVor wenigen Wochen wäre

das Reisegesetz, das die DDR-Regierung jetzt vorgelegt hat, inbeiden deutschen Staaten nochkräftig beklatscht worden. Aberdie Zeiten, in denen der Wunschnach mehr Reisefreiheit durcheinige Zugeständnisse halbwegsbefriedigt werden könnte, sindvorbei... Es ist politisch so vielim Fluß, daß das' letzte Wortauch hier noch nicht gespro-chen sein dürfte. Die DDR, sobehauptet die noch allein herr-schende SED, sei ein weltoffenerStaat. Ein solcher Staat brauchtaber gar kein Reisegesetz.

Die letzte Chance (Karikatur: Wolf)

Neues Rückkehr-Motiv für ehemalige DDR-Bürger:

„Bei der Stunde Null dabeisein"Von unserem Redaktionsmitglied Ottmar Berbalk

Beernhard Döveling führte ge-stern morgen ein spannendesGespräch mit einem jungenMann. „Ich will zurück", erklär-te der Mittzwanziger. „Ich willbei der Stunde Null dabeisein."Bernhard Döveling ist Referats-leiter Aus- und Übersiedlerbeim Generalsekretariat desDeutschen . Roten Kreuzes(DRK) in Bonn, und sein Ge-sprächspartner war ein in derBundesrepublik lebender ehe-maliger DDR-Bürger. Nochnicht lange hier und - schenktman der Ankündigung Glauben- nicht mehr lange hier. Es gibtsie tatsächlich, die kleineFluchtwelle in Richtung Osten.Keiner weiß jedoch genau, wiehoch die Zahl der Rückkehrwil-ligen ist. Von 200 sprach voreinigen Tagen DRK-PräsidentPrinz zu Sayn-Wittgenstein.Nach Ansicht Bernhard Döve-lings war dies eine vorsichtigeund inzwischen weit überholteSchätzung.

Über den Tisch des zuständi-

§en Konsularbeamten in dertändigen Vertretung der DDR

in Bonn sind bis gestern weitüber 1000 Anfragen gegangen.Das sei jedoch nur ein kleinerTeil, meint der Beamte. Magsein, daß er übertreibt, meldenmüssen sich rückkehrwilligeDDR-Übersiedler in der Tatnicht, weder bei der StändigenVertretung noch bei einer ande-ren Dienststelle. Sie können zu

einem der GrenzübergängeRichtung alte Heimat fahren, sowie es seit dem 20. Septemberbis gestern beispielsweise inHerleshausen (Werra-Meißner-Kreis) genau 20 Personen getanhaben. Spezielle Formalitätenwerden nicht verlangt.

Die am 27. Oktober von Ost-berlin für Republikflüchtlingeverkündete Amnestie hat nachAnsicht der DDR-Konsularab-teilung bei diesen Entscheidun-gen eine „große Rolle" gespielt.Grundsätzlich kämen wohl sehrviele Faktoren zusammen. DRK-Experte Döveling hat drei Moti-vationsstränge gefunden. Ge-sprächserfahrungen in den 419Beratungsstellen des DRK lie-gen dieser Aussage zugrunde.

In den DRK-Anlaufstellenkümmern sich 150 hauptamtli-che und weit über 1500 neben-amtliche Mitarbeiter um dieSorgen und Nöte der Übersied-ler. Keiner, so Döveling, müsseeinen Rückkehrwunsch begrün-den. Viele hätten jedoch aus ei-genem Antrieb den Wunsch,den Rückfall zu'erläutern.

Typ eins zeigt Scham. Er hatAngehörige sowie Hab und Gutzurückgelassen und „schämtsich nun, weggelaufen zu sein".Schuldgefühle und ein schlech-tes Gewissen nagen an seinerPsyche.

Typ zwei hat Angst, ange-sichts von Arbeitslosigkeit undWohnungsnot in der Bundesre-

publik zu bleiben. Döveling:„Solche Leute sagen sich: .Lie-ber ein Häuschen in der DDR alseine unsichere Zukunft in derBundesrepublik.'" Dazu kom-men nicht erfüllte Erwartungenund Enttäuschung über das„Norm- und Wertesystem imWesten". Nach Ansicht desDRK-Referatsleiters macht denGrenzgängern hier das „hoheMaß an Unverbindlichkeit" zuschaffen.

Mit Typ drei wird Dövelingerst seit wenigen Tagen kon-frontiert. Sie zeigen keine Angstmehr, wollen in der DeutschenDemokratischen Republik Flag-ge zeigen. Die Reformansätzezeigen Wirkung, die verspro-chene Straffreiheit für die Repu-blikflüchtlinge auch.

Können die alten und neuenDDR-Bürger diesen Verspre-chen glauben? Das DeutscheRote Kreuz meint, ja: „EineRückkehr ist gefahrlos." Dies sei.Angehörigen der Beratungsstel-len durch Telefonate bestätigtworden.

Ängstlicheren Naturen stelltdas DRK auf Wunsch und inRücksprache mit der Konsular-abteilung der DDR gerne einSchreiben aus, das den Rück-kehrwunsch noch einmalschriftlich dokumentiert. Juri-stisch hat es keine Bedeutung,das Papier mit dem Briefkopf desDRK scheint jedoch beruhigendzu wirken.

Leipzig verfällt

SensationelleReportage imDDR-FernsehenVon H.-R. Bein (dpa)

.Leipzig im November 1989,DDR-Fernsehen, 1. Pro-gramm: „Wir müssen nichtauf Naturkatastrophen war-ten, Leipzig ist eine Katastro-phe." Spektakulärer als mitdem Film „Ist Leipzig noch zuretten?" konnte das DDR-Fernsehen seinen Chefkom-mentator Karl-Eduard vonSchnitzler am Montagabendauf dem angestammten Sen-deplatz des nun eingestellten„Schwarzen Kanals" nichtersetzen. Ein schockartigerFilm der Wahrheit, wo bis-her nichts als Nebel verbrei-tet worden ist: Bilder, dieweh tun, die unter die Hautgehen, eine Dokumentationdes dramatischen Zerfallsder zweitgrößten Stadt derDDR, Bilder wie aus NewYorker Ruinenvierteln. Aberdie Diagnose galt Leipzig undlautete: Koma.

Der nach bisherigem Maß-stab schlicht sensationelleBeitrag von Ruth Geist-Reithmeier rüttelte auf, be-deutete für die „Wende" inder Medienlandschaft derDDR so etwas wie eine Stern-stunde. Das Schlußwort desbeispiellosen Films, der mit„Klartext" eine neue Repor-tagenreihe einleitete, gabauch ein neues Selbstver-ständnis der Journalistenwieder: „Auch wir werdenkünftig die Entwicklung die-ser Stadt nicht mehr aus denAugen lassen."

Uralter Wohnungsbestand

104 000 Wohnungen sindin Leipzig vor 1918 erbautworden. Das sind 41 Prozentdes Bestands. Seit drei Jah-ren ist die Zahl der neuge-bauten Wohnungen geringerals die der geräumten Woh-*nungen. „Der Verfall über-holt die Erneuerung." DieAutorin belegt, daß bei jetzi-gem Tempo und bisherigerStrategie der Baupolitik die"Einwohnerzahl Leipzigs biszum Jahr 2000 um rund100 000 auf dann 456 000sinken wird. Die Anklage:„Die Stadt wird in den Kol-laps geführt."

Die Bilder, „die wir so bis-her nicht zeigen durften, weilsie das Lackbild unsererSelbstzufriedenheit beschä-digt hätten", sind unbestech-lich „wie unsere Kamera",sagt die Autorin. Der Blickgleitet über quadratmeter-weise überall von den Wän-,den bröckelnden Putz, erfaßtzerborstene Wasser- undKanalrohre, offene, gefährli-che Löcher in Böden undDecken. „Kinder dürfen hiernicht mehr spielen, das istEinsturzgefahr, alles", be-richtet ein Bürger. Ein ande-rer sagt: „Die Wohnungensind alle naß, die Toiletten,Elektrikleitungen, alle ka-putt." Ein Bauarbeiter, dermit seinen Kollegen dieGründung eines eigenen Ab-rißbetriebes nicht durchset-zen konnte, macht den Vor-schlag, zum Einreißen Pio-niereinheiten der Armee ein-zusetzen.

Chefarchitekt mutlos

Leipzigs ChefarchitektDietmar Fischer ist kaum we-niger mutlos als viele Mieter.Zur Zukunft des StadtteilsPlagwitz: „Es ist verantwor-tungslos, das Wohnen auflange Sicht dort beizubehal-ten. Auf die Frage der Auto-rin, warum man erst jetzt aufdie Misere komme, wo dieErkenntnisse über dieschlimme Lage Leipzigs dochschon früher vorlagen: „Siedrehen den Film auch erstjetzt" - DDR-Glasnost im No-vember 1989.

Ist Leipzig noch zu retten?Ein Arbeiter sagt: „Viel istnicht mehr dran an der Stadthier." Eine junge Frau meint:„Die Welt ist so aufmerksamgeworden auf Leipzig, daßman sich das nicht leistenkann, daß man so eine Stadtnicht einfach verfallen lassenkann."

Page 75: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 261 Hessen Mittwoch, 8. November 1989

DIE ERSTEN SCHRITTE in der Bundesrepublik: mit Tränen der Erleichterung entlädt sich nach derlangen Fahrt aus der DDR über die CSSR die Spannung der Neuankömmlinge, die vom Grenzüber-gang Schirnding in Bayern nach Fritzlar gewiesen wurden. (Foto:ula)

800 Übersiedler im Truppenlager auf dem Knüll erwartet

Zwölf Kasernengebäude geräumtSchwalmstadt/Schwarzenborn

(wfr). Um für die Aufnahme vonrund 800 übersiedlern gerüstetzu sein, wurden gestern auf demKnüll im Bereich des Truppen-lagers der Bundeswehr stunden-lange Vorbereitungen getroffen.Sofort nach Bekanntwerden derAnordnung des Verteidigungs-führungsstabes des Heeres lei-tete Major Hermann Löhr miteinem Mitarbeiterstab die Räu-mung der 12 Gebäude ein, indenen zur Zeit wegen militäri-scher Übungen rund 1000 Sol-daten, darunter 100 Briten, Un-terkunft gefunden hatten.

Sofort Sachen gepackt

Die Soldaten, die aus Hamm,Dortmund, Munster und Her-born nach Schwarzenborn ge-kommen waren und sich zumTeil bis nächste Woche im Knüllaufhalten sollten, packten um-

Wohnungsbau

„ÜberzogeneErwartungen"

Bad Wildlingen (seh). Vorüberzogenen Erwartungen andie Kapazitäten im Wohnungs-bau hat der Sprecher der Bun-desarbeitsgemeinschaft Trep-pen und Geländer, Martin Ihle(Murrhardt), gestern bei der Er-öffnung des Deutschen Trep-penbautags in Bad Wildungen(Kreis Waldeck-Frankenberg)gewarnt. Für 1990 erwartet erdie Fertigstellung von 280 000neuen Wohnungen, für 1991 ein„Wunschergebnis" von über300 000. „Mehr ist nicht zuschaffen", sagte er.

Debatte über Binnenmarkt

100 Teilnehmer aus der gan-zen Bundesrepublik nehmen ander Tagung in der Badestadt teil,in der an zwei Tagen über denTreppenbau, baurechtliche Fra-gen und die Schaffung des euro-päischen Binnenmarkts ab 1992diskutiert wird. Als Referentenbeteiligen sich unter anderenProf. Herbert Ehm vom Bundes-bauministerium sowie DieterEschenfelder vom hessischenInnenministerium.

gehend ihre Sachen und rolltenmit eigenen Radfahrzeugen undangemieteten Bussen schon amDienstagnachmittag in ihreStandorte zurück.

Inzwischen wurden die Räu-me, in denen zwei bis acht Per-sonen untergebracht werdenkönnen, für die Aufnahme derUmsiedler aus der DDR herge-richtet.

Auch DRK hilft

Die Kommandantur des Trup-penübungsplatzes wurde unter-stützt von der Standortverwal-tung und vom Panzergrenadier-bataillon 152, das in der Knüll-Kaserne stationiert ist und dasauch bei der Verpflegung derFlüchtlinge aus der DDR helfensoll, solange sie in der Notunter-kunft am Knüll bleiben. Auchdas Rote Kreuz traf Vereinba-rungen mit der Bundeswehr zur

Beamter verletzt

Rottweiler griffPolizeipferd an

Frankfurt (AP) Ein angriffs-lustiger Rottweiler versetztdie Frankfurter Bürger inAngst und Schrecken. Überden Rundfunk warnte diePolizei am Dienstag die Bevöl-kerung vor dem Hund, dereinen 52jährigen Polizei-hauptmeister der ReiterstaffelSüd während seiner Streife imStadtwald angegriffen habe.Dabei seien Pferd und Reiterschwer verletzt worden.

Der Rottweiler einer54jährigen Spaziergängerinbiß nach Darstellung desPolizeipräsidiums das Pferdin den Hals und den Rücken.Das Pferd habe sich aufge-bäumt und den Beamten ab-geworfen, der dabei Verlet-zungen an der Schulter undder Halswirbelsäule erlittenhabe. Danach habe der Rott-weiler das Pferd bis auf einenParkplatz an der Bundestra-ße 3 verfolgt, wo es von ei-nem Passanten eingefangenwerden konnte. Von demHund fehle seitdem jedeSpur. Die Polizei hat Straf-anzeige erstattet.

Kleinbus stieß mit Pkw zusammen

54jähriger bei Unfall getötetZwesten (ula). Tödlich endete

für einen 54jährigen aus Deren-tal bei Holzminden (Nieder-sachsen) eine Fahrt auf der Bun-desstraße 3 bei Zwesten-Ober-urff (Schwalm-Eder-Kreis).Noch an der Unfallstelle erlag eram Montag gegen 21 Uhr seinenVerletzungen. Ein zweiterMann wurde schwer verletzt.Die Bundesstraße 3 wurde meh-rere Stunden lang gesperrt.

Wie die Fritzlarer Polizei er-mittelte, war ein ebenfalls 54jäh-riger Mann aus Borken gegen20.45 Uhr mit seinem Pkw auf derB 3 in Richtung Jesberg unter-

wegs, kam in Höhe von Oberurffüber die Fahrbahnmitte hinausund prallte zunächst gegen einenentgegenkommenden Lkw, danngegen den Kleinbus, der eineBöschung heruntergeschleudertwurde, und schließlich noch ge-gen einen Pkw.

Während der Kleinbusfahrertödliche Verletzungen erlitt,wurde der Borkener Fahrerschwerverletzt ins FritzlarerKrankenhaus gebracht. DiePolizei ordnete dort wegen Ver-dachts der Trunkenheit eineBlutentnahme an und stellte denFührerschein sicher.

Betreuung der zu erwartendenFamilien.

Bis Dienstagabend war nochkein Transport mit Umsiedlernin der Schwalm eingetroffen. Eswar auch noch nicht klar, wo einaus München angekündigterSonderzug halten wird. Bei derBundesbahn in Schwalmstadt-Treysa war zu erfahren, daß derZug frühestens in der Nachtentweder in Treysa und oder inBad Hersfeld eintreffen könne.

Die Bundeswehr am Knüllhielt genügend Busse bereit,mit denen die Flüchtlinge sofortnach der Ankunft in Nordhes-sen zu den rund 25 Kilometervon den Bahnhöfen entferntenNotunterkünften gebracht wer-den sollten.

Ein Offizier der Bundeswehrin Schwarzenborn: „Wir habenuns darauf eingerichtet, daßwir rund um die Uhr zur Auf-nahme der Umsiedler eingesetztwerden".

Volkszählung

Freispruchfür Boykotteur

Frankfurt (lhe). Eine Aufforde-rung zum Boykott der Volks-zählung in einer Pressemittei-lung an eine Zeitungsredaktionist nicht strafbar, weil es sichdabei noch nicht um eine „öf-fentliche Aufforderung zu Straf-taten" handelt. Mit dieser Be-gründung hat der 5. Strafsenatdes Oberlandesgerichts Frank-furt in einer am Dienstag veröf-fentlichten Entscheidung (Ak-tenzeichen: 5 Ss 422/88) einenFreispruch des AmtsgerichtsGroß-Gerau für einen als Volks-zählungsgegner aktiven Grünenbestätigt.

Der Angeklagte hatte in einerPressemitteilung dazu aufgefor-dert, von den Fragebogen derVolkszählung von 1987 dieZählnummern abzutrennen undwar wegen öffentlicher Auffor-derung zur Sachbeschädigungangeklagt worden. Das Amts-gericht hatte ihn freigespro-chen.

Eine „öffentliche Aufforde-rung" liege nicht vor, entschiedder Senat. Die Zeitung habe dieMitteilung zwar veröffentlicht,der Angeklagte habe daraufaber keinen Einfluß gehabt.

Angeklagter streitetVergewaltigung ab

Kassel/Korbach (t). Gegen-sätzliche Aussagen im Prozeßgegen einen 32jährigen aus Kor-bach, der - wie berichtet - derVergewaltigung bezichtigt wird.ER soll im Januar vorigen Jah-res ein 17jähriges Mädchenim Feuerwehrhaus zum Ge-schlechtsverkehr gezwungenhaben.

Während das Mädchen vorder 3. Strafkammer des Land-gerichts Kassel den Vorfall be-stätigte, stritt ihn der Angeklag-te ab. Fortsetzung der Verhand-lung ist am kommenden Mitt-woch vor dem Amtsgericht inKorbach.

Fritzlar für Aufnahme von 350 Flüchtlingen gerüstet

Trabbi-Karawane rollt anFritzlar (ula). „Da kommt schon wieder

einer!" Die Posten rund um die Georg-Fried-rich-Kaserne in Fritzlar (Schwalm-Eder-Kreis)haben den „Trabbi" erspäht und mit sichererHand auf den Parkplatz hinter der Halle 7

gelotst. Seit gestern nachmittag rollt die Kara-wane in die Kaserne der Domstadt, kommendie Übersiedler aus der DDR in ihren Trabants,Wartburgs und Ladas direkt von der tschechi-schen Grenze ins nordhessische Fritzlar.

„Bayern ist voll, dort geht garnichts mehr", weiß Kasernen-kommandant Oberst Ziegaus zuberichten. Wer sich dem Flücht-lingsstrom angeschlossen undden Entschluß zur Reise in denWesten gefaßt hat, wird zur Zeitan der Grenze von Beamten,desBundesgrenzschutzes nachHessen weitergeleitet. NebenFritzlar, das sich für maximal350 Personen gerüstet hat, stehtdie Kaserne in Schwarzenbornim selben Landkreis für weitere800 Übersiedler als erste Unter-kunft zur Verfügung (siehe Be-richt „Zwölf Kasernengebäudegeräumt" auf dieser Seite).

Zwei Fehlalarme

Nach zwei für die einsatz-freudigen Soldaten und Offizierefrustrierenden Fehlalarmen inden vergangenen Wochen er-wies sich die dritte Ankündi-gung von DDR-Übersiedlem alsrichtig.

Gegen 14 Uhr bereits fuhr dieerste Familie auf das Kasernen-gelände - sie war am Abendvorher in Zwickau gestartet undohne Probleme aus der DDRüber die CSSR in die Bundes-republik gelangt.

kammer des DRK Schwalm-Eder, Essen und Betreuung,Aufnahmeformalitäten, Fried-landhilfe und Begrüßungsgeld:in der Fritzlarer Kaserne wirddas komplette Programm für dieDDR-Übersiedler abgespult.Eine Gruppe des Bundesgrenz-schutzes, eigens angereist ist,übernimmt die weitere Vertei-lung in die verschiedenen Bun-desländer.

„Überall frei bewegen"

Wie lange.nun tatsächlich dieHalle 7 ein Übergangslager seinwird für 300 bis 350 DDR-Bür-ger, weiß zur Zeit niemand inFritzlar. Das hängt in erster Li-nie von der Menge der Ankom-menden ab, in zweiter Linie vonder Aufnahmekapazität der ein-zelnen Länder.

Wer von den Ankommendenwollte, konnte auch sofort wei-terfahren zu Verwandten oderBekannten. „Sie können sichhier frei bewegen: darum sindsie ja auch hierhergekommen",versichert Oberst Ziegaus denNeuankömmlingen, von denenviele mit Tränen der Freude undErleichterung ihre erste Kon-taktstelle im Westen begrüßten.

104 Übersiedler trafen mit ei-nem Sonderzug aus Prag in BadHersfeld ein. Die anderen ka-men mit Privatfahrzeugen in dieStadt. „In Bad Hersfeld gefällt esden Übersiedlern so gut, daß sienicht wieder weg wollen", zitier-te ein Grenzschützer seinenKommandeur.

„Restlos belegt"

Die rund 1200 Plätze in denKasernen des Bundesgrenz-schutzes in Fulda, Aisfeld, Hün-feld und Bad Hersfeld seien rest-los belegt, berichtete ein Spre-cher des Grenzschutzkomman-

Anzeige

Wie gut sehen Sieeigentlich?Lassen Sie Ihre Augenprüfen. Jetzt!

Ihre hessischenAugenoptiker

Keine Wartezeiten

Fast ungläubiges Erstaunenäußerten fast alle Ankömmlinge:eine solch reibungslose Abferti-gung durch die DDR- wie dietschechischen Grenzer hattensie denn doch nicht erwartet.Wartezeiten und lange Schlan-gen an den Kontrollpunkten ge-hören offenbar bereits der Ver-gangenheit an. ;

Ein Bett für die ersten Nächte,Kleidung in einer Kleider-

150 nach Bad Hersfeld

Auch in der Bundesgrenz-schutzkaserne in Bad Hersfeldtrafen gestern nachmittag weite-re 150 DDR-Übersiedler ein, diein ihren eigenen Fahrzeugen überdie tschechoslowakische Grenzein die Bundesrepublik gekommenwaren. Innerhalb weniger Stun-den wurden Mannschaftsräumehergerichtet, in denen je drei bisfünf Übersiedler Platz finden"können.

dos Mitte in Kassel. Die Über-siedler bleiben meist nur kurz inden Lagern: Am Nachmittagwaren in der Unterkunft in Ful-da wieder 69 Betten frei. „Biszum Abend sind wir aber wiedervoll", hieß es.

Auch auf Hessens höchstemBerg, der Wasserkuppe in derRhön, sind die Gebäude derBundeswehreinheit des Radar-führungsdienstes „bis unter dasDach" belegt. In dem Erstauf-nahmelager haben 300 Men-schen ein Quartier gefunden-

Ein Grund mehrzu Mercedes-Benz zu kommen.Viele Gründe führen zu Mercedes-Benz in Kassel.Jetzt gibt es noch einen mehr- als Zugabe frei Haussozusagen.Ob Sie sich über Neue oder Gebrauchte PKW,Transporter oder LKW informieren möchten,oder ob Sie die Wartezeit überbrückenmöchten, in der Ihr Wagen repariertwird, wir laden Sie herzlich ein in unsereKutscherstube im.Truck Center.Mit kleinen Snacks, heißen und kalten Getränkenmöchten wir beweisen: in Betreuungso gut wie in Technik.

Frau Eva Laun bewirtetSie in gemütlicherAtmosphäre mit Charmeund Freundlichkeit.

Die Kutscherstube macht unseren Rundum-Service komplett.

Willkommen bei Mercedes-Benz

MERCEDES-BENZ Kassel Truck Center

Page 76: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINE« * Mu~4 jH—Mirt.-.

HESSISCHE KASSEL1 P 3713 A

ALLGEMEINEUNABHÄNGIG

JJ Preis 1,10 DM

KASSELER ZEITUNG

Nr. 262 • Donnerstag, 9.11.1989

NICHT PARTEIGEBUNDEN

Ruf (05 61) 203-0 • Anzeigen 203-3

1:0 in Köln

ErneuterKSV-Sieg

Drei Tage nach demI:0-Erfolg in Meppenfeierte SchlußlichtKSV Hessen Kasselim Zweitliga-Punkt-spiel bei Fortuna Kölnam Mittwochabendeinen weiteren Über-raschungserfolg.Schütze des entschei-denden 1:0 war Neu-zugang BernhardRaab. Siehe Sport

Theater/Stars

Das ganzgroße Geld

Auf die Konten derOper geht nach wievor das ganz großeGeld. Dies fand jetztdie Zeitschrift „Thea-ter heute" heraus, dierecherchierte, wasSpitzenkönner imTheater verdienen. Soerhält Dirigent Abba-do (Foto) für 35 Aben-de im Jahr 1,1 MioMark. Siehe Kultur.

Kunstmäzen:

„Ich binunschuldig"

Als „ungeheuer-lich" bezeichnete derAachener Kunstmä-zen Prof. Dr. PeterLudwig (Bild) vor Ge-richt den Vorwurf, erhabe 1.5 MillionenDM Vermögenssteu-ern nach dem Ver-kauf von alten Hand-schriften hinterzogen:„Ich bin unschuldig".„Blick in die Zeit".

Letzte Meldung

Tote aufder Elbe?

Bei einer Schiffs-kollision in der Eib-mündung hat es ge-stern abend offenbarTote und Verletztegegeben. Laut Schiffs-meldedienst stießendie Passagierfähre„Hamburg" und derFrachter „NordicStream" zusammen.Näheres war zu-nächst nicht bekannt.

Tennis

Beckersiegt

Sein Auftaktspielbeim Tennis-Grand-Prix Turnier in Stock-holm gewann Wim-bledonsieger BorisBecker mit einigerMühe gegen denAmerikaner Jim Pughin drei Sätzen mit 3:6,6:0, 6:4 und trifft nunauf den SchwedenJan Gunnarsson. Sie-he Sport

DDR-Fluchtwelle

60 000 insechs Tagen

München (dpa). Die Zahlder DDR-Flüchtlinge steigtunaufhörlich. Sprecher desBundesgrenzschutzes rech-neten innerhalb der 24 Stun-den von gestern früh bis heu-te früh mit rund 11 000 Men-schen. Damit werden in densechs Tagen seit Öffnung derCSSR-Grenze am Freitag fast60 000 Flüchtlinge auf die-sem Weg in die Bundesrepu-blik gekommen sein.

Allein in der Nacht zumMittwoch und tagsüber tra-fen etwa 8000 DDR-Bürgermit Autos in der Bundesre-publik ein. Dazu kamen nochvier mit bis zu 1000 Passagie-ren besetzte Züge aus der derCSSR. Chaotische Verhält-nisse herrschten bei der Ein-reise am GrenzübergangSchirnding: Die Wartezeitenwuchsen.auf sechs Stundenan. Seit Öffnung der ungari-schen Grenze am 11. Sep-tember kamen etwa 110 000DDR-Bürger über Ungarnund die CSSR in den Westen.

Die insgesamt 86 Notauf-nahmelager platzen aus allenNähten. In der Freiheitshallein Hof wurde die Lage so pre-kär, daß die Neuankömmlin-ge die Plätze wechseln muß-ten: Die einen konnten inBetten liegen, die anderennur auf Stühlen sitzen, undein Teil der Übersiedler muß-te stehen. Für die Übersied-ler sind jetzt nach Angabendes Bundesamtes für Zivil-schutz auch Hilfskranken-häuser vorbereitet worden.

Nach Rücktritt des Politbüros: Dresdner Reformer rückt in SED-Spitze auf

Modrow wird RegierungschefBerlin (dpa/AP). Mit einem großen Personalrevirement der DDR, auf und soll auch neuer Ministerpräsident werden,

versucht die SED, die Weichen für die Zukunft zu stellen: Der Nachdem der Ministerrat (Regierung) am DienstagabendDresdner Reformpolitiker Hans Modrow (61) rückte gestern zurückgetreten war, wird mit einer Neuwahl durch die Volks-ins neugewählte Politbüro, dem eigentlichen Machtzentrum kammer in der nächsten Woche gerechnet.

Zum ersten Mal in der Ge-schichte der DDR war gesternvormittag auch das Politbürogeschlossen zurückgetreten. Ei-nen entsprechenden Vorschlagvon Staats- und ParteichefKrenz nahmen die 157 anwesen-den Mitglieder des Zentralko-mitees (ZK) einstimmig an. Da-mit solle die Verantwortung fürdie derzeitige Situation in derDDR deutlich gemacht werden,berichtete die Nachrichten-agentur ADN.

Hintergrundberichte zur Tagungdes Zentralkomitees und ein Por-trät Hans Modrows finden Sie auf„Themen des Tages".

Das Politbüro wurde von 21auf elf Mitglieder reduziert. Ihmgehören vier neue Mitgliederan: Neben dem Modrow (eineGegenstimme) sind dies der bis-herige Minister für Material-wirtschaft, Wolfgang Rauchfuß,(vier Gegenstimmen), der Vor-sitzende der staatlichen Pla-nungskommission, GerhardSchürer (sieben Enthaltungen)und der Leiter der ZK-Abtei-lung Sicherheit, Wolfgang Her-ger (einstimmig).

Entgegen dem ursprünglichenVorschlag wurden Horst Doh-lus, Günther Kleiber und Kandi-dat Gerhard Müller nicht wie-dergewählt. Als Kandidaten des

Politbüros wurden sechs (bisherfünf) Politiker, darunter zweiFrauen, benannt. Auf der bisFreitag angesetzten ZK-Sitzungsoll auch ein Aktionsprogrammverabschiedet werden. Diesesvom bisherigen Politbüro verab-schiedete Paket beinhaltet dieEinrichtung eines Verfassungs

HANS MODROW(Foto: Keystone)

gerichts, eine Verwaltungsre-form, die Abschaffung von Son-derrechten für Spitzenfunktio-näre, einen zivilen Ersatzdienstund Sofortmaßnahmen zur Ver-besserung im Alltag.

Opposition skeptisch

Das Vorstandsmitglied derSozialdemokratischen Partei inder DDR, Reiche, erwartet nachdem Wechsel kein steigendesVertrauen der Bevölkerung indie DDR-Führung. „Was heutegeschehen ist, geschieht im al-ten Strickmuster: Die SED be-stimmt, was getan wird".

Die DDR-Bürgerbewegung„Demokratie Jetzt" sieht in demneuen Politbüro keinen Ansatzfür eine Lösung der bestehendenKrise. Die SED müsse auf ihrenFührungsanspruch verzichten,hieß es in einer Stellungnahme.„Demokratie Jetzt" sei aber be-reit mit Reformern wie Modrowund Schabowski zu sprechen.

Ähnlich äußerte sich dasNeue Forum, das darauf hofft,schon bald offiziell zugelassenzu werden. SED-Chef Krenzhatte vor dem ZK erklärt, „neueBürgerbewegungen, die auf demBoden der Verfassung der DDRwirken wollen, sollten zugelas-sen werden".Fortsetzung nächste SeiteSiehe auch „Zum Tage"

Letzte Meldung

Krenz sprichtsich für „freieWahlen" aus

Berlin (dpa). Vor dem Zentral-komitee der SED hat sich Gene-ralsekretär Krenz gestern für einneues Wahlgesetz ausgespro-chen. Es werde „die freie, allge-meine, demokratische und ge-heime Wahl gewährleisten undin jedem Stadium der Wahl dieöffentliche Kontrolle garantie-ren", kündigte Krenz laut ADNvon gestern abend an.

Zuvor hatte er allerdings dasSystem der Blockparteien „alseine Errungenschaft des Sozia-lismus... und eine wichtigeGrundlage für die Erneuerungunseres politischen Systems" be-zeichnet. „Wir gehen davon aus,daß die Werte und Ideale desSozialismus der gemeinsameNenner für alle Parteien des De-mokratischen Blocks sind."

Ausdrücklich hatte Krenzden Führungsanspruch der SEDhervorgehoben. Scharfe Kritikübte er an der Politik der altenFührung (siehe Bericht untenauf dieser Seite).

Humaninsulin / Pläne der Hoechst AG

Gentechnik: Gerichtuntersagt Produktion

Kassel (ari). Die von derHoechst AG errichtete gentech-nische „Versuchsanlage" wirdvorerst nicht in Betrieb gehendürfen: Der Hessische Verwal-tungsgerichtshof (VGH) hat ge-stern per Eilentscheidung diezugrundeliegenden Genehmi-gungen des Regierungspräsi-denten in Darmstadt außer Voll-zug gesetzt. Die Pläne derHoechst AG, in dieser Anlagebereits in Kürze mit der Herstel-lung von Humaninsulin auf derBasis gentechnisch veränderterBakterien zu beginnen, sind da-mit bis auf weiteres vom Tisch.

Der VGH begründete seineEntscheidung mit dem Hinweisauf die derzeitigen Gesetze, indenen keine Rechtsgrundlagefür gentechnische Anlagen ent-halten sei. Solange der Gesetz-geber die Nutzung der Gentech-

nologie nicht ausdrücklich zu-lasse, dürfe eine solche Anlagenicht errichtet und betriebenwerden, heißt es in der erstenBegründung. Die Richter bezo-gen sich im übrigen auf die zurZeit nicht abschätzbaren Risi-ken der Gentechnologie fürMensch und Umwelt. Ange-sichts dessen könnten sich dieRichter nicht „an die Stelle desGesetzgebers" setzen und „überdas Ob und Wie der Nutzung"entscheiden.

Die VGH-Entscheidung istunanfechtbar. Allenfalls kanndas Bundesverfassungsgerichtangerufen werden. Die HoechstAG hat unmittelbar nach Be-kanntwerden der Entscheidungangekündigt, die Bauarbeiten ander fast fertigen Anlage einzu-stellen.Siehe auch Hessenseite

SED-Chef rechnet mit alter Parteiführung ab

Scharfe Krenz-Kritik an HoneckerBerlin (dpa). SED-Generalse-

kretär Krenz hat in scharferForm die alte Staats- und Partei-führung für die Flüchtlingswelleverantwortlich gemacht. DieUnzufriedenheit und Perspek-tivlosigkeit aufgrund einerWirtschaftspolitik, die „hinterden Realitäten" zurückgeblie-ben sei, haben eine „Schlüssel-funktion für die persönlicheEntscheidung von über 200 000DDR-Bürgern, ihre Heimat zuverlassen oder verlassen zuwollen," erklärte Krenz gesternvor den Delegierten der Zentral-komitee-Tagung. Man müsse„doch eingestehen, daß die ei-gentlichen Ursachen in unseremLande selbst zu suchen sind."

Heute wisse man, daß der An-satz für den letzten SED-Partei-tag nicht auf einer realen Ein-schätzung der Lage beruht habe,sagte Krenz, ohne Erich Ho-necker zu erwähnen. Man habeversucht, den Bürgern „einDDR-Bild zu suggerieren, das

immer weniger den Alltagser-fahrungen der Menschen ent-sprach".

In scharfen Worten gingKrenz mit dem früheren Politbü-romitglied und Wirtschaftsfach-mann Günter Mittag ins Ge-richt. Als Mittag während derErkrankung Honeckers mit des-sen Vertretung beauftragt gewe-sen sei, habe es an der Spitze derPartei „Sprachlosigkeit" in Sa-chen Flüchtlingswelle gegeben.Schließlich habe er selbst mit ei-ner Reihe anderer Genossen dieInitiative ergriffen, sagte Krenz.

„Mit aller Härte"

„Sie fand 3en heftigen Wider-spruch des Genossen Erich Ho-necker. Darauf erfolgte im Polit-büro eine zweitägige, mit allerHärte und politischer Schärfegeführte Diskussion."

Honecker habe daraus keineSchlußfolgerungen gezogen,

worauf auf einer Beratung desZK-Sekretariats mit den ErstenSekretären der Bezirksleitungenam 12. Oktober die Vertrauens-frage aufgeworfen worden sei.Am 17. Oktober habe das Polit-büro auf Vorschlag Willi Stophsnach einer erneuten scharfenAuseinandersetzung einstimmigden Beschluß gefaßt, Honeckerseiner Funktion als Generalse-kretär zu entbinden und Mittagsowie Joachim Herrmann abzu-berufen.

Krenz unterstrich, im Politbü-ro seien seit längerer Zeit Vor-schläge zu notwendigen Verän-derungen in der Wirtschaftspo-litik vorgelegt worden. Sie hät-ten jedoch keine Mehrheit ge-funden, weil „durch manipulier-te Fakten" Mittags, „der dasVertrauen des Generalsekretärsbesaß, falsche Einschätzungenin der Parteiführung vor-herrschten". Es habe „Anzei-chen politischer Arroganz" ge-geben, bemängelte Krenz.

Zum Tage

Der JokerAuuf den Plakaten der demonstrie-renden Massen steht der NameHans Modrow überall in der DDRan erster Stelle. Der aus Ost-Berlinabgeschobene, von den Apparat-schiks zum Versager gestempelteDresdener SED-Bezirkssekretär'gehört zu den wenigen Männern,denen die Bevölkerung einen wirk-lichen Neuanfang zutraut. Er ist be-scheiden, tolerant und glaubwür-dig. Wo diese Eigenschaften Man-gelware sind, wecken sie großeHoffnungen. Schon wird von einemdeutschen Gorbatschow an derSpitze des Ministerrates gespro-chen. Modrows Wahl ins Politbüround seine Nominierung zum Regie-rungschef könnten den BürgernReformbereitschaft der neuen Füh-rung signalisieren.

Schön wäre es, wenn solcheTräume in Erfüllung gingen. Doches ist zu befürchten, daß EgonKrenz mit Hans Modrow nur einenJoker im Spiel um Popularität setzt.Neue Namen und neue Köpfe än-dern nichts an den alten Struktu-ren. Solange das Politbüro die Par-tei beherrscht und die Partei dieRegierung steuert, bleibt das Volkaußen vor. Indem sie andere Par-teien und Gruppierungen duldet,bekräftigt die SED nur ihr Macht-monopol. Ihr Dialog mit der Oppo-sition verwirklicht noch keine De-mokratie. Von Pluralismus wirdman erst sprechen können, wennes zu freien Wahlen kommt. ObHans Modrow bereit und stark ge-nug ist, die Wege dahin zu ebnen,steht in den Sternen. Für die revo-lutionäre Volksbewegung in derDDR bedeutet seine Aufwertungnoch keine Entwarnung.

Achim v. Roos

DDR-Bürger/Appell

Christa Wolf:„Bleibt hier"

Berlin (dpa). In einem dra-matischen Appell fordertedie DDR-SchriftstellerinChrista Wolf (Bild) in der„Aktuellen Kamera" desDDR-Fern-sehens dieAusreise-willigen inihrem Landzum Bleibenauf. In derErklärung,die unter an-derem auchvon demNeuen Fo-rum-Mit-glied BärbelBohley sowie den Schriftstel-lern Christoph Hein und Ste-fan Heym unterzeichnetwurde, äußerte die Schrift-stellerin tiefe Beunruhigungangesichts der Tausende, dietäglich die DDR verlassen.

Versprochen werden kön-ne kein leichtes, aber einnützliches und interessantesLeben, nicht schneller Wohl-stand, aber Mitwirkungen angroßen Veränderungen.„Wir wollen einstehen für:Demokratisierung, freieWahlen, Rechtssicherheit,Freizügigkeit", sagte ChristaWolf. „Wir stehen erst amAnfang des grundlegendenWandels in unserem Land.Helfen Sie uns, eine wahrhaftdemokratische Gesellschaftzu gestalten, die auch die Vi-sion eines demokratischenSozialismus bewahrt".

Lotto am MittwochZiehung A: 14, 18, 25, 29, 33, 45Zusatzzahl: 41.Ziehung B: 16, 25, 29, 31, 37, 49Zusatzzahl: 44.Spiel 77: 1 9 7 9 4 2 3.

(Ohne Gewähr)

Page 77: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 262 Politik Donnerstag, 9. November 1989

Namen undNachrichten

Modische UniformenAuf dem Laufsteg des berühm-

' ten Pariser Modehauses PierreBaimain hatten die neuen Uni-formen der französischenLandstreitkräfte Premiere. Nacheinem halben Jahrhundert ver-drängt nun ein edles Perlgraudas bisherige Khaki. Der Clouder soldatischen Modenschauwar die Damengarderobe: DasBeinkleid der Soldatinnen isteine Mischung aus Bermuda-Shorts und Wickelrock (rechts).

Aufwand um Kfz-SteuerDas Bundesfinanzministeriumhat nach Angaben des CDU-BundestagsabgeordnetenSchmude den hohen Verwal-tungsaufwand bei der Kfz-Steu-er und damit indirekt die Vor-aussetzungen für ihre Abschaf-fung bestätigt Er habe deshalbbei Finanzminister Waigel anf-ragt, die Kfz- auf die Mineralol-steuer umzulegen. Die entspre-chende Forderung der Opposi-tion wurdebisher von der Koali-tion abgelehnt.

„Passionaria" erkranktDie Ehrenvorsitzende der spani-

~" T sehen KP,,Do-llores' Ibarmri,

Jist . .erneut^schwer t*& er-, krankt. »sSJDi?1

*93jahrige, die,im SpanischenBurgerkrieg

,durch ihreDurchhalte-Ro-den bei der B<--

jlagerung Ma-jdrids bekannt• geworden -war

und seither „La Passionaria" ge-nannt wurde, leidet an einerakuten Lungenentzündung undschweren Herzbeschwerden.

Udo hilft NorbertMit prominenter Unterstützungwill der nord- *"rhein-westfäh-sche CDU-Lan-desvorsitzendeNorbert Blumin den Wahl-kampf für dieLandtagswahlam 13. Mai1990 ziehenNeben demKölner Staats-rechtler Profes-sor MartinKriele und dem Justitiar derBayer AG, Dr. Günther Schwe-ricke, soll der ehemalige Bun-desligatrainer Udo Lattek (Bild)die Wahlkampfmannschäft desCDU-Kandidaten verstärken.

Van Haaren bestätigtKurt van Haaren ist beim gestri-gen Gewerkschaftskongreß derDeutschen Postgewerkschaft(DPG) in Mannheim mit 84,4Prozent der Stimmen in seinemAmt als Vorsitzender der Ge-werkschaft bestätigt worden.Der Wahl des von vier auf sie-ben Vorstandsmitglieder erwei-terten Führungsgremiums gingeine Diskussion über eine Frau-en-Quote im Vorstand voraus.Eine solche Regelung wurde je-doch abgelehnt. Als einzigeFrau wurde Marita Wellmann inden Vorstand, gewählt':. •'•

Verzicht auf Jodesschuß'Das Saarland verzichtet in sei-nem neuen Polizeirecht, das ge-stern mit den Stimmen der SPD-Mehrheit verabschiedet wurde,auf den „finalen Tddesschuß".Weiterhin wurde in diesem Ge-setz erstmals der Datenschutzder Bürger verankert.

Kohl: Wandel in DDR zu fördern, ist unsere nationale Aufgabe

Bundestag fordert freie WahlenBonn (dpa). Während sich am

Mittwoch in Ost-Berlin ein-schneidende Veränderungen ander Spitze der SED vollzogen,stellten im Bundestag Politikeraller Fraktionen die Forderungnach freien Wahlen in der DDRin den Vordergrund.

In seinem Bericht zur Lage derNation nannte BundeskanzlerKohl als weitere Bedingungenfür eine „neue Dimension" wirt-schaftlicher Hilfe an die DDRden Verzicht der SED auf ihrMachtmonopol und die Zulas-sung unabhängiger Parteien.Den „grundlegenden politischenund wirtschaftlichen Wandel inder DDR zu tördern, ist unsere,nationale Aufgabe", sagte derKanzler. Er betonte, daß der

Massenexodus aus der DDRnicht das Ziel der Deutschland-politik sein könne.

Der SPD-Partei- und Frak-tionsvorsitzende Vogel bot derBundesregierung Zusammenar-beit sowohl bei der Unterstüt-zung des Reformprozesses in derDDR als auch bei.der Lösung derdurch die große Übersiedlerzahlentstehenden Probleme an. Ge-meinsame Arbeitsgruppen vonRegierung, Opposition undFachleuten sollten entsprechen-de Konzepte ausarbeiten. BerlinsRegierender BürgermeisterMomper (SPD) schlug vor, inBerlin einen „runden Tisch" derbeiden deutschen Staaten zurErörterung der nur gemeinsamlösbaren Fragen einzurichten.

Ungeteilten Respekt zolltenSprecher der vier Fraktionenden DDR-Bürgern, die seit Wo-chen mit friedlichen Demonstra-tionen die Veränderungen in ih-rem Land vorantreiben. Mit un-terschiedlichen Akzenten warn-ten Politiker aller Parteien da-vor, den DDR-Reformern Rat-schläge zu erteilen. Gleichzeitigäußerten sie Verständnis fürjene, die trotz der beginnendenUmgestaltung der DDR ihre Hei-mat verlassen. Nach AngabenKohls sind in diesem Jahr bereitsmehr als 200 000 DDR-Bürger inden Westen gekommen. Bei derUnterbringung und Eingliede-rung der Menschen aus der DDRgehe es um eine „Aufgabe vennationalem Rang".

Weiter Streit um Thema WiedervereinigungIn der Diskussion um die Wie-

dervereinigung wurden großeUnterschiede vor allem zwi-schen der CDU/CSU einerseitssowie FDP, SPD und Grünen an-dererseits deutlich.

Der Kanzler unterstrich, daßdie Bundesregierung an ihrerDeutschlandpolitik festhaltenwerde. „Weniger denn je habenwir Grund zu resignieren unduns auf Dauer mit der Zwei-staatlichkeit Deutschlands ab-zufinden." Auch der Vorsitzen-de der CDU/CSU-Fraktion,Dregger, unterstrich das Zielder staatlichen Einheit Deutsch-

lands. Ein solcher Staat werde„eine demokratische Verfas-sung nach dem Beispiel desGrundgesetzes haben. Etwasanderes kommt für uns über-haupt nicht in Frage."

Vogel zitierte dagegen Erklä-rungen von Oppositionsgrup-pen in der DDR, die die Existenzzweier deutscher Staaten aufabsehbare Zeit als Grundlagefür die weitere Entwicklung derDDR betrachten. Er warf Uni-onspolitikern „selbstüberhebli-che Rechthaberei", vor.

Die Grünen-AbgeordneteAntje Vollmer erklärte, zum er-

sten Mal entstehe in diesen Wo-chen eine eigene DDR-Identität:„In dieser Lage von Wiederver-einigung zu sprechen, heißt, dasScheitern der Reformbewegungzu postulieren."

FDP-Fraktionschef Misch-nick sagte, der Reformprozeß inder DDR sei auch ein Schritt zurÜberwindung der Teilung. DieEinheit Deutschlands sei für ihnein „zukunftsgewandtes euro-päisches Friedensziel", stellte erfest und erhielt dafür auch Zu-stimmung von SPD-Rednern.Siehe auch Kommentar undweiteren Bericht im Innern

Regierungschefs: Konsortium soll MBB-Marinetechnik ÜbernehmenEin Konsortium soll die Marine-technik von MBB und Daimler-Benz übernehmen, die beide Un-ternehmen vor ihrer Fusion ver-kaufen müssen. Darauf einigtensich gestern in Hamburg mitVertretern der Industrie die Re-gierungschefs der vier nord-deutschen 'Küstenländer (vonlinks) Björn Erigholm (Schles-wig-Holstein), Ernst Albrecht(Niedersachsen), Klaus Wede-meier (Breiiaen) und Henning

Voscherau (Hamburg). DemKonsortium gehören die Fried.Krupp GmbH mit 35 Prozent so-wie die Salzgitter AG und dieBremer Vulkan AG mit jeweils30 Prozent an. Die restlichenfünf Prozent werden von den

'* niedersächsischen WerftenAbeking und Rasmussen sowieLuerssen gehalten. Die vier Kü-stenländer hatten zuvor deut-lich gemacht, daß beim Verkaufvon MBB- und Daimler-Ge-

schäftszweigen in der Marine-technik die strukturpolitischenInteressen der Region berück-sichtigt werden müßten. Vo-scherau dementierte gestern ei-nen Bericht der „SüddeutschenZeitung", nach dem die geplanteFusion Daimler-MBB vor demScheitern stehe. Er betonte, erhabe keine Arbeitsplatzgaran-tien für die Hansestadt gefor-dert.

(dpa-Funkbild)

SED-Mitglieder demonstrierten vor ZK-Gebäude

Krenz: Bald „konkrete Taten"Fortsetzung

SED-Generalsekretär Krenzsprach gestern abend spontanvor Parteiabordnungen aus Ost-Berliner Betrieben, die sich vordem Haus des Zentralkomiteesversammelt hatten. .Für Don-nerstag oder Freitag kündigte er„konkrete Taten" an. Auf derKundgebung, die von Grundor-ganisationen der SED veranstal-tet worden war, informierte dasneue und alte PolitbüromitgliedSchabowski die Demonstrantenüber die Neuwahl des Politbü-ros. Dabei gab es bei einigen Na-men ein Pfeifkonzert. Andere,wie der des Dresdner SED-Be-zirkschef Modrow, wurden mitstarkem Beifall bedacht. *

Inzwischen hat ein weiteresprominentes SED-Mjtglied seinAmt, niedergelegt: Der langjäh-rige Magdeburger Oberbürger-meister Werner Herzig, cler inden vergangenen Wochenmehrfach kritisiert worden war,trat zurück.

Als erste von 16 DDR-Einzel-gewerkschaften im Freien Deut-schen Gewerkschaftsbund

(FDGB) hat gestern die Indu-striegewerkschaft Bau-HolzNeuwahlen zur Volkskammerim kommenden Jahr gefordert.In einer über ADN veröffent-lichten Erklärung verlangte derGewerkschaftsvorstand, dieWahlen müßten „auf der Grund-lage einer neuen, wahrhaft de-mokratischen Wahlordnungstattfinden". Die Wahlergebnis-se sollten öffentlicher Kontrolleunterworfen werden.

Die DDR-Zeitung „Der Mor-gen" hierichtete gestern über„schreiende" Wahlfälschungenbei den Kommurtalwahlen imMai. Der Chefdramaturg an derDeutschen Staatsoper in Ost-Berlin, Manfred Haedler, sprachvon „bösen Erfahrungen" alsMitglied eines Wahlvorstands.

Änderungen für Pkw

Vom 1. Dezember''an will dieDDR die Ein- und Ausfuhr vonPrivatfahrzeugen liberalisieren.Diese in den DDR-Zeitungenveröffentlichte Ankündigung

sieht vor, daß für die Einfuhr fastaller Fahrzeuge sowie die Aus-fuhr geschenkter Fahrzeuge Ge-bühren zwischen drei und 14DDR-Mark je Kubikzentimeterzu entrichten sind. Bei einemneuen VW-Golf mit einem Hub-raum von 1300 Kubikzentimeterwären dies mindestens 3900 undhöchstens 18 200 DDR-Mark.Das ist mehr als die Hälfte desBetrages, der für einen mit die-sem VW-Motor ausgerüsteten„Wartburg" aus DDR-Produk-tion hinzublättern ist.

Die Anordnung betrifft Pkw,Kleintransporter, Kleinbusse,Krankenfahrstühle, Motorräderund Kfz-Ersatzteile. Sie könneneingeführt werden, wenn es sichum Schenkungen bzw. den Kaufaus Devisenguthaben handeltund sie nicht älter als vier Jahrenach der Erstzulassung sind.Fahrzeuge können auch als Um-zugs-und Erbschaftsgut einge-führt werden. X

Die Ausfuhr von Autos alsUmzugs -und Erbschaftsgut istgebührenfrei.

1990/Hasselfeldt: Neues Ausländergesetz

300 000 neue NachbesserungWohnungen gefordert

Bonn (AP/dpa). Im nächstenJahr werden nach Schätzungvon Bundesbauministerin GerdaHasselfeldt durch Neu- undAusbau über 300 000 neueWohnungen entstehen, rund50 000 mehr als 1989. Vor Jour-nalisten räumte sie gestern inBonn jedoch ein, daß die Maß-nahmen des jüngsten Koali-tionsprogramms nicht so raschgreifen, um alle Probleme desZuzugs der Aus- und Übersied-ler schnell lösen zu können.

Die Ministerin hat nach eige-nen Angaben Kontakt mit demPräsidenten der Bundesanstaltfür Arbeit, Franke, aufgenom-men, um der Bauwirtschaft beider Suche nach neuen Arbeits-kräften zu helfen. Verstärkt mo-bilisiert werden sollten auchAus- und Übersiedler. Gegebe-nenfalls müßten auch die Kon-tingente an osteuropäischenLeiharbeitern erhöht werden.Einzelheiten des Wohnungsbau-pakets auf der Wirtschaftsseite

Bonn (dpa). Der Entwurf fürdas geplante Ausländergesetzmuß nach Ansicht zahlreicherFachleute noch erheblich nach-gebessert werden. Auf einer vonden Grünen am Mittwoch inBonn veranstalteten Anhörungstieß das von InnenministerSchäuble vorgelegte Gesetz inseinen größten Teilen auf Ab-lehnung.

Wie es von Anhörungsteil-nehmern hieß, wurden in denAbstimmungsgesprächen zwi-schen den Ministerien inzwi-schen mehr als 300 Änderungs-anträge vorgebracht. Am 15.November SGII der Entwurf je-doch bereits vom Kabinett ver-abschiedet werden.

Die Experten von christlichenKirchen und Verbänden bemän-gelten vor allem, daß den langeZeit in der Bundesrepublik le-benden Ausländern nicht mehrRechtssicherheit eingeräumtwerde.

Fast einhellige Bundestags-Entschließung

Weitreichende Garantiefür Polens Westgrenze

Bonn (dpa). Der Bundestag hateinen Tag vor der Polen-Reisevon Bundeskanzler Kohl fasteinhellig die bisher weitestrei-chende Garantie für den Be-stand der polnischen Westgren-ze ausgesprochen. Mit 400Stimmen, bei vier Gegenstim-men und 33 Enthaltungen vorallem der Grünen, votierten dieAbgeordneten am Mittwoch füreinen Entschließungsantrag vonCDU/CSU und FDP, dem auchdie SPD ihre Zustimmung gab.

Darin wird einerseits dierechtliche Grundlage des War-

VWe der Entschließungsantrag vonCDU/CSU und FDP zustande kam,lesen Sie im Innern. '

schauer Vertrages von 1970(iargelegt, in dem die Bundesre-publik die Unverletzlichkeit derGrenzen bekräftigt, aber gleich-zeitig in der Grenzfrage auf denrechtlichen Vorbehalt einesFriedensvertrags für ganz

Deutschland verwiesen. Ande-rerseits heißt es in der Ent-schließung an die Adresse despolnischen Volkes: „Es soll wis-sen, daß sein" Recht, in sicherenGrenzen zu leben, von unsDeutschen weder jetzt noch inZukunft durch Gebietsansprü-che in Frage gestellt wird."

Die Grünen stimmten nicht fürden Koalitionsantrag, weil er ih-nen nicht weit genug geht. 27Unionsabgeordnete um den Ver-triebenenpolitiker Helmut Sauer- darunter Herbert Czaja, Phil-ipp Jenninger, Heinrich Winde-len - betonten vor der Abstim-mung in einer schriftlichen Er-klärung, ihre Zustimmung ände-re nichts an ihrer Auffassung,daß Deutschland rechtlich imGebietsstand von 1937 fortbe-stehe. Es gebe kein völkerrecht-lich wirksames Dokument „zurAbtrennung von 108 000 Qua-dratkilometern von Deutsch-land". Gegen die Entschließungstimmte der CDU-AbgeordneteFranz-Hermann Kappes.

Arbeitskräftemangel Fernsehen

Stasi-Angehörigein die Produktion

Berlin (dpa). Der durch denFlüchtlingsstrom in der DDRentstandene Arbeitskräfte-mangel soll nun auch durchEinsatz von Mitarbeitern desStaatssicherheitsdienstes (Sta-si) behoben werden. Das Mini-sterium hat in „Anbetrachtdringender Erfordernisse" So-fortmaßnahmen beschlossen,wonach 385 Angehörige desStasi künftig produktive Ar-beiten ausführen sollen. LautADN sollen unter anderem232 von ihnen als Lastwagen-Fahrer tätig sein, andere Kraft-fahrzeuge reparieren. 21 Ärzteund medizinische Hilfkräftesollen im Gesundheitsweseneingesetzt werden.

West-Programmein DDR-Zeitungen?

Berlin (dpa). DDR-Bürgerwerden möglicherweise baldaus ihren Zeitungen über dieTV-Programme westlicherSender informiert. Der Chefre-dakteur der DDR-Programm-zeitschrift „FF Dabei", Wag-ner, kündigte am Mittwoch an,die Entscheidung werde inetwa zwei Wochen fallen.

Die DDR-Bürger werden am19. November erstmals in einerLive-Sendung des WDR-Fern-sehens in Leipzig über die„DDR im Umbruch" diskutie-ren. Die Sendung ist Bestand-teil der „NRW-Kulturpräsen-tation Leipzig". Sie wird aller-dings nur in West 3 übertra-gen.

HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE

ALLGEMEINEHerausgeber

Rainer Dierichs, Dr. Dietrich Batz,' Achim von Roos

ChefredakteurLothar Orzechowski

Stellv. ChefredakteureWolfgang Rossbach, Peter M. Zitzmann

Verantwortliche Redakteure

Chef vom Dienst: Rainer Merforth. Politik:Jochen Prater. Blick in die Zeit: WalterSchütz. Wirtschaft und Sozialpolitik: HorstSeidenfaden. Kultur. Dirk Schwarze. Frauu. Reise: Ilse Methe-Huber. Sport: Rolf Wie-semann. Sonntagszeit: Frank Thonicke.Kassel Stadt und La'nd: Wolfgang Ross-bach. Bezirksredaktionen1 Peter M. Zitz-mann. Koordination: Helmut Lehnart. Hes-sen/Niedersachsen. Eberhard Heinemann.Chefreporter Karl-Hermann Huhn. Son-derthemen: Peter Ochs.Redaktion Wiesbaden: Rolf EffenbergerRedaktion Hannover Harald BirkenbeulRedaktion Bonn- Hans Ludwig Laucht.

Verlagsleitung

Dr. Dietrich Batz, Rainer Dierichs, WigbertH. Schacht. Anzeigenleiter Horst Prehm.Vertriebsleiter Gerd Lühnng.

Verlag Dierichs GmbH & Co KG, Frankfur-ter Str. 168. Postfach 10 10 09, 3500 Kas-sel, Ruf 05 61/20 3-0. Tel. Anzeigenan-nahme 05 61/20 3-3. Fernschreib-Nr.99 635, Telekopierer 05 61 20 36 Teletex5 618110. Postgirokonto 155132-608Frankfurt/M. Anzeigenpreisliste Nr. 29 Mo-natlicher Abonnementspreis DM 25,60 inkl.Zustellung und 7% MwSt. (Postbezugspreis 28,50 DM).

Die Beendigung des Abonnements ist nurmit schriftlicher Kündigungserklärung unterEinhaltung einer Frist von einem Monatzum Monatsende möglich; die Frist läuft abZugang der schriftlichen Kündigungserklä-rung.

Auflage werktags über 270 000 Exemplarein Tarifgemeinschaft mit ..OberhessischePresse", Marburg, „Hersfelder Zeitung".„Werra-Rundschau", Eschwege, „Harzku-rier", Herzberg.Auflage „Sonntagszeit" über 200 000ExemplareHerstellung Druckhaus Dierichs Kassel.Frankfurter Straße 168 35 Kassel

Page 78: Vor dem Mauerfall: Zeitungsberichte von damals

Nr. 262 Themen des Tages Donnerstag, 9. November 1989

DramatischeLage der NationWaras in vielen Jahren nationalePflichtübung war, hat eine dramati-sche Dimension bekommen. DesBundeskanzlers Bericht zur Lageund die Aussprache darüber wer-den illustriert von den Bildern einerrasanten Bewegung. Jedermannerfährt täglich hautnah, was sichvollzieht in diesem Deutschland,über das so lange nur geredet wur-de. Die Vision von einem Wandeltrifft uns mit voller Wucht. Die Ge-schichte, die wir Deutschen beson-ders gern für uns in Anspruch neh-men, hat uns vom Kopf auf dieFüße gestellt. Was soll nun wer-den?

Die Parteien sind sich einig imdemokratischen Grundverständ-nis, das keine Grenzen kennt. Dasist, bedenkt man Anfechtungenund Zweifel zuvor, enorm. Was dieBundesrepublik prägt, muß sichdemnach auch in der DDR vollzie-hen: Freiheit in des Wortes vollerBedeutung, um es mit einem Satzzu sagen. Das verträgt weder denMachtanspruch einer Partei nochManipulation der Menschen. DieDeutschen auch drüben sollenselbst entscheiden, was sie wol-len.

Jene, die in Massen zu uns kom-men, haben sich entschieden..Aber das kann keine Lösung derdeutschen Frage sein, wie HelmutKohl in der Not bekannte. Nicht dieAbstimmung mit den Füßen bringtdie Umwälzung; die Sachemüssenjene in die Hand nehmen, die inihrer Heimat bleiben wollen. Ihnenvom sicheren Porte, aus zu raten,sollte genau überlegt sein. Ihnengar, wie Alfred Dregger es unter-nimmt, die Bundesrepublik überzu-stülpen, grenzt an Anmaßung. Ge-rade in stürmischer Zeit brauchtman einen langen Atem. Sich zugebärden, als stünde die Wieder-vereinigung vor der Tür, widerläuftder nationalen Pflicht. Die Obhuts-pflicht gebietet Sorge für alle Deut-schen, aber sie beinhaltet nichtdas Recht, den Weg vorzuschrei-ben. Die Menschen in der DDRsprechen schon für sich sejbst.

Alfred Brugger

MutigeRichterZ.um zweiten Mal binnen acht Ta-gen hat der Hessische Verwal-tungsgerichtshof Landesumwelt-minister Weimar die gelbe Kartegezeigt. Im Fußball wäre dasgleichbedeutend mit Platzverweis.Das gibt es in dieser Form in derPolitik nicht - aber vielleicht nimmt,um im Bild zu bleiben, „Trainer"Wallmann ihn ja freiwillig vom Feld.Erst Alkem, jetzt Hoechst, es wärewohl an der Zeit. •

Doch es geht um mehr als umKärl-Heinz Weimar und seine Ge-nehmigungspraxis über Bürger-Einwände hinweg. Der Richter-spruch hat Auswirkungen auf dieGenforschung in der gesamtenBundesrepublik. Die Entscheidungvon Kassel liefert die Grundlagedafür, jede Produktion erbgutver-änderter Zellen und sogar jedepraktische Forschung auf demFeld der Gentechnik zu stoppen.(

Mit ihrer mutigen Begründunghaben die Kasseler Richter Zei-chen gesetzt: Es kann nicht dieAufgabe der Rechtsprechungsein, die Schularbeiten der Politi-ker zu machen. Der umgekehrteWeg ist der einzig richtige: Bonnmacht die Gesetze und die Gerich-te überprüfen sie. An diesem Prin-zip darf vor allem dann nicht gerüt-telt werden, wenn es um Fragensolcher Tragweite geht wie im Fallder Gentechnik. Denn sie birgt un-geahnte Gefahren. Welches „Rest-risiko" hinzunehrnen der Staat umdes Fortschritts willen bereit ist,muß zunächst gesetzlich geregeltwerden. Solange dies nicht ge-schehen ist, dürfen weder Ministernoch Richter irgendwelche Vorab-genehmigungen erteilen.

„Wir sollten nicht die Fehler ausder Kernenergie wiederholen, ein-fach einzusteigen und Jahre spä-ter die Probleme zu haben." Die-sem Satz ist eigentlich nichts hin-zuzufügen. Außer vielleicht, daß ervon Karl-Heinz Weimar stammt.Doch als er ihn sprach - es war imJuni dieses Jahres - hatte er dieGenehmigung für Hoechst längsterteilt. • Peter Ochs

Das Zitat„Bestand haben wird nur ein Staat,der glaubwürdig ist. Mit einer Re-gierung, der man vertraut."

DDR-Autor Stefan Heym

Der plötzliche Aufstieg des Hans Modrow

Gehört nicht zu den „Wendehälsen"V o n u n s e r e m M i t a r b e i t e r P e t e r G ä r t n e r , B e r l i n

Haans Modrow, der künftigeRegierungschef der DDR, gehörtnicht zu den „Wendehälsen" desLandes, von denen die DDR-Schriftstellerin Christa Wolfmeinte, sie blockierten dieGlaubwürdigkeit der neuen Po-litik am meisten. Der 61jährigePolitiker, seit mehr als zwei Jah-ren als „Hoffnungsträger" unterden Menschen zwischen Erzge-birge und Ostsee gehandelt,zählt zu den wenigen Persön-lichkeiten der SED-Spitze, diedas gestrandete Schiff noch ein-mal flott machen könnten.

Bei seinen öffentlichen Auf-tritten demonstriert der „Er-neuerer" genau jene Eigenschaf-ten, die die Menschen in derDDR bislang von ihren Oberenvermissen: Gesprächsbereit-schaft, Offenheit und Realitäts-nähe. Zwar sei er kein „großerRedner", wie ein Dresdner be-

merkt, doch könne er auf Men-schen zugehen und auch zuhö-ren. Am vergangenen Montagreihte sich Modrow gemeinsammit dem Dresdner Oberbürger-meister Wolfgang Berghofer mitden Worten „Auch wir sind dasVolk" in den nicht genehmigtenDemonstrationszug ein.

Zuvor brachte der Gorba-tschow-Anhänger, der mit einerRussin verheiratet ist, den Dia-log mit Bürgern und oppositio-nellen Gruppen in der Elbestadtam schnellsten voran. Trotz derPfiffe und Buh-Rufe, die auchModrow in den letzten Tagengalten, sind seine Umgestal-tungsvorstellungen seit langembekannt. Sie scheiterten in derVergangenheit stets an seinemIntimfeind Erich Honecker. Derabgesetzte SED-Generalsekre-tär wies den „Hoffnungsträger"immer wieder in die Schranken.

Hinter Modrow steht nichtnur die Parteibasis der Südbe-zirke, sondern auch viele ganznormale Menschen. Sie rechnendem „Bezirksfürsten" vor allemden Verzicht auf die üblichenPrivilegien hoch an: Die Dienst-villa hat er zugunsten einer ge-wöhnlichen Drei-Zimmer-Neu-bauwohnung ausgeschlagen.Auch einer schwedische Luxus-Karosse zog er einen schlichtenLada vor.

Die Karriere des im mecklen-burgischen Jasenitz geborenenReformers begann wie die sovieler anderer Parteifunktionärein der staatlichen Jugendorgani-sation FDJ. Sein Aufstieg unterdem früheren SED-Generalse-kretär Walter Ulbricht ging lük-kenlos weiter: von 1967 bis1971 war Modrow Sekretär fürAgitation und Propaganda der

SED in Ost-Berlin, danach bis1973 Leiter der Abteilung Agi-tation des Zentralkomitees derPartei.

Erst zwei Jahre nach demSturz von Walter Ulbricht ge-lang es. Erich Honecker, seinenunliebsamen Konkurrenten alsBezirkschef in den SüdbezirkDresden, fern der Ost-BerlinerZentrale, abzuschieben. Dochsein Einfluß ging im Laufe derZeit weit über die Grenzen derProvinz hinaus. Aus Kirchen-kreisen ist bekannt, daß Mo-drow sich auch dann als Ge-sprächspartner zeigte, wennHonecker den offiziellen Bezie-hungen Staat-Kirche „Eiseskäl-te" verordnete.

Seinen Ruf als Reformerkonnte der ehemalige Ulbricht-Gefolgsmann bislang nur in derDresdner Provinz gerecht wer-den. Als neues Politbüro-Mit-

Hans Modrow(dpa-Funkbild)

glied, so hoffen SED-Genossen,und vor allem als künftiger Re-gierungschef könnte er es viel-leicht noch schaffen, das fast aufden Nullpunkt gesunkene An-sehen der Partei wieder anzuhe-ben.

Das Personalkarussell drehte sich immer schnellerInnerhalb von nur drei Wochenhat die DDR ihre gesamte Füh-rungsspitze in Partei und Staaterneuert. Das Personalkarusselldrehte sich zuletzt immerschneller.

Mittwoch, 18. Oktober: DDR-Staats- und Parteichef Erich Ho-necker (77) tritt zurück undschlägt zugleich den 52jährigenEgon Krenz als seinen Nachfol-ger vor. Noch am selben Tagwerden die für Wirtschaft undMedienpolitik zuständigen Po-litbüromitglieder Günter Mittag(63) und Joachim Hermann (60)von ihren Ämtern entbunden.

Donnerstag, 2. November:Der Vorsitzende des DDR-Ge-werkschaftsbundes FDGB, Har-ry Tisch (62), erklärt seinenRücktritt. Annelis Kimmel (55)wird zur Nachfolgerin gewählt.Volksbildungsministerin Mar-got Honecker (62) sowie der

Chef der DDR-CDU, GeraldGötting (65), und der Vorsitzen-de der NationaldemokratischenPartei Deutschland (NDPD),Heinrich Homann (78), erklärenihren Rücktritt. Am selben Tagwerden in den Bezirken Suhlund Gera neue SED-Bezirk-schefs ernannt.

Freitag, 3. November: Staats-und Parteichef Krenz kündigtdas Ausscheiden mehrerer Spit-zenfunktionäre aus dem SED-Politbüro an. Er nennt den fürAußenpolitik zuständigen Her-mann Axen (73), den für Kulturund Wissenschaft verantwortli-chen Kurt Hager (77), Staatssi-cherheitschef Erich Mielke (81),den Vorsitzenden der Partei-kontrollkommission, ErichMückenberger (79), sowie denersten stellvertretenden Mini-sterpräsidenten Alfred Neu-mann (79). Der Leipziger Ober-

bürgermeister Bernd Seidel(SED) tritt zurück.

Samstag, 4. November: InSchwerin kommt ein neuerSED-Bezirkschef an die Macht.

Dienstag, 7.. November: Diegesamte DDR-Regierung, der45köpfige Ministerrat unter Lei-tung von MinisterpräsidentWilli Stoph (75), beantragt ihrenRücktritt.

Mittwoch, 8. November: Ge-nau 21 Tage nach dem Aus-scheiden Honeckers tritt dasPolitbüro der SED, das mäch-tigste Organ der DDR, komplettzurück.

Der Dresdner SED-Bezirk-schef Hans Modrow (61) wirdvom Zentralkomitee (ZK) insneue Politbüro gewählt. Zu-gleich schlägt das ZK Modrowals Nachfolger von Regierungs-chef Stoph vor.

(dpa)

Politbüro, Zentralkomitee, StaatsratIn der DDR-Verfassung ist dieFührungsrolle der Sozialisti-schen Einheitspartei Deutsch-lands (SED) als marxistisch-le-ninistische Partei der Arbeiter-klasse festgeschrieben.

Ihr aus 163-Vollmitgliedernund 50 Kandidaten bestehendesZentralkomitee (ZK) ist dashöchste Organ zwischen denParteitagen. Es wählt aus seinenReihen das Politbüro mit (bis-her) 21 Mitgliedern und fünfKandidaten.

Das Politbüro hält damit dieeigentliche Macht in den Hän-den, da es alle grundsätzlichenpolitischen und personellenEntscheidungen trifft. Es mußdem ZK Rechenschaft über sei-ne Arbeit ablegen. Das ZK wähltaußerdem ein Sekretariat, dasdie laufende Parteiarbeit organi-siert.

ZK-Generalsekretär und auch

Mitglied des Politbüros ist EgonKrenz. Als Staatsratsvorsitzen-der bekleidet er' auch das Amtdes Staatsoberhaupts der DDR.Krenz gehört aber nicht demvon der Volkskammer (dem Par-lament) gewählten und amDienstag zurückgetretenen Mi-nisterrat (der Regierung) an.

Der Staatsrat wird ebenfallsvon der Volkskammer gewähltund hat 29 Mitglieder. Daruntersind auch Vertreter der Block-parteien der DDR und der Mas-senorganisationen wie desDDR-Gewerkschaftsbundesund der JugendorganisationFDJ. Der Staatsrat vertritt dieDDR völkerrechtlich, schreibtWahlen aus und überwacht dieobersten Gerichte. Außerdemernennt er den Nationalen Ver-teidigungsrat, dessen Vorsit-zender ebenfalls Krenz ist.

(dpa)

ffll

Mit großem Gefolge und kleinem Gepäck (Karikatur: Wolf)

Presse-EchoMit dem Polenbesuch Kohls beschäfti-gen sich viele Blätter

BoDifche Ä 3cttun0Jetzt muß die Hintertür end-

lich dicht gemacht werden,durch die jeder, der vorn denPolen treuherzig die Unverletz-lichkeit ihrer Grenzen zusi-chert, hintenherum den deut-schen Heimatvertriebenen au-genzwinkernd signalisierenkann: Im Grunde sei ja noch garnichts entschieden, weil erst einFriedensvertrag endgültigeGrenzen festlegen könne... MitRecht begreifen die Polen diesefeingesponnene Doppeldeutig-keit als Täuschungsversuch.

Selten war ein offizieller Be-such des Bundeskanzlers mit sovielen Unwägbarkeiten behaftetwie die anstehende Polenreise.Es fällt auf, daß KanzlerberaterHorst Teltschik am Vorabend

dieses als historisch empfunde-nen Besuchs darum zu tun ist,alle Erwartungen auf ein Min-destmaß zu dämpfen. Von einem„neuen Kapitel", das man in derso tragisch belasteten Geschich-te der beiden Völker aufschla-gen wollte, ist nicht mehr dieRede. Statt dessen sagte Telt-schik, daß es bis zu einer end-gültigen Aussöhnung zwischenPolen und Deutschen noch einweiter Weg sein wird.

Zum Wohnungsbauprogramm schrei-ben die

üübctfcrüNadjrtdjtcnEs mag schon ein zweites

Wirtschaftswunder sein, daß dieZehntausende von jungen DDR-Flüchtlingen ausgerechnet in ei-ner Zeit „kapitalistischer"Hochkonjunktur kommen undzum größten Teil ohne Schwie-rigkeiten Arbeit finden. Aberdie sozialistischen Bequemlich-keiten -sind in der freien Gesell-schaftsordnung keineswegs

selbstverständlich: BilligerWohnraum und genügend Kin-derkrippen bleiben die Ausnah-me. Daran wird auch das gesternmit ungewohnter Eile von derBundesregierung beschlosseneWohnungsbauprogramm wenigändern können.

Dazu die

So wichtig dieser Impuls seinmag: -Zum Neubau muß sich dieMobilisierung bereits bestehen-den Wohnraums gesellen. Ei-nerseits macht die Statistikdeutlich, daß die Versorgungpro Haushalt so schlecht nichtist. Andererseits dürften ange-sichts des kräftig weiter fließen-den Aus- und Übersiedler-stroms mehr als die bisher ver-anschlagten eine Million Wohn-einheiten fehlen. Ein großer Teildavon würden verfügbar, könn-te die Fehl- und Unterbelegungder Sozialwohnungen gemindertwerden.

Egon Krenz und der Umbau des Politbüros

Die Suche nach derrechten MischungVon dpa-Korrespondent Joachim Schottes

LJie SED versucht den Neuan-fang mit halbiertem Politbüround einem Exponenten des Re-formflügels als Aushängeschild.Dem Dresdener SED-Bezirk-schef Hans Modrow, der bishernoch nicht einmal Kandidat desPoltibüros war, gelang am Mitt-woch nicht nur der Aufstieg indas höchste Machtgremium derPartei, er soll auch Ministerprä-sident werden. Nach dem vonden Parteien geäußertenWunsch, die Regierung und dieVolkskammer sollten gestärktwerden, hofft die SED offenbarso, mit dem „Hoffnungsträger"ein kräftiges Reformzeichen zusetzen.

Sollte nach letzter Ankündi-gung des Vorsitzenden der Par-tei, Egon Krenz, auf der dreitägi-gen Sitzung des ZK zuerst einAktionsprogramm und dannKaderfragen (Personalfragen)behandelt werden, sah es kurznach zehn Uhr am Mittwochmorgen schon völlig anders aus.Um 10.40 Uhr meldete die DDR-Nachrichtenagentur ADN in ei-ner Blitz-Meldung, daß nichtnur das Politbüro zurückgetre-ten war, sondern auch die Ta-gesordnung umgeworfen wurde:Kaderfragen standen nun an er-ster Stelle.

Halbierte Mannschaft

Egon Krenz wird Parteichefbleiben. Er hatte sich für Refor-men ausgesprochen. Das neuePolitbüro, dem nur noch elf stattbisher 21 Personen angehören,ist nach Meinung von Beobach-tern eine Mischung der Partei-ilügel, bei dem den Bedürfnissender Wirtschaft, der Sicherheitsowie der Zusammenarbeit mitder Sowjetunion Rechnung ge-tragen wurde. Den dem Reform-flügel zugezählten Modrow,Günter Schabowski und Wer-ner Eberlein wurden auf der an-

deren Seite Hans-Joachim Böh-me, der alte Verteidigungsmini-ster Heinz Keßler und WernerJarowinski entgegengesetzt. Of-fenbar sollen die Reformen auchdurch Vertreter des alten Flü-gels abgestützt werden. Wolf-gang Herger, der als enger Ver-trauter von Krenz git, leitete bis-her die Sicherheitsabteilung.

Absage an alte Linie

Mit der Nichtberufung der ur-sprünglich vorgeschlagenenHorst Dohlus, Günther Kleiberund Gerhard Müller wurde Ver-tretern der alten SED-Linie eineAbsage erteilt. Den ungewöhn-lichen Sprung, nicht einmalKandidat des Politbüros zu seinund dann in das höchste SED-Gremium gewählt zu werden,schafften gleich drei Personen.Auch die ungewöhnliche Kon-struktion, Klaus Höpke, der alsReformer gilt, und Gregor Schir-mer als Leiter der Kultur- undder Wissenschaftskommission„beim Politbüro" zu wählen undsie an den Sitzungen teilnehmenzu lassen, zeigt offenbar denWillen der SED, neue Wege zugehen.

Mit der Halbierung der Zahlder Politbüromitglieder wird ge-hofft, das Entscheidungsgremi-um wieder handlungs- und ent-scheidungsfähiger zu machen.

Der Erwartungsdruck der Be-völkerung hatte die SED über-rollt. Hunderttausende warenwochenlang auf die Straße ge-gangen und hatten unter ande-rem radikale Veränderungen,Freiheit und freie Wahlen gefor-dert. Der Entwurf des Reisege-setzes wurde vom Verfassungs-ausschuß der Volkskammernicht gebilligt. Die DDR-Bürgerfühlten sich nach eigenen Aus-sagen „verarscht". Der Drucknahm innerhalb weniger Stun-den noch mehr zu.