vaußt. eine diaboliade von myron hurna
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Ist dieser Text eine Adaption von Goethes Faust? Finden sich etwa auch Anspielungen auf real existierende Personen im hiesigen Literaturbetrieb? Who is who? Ist dieser Text eine Frechheit oder genial? Welcher Literaturkritiker darf hier in der Hölle schmoren? Oder ist die Hölle gar nicht so heiß, wie sie gegessen wird? Und lässt Du Dich mit Mephisto ein?TRANSCRIPT
Eine Diaboliade
Myron Hurna
worthandel : verlag
Vaußt
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An manegen grôzen unde liehten werke / hât diz
timber werc sîn teil / unde ez bekêre alsô guot als
sie. / Umbe daz wache der hœrære ze allen stunden /
unde vernime diu lêre / diu durch des lebens bilde
brinnet / des mære man hie saget. / Disiu ist vür wâr
ein wildez geferte / daz nieman teilen enwil. / Alliu
spilliute gërn gar inneclîche / ze spiln diz spil. / Liute
unde der tiuvel stânt bereit. / Ez wirt sîn ein spiel wun-
neclich / des dû, holder hœrære, vernëmen solt / daz
under ir gesiht diu wârheit larven birt. / Nû aber kum
unde kêre der werlt den rücke zuo / der lieht dû lan-
ge sô unsenfteclîche enbërn solt / daz dû mit uns nider
verst / als der getriuwe orph.
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Alte Geschichten werden immer wieder erzählt,
um dem Zuhörer Neues zu sagen. Und neue
Geschichten werden oft auf altbekannte Weise er-
zählt. Ebenso diese Geschichte eines jungen Man-
nes, der, nicht ganz zwanzigjährig, dem Teufel verfiel
und zu großem Unglück kam und auch andere ins
Unglück zog. Es ist dies die Geschichte des Jos Vaußt,
die eigentlich nur in Fußnoten zu erzählen ist, denn
so bedeutend das menschliche Unglück manchmal
sein kann, so unbedeutend ist doch oft seine Lehre –
und zu belanglos ist das kurze Leben eines Betrügers
und Hochstaplers, um Lehren zu erteilen.
Jos Vaußt, einziger Sohn der Gesche und des Han-
nes Vaußt, wurde im achtzigsten Jahr des vorletzten
Jahrhunderts in dem Dorf T. in der Nähe von Blan-
kenburg im Harz geboren, wo er aufwuchs als häss-
licher und plumper Bursche, der von anderen in der
gemeinsten Weise gehänselt wurde, verspottet von
den Schulkameraden, beschimpft als Jockel, Blöd-
mann, Idiot, Loser, gezogen an den Haaren und von
allen Jungen wie ein Tölpel behandelt. Sie ließen ihn
in den Schulpausen zur Mutprobe Käfer essen und
verdrängten ihn wo es ging unsanft mit den Ellbo-
gen. Seine Eltern waren Bauern, die Verhältnisse
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beschränkt, sein junges Leben unglücklich soweit er
sich erinnern konnte, aber er bildete einen seltsamen
Stolz aus, der zur Sturheit, ja zu Hochmut neigen
konnte. Jos war anhänglich gegen seine Mutter, die,
da die Arbeit reich und schwer war, den Jungen oft
wegschickte, sogar fort stieß. Er wurde zur Nachba-
rin geschoben, die den Unbrauchbaren zum Teufel
wünschte, ja nur weg aus der Wohnung und zum Vater
hin, der ihn prügelte, weil er ihn bei seiner Arbeit
im Stall störte, so dass Jos manches Mal blaue Flek-
ken erhielt, zusätzlich zu jenen aus der Schule. Die
schlimmsten Jahre waren diejenigen seit seiner Ein-
schulung, die ihn vor aller Augen zu einem höchst
untalentierten, unbegabten und auch faulen Jungen
machten, zu einem Kretin, kraftlos und ängstlich, wie
aus Kompensation träumerisch und anfällig für me-
lancholische Zustände, die alles in ihm lähmten, ihm
aber sein Unglück nur dumpf ins Gedächtnis brachten.
Wäre er kein Mensch, er lebte das Leben einer Kuh,
die man mit dem Stock hierhin und dorthin treibt.
Erst im fünfzehnten Lebensjahr erhellte sich sein
Dasein. Das lag an zwei Begebenheiten: Jos Vaußt
hatte in seiner quälenden Einsamkeit die Bücher als
stumme Gefährten und Tröster entdeckt, die er, im
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Dunkel der Schulbibliothek sitzend und aus Man-
gel an eigenem Geld, eben dort las; nicht die bekannten,
uns geläufigen Werke großer Dichter, sondern weitaus
geringere Lektüre, die Dichtungen namenloser lo-
kaler Schriftsteller: Gelegenheitspoeme, marginale
Essays, Causerien, Glossen, Gerümpel in Fraktur-
schrift, Provinzielles allemal, Harzdichtungen und
stabgereimtes Liedgut. Und dennoch, er las mit Ei-
fer. Unbekannt und dunkel dürfte ihm Manches ge-
blieben sein, aber es war ein der Erkenntnis gegenüber
viel größeres Gefühl, das ihn zum Lesen trieb, sicher
kein Glücksgefühl, kein Gefühl der Erhabenheit,
sondern eher ein Gefühl der Ruhe, die er erhielt, ein
Rasten und Atemholen nach jeder Stunde, in der er
zum Gespött seiner Kameraden geworden war, der
Rückzug in den Pausen, die wohltuend waren. Zwar
kamen auch hier seine Kameraden zu ihm um ihn
zu quälen, aber immerhin wurden jetzt die Bücher
Zeugen seines Martyriums.
Das zweite Ereignis in seinem Leben, das ihn zum
ersten Mal nicht nur mit der Ruhe der Bücher, son-
dern auch mit der sie bereichernden Unruhe der Liebe
bekannt machte, war eine neue Schülerin. Die Neue
wurde ihnen als Vinea von Klewitz vorgestellt. Von
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diesem Moment an, da er ihre feine Gestalt und ihr
birkenweißes Gesicht sah, verliebte er sich in sie.
Abrupt stürzte das warme Blut in seinen Kopf und
verbreitete sich von dort wie eine Krankheit in sei-
nem Körper, brachte nie gefühlte Organe in Regung
und pumpte alle verborgenen Kräfte in die Venen.
Wie er Vinea sah, erschien sie ihm als das schönste
und ehrwürdigste Geschöpf, von neuen, barmherzi-
gen Mächten ins Herz der Welt gepflanzt, ein von
innen leuchtendes Kristallgeheimnis, an dem er nur
zu gerne in den Schulstunden rätselte, um Zeichen
ihres Interesses oder ihrer Zuneigung zu erkennen.
Jos Vaußt las von nun an nicht nur, er schrieb selbst
auch, und seine Gedichte widmete er heimlich Vinea,
ohne sie ihr anzutragen. Anfangs waren es dürftige
Zeilen, noch nicht einmal Verse, aber übers Jahr, in
dem er Vinea immer stärker liebte, fand er immer
kunstvollere Formen und entdeckte, nebenbei be-
merkt, selbstständig und ohne Anleitung der Dich-
ter einfache steigende und fallende Taktreihen, zudem
Daktylus und Anapäst, erweiterte er sein Kompen-
dium um ganze Strophenformen - Kürenbergstrophe,
Nibelungenstrophe und Meistersangstrophe -, ohne
die Vorlagen zu kennen; einfach als Urbilder keim-
Myron Hurna wurde 1978 in Bad Hersfeld geboren
und studierte an der Freiburger Albert-Ludwigs-
Universität Philosophie und Germanistik. Er veröf-
fentlichte bisher die Studie „Modernität in der Lyrik
Paul Celans“, den Essay „Das Alter. Philosophie ei-
ner Lebensphase“, eine „Einführung in die Lyrik und
Poetik Paul Celans“ sowie 2012 den Essay „Späte Ge-
genwart. Zur Historisierung des Holocaust“.
1. Auflage März 2013© 2013 worthandel : verlag, DresdenUmschlag, Satz & Layout: Enrico KeydelLektorat & Korrektorat: Matthias Engels & Enrico Keydel
Gestaltung des Schutzumschlages unter Verwendung desGemäldes „Last Judgement“ (Triptychon) vonHans Memling (1433 - 1494)
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Alle Rechte vorbehaltenwww.worthandel.de
ISBN 978-3-935259-78-1 (Ausgabe mit Coverabbildung)ISBN 978-3-935259-80-4 (Ausgabe mit schwarzem Cover)ISBN 978-3-935259-81-1 (ebook-Ausgabe)