vielgestaltige umwelt: antrieb zur entstehung des lebens?!

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Entstehung des Lebens Vielgestaltige Umwelt: Antrieb zur Entstehung des Lebens?!** Hans Kuhn* und Christoph Kuhn Stichwˆrter: Entstehung des Lebens ¥ Evolution ¥ Genetischer Apparat ¥ Homochiralit‰t ¥ Informationsentstehung ¥ Selbstorganisation Was ist f¸r die Entstehung des Lebens entscheidend? Wir wollen hier nicht nach chemischen Einzelheiten fragen, sondern versuchen die grunds‰tzlichen Motivationen zu sehen, die zu dem erstaunlichen Prozess der Selbstorgani- sation zu einfachsten Formen des Le- bens f¸hren. Das sollte zur Stimulation von Experimenten n¸tzlich sein. Es wird oft angenommen, dass Leben im Prinzip in einem homogenen Medium oder an einer reaktiven Grenzfl‰che durch Selbstorganisation aus innerer Notwen- digkeit entstehen kann (siehe beispiels- weise Lit. [1]). Prozesse dieser Art sind bekannt, aber ist es wirklich mˆglich, dass ein solcher Prozess zu einer so raffinierten Maschine wie dem geneti- schen Apparat der Biosysteme f¸hren kann? Die Vorstellung, dass Leben in einem Chaos aus lebloser Materie all- m‰hlich entsteht ist faszinierend, aber kann diese Auffassung genauer begr¸n- det werden? Ist der Prozess nicht prin- zipiell anders zu beschreiben? Sind nicht ganz spezielle, vielf‰ltige, perio- disch sich ver‰ndernde Umweltbedin- gungen als antreibende Kraft zur Bil- dung immer komplexerer Formen bis hin zum genetischen Apparat prinzipiell erforderlich? Modellweg Um die Plausibilit‰t einer Theorie ¸ber die Entstehung des Lebens zu begr¸nden, muss eine konkrete, detail- lierte Folge hypothetischer physikalisch- chemischer Prozesse aufgezeigt werden, die zu einem genetischen Apparat f¸hrt. Jeder Schritt m¸sste dennoch so einfach wie mˆglich sein, um das Grunds‰tz- liche dieser Art von Prozessen zu ver- stehen. Man kann von einem solchen Vorgehen aber nicht eine realistische Beschreibung der Vorg‰nge erwarten, die zu einem Apparat f¸hren, wie er im Biosystem tats‰chlich vorliegt, aber zu einem einfacheren Apparat mit densel- ben funktionellen Eigenschaften. Ein solcher Modellweg m¸sste immer wie- der aufgrund neuer Experimente und Erkenntnisse verbessert werden. Mit dem Gedankenexperiment wird nicht eine Beschreibung des historischen Weges angestrebt. Das Vorgehen sollte aufzeigen, wie auch chemisch ganz an- ders aufgebaute supramolekulare Sys- teme mit lebens‰hnlichen Eigenschaf- ten hergestellt werden oder Systeme dieser Art an geeigneten Stellen ¸berall im Universum entstehen kˆnnten. Die au˚erordentlich wichtigen heute besonders interessierenden Fragen im Zusammenhang mit der Lebensentste- hung (Welche Rolle spielen RNA, DNA, Peptide, Thioester, Pyrit usw. und wo fand der Prozess statt ± in den Tiefen des Ozeans, bei einem Vulkan, auf dem Mars oder an einem anderen Ort? Wie kam es zur Replikation? Welche nichtenzymatischen Stoffwech- selprozesse waren erforderlich, um die Bausteine f¸r die beginnende Replika- tion zu liefern, und um den Zugang zu einer Energiequelle zu ermˆglichen? [2] ) werden hier nicht betrachtet. Wir ver- suchen die daran anschlie˚ende Evolu- tion eines replizierenden Molek¸ls bes- ser zu verstehen, zu der Beantwortung von Fragen nach dem Mechanismus der Prozesse beizutragen, die zur geneti- schen Maschinerie f¸hren, dar¸ber nachzudenken, was nˆtig sein m¸sste damit lebende Formen entstehen. Wel- che prinzipiellen Voraussetzungen, un- abh‰ngig von der speziellen Chemie, m¸ssen erf¸llt sein, um den Prozess auszulˆsen und voranzutreiben? Was sind die Anforderungen an die Bau- steine der evolvierenden Systeme und an die Umwelt? Wie kˆnnen diese Vor- aussetzungen mit den Mitteln der Che- mie erf¸llt werden? Welche Prozesse ergeben sich als Konsequenz dieser Voraussetzungen? Um einer Beantwor- tung dieser Fragen n‰her zu kommen, versuchen wir im Gedankenexperiment einen plausiblen Weg zu Systemen mit genetischem Apparat zu finden. In einer vor kurzem erschienenen Arbeit [3] sind kritische Schritte eines Modellweges am Computer simuliert. Der Modellweg [4] geht davon aus, dass f¸r die Lebens- entstehung ganz spezifische ‰u˚ere Ein- fl¸sse grunds‰tzlich wichtig sind. Die hypothetischen Schritte f¸hren zu einem einfachen ‹bersetzungsapparat, zu ei- ner plausiblen Erkl‰rung der grunds‰tz- lichen Umstrukturierung (‹bergang von RNA zu DNA als Tr‰ger der genetischen Information) und zum gene- tischen Code der Biosysteme in den Einzelheiten. Im Folgenden werden nur grunds‰tzliche Aspekte betrachtet. [*] Prof. Dr. H. Kuhn Ringoldswilstrasse 50, 3656 Tschingel (Schweiz) Fax: (þ 41) -33-251-3379 Dr. C. Kuhn Gruppe Biophysik Institut f¸r Molekularbiologie und Biophy- sik Eidgenˆssische Technische Hochschule Hˆnggerberg, 8093 Z¸rich (Schweiz) [**] C.K. dankt Professor Kurt W¸thrich f¸r die freundliche Unterst¸tzung. Essays 272 ¹ 2003 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 0044-8249/03/11503-0272 $ 20.00+.50/0 Angew. Chem. 2003, 115, Nr. 3

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Entstehung des Lebens

Vielgestaltige Umwelt:Antrieb zur Entstehung des Lebens?!**Hans Kuhn* und Christoph Kuhn

Stichwˆrter:Entstehung des Lebens ¥ Evolution ¥ GenetischerApparat ¥ Homochiralit‰t ¥ Informationsentstehung ¥Selbstorganisation

Was ist f¸r die Entstehung des Lebensentscheidend? Wir wollen hier nichtnach chemischen Einzelheiten fragen,sondern versuchen die grunds‰tzlichenMotivationen zu sehen, die zu demerstaunlichen Prozess der Selbstorgani-sation zu einfachsten Formen des Le-bens f¸hren. Das sollte zur Stimulationvon Experimenten n¸tzlich sein. Es wirdoft angenommen, dass Leben im Prinzipin einem homogenen Medium oder aneiner reaktiven Grenzfl‰che durchSelbstorganisation aus innerer Notwen-digkeit entstehen kann (siehe beispiels-weise Lit. [1]). Prozesse dieser Art sindbekannt, aber ist es wirklich mˆglich,dass ein solcher Prozess zu einer soraffinierten Maschine wie dem geneti-schen Apparat der Biosysteme f¸hrenkann? Die Vorstellung, dass Leben ineinem Chaos aus lebloser Materie all-m‰hlich entsteht ist faszinierend, aberkann diese Auffassung genauer begr¸n-det werden? Ist der Prozess nicht prin-zipiell anders zu beschreiben? Sindnicht ganz spezielle, vielf‰ltige, perio-disch sich ver‰ndernde Umweltbedin-gungen als antreibende Kraft zur Bil-dung immer komplexerer Formen bis

hin zum genetischen Apparat prinzipiellerforderlich?

Modellweg

Um die Plausibilit‰t einer Theorie¸ber die Entstehung des Lebens zubegr¸nden, muss eine konkrete, detail-lierte Folge hypothetischer physikalisch-chemischer Prozesse aufgezeigt werden,die zu einem genetischen Apparat f¸hrt.Jeder Schritt m¸sste dennoch so einfachwie mˆglich sein, um das Grunds‰tz-liche dieser Art von Prozessen zu ver-stehen. Man kann von einem solchenVorgehen aber nicht eine realistischeBeschreibung der Vorg‰nge erwarten,die zu einem Apparat f¸hren, wie er imBiosystem tats‰chlich vorliegt, aber zueinem einfacheren Apparat mit densel-ben funktionellen Eigenschaften. Einsolcher Modellweg m¸sste immer wie-der aufgrund neuer Experimente undErkenntnisse verbessert werden. Mitdem Gedankenexperiment wird nichteine Beschreibung des historischenWeges angestrebt. Das Vorgehen sollteaufzeigen, wie auch chemisch ganz an-ders aufgebaute supramolekulare Sys-teme mit lebens‰hnlichen Eigenschaf-ten hergestellt werden oder Systemedieser Art an geeigneten Stellen ¸berallim Universum entstehen kˆnnten.

Die au˚erordentlich wichtigen heutebesonders interessierenden Fragen imZusammenhang mit der Lebensentste-hung (Welche Rolle spielen RNA,DNA, Peptide, Thioester, Pyrit usw.und wo fand der Prozess statt ± in denTiefen des Ozeans, bei einem Vulkan,auf dem Mars oder an einem anderenOrt? Wie kam es zur Replikation?Welche nichtenzymatischen Stoffwech-

selprozesse waren erforderlich, um dieBausteine f¸r die beginnende Replika-tion zu liefern, und um den Zugang zueiner Energiequelle zu ermˆglichen?[2])werden hier nicht betrachtet. Wir ver-suchen die daran anschlie˚ende Evolu-tion eines replizierenden Molek¸ls bes-ser zu verstehen, zu der Beantwortungvon Fragen nach dem Mechanismus derProzesse beizutragen, die zur geneti-schen Maschinerie f¸hren, dar¸bernachzudenken, was nˆtig sein m¸sstedamit lebende Formen entstehen. Wel-che prinzipiellen Voraussetzungen, un-abh‰ngig von der speziellen Chemie,m¸ssen erf¸llt sein, um den Prozessauszulˆsen und voranzutreiben? Wassind die Anforderungen an die Bau-steine der evolvierenden Systeme undan die Umwelt? Wie kˆnnen diese Vor-aussetzungen mit den Mitteln der Che-mie erf¸llt werden? Welche Prozesseergeben sich als Konsequenz dieserVoraussetzungen? Um einer Beantwor-tung dieser Fragen n‰her zu kommen,versuchen wir im Gedankenexperimenteinen plausiblen Weg zu Systemen mitgenetischemApparat zu finden. In einervor kurzem erschienenen Arbeit[3] sindkritische Schritte eines Modellweges amComputer simuliert. Der Modellweg[4]

geht davon aus, dass f¸r die Lebens-entstehung ganz spezifische ‰u˚ere Ein-fl¸sse grunds‰tzlich wichtig sind. Diehypothetischen Schritte f¸hren zu einemeinfachen ‹bersetzungsapparat, zu ei-ner plausiblen Erkl‰rung der grunds‰tz-lichen Umstrukturierung (‹bergangvon RNA zu DNA als Tr‰ger dergenetischen Information) und zum gene-tischen Code der Biosysteme in denEinzelheiten. Im Folgenden werden nurgrunds‰tzliche Aspekte betrachtet.

[*] Prof. Dr. H. KuhnRingoldswilstrasse 50,3656 Tschingel (Schweiz)Fax: (þ41) -33-251-3379

Dr. C. KuhnGruppe BiophysikInstitut f¸r Molekularbiologie und Biophy-sikEidgenˆssische Technische HochschuleHˆnggerberg, 8093 Z¸rich (Schweiz)

[**] C.K. dankt Professor Kurt W¸thrich f¸r diefreundliche Unterst¸tzung.

Essays

272 ¹ 2003 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 0044-8249/03/11503-0272 $ 20.00+.50/0 Angew. Chem. 2003, 115, Nr. 3

Beginn

Wie wollen von der Annahme aus-gehen, dass sich auf der pr‰biotischenErde unter der enormen Vielzahl vonBereichen mit unterschiedlichen Eigen-schaften zuf‰lligerweise irgendwo einkleiner einzigartiger Bereich befindet,der folgende wichtige Eigenschaftenhat:1) das Vorhandensein von bestimmten,

energiereichen Monomeren, diedurch die zuf‰llig gegebenen Ver-h‰ltnisse entstanden sind und immerwieder nachgeliefert werden (wirnehmen im Gedankenexperimentan, dass zwei zueinander komple-ment‰re Monomersorten vorhandensind);

2) einzigartige zeitlich-r‰umlicheStruktur, die ermˆglicht, dass sichdurch Kondensation der Monomereimmer wieder kurze Str‰nge bilden;

3) irgendwann einmal, in einem sehrseltenen Schritt, entsteht zuf‰lliger-weise ein Strang, in dem die Mono-mere so verkn¸pft sind, dass derStrang als Matrix zur Bildung deskomplement‰ren Stranges dient;

4) der Prozess setzt sich immer wiederfort; es findet unter den gegebenenBedingungen eine Vervielf‰ltigungstatt, und durch gelegentliche Ko-pierfehler entstehen Str‰nge mitverschiedenen Sequenzen von Mo-nomeren, die unterschiedliche Fal-tungsstrukturen aufweisen, und esfindet eine Selektion statt (beispiels-weise durch unterschiedliche Hydro-lyseempfindlichkeiten verschiedengefalteter Str‰nge).Trotz gro˚er Anstrengungen ist es

bisher noch nicht gelungen, einen denk-baren ersten Reproduktionsvorgang ex-perimentell zu verwirklichen,[5] aberneue Ans‰tze dazu[6,7] sind ermutigend.Sehr verschiedene Mˆglichkeiten wur-den als Ausgangspunkt f¸r die Lebens-entstehung auf der Erde vorgeschlagen,einschlie˚lich Prozesse an Mineralober-fl‰chen. Die Frage steht hier aber nichtzur Debatte. Jeder Vorschlag sollte aberdurch Angabe eines plausiblen Wegeszu einem System selbstreplizierenderRNA-‰hnlicher Ketten begr¸ndet wer-den.[8] Ein solches replikationsf‰higesSystem setzt nach dem Modell[4] dieEntstehung eines homochiralen Matrix-strangs voraus, damit das Ineinander-

passen von Matrix und dem sich bilden-den Strang gew‰hrleistet ist. Durch Zu-fall wird in einer racemischen Lˆsungvon Monomeren eine solche Matrixgebildet und danach vervielf‰ltigt. Indiesem zufallsbedingten auslˆsendenProzess wird die Ursache der Homochi-ralit‰t biologischer Systeme gesehen.Das Zustandekommen eines solchenSymmetriebruches wurde in Lit. [6] ex-perimentell realisiert. Die Experimentein Lit. [7] st¸tzen die Vorstellung einerkomplexen r‰umlich-zeitlichen Strukturals grundlegend bereits f¸r den Initial-prozess.

Das betrachtete Gedankenexperi-ment[4] beruht auf der Annahme, dassein geeignetes selbstreproduzierendesSystem experimentell realisiert werdenkann, da nichts grunds‰tzlich dagegenspricht. Aber das eigentlich R‰tselhaftein der Entstehung des Lebens ist darinzu sehen, wie sich ein solches System zueiner Ganzheit mit einem genetischenApparat entwickeln kann.

Strukturelle Vielfalt der Umwelt:

Stimulus zu stetigerKomplexit‰tszunahme

Das Entscheidende in der Entste-hung des Lebens besteht nach demModell darin, dass in dem betrachtetenkleinen Bereich, in dem sich Str‰ngevervielf‰ltigen und einer Selektion aus-gesetzt sind, gelegentlich durch Kopier-fehler ein Strang entsteht, der in einemNachbarbereich mit geringf¸gig ande-ren Eigenschaften ¸berleben und sich

vervielf‰ltigen kann (im Gegensatz zuden bisher vorhandenen Str‰ngen). DerProzess setzt sich immer weiter fort(Abbildung 1); es werden immerschwerer erschlie˚bare Bereiche mitvervielf‰ltigungsf‰higen Formen besie-delt. So entstehen notwendigerweiseimmer komplexere und raffiniertereSysteme. Damit werden die so entstan-denen Systeme zunehmend unabh‰ngigvon den ganz besonderen, engen Bedin-gungen in jenem Bereich, in welchemder Prozess begonnen hat.

Die Tatsache, dass sich auf der pr‰-biotischen Erde eine enorme Zahl vonBereichen mit unterschiedlichen Eigen-schaften befand, spielt f¸r das Modelleine zentrale Rolle. Die Vielgestaltig-keit ist der Stimulus zur steten Erhˆ-hung der Komplexit‰t. Die Vorstellung,dass in einem einzigartigen Bereich ineiner vielgestaltigen Welt eine Kettebestimmter Reaktionen unter verschie-densten Bedingungen (viele unter-schiedliche chemische Prozesse, trennenund konzentrieren) zu Molek¸len f¸hrt,die zuf‰lligerweise die Bausteine f¸r einreplizierendes System darstellen, m¸sstezu einem breit gestreuten Suchen nachMˆglichkeiten der Entstehung dieserBausteine anregen.

Periodizit‰t undKompartimentierung

Lebende Systeme sind komplexeAggregate ineinander passender Mole-k¸le. Es m¸ssen also schon f¸r die erstenSchritte geeignete Bedingungen gefun-den werden, die zur Bildung von Ag-

Bereich auseng-porigen Kompartimentenmit kurzen Strängen bevölkert

Bereich ausnoch weiter-porigen Kompartimentenmit Aggregaten bevölkert

Bereich ausweiter-porigen Kompartimentenmit längeren Strängen bevölkert(kurze Stränge diffundieren weg)

längerer Strang durchFusion zweier kurzer Stränge

Aggregat ausgeeigneten Einzelsträngen

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erstmals auftauchender, kurzer,replikationsfähiger Strang

Abbildung 1. Vielgestaltige Umwelt: Antrieb zur Komplexit‰tserhˆhung der evolvierenden Sys-teme, gekoppelt an die Besiedlung immer schwerer erschlie˚barer Bereiche. Spontan kˆnnennur kurze Str‰nge entstehen, die Bildung l‰ngerer replikationsf‰higer Str‰nge ist viel zu unwahr-scheinlich. Nach der Vervielf‰ltigung kurzer Str‰nge ist die Entstehung l‰ngerer Str‰nge durchFusion unproblematisch. Die Entstehung Aggregat-bildender Str‰nge ist von prinzipieller Bedeu-tung.

AngewandteChemie

273Angew. Chem. 2003, 115, 272 ± 276 ¹ 2003 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 0044-8249/03/11503-0273 $ 20.00+.50/0

gregaten ineinander passender Molek¸-le und zu der Evolution immer komple-xerer und raffinierterer Aggregate f¸h-ren. Grunds‰tzlich wichtige Bedingun-gen sind neben der strukturellen Vielfaltdie zeitliche Periodizit‰t und die r‰um-liche Kompartimentierung (z.B. Tag-Nacht-Zyklus und eng porˆses Gestein).

Ein periodischer Wechsel zwischenganz verschiedenen Umgebungseinfl¸s-sen, z.B. verschiedenen Temperaturen,ist wichtig, damit abwechslungsweiseAggregate durch Ineinanderdiffundie-ren und Ineinanderpassen von Einzel-molek¸len entstehen. Diese Aggregatewerden einem Selektionsprozess unter-worfen und zerfallen dann wieder inEinzelmolek¸le, die vervielf‰ltigt wer-den; durch den periodischen Antriebbeginnen immer wieder neue Zyklen.Auch eine Kompartimentierung istwichtig, damit ein Auseinanderdiffun-dieren der Einzelmolek¸le vermiedenwird, die Molek¸le sich also zur Rekon-stitution zusammenfinden. Die Kompar-timente m¸ssen etwas porˆs sein, damitKopien der in einem Kompartiment neuentstandenen vorteilhaften Form sich

allm‰hlich ¸ber den ganzen Bereichausbreiten kˆnnen.

Diese generellen ‹berlegungen sindf¸r das Auffinden eines detailliertenModellweges[4] und f¸r die Festlegungder Parameter der Computersimulati-on[3] wichtig. In diesem Suchen mussinsbesondere folgendes beachtet wer-den:1) Eine wichtige Voraussetzung, damit

sich Aggregate der beschriebenenArt bilden kˆnnen, ist, dass imDoppelstrang die Str‰nge antiparal-lel zueinander stehen. Nur dannkˆnnen nach Auftrennen des Dop-pelstrangs Einzelstr‰nge entstehen,welche die zur Aggregatbildung not-wendigen kompakten Faltungsfor-men haben. Im Biosystem ist diepostulierte Antiparallelit‰t tats‰ch-lich realisiert.

2) Von grunds‰tzlicher Bedeutung istdie Frage: Wie sind die Probleme zuvermeiden, die sich durch Anh‰u-fung von Kopierfehlern mit zuneh-mender Komplexit‰t der evolvieren-den Formen ergeben? Das wird imModell durch Bildung von Aggrega-ten ineinander passender Molek¸le

automatisch erreicht: Molek¸le, diedurch Reproduktionsfehler eine ver-‰nderte Faltung haben, passen sichim Allgemeinen nicht ein und ver-schwinden. Der Mechanismus ist beizunehmender Komplexit‰t der sichzusammen bauenden Formen immerwieder bestimmend und in der Evo-lution zunehmend raffinierter Sys-teme von grunds‰tzlicher Bedeu-tung.Abbildung 2 zeigt die ersten Schrit-

te, die sich aufgrund dieser ‹berlegun-gen ergeben, und die zu einem einfa-chen genetischen Apparat f¸hren.

Computersimulation

Jeder Zyklus in dieser Simulationbesteht aus einer1) Konstruktionsphase (Simulation der

Bildung von funktionellen Aggrega-ten durch Diffusion und Ineinander-passen von Molek¸lstr‰ngen);

2) Selektionsphase (Aggregate ± nachMa˚gabe eines Eignungsparame-ters, der ihre ‹berlebenswahr-scheinlichkeit bestimmt ± werdenzuf‰llig ausgew‰hlt. Dieser Parame-ter wird f¸r jede Aggregatform, dieals Mˆglichkeit gesehen wird, inirgendeiner Phase im Evolutions-prozess aufzutreten, in einer Biblio-thek festgehalten);

3) Vervielf‰ltigungsphase (Aggregatezerfallen in Einzelstr‰nge, die alsMatrices f¸r einen Replika-Strangdienen, wobei Matrix- und Replika-Strang sich danach trennen).Die Rechenergebnisse[3] unter-

mauern kritische Durchbr¸che in denersten Schritten des Denkmodells (zumBeispiel das Entstehen eines Aggregatswie in Abbildung 3, das als einfacher‹bersetzungsapparat funktioniert).

Grundidee und Vorgehen

Das Grundprinzip des Modells (ste-tige Zunahme der Komplexit‰t, ver-kn¸pft mit der Kolonisation immerschwerer erschlie˚barer Bereiche) isteine Erweiterung der DarwinschenIdee, nach der im Verlauf der biologi-schen Evolution immer komplexere Sys-teme dadurch entstehen, dass immerwieder neue ˆkologische Nischen er-

Abbildung 2. Fr¸he Stufen der Evolution des Lebens im Gedankenexperiment: logische Schritte,Hindernisse und ihre ‹berwindung.

Essays

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schlossen werden. Ein Individuum derbestehenden Population ist durch einenKopierfehler geringf¸gig ver‰ndert unddas erlaubt das ‹berleben und Vermeh-ren in einem neuen Bereich. Es werdenimmer weitere zuvor leere Bereichebesiedelt. Sp‰ter wird die Schaffungˆkologischer Nischen durch allm‰hli-ches Verdr‰ngen von Konkurrentenwichtig.[9]

Auch das grunds‰tzliche Vorgehen,das Aufsuchen einer l¸ckenlosen Kettehypothetischer, physikalisch-chemi-scher Prozesse, die zu einem geneti-schen Apparat f¸hren, ist eine Erweite-rung der Darwinschen Vorgehensweise.Der beschriebene Weg bei der Suchenach dem Mechanismus der Lebensent-stehung sollte durch die Ankn¸pfung andie Grundidee und die Vorgehensweisevon Darwin unmittelbar plausibel sein.

Lebensentstehung:Selbstorganisation aus innererNotwendigkeit oder aus derNotwendigkeit derKomplexit‰tserhˆhung mit derErweiterung des besiedeltenRaumes?

Der als entscheidend betrachteteStimulus durch die Vielgestaltigkeit derUmwelt fehlt in den Theorien, die aufder Annahme beruhen, dass der wesent-liche Prozess in der Entstehung des

Lebens als eine Selbstorganisation be-trachtet werden kann, die in einer imPrinzip homogenen Phase oder an einerreaktiven Grenzfl‰che als inh‰rente Ei-genschaft der Materie stattfinden kann.Es ist interessant, nach den Ursachenf¸r diese gro˚e Faszination und diebreite Akzeptanz dieser Idee zu fragen.

Bis Anfang der 1970er Jahre wurdeh‰ufig gedacht, die Entstehung desLebens stehe im Widerspruch zur Ther-modynamik, dann aber wurden thermo-dynamische Bedingungen f¸r Prozesseeiner Selbstorganisation in einem ho-mogenen Medium im station‰ren Zu-stand aufgezeigt.[10] Damit betrachteteman die genannte Behauptung als wi-derlegt, den Graben zwischen Physikund Biologie als ¸berbr¸ckt, das Grund-gesetz einer Theorie der Entstehung desLebens entdeckt. Mit der Feststellung,dass in einem homogenen MediumStrukturen durch Selbstorganisationentstehen, ist aber nicht begr¸ndet, dassdiese Art der Selbstorganisation auchwirklich zu lebenden Systemen f¸hrenkann.

Thermodynamik und Entstehungdes Lebens

Im hier gegebenen Bild kann dieBehauptung, die Entstehung des Lebensstehe im Widerspruch zur Thermodyna-mik, nicht ohneAngabe eines plausiblen

Modellweges entkr‰ftet werden, unddas um so deutlicher, je detaillierterder Weg ist. Das Problem der Entste-hung der Lebens liegt im Auffindeneines solchen Weges und ist keine Frageder Thermodynamik, da ja jeder physi-kalisch-chemische Prozess im Einklangmit der Thermodynamik steht.

Allm‰hliche oder plˆtzlicheLebensentstehung?

Bei der Vorstellung, dass sich ineiner im Prinzip homogenen Phase im-mer komplexere Systeme durch Selbst-organisation entwickeln, ist der ‹ber-gang zum Belebten ein Prozess in demallm‰hlich Formen mit Eigenschaftendes Belebten entstehen. Anders ist dieSituation wenn man davon ausgeht, dassin einem Bereich mit einzigartigen Ei-genschaften ein klar gerichteter Prozessin Gang kommt, in dem durch Verviel-f‰ltigung, Variation und Selektionschlagartig eine Entwicklung ausgelˆstwird, die (verbunden mit einer zuneh-menden Erweiterung des bevˆlkertenGebietes) zu immer komplexeren For-men f¸hrt. In diesem explosionsartigenProzess wird eine Eigenschaft der Ma-terie sichtbar, die sich vorher nichtmanifestiert hat. Es ist sinnvoll, physi-kalisch-chemische Systeme mit diesemeinzigartigen Verhalten als lebend zudefinieren, obgleich Leben im ¸blichenSinn viel sp‰ter erscheint. Leben ent-steht dann plˆtzlich mit dem Erscheinendes ersten selbstreproduzierenden unddurch Fehler im Kopierprozess variier-baren Molek¸ls.

Genetische Information

Das Besondere an einem lebendenOrganismus besteht darin, dass er In-formation als bestimmte Sequenz vonBauelementen tr‰gt ± das Rezept zurBildung von Kopien (genetische Infor-mation). Der Evolutionsprozess kannnur im Zusammenhang mit der beste-henden Umwelt gesehen werden, unddas gilt notwendigerweise auch f¸r diegenetische Information, die von denevolvierenden Formen getragen wird.Die Information dieser Formen, die inihrer Umwelt evolvieren, darf nicht mitder Information des Beobachters ver-

Abbildung 3. ‹bersetzungsapparat f¸r einen Zweier-Code. Wichtige Stufen im Modellweg in derComputersimulation: Sammelstrang und Haarnadelstr‰nge aus R-Monomeren (R1 und R2).L¸ckenloses Aneinanderreihen der Haarnadeln durch Leserahmen. A-Monomere (A1 und A2)sind an die offenen Enden der Haarnadeln gebunden. Ein Zweier-Code verkn¸pft die Sequenzvon R1 und R2 im Sammelstrang mit der Sequenz von A1 und A2, die sich zum A-Oligomer ver-binden. Das A-Oligomer wirkt als Enzym. R und A erinnern an ein Ribonucleotid und eineAminos‰ure im Biosystem.

AngewandteChemie

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wechselt werden, die notwendig ist, umdiese Umwelt zu charakterisieren. Diegenetische Information, durch die An-zahl von Bits quantifiziert, wird voneiner Generation auf die n‰chste ¸ber-tragen. Im gezeichneten Bild einesplˆtzlichen Umschwungs vom Leblosenzum Belebten entsteht Information mitdem Erscheinen des ersten selbstrepro-duzierenden Molek¸ls. Tr‰ger der In-formation (des Rezepts zur Bildung vonKopien) ist das Molek¸l selbst. Mit demFortschreiten der Evolution vergrˆ˚ertsich die genetisch ¸bertragene Informa-tion (gemessen durch die Zahl der Bits),und der Tr‰ger der Information ‰ndertsich in bestimmten Stufen der Evolu-tion.[8] Die Information w‰chst mit derVerl‰ngerung der informationstragen-den Kette, und ihre Bedeutung (gemes-sen durch die Mindestzahl der Bits, dieerzeugt und fortgeworfen werden m¸s-sen, um die betrachtete Evolutionsstufezu erreichen) nimmt zu. ‹ber die Naturdes anf‰nglichen Informationstr‰gersbestehen, wie oben erw‰hnt, sehr ver-schiedene Vorstellungen, die das gege-bene Bild (plˆtzliches Entstehen einesphysikalischen Objekts, das Informationals bestimmte Sequenz von Bauelemen-ten tr‰gt) illustrieren.[11] Der Begriff dergenetischen Information ist klar defi-niert, anders als im Bild der Entstehungdes Lebens als allm‰hlicher, nicht fest-legbarer ‹bergang vom Unbelebtenzum Belebten.

Ausblick

Es wird nach den Ursachen gesucht,die zur Entstehung des Lebens f¸hren.Dabei wird angestrebt, das Grunds‰tz-liche in dem Prozess zu finden, was auchirgendwo im Kosmos unter ganz an-deren, aber ‰u˚erst spezifischen chemi-schen und r‰umlich-zeitlichen Gegeben-heiten gelten muss. Um Fortschritte inunserem Verst‰ndnis der Lebensentste-

hung zu erreichen, m¸ssen Modellwegedurch eine immer detailliertere Festle-gung der Umgebungsbedingungen undeine immer bessere pr‰parativ chemi-sche Untermauerung verbessert wer-den. Die Vorstellung, dass der Prozessin einem einzigartigen Bereich beginnt,sollte zu einem weit gef‰cherten Suchennach experimentellen Mˆglichkeitenanregen.

[1] D. Segrÿ, D. Lancet, EMBO Rep. 2000,1, 217 ± 222; A. D. Miller, ChemBio-Chem 2002, 3, 45 ± 46.

[2] N. Lahav, Biogenesis: Theories of Life©sOrigin, Oxford University Press, NewYork, 1999 ; A. Brack, The MolecularOrigins of Life: Assembling the Pieces ofthe Puzzle, Cambridge University Press,New York, 1998 ; C. Wills, J. Bada, TheSpark of Life. Darwin and the PrimevalSoup, Oxford University Press, Oxford,2001; G. W‰chtersh‰user, Prog. Bio-phys. Mol. Biol. 1992, 58, 85 ± 201; C.de Duve, Blueprint for a Cell: TheNature and Origin of Life, Patterson,Burlington, 1991; I. Fry, The Emergenceof Life on Earth, Rudgers UniversityPress, New Brunswick, 2000 ; G. F. Joyce,Nature 2002, 418, 214 ± 221; Frontiers ofLife, Vol. 1: The Origins of Life (Hrsg.:D. Baltimore, R. Dulbecco, F. Jacob, R.Levi-Montalcini), Academic Press, SanDiego, 2000.

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[5] L. E. Orgel, Proc. Natl. Acad. Sci. USA2000, 97, 12503 ± 12504.

[6] A. Eschenmoser, Science 1999, 284,2118 ± 2123; M. Bolli, R. Micura, A.Eschenmoser, Chem. Biol. 1997, 4, 309 ±320.

[7] A. Luther, R. Brandsch, G. von Kie-drowski, Nature 1998, 396, 245 ± 248.

[8] Beispielsweise kann das erste selbstre-produzierende Molek¸l ein Pyranosyl-RNA-‰hnlicher kurzer Strang sein. DieBasenpaarung ist in diesem Fall stabilerund selektiver als im Fall der nat¸rlichenFuranosyl-RNA.[6] Das ist f¸r den An-fang der Evolution vorteilhaft. Sp‰ter,wenn ein bestimmter Komplexit‰tsgraderreicht und das korrekte Ineinander-passen der Komponenten gew‰hrleistetist, w‰re eine schneller arbeitende, ausFuranosyl-RNA aufgebaute Maschinevorteilhaft. Aber wie kann ein entspre-chender Umbau vor sich gehen? Ein aufPyranosyl-RNA basierter genetischerApparat von gewisser Komplexit‰t pro-duziert ein Enzym, das die Bildung einesFuranosyl-RNA-Replikas erlaubt. Dasf¸hrt zu einer Symbiose, bis das Fura-nosyl-RNA-basierte System nicht mehrvom Pyranosyl-RNA-System abh‰ngt,das damit verschwindet.

[9] Darwin hat eher vermutet, dass seineTheorie ¸ber die Entstehung der Artennicht auf das Problem der Entstehungdes Lebens zu ¸bertragen sei, wie seinber¸hmtes Bild vom Anfang in einemπwarm little pond™ zeigt, das die sp‰tereVorstellung eines Beginns in der Ur-suppe stimulierte.

[10] M. Eigen, Naturwissenschaften 1971, 58,465 ± 523; I. Prigogine, D. Glansdorff,Thermodynamic Theory of Structure,Stability and Fluctuations, Wiley-Inter-science, New York, 1971.

[11] Die h‰ufige Frage πStoffwechsel odergenetischer Apparat zuerst?™ ist in die-sem Zusammenhang nicht relevant.Nach unserer Auffassung liegt der ersteFall vor (Entstehung des Lebens ineinem einzigartigen Bereich, in dem ineiner Kette von Reaktionen Molek¸leentstehen, die Bausteine eines replizie-renden Systems sind): Stoffwechsel zuBeginn gegeben, evolviert im Verlaufder Entwicklung des genetischen Appa-rates, indem nach und nach Enzyme indie einzelnen Schritte eingreifen.

Essays

276 Angew. Chem. 2003, 115, 272 ± 276