trend dokumentation zum wirtschaftstag 2004

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D ie Christlich-Demokratische Union und die CSU gingen gemeinsam als europaweit stärkste Partei aus den Europawahlen hervor. Dies sagt etwas über die Kraft von CDU und CSU aus. Gleichzeitig geht der Weg zu Reformen niemals völlig ohne Diskussionen. Es war richtig, dass die Union in einigen Fragen Zeichen gesetzt hat. Der Bundespräsident Horst Köhler hat uns richtigerweise aufgerufen, als Deutsche nicht immer diese Angst vor dem Scheitern zu haben, sondern einfach mutig und optimistisch den Weg zu gehen, der die Antworten auf unsere Zeit gibt. Kennzeichen unserer Zeit ist die Globalisierung. Ein Kennzeichen im Übrigen, das für viele Menschen nicht einfach nach zu vollziehen ist. Ich wünsche mir von der Wirtschaft die Einsicht, dass die Globalisie- rung gerade in Deutschland von den Menschen oft als Bedrohung wahrgenommen wird. Gerade die Deutschen haben durch die Erfolgsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft über Jahrzehnte eine beru- higende Grunderfahrung gemacht. Diese Grunder- fahrung war: Wenn es der deutschen Wirtschaft gut geht, geht es auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland gut. 7 t r e nd III. Quartal 2004 PERSPEKTIVEN Dr. Angela Merkel, Vorsitzende der CDU Deutschlands und der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag ... Rückkehr an die Spitze: Masterplan Deutschland Aufbruch für Deutschland – Wachstum für Europa

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trend Dokumentation Wirtschaftstag 01.07.2004

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Die Christlich-Demokratische Union und dieCSU gingen gemeinsam als europaweitstärkste Partei aus den Europawahlen hervor.

Dies sagt etwas über die Kraft von CDU und CSUaus. Gleichzeitig geht der Weg zu Reformen niemalsvöllig ohne Diskussionen. Es war richtig, dass dieUnion in einigen Fragen Zeichen gesetzt hat. DerBundespräsident Horst Köhler hat uns richtigerweiseaufgerufen, als Deutsche nicht immer diese Angst vordem Scheitern zu haben, sondern einfach mutig undoptimistisch den Weg zu gehen, der die Antwortenauf unsere Zeit gibt.

Kennzeichen unserer Zeit ist die Globalisierung.Ein Kennzeichen im Übrigen, das für viele Menschennicht einfach nach zu vollziehen ist. Ich wünsche mirvon der Wirtschaft die Einsicht, dass die Globalisie-rung gerade in Deutschland von den Menschen oftals Bedrohung wahrgenommen wird. Gerade dieDeutschen haben durch die Erfolgsgeschichte derSozialen Marktwirtschaft über Jahrzehnte eine beru-higende Grunderfahrung gemacht. Diese Grunder-fahrung war: Wenn es der deutschen Wirtschaft gutgeht, geht es auch den Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern in Deutschland gut.

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Dr. Angela Merkel, Vorsitzende der CDU Deutschlandsund der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag

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Rückkehr an die Spitze:Masterplan Deutschland

Aufbruch für Deutschland –Wachstum für Europa

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Auch heute gilt, wenn es der deutschen Wirtschaftschlecht geht, geht es den Menschen in Deutschlandschlecht. Umgekehrt gilt aber nicht mehr automatisch,dass es in einem gut aufgestellten globalisierten Betriebauch dem Arbeitnehmer in Deutschland gut geht. Diesbedeutet eine Erschütterung der positiven Grund-erfahrung der Sozialen Marktwirtschaft. Dieses Prob-lem haben nicht nur die Politiker zu bewältigen, son-dern durch die Tarifautonomie auch die Unternehmer.

Qualitative SprüngeUrsache für diese Entwicklung ist der Übergang

von der Industriegesellschaft in die wissensbasierteGesellschaft. Dieser Übergang ist nicht nur evolu-tionär und quantitativ. Er enthält qualitative Sprüngeund ist mit dem Übergang von der Agrar- zur Indust-riegesellschaft des 19. Jahrhunderts zu vergleichen.Immer ist ein solcher Übergang getrieben durch tech-nologische Innovationen.

Die Erfindung der Dampfmaschine führte dazu,dass sich der Anteil der Beschäftigten von 70 Prozentim Agrarbereich in 70 Prozent im industriellenBereich wandelte. In der Landwirtschaft war nurnoch ein kleiner Teil der Arbeitsplätze. Ähnliche Fol-gen hatte die Währungsunion durch die deutsche

Einheit. In der früheren DDR arbeiteten 13 Prozentder Beschäftigten in der Landwirtschaft. Durch dievergemeinschaftete Agrarpolitik in der EuropäischenUnion sind von 13 Prozent Beschäftigten imAgrarsektor nur noch 1,5 Prozent übrig geblieben.

Die daraus resultierende strukturelle Arbeitslosig-keit von bis zu 30 Prozent ist nicht einfach zu behe-ben: Man kann nicht jeden Rinderzüchter zum Soft-ware-Programmierer umschulen. Qualitative Verän-derungen in Beschäftigungssektoren müssen alsoklug und vernünftig begleitet werden.

Wir müssen uns heute fragen, unter welchen poli-tischen Rahmenbedingungen sich die neuen Tech-nologien in der Wissensgesellschaft entwickeln kön-nen. Uns soll es nicht ergehen, wie den deutschenKleinstaaten im 19. Jahrhundert, in denen dieDampfmaschine durch ihre ungünstige Infrastrukturerst 20 Jahre später als in Frankreich und Englandihren Siegeszug antrat. Der für den Transport erfor-derliche Bau von Eisenbahnlinien war sehr erschwert,da die Landesfürsten kein Interesse hatten, auf ihreLandeszölle zu verzichten. Es bedurfte erst des Ent-stehens einer vollkommen neuen Industrieklasse, diediesen Durchbruch geschafft hat.

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„Qualitative Veränderungen müssen klug und vernünftig begleitet werden“

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Europa muss Wirtschaftspolitikbesser koordinieren

Wenn Europa weltweit Werte prägen will, wennwir nicht nur moralisieren wollen, dann müssen wirdie Lissabon-Strategie umsetzen. Europa soll derwachstumsstärkste und dynamischste Kontinent wer-den. Davon sind wir weit entfernt. Deutschland inder Mitte Europas als größte Volkswirtschaft hat einegroße Aufgabe, nicht nur für die Prosperität unsereseigenen Landes, sondern für die Prosperität ganzEuropas.

Europa muss die Wirtschaftspolitik besser koordi-nieren. Es muss einen Wettbewerb um den bestenWeg in Europa geben. Es sollte einen Wettbewerbum die besten Steuersysteme geben. Wie schaffen wirdiese Rahmenbedingungen und wo knirscht es? ImZentrum der veränderten Gesellschaften undArbeitswelten steht die Veränderung des Arbeits-rechts. Sie hat einen Vorteil. Sie kostet nichts. EineReform also, die man auch in Zeiten knapper Kassendurchführen kann.

Flächentarifvertrag nicht ausreichendWir leben in einer globalen Welt, was bedeutet,

dass das einzelne Unternehmen individuell auf denWettbewerb reagieren muss. Dafür ist das Instrumentdes Flächentarifvertrages nicht ausreichend geeignet.Den Unternehmen werden Spielräume genommen,die sie in der aktuellen Reaktion auf Wettbewerbs-veränderungen brauchen. Stattdessen benötigen dieTarifparteien rechtliche Grundlagen für betrieblicheBündnisse für Arbeit. Nur so wird Deutschland auchinternational wieder ein interessanter Investitions-standort. Denn die vielen Fälle, in denen Arbeitneh-mer und Arbeitgeber zusammen mit den Gewerk-schaften individuelle Lösungen gefunden haben, sindim Ausland wenig bekannt. International Aufsehenerregen aber die Fälle, in denen es nicht funktionierthat. Deshalb brauchen wir klare rechtliche Grund-lagen in einem veränderten Betriebsverfassungsgesetzund in einem veränderten Tarifvertragsgesetz. Dafürwird die Christlich-Demokratische Union eintreten,

auch wenn es den Widerstand der Gewerkschaftenhervorruft, weil es im Sinne der Menschen und derArbeitsplätze in Deutschland ist.

Die Debatte um die Arbeitszeiten zeigt, dass inweiten Teilen der Bevölkerung Grundsätze von Wirt-schaftspolitik und Effizienz verloren gehen. Bei kür-zeren Arbeitszeiten muss effizienter gearbeitet wer-den, um weltweit wettbewerbsfähig zu sein. Ichdanke der Unternehmensleitung von Siemens undihren Betriebsräten für ihre Bereitschaft, den Konfliktum Arbeitszeiterhöhung und Effizienzsteigerung zuGunsten von Arbeitsplätzen in Deutschland ausge-tragen zu haben. Ich glaube, dass die Menschen inDeutschland in der Auseinandersetzung um einenArbeitsplatz dieser Veränderung bereit sind. Dabeimüssen wir der Anwalt der Menschen sein und nichtder Anwalt der Besitzstände von Organisationen.

Zukunft der sozialen SicherungssystemeEine weitere Frage ist, wie die Zukunft die sozia-

len Sicherungssysteme aussehen soll. Die Deutschenhaben, auch als Ausdruck der Sozialpflichtigkeit desEigentums, die paritätische Sozialversicherungs-struktur eingeführt. Als die Nationalökonomie nochdie bestimmende Größe war, war dies sicher richtig.Aber im globalen Wettbewerb führt dies dazu, dassbestimmte Beschäftigungsfelder, insbesondere in denunteren Einkommensgruppen mit über 40 ProzentLohnzusatzkosten nicht mehr wettbewerbsfähig sind.

Zusätzlich haben wir das Problem der demogra-phischen Veränderung. Wir dürfen die junge Gene-ration nicht überbelasten. Gleichzeitig habe ich nochniemanden gefunden, der mir vorrechnen kann, dassman aus dem umlagefinanzierten Rentensystem voll-kommen aussteigen kann. Richtig ist die Aussage desWirtschaftsrates, dass die kapitalgedeckten Anteilewachsen müssen. Die Riester-Rente ist für diesen Teilzu kompliziert und auch zu starr mit dem Arbeits-platz verbunden. Die Alterssicherung sollte viel mehrüber individuelle Kapitalabdeckung gesichert wer-den, als das heute der Fall ist.

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Die Abkoppelung der Lohnnebenkosten von denArbeitskosten gelingt nur in den Bereichen Pflegeund Gesundheit. Gesundheit ist einer der dyna-mischsten Bereiche, weil durch den medizinisch-technischen Fortschritt und die längere Lebenser-wartung die Kosten in diesem System besondersexplodieren. Wir müssen daher ein System finden,bei dem auf der einen Seite die Entkoppelung vonden Arbeitskosten gelingt und auf der anderen Seiteein Maximum an Wettbewerb besteht, damit einemöglichst freie Preisbildung erfolgen kann. Aus die-sem Grund haben wir uns – wohl wissend, dass daseine kulturelle Innovation ist – in der CDU für dieGesundheitsprämie entschieden. Ich bin der festenÜberzeugung, dass die Bürgerversicherung keineAntwort auf die Herausforderungen des Gesund-heitssystems ist. Nebenbei gesagt, was ist mit der Bür-gerversicherung eigentlich? Außer dem sehr wohl-klingenden Wort gibt es bislang nur ausgesprochenunausgegorene und im Dunkeln liegende Angabenüber das neue System.

Wir brauchen die Entkoppelung der Krankenkas-senbeiträge von den Lohnnebenkosten. Bei einer ein-heitlichen Gesundheitsprämie ist der Preis für dieGesundheit des Chefs derselbe Preis wie der für dieGesundheit der Sekretärin. Alles andere wäre eineZweiklassenmedizin. Die Kosten, die der Einzelne zutragen hat, sollen hingegen nicht gleich sein. Auch indiesem System muss es einen sozialen Ausgleichgeben, der aus unserer Sicht über das Steuersystemerfolgen sollte. Das führt zu einer erhöhten Gerech-tigkeit. Nicht gerecht ist die jetzige Situation, in derprivat versicherte Personen keinen Cent in den Soli-darausgleich des gesetzlichen Gesundheitssystemseinzahlen. Es ist auch nicht gerecht, dass z. B. frei-willig in der Gesetzlichen Krankenversicherung Ver-sicherte für die nicht erwerbstätige Ehefrau, drei Kin-der und sich selbst nur einen Beitrag bis zur Bei-tragsbemessungsgrenze von 3.400 € zahlen müssen,für darüber hinaus verdiente Beträge aber keinenSolidarausgleich leisten. Wir glauben, dass der Aus-gleich über das Steuersystem besser ist, weil so alle in

die Finanzierung des Solidarausgleichs mit einbe-zogen werden, und die einheitliche Prämie mehrWettbewerb ermöglicht. Deshalb denke ich, dass unsnicht nur die Sachverständigen Schritt für Schritt fol-gen werden, sondern dass sich das System auch ins-gesamt durchsetzt. Wenn selbst ein Sozialdemokratwie Herr Rürup inzwischen zu der Erkenntnisgekommen ist, dass dieses Prämiensystem das bessereSystem ist, wenn selbst die Sachverständigen derBundesregierung sagen, mit einem solchen Umstiegkönnte man bis zu einer Million neue Arbeitsplätzeschaffen, zeigt es eindeutig, das dies der richtige Wegist. Für diesen Weg werden wir als CDU kämpfen.

Mit der Zusammenlegung der Arbeitslosen- undder Sozialhilfe zu einer Transferleistung haben wireine der bedeutendsten Reformen eingeleitet. Dasbedeutet allerdings für alle Arbeitslosenhilfebezieher,dass sie zum 1. Januar 2005 eine deutliche Senkungauf das Sozialhilfeniveau haben werden, was zuerheblichen Veränderungen und Belastungen insbe-sondere in den neuen Bundesländern führen wird. Inden neuen Bundesländern gibt es eine völlig andereSituation als in den alten. So ist in den alten Bun-desländern das Verhältnis von Sozialhilfeempfängernzu Arbeitslosenhilfeempfängern Vier zu Eins, in denneuen Bundesländern ist es Eins zu Vier.

Den Menschen eine Perspektive gebenIn den neuen Ländern wird es daher mehr Men-

schen geben, deren Leistung abgesenkt wird. Dassind aber auch genau die Länder, in denen dieChance, wieder eine Arbeit zu bekommen, geringerist, als in weiten Teilen der alten Bundesrepublik.Deshalb ist die Zusammenlegung von Arbeitslosen-und Sozialhilfe nur eine Seite der Medaille. Wirhaben sie unterstützt, weil sie ordnungspolitisch rich-tig ist. Aber wir haben auch immer gesagt: Wer for-dert, der muss auch fördern. Wir müssen den Men-schen eine Perspektive geben. Wir haben daher vor-geschlagen, einen Niedriglohnbereich zu installieren.Es gibt Tätigkeiten, mit denen auf dem freienArbeitsmarkt – auch im Rahmen einer Vollbeschäfti-

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gung – nur ein unter dem Sozialhilfesatz liegenderPreis erlöst werden kann. Diese Tätigkeiten habenderzeit in Deutschland keine Zukunft. Professor Sinnbezeichnet das Phänomen, das unterhalb des Sozial-hilfesatzes keine legalen Arbeitsplätze angeboten wer-den, als „Eigernordwand“. Diese führt zu denbekannten 15 Prozent Schwarzarbeit und zumAbwandern des gesamten unteren Lohnsegments inunsere mittel- und osteuropäische Nachbarländer.Das dürfen wir nicht hinnehmen. Die Union willdaher den Weg beschreiten, mit einer Zuzahlung beidiesen Arbeitsverhältnissen einen Kombilohn zuschaffen, der jedem Arbeitswilligen garantiert, mehrals den Sozialhilfesatz zu erhalten.

Paradigmenwechsel als Antwort auf Globalisierung

Das ist ein Paradigmenwechsel. Es ist eine Ant-wort auf die Globalisierung in bestimmten Tätig-keitsbereichen und erlaubt uns, auch in einfachenTätigkeitsbereichen Angebote für diejenigen zumachen, die keine andere Arbeit finden. Gleichzeitigmüssen wir keine zusätzlichen Angebote im staatlichregulierten zweiten Arbeitsmarkt schaffen, der letzt-lich immer nur in Friktionen mit dem ersten Arbeits-markt tritt. Dieser Weg wird von den Sozialdemo-

kraten in dieser Konsequenz nicht mitgegangen. Dawird hier an einer Schraube gedoktert, dort an einerSchraube gedoktert. Das löst aber nicht das Problem.Deshalb werden wir weiter dafür kämpfen, möglichstviele Sozialhilfeempfänger wieder in Arbeit zu brin-gen.

Ein mutiges SteuerkonzeptFriedrich Merz hat uns auf dem CDU-Parteitag

in Leipzig ein mutiges Steuerkonzept vorgelegt. Wirhaben uns auf dieser Basis mit der CSU auf einenSteuerkompromiss geeinigt. Dieser ist weit besser alsdas, was heute als Steuersystem im Gesetzblatt steht.Ich habe dem Bundeskanzler angeboten, sofort übereine Vereinfachung des Steuersystems zu sprechen.Ich glaube, dass für die Akzeptanz des Staates und derPolitik für die Bürger ganz wichtig ist, dass sie ihreSteuererklärung wieder verstehen, also mehr Trans-parenz in das Steuersystem kommt. Das hat etwasmit dem Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat zu tun.Ich danke für alle Hinweise, nehme sogar Kritik inKauf, wo das Konzept noch nicht lupenrein ist, unddenke, dass wir Schritt für Schritt vorankommenmüssen. Gift für die Konjunktur hingegen sind Kon-troversen um Steuererhöhungen und unsichere Rah-menbedingungen für Unternehmen. Die ewigen Dis-

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„Wir müssen den Menschen eine Perspektive geben“

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kussionen über Erbschaftssteuer, Vermögenssteuer,Ausbildungsplatzabgabe müssen unterbleiben.

Monstrum ChemiekalienrichtlinieDie Agenda 2010 geht einen Schritt in die richtige

Richtung. Die Frage ist, ob die Relativgeschwindig-keit zum Rest der Welt ausreicht. Wenn wir jetzt denRest der nächsten zwei Jahre damit verbringen, zwi-schen Dosenpfand, Ausstieg aus der Kernenergie,Nichtumsetzung der Biopatentrichtlinie und Ausbil-dungsplatzabgabe die politischen Diskussionen indiesem Lande zu bestreiten, halten wir sicher nichtden Anschluss an den Rest der Welt. Wir müssen denErnst der Lage erkennen. Ich habe es sehr begrüßt,dass der französische Präsident, der englische Pre-mierminister und der deutsche Bundeskanzler sichgegen die Chemikalienrichtlinie gewandt haben.Allerdings ist die Chemikalienrichtlinie vomUmweltrat auch noch in den Wettbewerbsrat ver-wiesen worden. Und wer sitzt für Deutschland wie-der im Wettbewerbsrat? Der gleiche Herr Trittin, derschon im Umweltrat so viel Unheil angerichtet hat.So wird aus der Chemikalienrichtlinie in Europanicht das Richtige. Wenn Europa die Chemie dieserWelt prägen will, dann muss Europa Arbeitsplätze inder Chemie haben. Mit diesem Monstrum Chemie-kalienrichtlinie werden Arbeitsplätze aus Europaweggehen. Es muss alles darangesetzt werden, dass inder neuen Kommission und im neuen EuropäischenParlament an dieser Stelle wirklich die Schritte gegan-gen werden, die Europa voranbringen. Denn dieWahrheit ist konkret und nicht allgemein und sieentscheidet sich zwischen Biopatentrichtlinie, Che-mikalienrichtlinie, Umweltverträglichkeitsprüfungs-richtlinie und wie all die schönen Erfindungen derEuropäischen Union heißen. Die Sorge, dass bei 25Kommissaren noch mehr Richtlinien auftauchen, istauch nicht ganz unbegründet.

Entfesselung der KräfteArbeitsmarkt, soziale Sicherungssysteme, Steuer-

system und Entfesselung der Kräfte im Bereich vonInnovation: Bei der Entfesselung der Kräfte im

Bereich von Innovation haben wir Deutschen nochviel Arbeit vor uns. Es ist ein Anachronismus, dasswir als Land mit den sichersten Kernkraftwerkenzuerst aus dieser Technologie aussteigen. China wirdin den nächsten Jahren 17 Kernkraftwerke bauen.Wir könnten sowohl auf die Sicherheitsstandardsweltweit Einfluss ausüben, als auch Exportaufträgehaben, wenn wir uns an dieser Technologie weiterbeteiligen würden. Dabei muss nicht zwischen Kern-energie und Windenergie entschieden werden. Ichhabe nichts dagegen, beide Energieträger parallel zunutzen. Aber man kann den Ausstieg aus der Kern-energie nicht durch die Versuche kompensieren, auchnoch in tiefen Tälern die Windräder zum Drehen zubringen. Wir müssen außerdem wieder an wichtigenErfindungen teilhaben. Dazu brauchen Grundlagen-forschung und angewandte Forschung in Deutsch-land wieder ein freiheitlicheres Feld.

Kompromissin der Gesundheitspolitik

Die Gesundheitsreform im vergangenen Winterwar ein Kompromiss, aber sie stabilisierte die Bei-tragssätze. Dafür mussten wir ein paar Krötenschlucken. Eine dieser Kröten bedeutet, dass wir denpharmazeutischen Unternehmen in Deutschland fürein Jahr zehn Prozent ihres eigentlich erwartetenGewinnes durch Rabatt auf die patentgeschütztenMedikamente genommen haben. Im Augenblickwerden die Festbeträge verhandelt. Bei diesenFestbetragsverhandlungen werden Gruppen ge-bildet, für die ein Preis festgelegt wird. Patentge-schützte Medikamente werden mit nicht patentge-schützten Medikamenten in einer Gruppe zusam-mengefasst. Dies hat zur Folge, dass Medikamentemit schon abgelaufener Patentfrist im Preis zu hochliegen und noch patentgeschützte, innovative Präpa-rate im Preis nach unten gedrückt werden. Damitnimmt der Anteil Deutschlands an der forschendenpharmazeutischen Industrie ab, der Anteil der Gene-rika wird zunehmen und die Forschung wandert insAusland ab, mit nachteiligen Folgen für unserenWohlstand.

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Wunderbare WertevermehrungAuf den Haushalt des Jahres 2005 will ich nicht

eingehen. Allerdings wundert es mich schon, dass zuWeihnachten die erwarteten Privatisierungserlösedrei Milliarden € betrugen und es im Juni diesen Jah-res plötzlich 15 Milliarden wurden. Die wundersameWertvermehrung kann ich mir nicht erklären. Sie isteine Verschuldung auf die Zukunft, das ist heuteschon klar. Zur Wichtigkeit des Stabilitätspakteshaben wir zwischen Deutschland und Frankreich,diplomatisch gesprochen, nuancierte Auffassungen.Das Defizitkriterium darf nicht so interpretiert wer-den, dass wir zunächst drei Prozent Schulden für denKonsumbereich machen und anschließend sagen,Investitionen rechnen wir nicht in den Stabilitätspaktein. Ich bin sehr froh, dass die Stabilitätskriteriendoch in den Europäischen Verfassungsvertrag aufge-nommen wurden. Stabiles Geld sollte zu denGrundwerten einer europäischen Politik gehören.Mit Instabilität haben wir schon sehr schwierigeErfahrungen gemacht. 1990 hätten wir unter derRegierung Kohl zum ersten Mal einen ausgegliche-nen Haushalt gehabt, wenn nicht die deutsche Ein-heit gekommen wäre. Seit der großen Koalition inden 60er Jahren bis zu diesem Zeitpunkt entstandWachstum durch Neuverschuldung. Das ist in eineralternden Gesellschaft auf Dauer kein gangbarerWeg. Deshalb muss nachhaltiges Wachstum generiertwerden. Das wird nur durch Strukturreformen zuerhalten sein.

Deutschland voranbringenWir werden oft gefragt, blockieren Sie nicht? Die-

sen Vorwurf kann man der jetzigen Opposition nichtmachen. Wir haben ein Zuwanderungsgesetz im Ver-mittlungsausschuss verabschiedet. Wir haben denGesundheitskompromiss mit getragen. Wir haben dieArbeitsmarktreformen zum großen Teil noch miterzwungen. Wir haben die Zusammenlegung vonArbeitslosenhilfe und Sozialhilfe unterstützt. Wir sindeine konstruktive Opposition, nicht nur weil wir dasstaatspolitisch für richtig halten, sondern weil wirauch wissen, dass die uns zugeneigten Wählerinnen

und Wähler das von uns erwarten. Wir haben vieleGesetzesvorschläge zum Arbeitsrecht eingebracht.Wir können aber nie unsere wirklichen Ideen umset-zen. Wir können Unzureichendes etwas zureichendermachen. Wir übernehmen damit auch Gesamtver-antwortung. Aber für die Bevölkerung treten dieGrundprinzipien niemals klar zu Tage. Deshalbmöchte ich klar zum Ausdruck bringen: Ich werdemich intensiv für den Erfolg der Föderalismusreformeinsetzen. Wir brauchen eine klarere Trennung derZuständigkeiten von Bundesebene und Länderebene.Zwar bedeutet das für eine Oppositionsfraktion imDeutschen Bundestag auf den ersten Blick Machtver-lust, denn weniger Gesetze im Vermittlungsausschussbedeuten auch weniger Mitarbeit der Bundestagsab-geordneten im Vermittlungsausschuss. Dennoch binich mir sicher, dass die Bedeutung des Bundestageswieder steigen wird, wenn es mehr Gesetze gibt, dienur im Bundestag verabschiedet werden und andereZuständigkeiten bei den Ländern liegen. Dann mussauch die Regierung wieder auf die Argumente derOpposition eingehen. Im Augenblick tut sie das nicht,weil die eigentliche Arbeit im Vermittlungsausschussunter Ausschluss der Öffentlichkeit geschieht.

Wir setzen uns dafür ein, dass die Föderalismus-kommission gegen Jahresende zu einem Ergebniskommt. In der Kombination – der Reform des Bil-dungssystems, der Entfesselung von Kräften fürInnovation, der Änderung des Arbeitsrechts, dersozialen Sicherungssysteme und eines transparentenSteuersystems und einer wirklichen, klaren Födera-lismusreform – können wir Deutschland ein ganzesStück voranbringen. Unsere Pflicht besteht darin, dieWachstumsfelder nach Deutschland zu holen undhier mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Ich glaubeVerändern kann auch Spaß machen. Wir sollten dasnicht immer nur mit verzerrten Mundwinkeln tun,sondern den Menschen sagen, dass die Chancen dieRisiken bei weitem überwiegen. Dann kannDeutschland es schaffen. *

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Roland Koch kritisierte, dass die rot-grüne Bundesregierung ein hohesMaß an Politikverdrossenheit hinter-

lassen habe. Dies sei indes nicht zwingendein Kontinuum. „Es gibt kein ab-nehmendes politisches Bewusstsein ansich“, betonte der hessische Ministerpräsi-dent. Gleichwohl herrsche bei den Men-schen die Auffassung vor, „die Politikschafft es nicht mehr.“ Dies sei eine großeGefahr, die die Politik im Allgemeinen akutbedränge. Die Bürger stellten gegenwärtigfest, dass sich nichts so entwickle, wie siesich das vorgestellt hätten und wie es ihnenvon Bundeskanzler Gerhard Schröder(SPD) versprochen worden sei. „In einerKrisenzeit, in der wir schon drei Jahre öko-nomische Stagnation mit keinem Wachs-tum hinter uns haben, beginnt das jedesJahr gefährlicher zu werden“, warnte Koch.

Es wird gefährlich„Und die Tatsache, dass es gefährlicher

wird, verspüren die Menschen. Sie sehen,dass die Chancen für ihre Kinder, einenAusbildungsplatz zu bekommen, schlech-ter geworden sind. Sie sehen, dass dasRisiko, ihren Arbeitsplatz zu verlieren,größer geworden ist. Und sie sehen, dasswenn man mit 48, 49 seinen Job verliert,große Schwierigkeiten hat, eine neueStelle zu finden.“ In dieser Situationerwarteten die Bürger, dass ihnen die Poli-tik eine Perspektive böte.

Koch erklärte, dass die Oppositionsar-beit der Union vor diesem Hintergrundschwierig sei. „Oppositionen könnennämlich nichts tun, sie können nurreden.“ In einer Zeit aber, in der sich dieMenschen bedrängt fühlten, wollten sie

nicht, dass nur geredet, sondern das etwasgetan werde. „Wir haben aber eine relativgroße Chance, dennoch gewählt zu wer-den, weil es in der deutschen Bevölkerungein gesundes Empfinden gibt: Wenn siebei Zweien nicht ganz sicher sind, werwirklich was kann, werden sie den raus-werfen, bei dem sie schon sicher erprobthaben, dass er es tatsächlich nicht kann“,sagte Koch.

Gleichzeitig steige in einer solchenKonstellation die Erwartungshaltung andie Union. „Wir müssen jeden Tag fähigund in der Lage sein, die Regierung zuübernehmen“, sagte Koch. „Wir sindnicht in einer normalen Zeit, in denenRegierungsarbeit dahin plätschert, son-dern wir sind in einer Zeit, in der wir nureinen Schuss frei haben.“ Wenn nach derBundestagswahl 2006 nach einem Jahreiner unionsgeführten Bundesregierungkeine Verbesserung der ökonomischenLage und keine neue Hoffnung zu spürensei, „dann sind die Menschen tatsächlichdavon überzeugt, dass es weder die einennoch die anderen können.“ Koch warntevor den Gefahren, die damit auch für dieDemokratie einhergingen. „Dann begin-nen sich die Menschen andere zu suchen.Dass wäre eines der größten Risiken fürdie Stabilität und die ökonomischeZukunft der Bundesrepublik Deutsch-land“, mahnte der hessische Ministerprä-sident.

Verantwortung der UnionDeshalb sei es die Verantwortung der

Union, sofern sie die Regierungsverant-wortung 2006 übernehme, tatsächlicheinen Anlass zu Hoffnung auf Verände-rung zu geben. „Weil wir eine zweiteChance nicht mehr bekommen werden,wenn wir die Bevölkerung mitnehmenwollen.“ Diese Herausforderung sei nichtselbstverständlich, sondern eine außerge-wöhnliche Belastung für die Opposition.„Eine normale Regierung hatte in derGeschichte der Bundesrepublik immerden ersten Schuss frei“, sagte Koch. „Wiraber brauchen eine klare Turnaround-Strategie und müssen unsere Kraftzunächst auf einige wenige wichtige Din-ge konzentrieren.“

Als erstes und wichtigstes Reformfeldnannte Koch den Arbeitsmarkt. Deutsch-land habe nicht die Chance, wie GeorgeW. Bush sie in den USA gehabt habe. Prä-

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Befreiung vomSchuldenstaatInvestitionen fürdie nächste Generation

Roland Koch,Hessischer Ministerpräsident

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sident Bush habe die Staatsverschuldungin die Höhe geschraubt, um makroöko-nomische Impulse zur Wiederbelebungder Wirtschaft zu geben. Diese Möglich-keit habe er indes nur gehabt, weil dieClinton-Administration in den Jahrenzuvor die Schulden massiv abgebaut habe.„Wir beobachten zurzeit in den Vereinig-ten Staaten von Amerika, dass es sehrwohl die Chance gibt, dass aus diesemexogen gesteuerten Aufschwung mitStaatsgeld ein sich selbst tragender Auf-schwung werden kann“, sagte Koch.Deutschland aber habe die Chance auszwei Gründen nicht. „Erstens haben wirschon in anderen Zeiten so viele Schuldengemacht, dass wir die Luft nicht mehrhaben.“ Und zweitens gelte es, sich unbe-dingt an die Vorgaben des EuropäischenStabilitäts- und Wachstumspaktes zu hal-ten, der den Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union eine maximale Neuverschul-dung von drei Prozent des Bruttoinlands-produkts (BIP) gestattet.

Tragik der Politik„Dass wir jetzt diejenigen sind, auf die

die anderen europäischen Länder aufpas-sen müssen, damit wir nicht zu vieleSchulden machen, gehört zur Tragik derPolitik der letzten Jahre“, kritisierte derhessische Regierungschef. „Aber es bedeu-tet eben auch, dass wir nicht die Wahlhaben, unsere Wirtschaft wie die Ameri-kaner mit neuen Schulden zu befeuern.“Folglich habe eine unionsgeführte Bun-desregierung gar keine andere Wahl, alsdie Reform des Arbeitsmarktes ins Zen-trum ihrer wirtschaftspolitischen Be-mühungen zu stellen. „Wir brauchen eineReform des Arbeitsmarktes, weil derSchuldenstaat nicht allein durch Eins-parungen bekämpft werden kann, son-dern weil es gleichzeitig wirtschaftlichesWachstum und eine Rückführung derStaatsaufgaben braucht, um die Budget-defizite zu bekämpfen.“

Wer aber wirtschaftliches Wachstum,so wie Deutschland, maßgeblich nur überdie Arbeitsmärkte stimulieren könne,müsse dies auch mit aller Kraft tun, for-derte der hessische Regierungschef. Kochverwies auf andere Staaten wie Großbri-tannien und Dänemark, die es geschaffthätten, ihre Budgetdefizite in Haushalts-überschüsse zu verwandeln. „Das zeigt,dass der Staat das prinzipiell kann.“ MitBlick auf die Arbeitsmärkte sagte Koch,

die Chancen für Reformen seien ange-sichts der heute desolaten Lage ausgespro-chen beachtlich. „Wir haben einen so ver-krusteten Arbeitsmarkt und ein soschlechtes Arbeitsrecht im internationalenWettbewerb, dass wir eine relativ guteChance haben, mit einigen Maßnahmenwieder wettbewerbsfähig zu werden.“ Da-rüber müsse man sich zwar nicht freuen,aber man könne es auch als Chance wahr-nehmen. „Deshalb wird es auch die ersteAufgabe sein, einen heftigen Sturm zuüberstehen“, mahnte Koch. Denn beiReformen auf dem Arbeitsmarkt greifeeine Regierung alle Besitzstände und Exis-tenznöte gleichzeitig an. Zwar sollten dieGewerkschaften nicht vernichtet werden,aber sie müssten eine neue Rolle finden.„Wir erwarten, dass sie Dienstleitungsun-ternehmen werden, die Betriebsräte aus-bilden, die rechtlichen Rat geben und dieFlächentarifverträge als Hintergrundorganisieren.“

Freiheit für UnternehmenFlächentarifverträge hält Koch für

eine grundsätzlich vernünftige Einrich-tung zur Vermeidung von Streiks. „Aberich hätte gerne eine Situation, in der jedeseinzelne Unternehmen die Freiheit hat,nach eigenen Vorstellungen vom Flächen-tarifvertrag abzuweichen.“ Heute hinge-gen müsse man als Unternehmer inDeutschland erst kurz vor der Pleite ste-hen, um ein innovatives Arbeitsrechtanwenden zu dürfen. „Das ist eine Absur-dität“, monierte Koch.

Der Lackmustest für die Union werdesein, zu zeigen, dass es ihr gelinge, sich vorder Wahl präzise genug auf die wichtig-sten Reformvorhaben festzulegen. DasProgramm zur Reform des Arbeitsmark-tes sei bereits zufriedenstellend. Dannmüssen wir diesen Katalog aber auch inden ersten drei Monaten der nächstenLegislaturperiode in den Bundestag ein-bringen und ganz schnell beschließen“,forderte Koch. Beraten worden sei inzwi-schen lange genug. Man kenne die Stel-lungnahmen aller Verbände und Grup-pierungen. „Wir müssen es ins Gesetzblattbringen, um zwei Dinge zu erreichen:Erstens, um denen, die dagegen protestie-ren, eine möglichst geringe Aufstellzeit zugeben. Und zweitens, um denen, die aufuns hoffen, ein Signal zu geben, dass wirtatsächlich machen, was wir vor der Wahlgesagt haben.“

Aus diesen Gründen müsse sofortnach der Bundestagswahl mit sehr kon-kreten und präzisen Maßnahmen begon-nen werden. Dazu gehörten auch betrieb-liche Bündnisse für Arbeit und einegrundlegende Reform der betrieblichenMitbestimmung. „Wir dürfen unserenunmittelbaren Wettbewerbern wie Bel-gien, den Niederlanden, Dänemark oderGroßbritannien keine Chance mehrgeben, dass die Unternehmen dort hin-ziehen, nur weil wir die falschen Rechts-voraussetzungen haben“, betonte Koch.„Das ist praktische Arbeitnehmerpolitik.Das ist kein Kampf gegen Arbeitnehmer,sondern das ist die Rettung ihrer Arbeits-plätze in der Bundesrepublik.“

MitverantwortungKoch betonte, dass der Wirtschaft und

ihren Verbänden eine große Mitverant-wortung in einem solchen radikalenReformprozess zukomme. Der hessischeMinisterpräsident kritisierte, dass dieKohl-Regierung 1997 auf Drängen derUnternehmen die Lohnfortzahlung imKrankheitsfall eingeschränkt habe, dieWirtschaft ihr aber danach die Unterstüt-zung versagt habe. „Wir hatten damalszweierlei: Nämlich den maximalen öffent-lichen Protest und die schnelle Erklärungder Unternehmen, dass sie das neugeschaffene Gesetz durch Tarifverträgeabdingen werden.“

Eine ähnliche Gefahr bestehe auchheute – denn betriebliche Bündnisse fürArbeit, der Kündigungsschutz, die inner-betriebliche Mitbestimmung seien alle-samt tarifvertragsfähig.

„Deshalb gehört es dazu, dass wiroffen mit der Wirtschaft reden, ob sie denDruck aushält, den die Gewerkschaftenauf die Unternehmen ausüben werden.“

Das „Projekt Deutschland“ sei darumein gemeinsames, betonte Koch. „DieFrage, die die Union stellen muss, ist, obdie Menschen das Recht haben zu be-schließen, dass alles so bleibt wie es ist,oder ob sie für ihre Kinder und ihreNachbarn die Verpflichtung haben, dafürzu sorgen, dass sie das Beste tun, was siekönnen.“ Wenn auch die Politik das Bestetue was sie könne, habe Deutschland einegute Zukunft. *

Aus Rede Wirtschaftstag 2004

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Dank der neuen Verfassung wirdEuropa in den Augen der Bürgermehr Legitimität erhalten, es wird

mehr Gehör in der Welt finden, seineInteressen und die der Europäer besservertreten können.

� Mit der Verfassung wird die Union aufder Grundlage effektiverer Institutio-nen besser funktionieren, insbeson-dere durch eine Ratspräsidentschaft,die über einen längeren Zeitraumagiert, und die Ausweitung der Mehr-heitsentscheidungen, wodurch Blo-ckaden wie beim Einstimmigkeits-prinzip vermieden werden sollen.

� Die Verfassung wird der Union auchmehr Legitimität in den Augen derBürger verleihen. Die Fortschritte in

punkto Demokratie sind hierbeioffensichtlich.

� Mit diesem grundlegenden Textschließlich wird Europa sich mehrGehör in der Welt verschaffen kön-nen, und zwar dank einer erstarktenFähigkeit zu außenpolitischem Han-deln, die insbesondere durch das Amteines europäischen Außenministerszum Ausdruck kommt, dank der Ein-richtung eines europäischen diploma-tischen Dienstes und dank einerneuen Etappe bei der Bereitstellungeiner europäischen Verteidigung.

Verfassung ist Chancefür neuen Elan

Natürlich muss dieser neue institutio-nelle Rahmen noch verfeinert werden,

damit unsere Wirtschaftspolitik den Risi-ken dieser Welt besser standhalten kann.

Die Europäer haben mit dem Euroeinen Rahmen für die Koordinierung derWirtschaftspolitiken geschaffen.

� Die Fähigkeit der Eurozone, deninternationalen Turbulenzen ent-gegenzustehen, ist stark dem „Schutz-schild“ der gemeinsamen Währung zuverdanken. (…) Unsere Wirtschafts-strategie einer vernünftigerweise stren-gen Haushaltspolitik und eines gutenWährungsumfeldes hat dazu beigetra-gen, die Eurozone und unsere beidenLänder wieder auf den Weg desWachstums zu bringen.

� Die EZB hat ihren Platz gefunden.Die Idee einer Zentralbank, die unab-hängig von der politischen Macht ist,war Deutschland sehr viel vertrauterals Frankreich. Wenn auch heutenoch, was normal ist, die Währungs-politik Gegenstand von Gesprächenist, so herrscht doch Einstimmigkeitüber die Idee einer unabhängigenZentralbank, die auf die „großenGleichgewichte“ achten muss.

� Geben wir zu, dass die Koordinierungder Wirtschaftspolitiken unseren Zie-len nicht entsprach. Die Praxis derKoordinierung ist neu, da Europagewöhnlich nach den Prinzipien derDelegation (Währungspolitik), derHarmonisierung (für den einheit-lichen Markt) und der Konvergenz(die berühmten Maastricht-Kriterien)funktioniert. Wir haben viel Energiefür den Versuch aufgewendet, unsereHaushaltspolitiken in den strengenRahmen des Stabilitätspaktes zuzwängen und haben zweifellos dasKoordinationspotenzial der begonne-nen Reform ungenügend erforscht.Ich werde auf diesen Punkt noch zusprechen kommen, denn er erscheintmir sehr wichtig. Ich bin überzeugt,dass wir eine größere Ausgewogenheiterreichen müssen.

Reformen sind auf dem WegTatsächlich haben alle Länder, und das

ist neu, den Weg der Reformen einge-schlagen. Die so genannten „kleinen Län-der“ haben früher damit begonnen. Mitgroßem Nachholbedarf haben die zehn

16 trend III. Quartal 2004

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Europa unter ReformdruckDeutsch-französischerMotor treibt voran

Jean-Pierre Raffarin,Premierminister der Französischen Republik

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neuen Mitgliedsländer innerhalb vonzehn Jahren eine komplette Veränderungihrer wirtschaftlichen und gesellschaft-lichen Strukturen erfahren. Und wenn diewirtschaftlichen Auswirkungen der Re-form besonders deutlich zu sehen sind,dann bestimmt in diesen Ländern. Sie ver-standen es durch ihre Dynamik, durchihre „Sehnsucht nach Europa“, die Bedin-gungen für einen schnellen Beitritt zurUnion zu schaffen. Geben wir es zu, dieseneuen Mitglieder bringen Europa inpunkto Reformen „frisches Blut“.

Die großen Länder schließlich warenbei der Wiedererlangung von Vollbeschäf-tigung und der Entwicklung neuer Tech-nologien in Rückstand geraten. DieserRückstand begünstigte groteske politischeHaltungen:

� Die erste besteht darin, das gesamteeuropäische Modell in Frage zu stel-len, insbesondere die soziale Kompo-nente.

� Die zweite besteht in einer einmütigenKritik an der Globalisierung in einerauf ihre unangenehmsten Begleit-erscheinungen reduzierten Form: Fi-nanzinstabilität, Delokalisierungen,Einengung von Handlungsspielräu-men.

Diese beiden Haltungen scheinen mirvon den Wünschen und Interessen unse-rer Mitbürger sehr weit entfernt zu sein.Es ist nicht der einzige Ausweg fürEuropa, sich dem „angelsächsischen“Modell anzuschließen. Es darf auch derWelt nicht den Rücken kehren, dennFrankreich und Deutschland haben vonihrer starken internationalen Einbindungstark profitiert.

Wie überall in der Welt muss sich derAufbau unserer Wirtschaft und unseresSozialsystems weiter entwickeln. Dieskann geschehen, ohne die Ursprünglich-keit und bestimmte Werte aufzugeben.Die kleinen Länder haben uns gezeigt,dass es sehr gut möglich ist, wirtschaftli-che Initiative und Solidarität miteinanderzu verbinden, und zwar indem die Initia-tive und die Arbeit aufgewertet werden.Heute machen wir uns entschieden fürReformen stark. Unser Reformkonzeptdeckt sehr unterschiedliche Veränderun-gen:

� Die erste Kategorie sind Anpassungs-reformen, die unseren „Sozialpakt“ andie Verlängerung der Lebenserwar-tung anpassen. Wir haben in Frank-reich gerade drei bedeutende Refor-men abgeschlossen:

Die Rentenreform, beruhend auf derSolidarität der Generationen untereinan-der, der Aufwertung der Arbeit und derBerufserfahrung, wurde im vergangenenJahr verabschiedet. Diese Reform führt,wie es in Deutschland bereits der Fall ist,ein neues individuelles Sparkonzept ein,das als Zusatzrente dienen soll.

Es wurde über landesweite Bemühun-gen für die Pflegeversicherung entschie-den. Diese werden, wie in Deutschland,durch einen zusätzlichen Arbeitstag finan-ziert, denn heute müssen soziale Leistun-gen, wenn sie dauerhaft sein sollen, überdie Arbeit finanziert werden.

Das Parlament berät derzeit über eineReform der Krankenversicherung. Übersofortige Maßnahmen hinaus ist es dasZiel dieser Reform, Verhaltensweisen zuändern und jeden Einzelnen in die Ver-antwortung zu nehmen.

� Die zweite Kategorie sind „Kohä-sionsreformen“ zur Bekämpfung vonMassenarbeitslosigkeit und sozialerAusgrenzung. Meine Regierung hathierzu eben erst einen Plan für sozia-len Zusammenhalt und Beschäftigungvorgelegt.

Dieser Plan soll zunächst ein ausgewo-generes Verhältnis zwischen Stellenange-boten und Stellengesuchen gewährleisten.Die Arbeitslosenzahlen sind, insbesondereunter den Jugendlichen, wirklich sehrhoch. Um diesem „Skandal“ entgegenzu-wirken, erneuern wir die Verwaltung desArbeitsmarktes, heben Regelungen auf,die das Entstehen von Stellen im Dienst-leistungsbereich behindern und werten dieBedeutung von Ausbildungsplätzen wie-der auf, wobei wir uns hier von dem ErfolgDeutschlands inspirieren lassen.

Der Plan richtet sich auch gegen diesoziale Ausgrenzung, denn es gibt keinennationalen Zusammenhalt ohne sozialenZusammenhalt und ohne Chancengleich-heit. Auf schwer vermittelbare Menschensoll individuell eingegangen werden. Sie

werden begleitet, bekommen eine Ausbil-dung und eine Beschäftigung. Als Gegen-leistung dazu werden Eingliederungs-bemühungen unter der Kontrolle eines„Tutors“ verlangt.

� Der dritte Reformtyp sind „Dynami-sierungsreformen“, mit denen unsereInvestitionen in den Bereichen For-schung, Hochschulbildung und Aus-bildung intensiviert werden sollen.

Wenn wir unseren technologischenRückstand gegenüber den USA aufholenwollen, wenn wir aus der Entstehungneuer Wachstumspole in Osteuropa undChina Gewinn ziehen wollen, wenn wirunseren Platz in der neuen Aufteilung desinternationalen Arbeitsmarktes findenwollen, so müssen wir in die „graue Sub-stanz“ investieren. Die Arbeitsplätze in10, 20 Jahren werden sich stark von denheutigen unterscheiden. Es müssen „qua-lifizierte Arbeitsplätze“ sein.

Die Investitionen in die Zukunftbeschränken sich nicht darauf, mehr aus-zugeben. Man muss gezieltere Ausgabentätigen und eher Projekte als Strukturenfinanzieren, indem private Finanzierun-gen für die Innovation freigemacht wer-den. In Frankreich sind diese Reformen abSeptember 2004 in den Haushalt einge-stellt, was auch 2005 fortgeführt wird.

Natürlich müssen die verschiedenenReformen sorgfältig aufeinander abge-stimmt sein. Sie müssen im Dienste einergemeinsamen Vision stehen. Ich mag denAusdruck „Gesellschaftsprojekt“ nicht,aber die Aufgabe der Regierung ist es,einen Kurs festzulegen und bestimmteWerte zu verbreiten. Der Kurs ist der desnachhaltigen Wachstums und des gemein-samen Wohlstands. Die wichtigstenWerte sind meiner Meinung nach fol-gende vier:

� Arbeit und Verdienst müssen immerbelohnt werden.

� Die kommenden Generationen müs-sen geschützt werden. Sie dürfen nichtfür die Ausschweifungen der Vergan-genheit oder sogar der Gegenwart inHaftung genommen werden.

� Unsere Beschlüsse müssen indivi-duelle Projekte und Entscheidungen

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eher fördern als kollektive Regelungenund Zwangsverpflichtungen.

� Der soziale Zusammenhalt muss aufeiner echten „Beschäftigungsgarantie“beruhen. Durch individuelle Beglei-tung der Menschen, durch die lebens-lange Ausbildung, durch sozialenSchutz, der Arbeitsplatzwechsel nichtbestraft, wird Beschäftigung gefördert,und nicht durch verstärkten Schutzder bereits bestehenden Arbeitsplätze.

Reformen besser koordinierenEuropa hat in den vergangenen Jahren

viel Energie darauf verwandt, seine Haus-haltspolitiken zu koordinieren. Dabei hates allerdings nur beschränkt Erfolg. DreiPunkte sind mir hier besonders wichtig:

� Die begonnenen Reformen tragendazu bei, die Haushaltspolitiken zuerleichtern, indem die Schulden fürunsere Kinder reduziert werden.

� Die Reformen müssen besser koordi-niert werden.

� Der Stabilitätspakt muss den Nutzender Reformen besser berücksichtigen.

Die Gründe für eine engere Koordi-nierung der Reformen erscheinen mirwichtig:

� Wenn die Reformen gemeinsamdurchgeführt werden, sind sie wir-kungsvoller. Indem sie die Bildung

eines einheitlichen Güter-, Dienstleis-tungs- und Kapitalmarktes fördern,ermöglichen sie den Unternehmen,die Produktivitätssteigerung durchArbeitsteilung zu nutzen und sich fürdie globale Konkurrenz stark zumachen.

Die Koordinierung kann sehr nützlichsein, um neuen Voluntarismus in derIndustriepolitik zu erzeugen. Dies bedeu-tet nicht Rückkehr zu den Industriepoli-tiken der Vergangenheit, dies ist kein Diri-gismus, dies ist nicht die Rückkehr zum„französischen Colbertismus“.

Voluntarismus bei der Industriepolitikbedeutet Pläne zu machen, gegen De-industrialisierung und Delokalisierung zukämpfen, in Forschung, Wissen und Uni-versitäten zu investieren. Wir leben zwarin einer globalisierten Wirtschaft, wo dieKenntnis und das Wissen immer globa-lisierter sind, zugleich aber neigen For-schung und die Schaffung von Mehrwertdazu, sich auf einige wenige Spitzenpolezu konzentrieren.

� Gute Reformen erleichtern diekonjunkturelle Steuerung der Euro-zone, indem der Zentralbank einzusätzlicher Spielraum gegeben wird,um das Wachstum ohne das Risikoinflationärer Spannungen zu beglei-ten.

� Und schließlich begünstigt die Koor-dinierung der Reformen das Ausarbei-

ten überparteilicher Konsensfindun-gen.

Die Europäer haben im Bereich derReformen gemeinsame Ziele: die be-rühmte Agenda von Lissabon, die vorallem die Ziele für Beschäftigung undWachstum vorgibt; diese Agenda musskonsistenter werden. Deswegen glaubeich, wir müssen zwei Intitiativen ergreifen:

� Auf europäischer Ebene müssen wirden Stabilitätspakt und die Agendavon Lissabon besser koordinieren.

� Auf nationaler Ebene müssen wirdafür sorgen, dass sich die großenStaaten Lissabon zu eigen machen.

Europa hat nicht mehr viel Zeit, umsich seinen Herausforderungen zu stellen.Einerseits löst der schnelle AufstiegChinas und Indiens langsam eine Umver-teilung der Aktivität und der Beschäfti-gung in der Welt aus. Europa muss aktivwerden, wenn es aus dem Entstehen die-ser Wachstumspole Nutzen ziehen will,ohne durch diese neue Aufteilung desinternationalen Arbeitsmarktes eineDestabilisierung zu erfahren.

Andererseits befindet sich das europäi-sche Regierungshandeln in einem Wett-lauf mit dem weltweiten Regierungshan-deln. Wir brauchen die UNO, um für denFrieden zu kämpfen. Wir brauchen dieWelthandelsorganisation, um für denSüden einzutreten.

Morgen, so der Staatspräsident, wer-den wir die Weltumweltorganisationbrauchen, um unseren Planeten zu schüt-zen und dafür zu sorgen, dass die Kohlen-dioxidausstöße das Leben auf der Erdenicht in Gefahr bringen.

Mein europäisches Vorhaben ist, mitEuropa auf die Welt Einfluss auszuüben.Das aktive Europa braucht Frankreich undDeutschland. Unsere beiden Länder sindnicht zu einer Vormachtstellung berufen,aber ohne den deutsch-französischenMotor kann Europa nicht vorwärtsgehenund seinen Einfluss in der Welt geltendmachen. Dabei werden Frankreich undDeutschland weiterhin einen entscheiden-den Platz einnehmen. *

Aus Rede Wirtschaftstag 2004

18 trend III. Quartal 2004

P E R S P E K T I V E N

„Der neue institutionelle Rahmen muss noch verfeinert werden“

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62 trend III. Quartal 2004

Masterplan Deutschland10 Leitsätze für Aufbruch und Wachstum

Wirtschaftstag 2004

1. Große Steuerreform bis 2006 –Radikaler Neubeginn stattFlickschusterei

Unser marodes Steuersystem bestraftden ehrlichen Bürger. Deshalb betreibendie Reichen Kapitalflucht und die wenigerReichen Schwarzarbeit. Das Konzept desWirtschaftsrates ist radikaler als der radi-kalste Merz. Keine faulen Kompromisse,Deutschland braucht den großen Sprung:

� Unsere Nachbarn haben längst ihreEinkommenssteuern gesenkt –Deutschland muss nachziehen: Dererste Schritt für 2006 sind Stufentarife

von 12, 24 und 36 Prozent. Das Zielfür 2010 sind Sätze von 10, 20 undhöchstens 30 Prozent.

� Pauschal- und Ausnahmeregelungengehören dann weitestgehend gestri-chen.

� Im Ergebnis kann Deutschland eineNettoentlastung von jährlich mindes-tens 15 Milliarden € schaffen.

� Die Neiddebatte um die Vermögens-steuer muss beendet und die Gewer-besteuer abgeschafft werden.

� Die Erbschaftssteuer bei Betriebsüber-gaben sollte gestundet werden undnach zehn Jahren ganz entfallen – dasschafft Werte.

� Nach dieser Steuerreform muss gelten:Fünf Jahre ‚Finger weg’ vom Steuer-recht.

2. Komplizenschaft von Politikund Tarifpartnern beenden

Politik und Tarifpartner verhindernwie in keinem anderen Land die Bekämp-fung der Arbeitslosigkeit. Das Tarifkartellauf Kosten der Arbeitslosen muss endlich

Deutschland hat in der Vergangen-heit schon mehrfach großeUmbrüche mit Erfolg gemeistert.

Dies ist immer dann gelungen, wenn wirkeine Angst davor hatten, Neues zu wa-gen. Um so wichtiger ist es, dass wir beider Erneuerung des Landes auf die eige-nen Stärken vertrauen, statt Zukunfts-pessimismus zu verbreiten.

Für den neuen Aufbruch brauchenwir gemeinsame Ziele: Deutschland inder Mitte Europas muss ein Kompetenz-zentrum werden und wieder Wertschöp-

fung zurück ins Land holen – im produ-zierenden Gewerbe, bei Medizin undPharma, in der Bio- und Gentechniksowie im Bereich Energie.

Tiefgreifende Reformen unseres Steu-ersystems, der Sozialen Sicherung und dieBekämpfung der Arbeitslosigkeit sindunverzichtbar für die Rückkehr zur inter-nationalen Spitze. Der Versuch, nochmehr private Gelder in öffentliche Kassenzu lenken, ist dagegen ein Schreckens-szenario. Diese Politik führt nur tiefer indie Krise der öffentlichen Finanzen. Der

Staat muss sich aus der umfassenden Für-sorge zurückziehen und dem einzelnenBürger eine höhere Selbstverantwortungübertragen.

Erst wenn Bürger und Unternehmenwieder mehr Freiheit und Verantwortungzurückgewinnen, kann der Aufbruchgelingen. Dann werden Ideen zu Innova-tionen, Leistung erzeugt Wohlstand,Wachstum schafft Arbeitsplätze. Auf-bruch und Wachstum – für diesen Weglegt der Wirtschaftsrat anlässlich des Wirt-schaftstages 2004 seine zehn Leitsätze vor.

ww

w.w

irtschaftsrat.de

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63trendIII. Quartal 2004

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beseitigt und die Subventionierung vonNicht-Arbeit beendet werden. Die Her-stellung der Europafähigkeit der Tarif-politik hat gerade in der erweiterten EUbesondere Bedeutung. Die wichtigstenAnsatzpunkte sind:

� Abweichungen vom Flächentarifver-trag bei qualifizierter Belegschafts-mehrheit – ohne Gewerkschaftsveto(betriebliche Bündnisse für Arbeit).

� Abschaffung des gesetzlichen Kündi-gungsschutzes bei Neueinstellungen –unabhängig von der Unternehmens-größe.

� Arbeitslosengeld für maximal zwölfMonate und 60 Prozent des letztenNettolohns.

� Flexible Anhebung der Wochenar-beitszeit auf mindestens 40 Stunden.

� Reduzierte Transferleistungen für er-werbsfähige, aber arbeitsunwillige So-zialhilfeempfänger um 25 Prozent –bei andauernder Arbeitsverweigerungist die Hilfe ganz zu streichen.

3. EffizientereUnternehmensverfassung –Gewerkschaftsfunktionäreentmachten

Die Auswüchse bei Gehältern undStock-Options der Unternehmensfüh-rung sollten beendet werden. Die Beset-zung und die Kontrolle deutscher Unter-nehmensvorstände darf nicht länger vomVotum externer Gewerkschaftsfunk-tionäre abhängen. Mit Einführung derEuropa AG ab Oktober 2004 muss end-lich die unternehmerische Mitbestim-mung und die Corporate Governance inDeutschland auf ein international wettbe-werbsfähiges Niveau gebracht werden:

� Die Verkleinerung der Aufsichtsräteauf maximal zwölf Mandate.

� Eine Option auf die Zusammenfüh-rung von Vorstand und Aufsichtsrat.

� Die Wahlmöglichkeit, paritätischbesetzte Aufsichtsräte abzulehnen.

� Umsetzung der EU-Rechtsprechung:Wahlfreiheit für ausländische Unter-nehmensrechtsformen in Deutschland.

� Die Aussetzung der erzwingbarenMitbestimmungsrechte in den erstenfünf Jahren nach Unternehmensgrün-dung.

� Betriebsratsbildung erst ab 20 Mitar-beitern und Freistellung von Betriebs-räten erst in Unternehmen mit mehrals 500 Mitarbeitern.

4. Rente mit Rendite –Mindestens 40 ProzentKapitaldeckung

Eine Rentenversicherung allein nachdem Prinzip ‚Jung zahlt für Alt‘ hat inDeutschland keine Zukunft mehr: DieMenschen werden immer älter und dieKinder immer weniger.

Deshalb sind mindestens 40 ProzentKapitaldeckung durch eine Stärkung derprivaten und betrieblichen Alterssiche-rung alternativlos. Diese Zusatzvorsorgekönnen die Bürger nur leisten, wenn derBeitragssatz zur gesetzlichen Rentenversi-cherung dauerhaft auf unter 20 Prozentbegrenzt wird. Der Wirtschaftsrat hat eineigenes Konzept vorgestellt, das über dieVorschläge der Herzog- und Rürup-Kom-mission hinausgeht:

� Anhebung des abschlagsfreien Ren-tenalters auf 67 Jahre – das bedeutetauch die Beendigung von Anreizenzur Frühverrentung.

� Verdopplung der steuer- und abga-benfreien Beiträge zu Betriebsrenten.

� Sozialabgabenfreiheit für Betriebsren-ten über das Jahr 2008 hinaus.

� Familien mit Kindern während derErziehungszeit steuerlich fördern.

� Beseitigung der massiven Versorgungs-Privilegien für Politiker und Beamte.

5. FitnessprogrammGesundheitsprämie statt Giftpille Bürgerversicherung

An der Abkopplung der Gesundheits-kosten von den Arbeitskosten führt keinWeg vorbei. Das schafft 500.000 neueArbeitsplätze und stärkt den Wachstums-markt Gesundheit. Kompromisse, die aneinkommensabhängigen Beiträgen fest-halten, lehnt der Wirtschaftsrat entschie-den ab. Die Auswirkungen der Bürger-zwangsversicherung von Rot-Grün wärenfatal: Sie kostet eine Million Arbeitsplätzeund belastet Geringverdiener mit zusätzli-chen Beiträgen auf ihr Erspartes. DiesesAbkassieren gilt es zu verhindern, wirbrauchen stattdessen:

� Die Abkopplung der Gesundheitsbei-träge vom Beschäftigungsverhältnisdurch Einführung der Gesundheits-prämie.

� Den flächendeckenden Ausbau kapi-talgedeckter Altersrückstellungen.

� Flankierung der Gesundheitsprämiemit einem steuerfinanzierten Sozial-ausgleich.

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� Sozial verträgliche Selbstbehalte vonjährlich bis zu 500 €.

� Private Absicherung von Freizeit-unfällen, Zahnbereich und Kranken-geld.

� Mehr Vertragsfreiheiten und Wettbe-werb zwischen Ärzten, Apotheken,Krankenkassen und Krankenhäusern.

6. Neue Bundesländerzur Modellregion Wachstum ausbauen

Das westdeutsche Regelungsdickichtverhindert Wachstum in den neuen Bun-desländern. Die Wettbewerbsnachteilegerade gegenüber den neuen EU-Nach-barn im Osten können durch die mutigeEinführung von Modellregionen Wachs-tum für die neuen Bundesländern besei-tigt werden. Davon profitieren dann auchdie alten Bundesländer:

� Steuerfreistellung von reinvestiertenGewinnen bei klein- und mittelstän-dischen Unternehmen zur Stärkungder Eigenkapitalausstattung.

� Mindestens zehnjährige Aufhebungbundesrechtlicher Regelungen inArbeits-, Tarif-, Bau-, Genehmigungs-und Umweltrecht.

� Verbesserung der Unternehmens-liquidität durch den Übergang vonder Ist-Besteuerung zur Soll-Besteue-

rung bis zur Umsatzgrenze von fünfMillionen €.

� Konzentration der Förderpolitik aufindustrielle Wachstumskerne und For-schungscluster.

� Ausbau der kommunalen und überre-gionalen Infrastrukturen bei Straße,Schiene und Wasser – stärkere Einbe-ziehung von Public-Private-Partner-ships.

7. Technologiepolitik alsSchlüssel zu einer erfolgreichenZukunft nutzen

Besser und schneller zu sein, musswieder Deutschlands Markenzeichen wer-den. Unsere Grundlagenforschung istweltweit renommiert – die Früchte wer-den aber immer häufiger im Auslandgeerntet. Grünes Dosenpfand statt Grü-ner Gentechnologie – das ist das inakzep-table Ergebnis heutiger Regierungspolitik.Diese Verschwendung von Chancen mussaufhören, dann kann Deutschland wiederan die Spitze der Wachstumsnationenzurückkehren. Neues Leadership in Inno-vation erfordert:

� Rückkehr zur zukunftsorientiertenTechnologiepolitik, z. B. in den Berei-chen Gen- und Biotechnologie sowieEnergie;

� rasche Umsetzung überfälliger EU-Gesetze, z. B. bei Bio-Patenten undGentechnik;

� Schwerpunkt der Förderung aufanwendungsorientierte Forschunglegen;

� Internationale Spitzenposition z. B. inder Nano- und Medizintechnik durchgezielte Forschungsförderung undClusterbildung ausbauen;

� kleine und mittlere Innovationsunter-nehmen stärker fördern;

� Anhebung der steuerlichen Wesent-lichkeitsgrenze für Beteiligungen anjungen Unternehmen von einem auf25 Prozent – wie schon bis 1998.

8. Die junge Generation verdienteine Zukunft – im eigenen Land

Junge Menschen weltweit stellen zuRecht die Frage: In welchem Land habe ichdie besten Zukunftschancen? Bildung,Arbeit und Familie – andere Länder habenhierauf attraktivere Antworten gefunden.Deutschland muss nachziehen: Bildungauf Top-Niveau für Jobs mit Zukunft sowieeine familienfreundliche Politik, damitFamilie und Beruf möglich sind. Vor derVergabe neuer Fördermittel müssen drin-gend mehr Wettbewerb und mehr Freiheitfür deutsche Hochschulen erreicht werden.Konkret fordert der Wirtschaftsrat:

� Die Einführung von kreditfinanzier-ten Studiengebühren ist eine Fragevon Fairness und Gerechtigkeit – auchMeisterbrief und Kindergarten kostenGeld;

� Freiheit bei der Auswahl von Studen-ten und Universitäten sowie keineVerbeamtung von Lehrern und Pro-fessoren;

� verkürzte Studienzeiten und Abiturnach 12 Schuljahren;

� weitreichende Kompetenzen fürHochschulen bei der Drittmittelwer-bung und bei Industriekoopera-tionen;

� Einführung eines steuerlichen Fami-liensplittings und volle steuerlicheAbzugsfähigkeit von haushaltsnahenDienstleistungen;

� Ausgabe von Betreuungsgutscheinenbei gleichzeitigem Ausbau ganztätigerKrippen und Kindergärten und ver-besserte Nachmittagsbetreuung vonSchulkindern.

9. Abkehr von der Ideologiepolitikbei Energie und Umwelt

Die Anzahl der Windräder ist keinMaßstab für die Leistungsfähigkeit eines

64 trend III. Quartal 2004

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65trendIII. Quartal 2004

Energie- und Umweltstandorts. Stärkerdenn je sind Energie- und Umweltpolitikin Deutschland ideologisch motiviert undin sich widersprüchlich. Die Energiever-braucher müssen dies bezahlen: Die Belas-tungen machen heute bereits 41 Prozentder Stromrechnung aus, das sind 20 Mil-liarden € im Jahr.

Energie- und Umweltpolitik müssenwieder zu integralen Bestandteilen derWirtschaftspolitik werden. Der weltweitwachsende Energiebedarf sowie die an-steigende Importabhängigkeit Deutsch-lands und der EU erfordern einen offe-nen Energiemarkt für eine Vielzahl vonAnbietern, Bezugsquellen und Ener-gieträgern.

Der Wirtschaftsrat hat hierzu einkonsistentes Gesamtkonzept erarbeitet:

� Wirtschaftswachstum durch kosten-günstigen und zielorientierten Kli-maschutz statt nationaler Al-leingänge – EEG nach Einführungdes Emissionshandels auf den Prüf-stand;

� alle Optionen der Energieerzeugung –einschließlich der Kernenergie – offenhalten;

� Erneuerbare Energien möglichst raschin die Wettbewerbsfähigkeit führen –Subventionen stärker zeitlich begren-zen und degressiv gestalten;

� Deutschland wieder zum Inno-vationsmotor und Weltmarktführerfür umweltfreundliche Spitzentechno-logien machen – Forschung und Ent-wicklung auf breiter Basis ohne Tabu-isierung einzelner Energieträger aus-bauen;

� Wettbewerb auf den Strom- undGasmärkten durch einen schlankenRegulierer;

� statt Ökosteuer – EU-Harmonisie-rung der Energiebesteuerung;

� Kosten-Nutzen-Analysen bei allenenergie- und umweltpolitischen Maß-nahmen – Fünfjähriges Moratoriumgegen neue Belastungen für Unter-nehmen aus der Energie- und Um-weltbranche.

10. Führungskrise überwinden – Europa wettbewerbsfähig machen

Die Lissabonner Strategie im Wettbe-werb der Kontinente verfolgt das richtige

Ziel: Europa als Wirtschaftsraum Nr. 1 inder Welt im Jahr 2010. Gipfelrhetorikallein reicht aber nicht.

Bei derzeitigem Wirtschaftswachstumverdoppelt sich der Wohlstand in Chinaalle neun, in den USA alle 20 Jahre –Europa braucht mehr als 30 Jahre. DieEuropäische Union und die Mitgliedstaa-ten müssen daher schnell handeln:

� strikte Einhaltung der MaastrichterBudgetregeln – sechs von zwölf Euro-Ländern sind im Konflikt mit demStabilitätspakt;

� vollständige Binnenmarktfreiheitauch für sämtliche Dienstleistungen,für die Energie- und Pharmaindustriesowie die Verteidigungstechnik;

� Beseitigung inhaltlicher Widersprü-che in der EU-Rechtsetzung und Ein-führung einer politisch unabhängigenGesetzesfolgenabschätzung;

� Wachstum und Wettbewerbsfähigkeitals oberste Priorität für die neue EU-Kommission;

� neue Schwerpunkte bei den EU-Finanzen: mehr Forschung und Ent-wicklung anstelle von milliarden-schwerer Umverteilung.

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Der Wirtschaftstag hat große Bedeu-tung. Von ihm wird ein richtungs-weisendes Zeichen ausgehen. Und

er wird den Weg weisen in schwierigstenGewässern. Unser Land ist in der schwers-ten Krise seit seiner Gründung. Meindringender Rat an alle ist: Hören wir aufzu klagen. Selbstmitleid lähmt, stattdessenwollen wir klar sagen, wo wir hin wollen,auch wenn der Weg noch so steinig ist.Eine Richtung muss aufgegeben werden.

Die heutige Bundesregierung hat sich ausder Führungsrolle für den notwendigenWandel bereits verabschiedet. Die Bürgerspüren das Scheitern ihrer Politik undwollen Alternativen. Wir stehen an einemdoppelten Umbruch: Am Ende der Trag-fähigkeit aller Ideologie – und am Endeder Industriegesellschaft, wie sie vor allemDeutschland in so überaus starkem underfolgreichem Maße geprägt hat. Schonvor vierzig Jahren hat Karl Popper in sei-

ner Schrift „Das Elend des Historizismus“nachhaltig die gefährliche Auffassung kri-tisiert, dass die grundlegenden Gesetze derhistorischen Entwicklung erkannt werdenkönnen, um dann daraus die richtigenAnweisungen für politisches und sozialesHandeln abzuleiten.

Die Programme und das Denken derSozialdemokratie und ihrer Gewerkschaf-ten sind durchdrungen von dieser Auffas-

Bundesdelegierten-Versammlung 2004

Die Marktwirtschaft inDeutschland braucht eineRenaissanceDas Vertrauen in die Politik ist tief erschüttert

Bericht des Präsidenten: Kurt J. Lauk

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67trendIII. Quartal 2004

sung. Dazu Popper: „Der Versuch, denHimmel auf Erden einzurichten, produ-ziert stets die Hölle.“

Die Sozialpolitik ist in den Rang einer„gesellschaftsgestaltenden Ausgleichspoli-tik“ erhoben worden – entgegen demGrundprinzip der Sozialen Marktwirt-schaft, nach dem auf das Prinzip desMarktes der soziale Ausgleich folgensollte. Ludwig Erhard hat die SozialeMarktwirtschaft nicht für die Sozialde-mokratie entwickelt. Der lange Weg vonder Industriegesellschaft zur Wissensge-sellschaft ist nicht ohne Gefährdungen.„Der Teil der menschlichen Erfahrungen,den die Wissenschaft behandelt, istbeschränkt, bezieht sich im wesentlichenauf die physische Wirklichkeit. Die meta-physische Wirklichkeit bleibt gleichsamausgeblendet“. (So Hubert Nagel in sei-nem Aufsatz „Gesellschaft und Wissen-schaft“.)

Das heißt, eine Wissensgesellschaftbleibt qua definitionem eine defizitäreBeschreibung der Wirklichkeit, weil allesinnstiftenden Inhalte aus ihrer Begriff-lichkeit entfernt sind.

Die abnehmende Bedeutung derIndustriegesellschaft, hin zur Wissensge-sellschaft, trifft uns als führende Industrie-nation besonders hart: Im verarbeitendenGewerbe ist die Zahl der Arbeitsplätze inden vergangenen zehn Jahren von zehnauf sechs Millionen zurückgegangen, d. h.um etwa ein Drittel. Dies trifft ins Markder Gewerkschaften, der SPD – die sichbeide über die Industriegesellschaft defi-niert haben – aber auch ins Mark unseresLandes.

Dieses Land will eine bessereRegierung wählen

Auch der CDU wird eine Neudefini-tion abverlangt, die bislang nicht umfas-send geleistet worden ist.

Geschichte wiederholt sich nicht, aberdie Situation heute erinnert in vielenPunkten fatal an 1982: eine SPD, die sichin ideologischen Krämpfen schüttelt,einem Kanzler die Gefolgschaft versagt,obgleich er in die richtige Richtung will,und dadurch das Land täglich tiefer ineine chaotische Krise führt. InhaltlicheGegensätze lassen einen Koalitionswech-sel nicht zu. Deshalb gibt es nur einen

Weg, um die Selbstblockade unseres Lan-des zu lösen: Herr Bundeskanzler, machenSie den Weg frei für Neuwahlen! DiesesLand möchte eine bessere Regierungwählen!

Bei den Europawahlen haben geradenoch neun Prozent der Wahlberechtigtenfür die SPD gestimmt (CDU/CSU 18,6Prozent, Grüne fünf Prozent). Auch dieUnion ist dringend aufgefordert, ihreinhaltliche Programmatik zu schärfen.

Unsere Überzeugung ist: Die Markt-wirtschaft braucht eine Renaissance. Sieist mehr als nur eine erfolgreiche Episodedeutscher Nachkriegsgeschichte. Niezuvor war eine Wirtschafts- und Gesell-schaftsordnung so erfolgreich auf dieBedürfnisse der Bevölkerung zugeschnit-ten:

� Freiheit statt staatlicher Bevormun-dung;

� Soziale Sicherheit für die Bedürftigen;� Wachstumspolitik, die Arbeitsplätze

schafft und Wohlstand für die breiteMehrheit der Bevölkerung.

Darum haben uns viele der Länderbeneidet, die heute vor uns stehen und fra-gen: Warum habt ihr Deutschen das auf-gegeben? Der Wohlstandsverlust Deutsch-lands geht Hand in Hand mit dem zuneh-menden Verlust an Freiheit. Der Staat reißtAufgaben an sich, die ihn ganz offensicht-lich überfordern; die Staatsquote von fast50 Prozent. Je höher die Staatsquote, destogeringer ist die Entfaltung der Markt-

kräfte, die zu Wachstum führen. Wettbe-werb schafft Wachstum, dort wo die Tüch-tigen sich durchsetzen. Regulierung tötetWachstum dort, wo soziale Leistungen aufKosten der Tüchtigen durchgesetzt wer-den. Dieser Staat, ist von Bürgern undUnternehmen in Deutschland nichtgewollt. Er wirft uns weit zurück, währendandere Länder dynamisch wachsen undArbeitsplätze schaffen.

Wirtschaftsrat hat sich neu positioniert

Der Wirtschaftsrat hat sich in den ver-gangenen Monaten zu drängenden Fragenin der Wirtschafts- und Sozialpolitik miteigenen Konzepten neu positioniert. DieSäle auf unseren Bundessymposien warenvoll:

� Eigenes Steuerkonzept – durchgerech-net und gegenfinanziert.

� Eigenes Konzept für die Zukunft derAlterssicherung – besonderen Dankgeht hier an Professor Raffelhüschen,der mit seinem Gutachten die Grund-lagen für unser Konzept erstellt hat.

� Der Wirtschaftsrat hat sich zudem ineinem Bundessymposion mit demRCDS öffentlich bekannt als Anwaltder jungen Generation.

Der Wirtschaftsrat hat im vergange-nen Jahr große Resonanz in den Mediengefunden. Unsere gemeinsamen Erfolgehaben wir vor allem dem Engagement desEhrenamtes zu verdanken.

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Zusammenhalt hatwichtige Rolle gespielt

Ich danke unseren Landesvorsitzen-den, den Sektionsvorständen und -spre-chern und den Mitgliedern der Bundes-delegiertenversammlung.

Der Zusammenhalt der Verantwor-tungsträger im Wirtschaftsrat hat einewesentliche Rolle gespielt, als es darumging, in der Mitgliedschaft für die drin-gend notwendige Beitragsanpassung zuwerben. Die Botschaft ist angekommen –der Wirtschaftsrat hat ein solides finanzi-elles Fundament. Die Befürchtungen derSkeptiker sind nicht eingetreten: Wennwir den gesamten Zeitraum zusammen-

fassen, auf den sich die Beitragsanpassungauswirkt, bleiben unsere Mitgliedszahlenauf hohem Niveau stabil und wachsenwieder.

Das haben wir gemeinsam erreichenkönnen und dafür sage ich Ihnen ein herz-liches Wort des Dankes. Ihrem Einsatzgebührt die Anerkennung.

Mein weiterer Dank gilt dem Beiratdes Wirtschaftsrates mit seinen maßgebli-chen Persönlichkeiten der deutschenWirtschaft. Wertvolle und konstruktiveErgebnisse mit Blickrichtung Zukunft: Inmehreren Sitzungen unter anderem mitDr. Angela Merkel und Friedrich Merz, in

denen die tiefen Probleme des Landes undihre Ursachen angesprochen wurden,haben wir Eckpunkte für ein Regierungs-programm 2006 angeregt.

Ein weiteres Novum im letzten Jahrwar die Konferenz der Vorsitzenden derBundesfachkommissionen des Wirt-schaftsrates. Unser Ziel ist die Erarbeitungvon konkreten Vorschlägen für ein Regie-rungsprogramm 2006. Wir können es unsnicht leisten, das Ergebnis der Bundes-tagswahl 2006 erst einmal abzuwarten.Die programmatischen Konturen derUnion müssen frühzeitig erkennbar sein.Die innerparteiliche Diskussion mussabgeschlossen sein vor der Wahl und nicht

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Ludwig-Erhard-Gedenkmünze und EhrenmitgliedschaftDr. Horst Annecke ausgezeichnet

Präsidium und Bundesvorstand desWirtschaftsrates beschlossen ein-stimmig, Dr. Horst Annecke mit der

Ehrenmitgliedschaft und der Ludwig-Erhard-Gedenkmünze in Silber auszu-zeichnen. Der Präsident des Wirtschafts-rates, Professor Dr. Kurt J. Lauk, erklärte

in seiner Laudatio vor der Bundesdele-giertenversammlung u. a.: „Unsere Zu-sammenarbeit war stets konstruktiv, erfri-schend und kritisch, dabei immer vongegenseitigem Vertrauen getragen. Dafürmeinen herzlichen, aufrichtigen Dank. Siehaben eine tolle Leistung vollbracht!“ Dr.

Horst Annecke aus Bielefeld war 28 Jahrean herausgehobener Stelle im Wirt-schaftsrat aktiv: 13 Jahre Sektionssprecherin Bielefeld (1977 bis 1990); seit 1981Mitglied im Präsidium und im Bundes-vorstand; 1981 bis 1987 Vorsitzender desLandesverbandes Westfalen Lippe; seit1988 bis zum Juni 2004 Landesvorsitzen-der in Nordrhein-Westfalen. Dr. HorstAnnecke hat den Landesverband Nord-rhein-Westfalen mit aus der Taufe geho-ben. Von Westfalen Lippe aus wurde mitgroßem Erfolg der Aufbau des Wirt-schaftsrates auch im Rheinland gemeis-tert. In den letzten zehn Jahren hat sichdie Mitgliederzahl des LandesverbandesNordrhein-Westfalen verdoppelt. DerPräsident des Wirtschaftsrates: „Sie, lieberHerr Dr. Annecke, haben sich um denWirtschaftsrat und damit um die Markt-wirtschaftliche Ordnung in Deutschlandverdient gemacht. Ihre Arbeit soll unsVorbild sein und Vorbild bleiben. In die-sem Sinne sprechen wir Ihnen unserenherzlichen Dank aus. Es ist eine großeEhre, aber auch eine große Freude, Ihnendie Ernennungsurkunde zum Ehrenmit-glied und die Auszeichnung übergeben zudürfen. Herzlichen Glückwunsch!“

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danach. Nach der Wahl muss zügiggehandelt werden.

Danken möchte ich auch den Vorsit-zenden der Bundesfachkommissionenund den mehr als 500 aktiven Mitgliedernaus Politik und Wirtschaft für ihren Ratund ihr Engagement.

„Zwei verschiedene Länder“Die Wahrnehmung Deutschlands im

Ausland wird immer stärker begleitet vonverständnislosem Kopfschütteln. BritischeNachrichtenmagazine rufen uns mittler-weile schon zu: Nur wenn ihr aufhört he-rumzubasteln und herumzupfuschen,könnt ihr eure Wirtschaft retten (TheEconomist). Haben wir Deutschen unsetwa schon abgefunden mit unserem wirt-schaftlichen Niedergang? In den Buchre-galen heißen die Bestseller dieser Tage:„Deutschland – Abstieg eines Superstars.“Der Sachverständigenrat nennt sogar Rossund Reiter. „Der gefährlichste Feind fürdie Erneuerung Deutschlands ist die Bun-desregierung.“ Deutlicher geht es nicht.

Der Bundeskanzler spricht stattdessenmutlos „vom Ende des Wachstums“ undbetreibt Mangelverwaltung in einemLand mit riesigem Potenzial! Die Men-schen in Deutschland erwarten das ge-naue Gegenteil von der Regierung: Politikaus einem Guss, die dazu führt, dass kräf-tiges Wachstum entsteht und die Ein-kommen steigen.

Ein Deutschland-Kenner, der ehema-lige stellvertretende Handelsbeauftragteunter Clinton, der vor dreißig Jahren zumersten Mal Deutschland besuchte, undbegeistert war, sagt heute: „Das Deutsch-land, an das ich mich erinnere und dasDeutschland, das ich heute vorfinde, sindzwei verschiedene Länder.“ Er führt wei-ter aus: „Das deutsche Wirtschaftswachs-tum ist schwindsüchtig; Deutschland istimmer weniger in der Lage Beschäftigungzu schaffen; Deutschlands Wettbewerbs-position zerfällt seit zehn Jahren.

Dauerhafte und produktive Arbeits-plätze sind nur mit mehr F&E-Ausgabenzu erreichen. Die von den Unternehmengeleisteten Ausgaben für F&E sind inDeutschland 1989 bis 1999 um 1,5 Pro-zent gesunken Der Anteil der F&E-Mit-arbeiter unter den Beschäftigten nimmtab. Ergebnis: Deutschland: Platz acht

unter 13 OECD Ländern. DeutschlandsArchitektur des Finanzsektors ist dysfunk-tional. No equity and venture culture;Liquiditätsengpass für den Mittelstand.Unternehmerische Effizienz steht vorunzähligen Hindernissen. CorporateGovernance in Deutschland ist undurch-sichtig und antiquiert. Deutschlands Aus-bildungssystem ist überfüllt, unterfinan-ziert und erstickt in Bürokratie, die zurAusbildung der Studenten nichtgebraucht wird. Die demografische Ent-wicklung erfordert radikale Systemverän-derungen in der Sozialen Sicherung.

Auch wenn nicht alle allem zustimmenmögen, wir fühlen uns getroffen. MeineBegegnungen im Ausland laufen fast allenach diesem Muster ab. Deutschland mussaufpassen: Die Globalisierung produziertGewinner – und Verlierer: „Wenn wir soweitermachen, wird Deutschland zur ver-längerten Werkbank der Amerikaner undbald auch der Chinesen“ (Heinrich vonPierer). Ist das Schwarzmalerei? In Chinaverdoppelt sich der Wohlstand alle neunJahre; in den USA alle 20 Jahre; Deutsch-land braucht über 50 Jahre dafür! Wenndas so weitergeht, wird Deutschland wirt-schaftlich zu einem Zwergenstaat – es istnur eine Frage der Zeit!

Mit jungen Leutenin einem Boot

Die meisten gesamtdeutschen Prob-leme treffen die neuen Bundesländer mitbesonders großer Wucht. Ostdeutschlandhat ein gravierendes Abwanderungsprob-lem! Zigtausende gut qualifizierte Men-schen aus den neuen Ländern verlassenihre Heimat mit Zielrichtung Westen.

Aber: Die Migration in die alten Bun-desländer ist nur ein Zwischenschritt. Wirmüssen feststellen, dass jährlich rund100.000 – meist junge Leute – Deutsch-land den Rücken kehren. Eine aktuelleStudie hat sich die jungen Leute genauangeschaut. Ergebnis: Wie nie zuvorwächst eine Generation heran, die sichdurch Leistung definiert. Für sie gibt esanscheinend in Deutschland immer selte-ner eine Heimat: „Das Vertrauen in diePolitik ist erschüttert“ – lautet ein weite-res Ergebnis dieser Studie.

Wir vom WR sind die natürlichenAnsprechpartner für diese Generation.Deshalb nehmen wir die jungen Leuteverstärkt mit ins Boot. Mit unseren Junio-renkreisen und immer stärker auf bundes-weiten Veranstaltungen wie heute auf demWirtschaftstag.

Warum verlassen denn die jungenMenschen Deutschland? Sie finden hierkeine – ihrem Empfinden nach – überzeu-gende, verlässliche Zukunftsperspektive.

„MasterplanDeutschland“Was muss Deutschland also andersmachen? Der Wirtschaftsrat hat seineVorschläge im „Masterplan Deutschland– 10 Leitsätze für Aufbruch und Wachs-tum“ präsentiert:

� Große Steuerreform bis 2006 –Radikaler Neubeginn statt Flick-schusterei

� Komplizenschaft von Politik undTarifpartnern beenden

� Effizientere Unternehmensverfas-sung – Gewerkschaftsfunktionäreentmachten

� Rente mit Rendite – Mindestens 40Prozent Kapitaldeckung

� Fitnessprogramm Gesundheitsprä-mie statt Giftpille Bürgerversiche-rung

� Neue Bundesländer zur Modellre-gion Wachstum ausbauen

� Technologiepolitik als Schlüssel zueiner erfolgreichen Zukunft nutzen

� Die junge Generation verdient eineZukunft – im eigenen Land

� Abkehr von der Ideologiepolitik beiEnergie und Umwelt

� Führungskrise überwinden – Europawettbewerbsfähig machen

Wenn wir weiter Zeit verlieren, verlierenwir unsere Zukunft. Gutachten gibt esgenügend; diskutiert wurde lange genug;jetzt muss gehandelt werden.

Dokumentation Masterplansiehe Seite 62.

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Der Wirtschaftsrat der CDU e.V.hat anlässlich seiner Bundesde-legiertenversammlung und des

Wirtschaftstages 2004 den Premier-minister der Französischen Republik,Jean-Pierre Raffarin, mit der Ludwig-Erhard-Gedenkmünze in Gold ausge-zeichnet. Dr. Helmut Kohl, Bundes-kanzler der Bundesrepublik Deutschlanda. D., erhielt diese Ehrung 2003. Ersprach die Laudatio für den hohen Gastaus Frankreich.

„Ich finde es eine großartige Sacheund für mich ist es eine Ehre und beson-dere Freude, dass wir heute unseren fran-zösischen Freund Jean-Pierre Raffarinehren. Der Wirtschaftsrat ehrt sich damitübrigens auch selbst. Und das möchte ichdoch auch mit großer Freude zum Aus-druck bringen. Ich danke dem Wirt-schaftsrat und seinem Vorstand für dieseEntscheidung, den Premierminister mitder Ludwig-Erhard-Gedenkmünze inGold auszuzeichnen.

Der Wirtschaftsrat und viele IhrerFreunde – weit über diesen Kreis hinaus,

lieber Freund Raffarin, – wollen Sie sozu-sagen mit unterstützen in einer auch fürSie psychologisch schwierigen Situation,entscheidende Schritte mit dem eigenenMut voranzutreiben und die großenReformanstrengungen durchzusetzenund vielleicht etwas – im Geiste unsererFreundschaft – auf uns in Deutschlandzu übertragen. Auch das wäre eine sehrgute Sache. Die ersten Früchte desReformprozesses in Frankreich sindsichtbar und jeder, der genau hinschaut,weiß: Sie haben sich diese Auszeichnungwirklich verdient – deswegen gratuliereich auch persönlich sehr herzlich.

Der Premierminister Frankreichs ori-entiert sich in seiner gegenwärtigen Wirt-schaftspolitik an der Sozialen Marktwirt-schaft. Dies unter den gegebenen Ver-hältnissen seines Landes und der Tradi-tion seines Landes. Die Soziale Markt-wirtschaft ist eine Basis, auf der er undseine Regierung viele Reformen eingelei-tet haben. Insofern sind Sie heute amrichtigen Platz, lieber Freund, denn derWirtschaftsrat hat sich seit seiner Grün-dung vor über 40 Jahren immer eindeu-

tig und völlig klar der Position der Sozia-len Marktwirtschaft von Ludwig Erhardgestellt. Ich betone: Auch im Sinne Lud-wig Erhards, denn heute sind inDeutschland und nicht zuletzt in Berlinviele Falschmünzer und Plagiatorenunterwegs. Deswegen ist es wichtig, diesklar und deutlich herauszustellen.

Für Ludwig Erhard stand fest, dassdie unternehmerische Freiheit in Verant-wortung, der Wettbewerb und der sozialeAusgleich zusammen gehören. Geradeauch in diesem Sinne ist es wichtig, dassdieser Preis heute an Sie geht. Diefreundschaftlichen Beziehungen zuFrankreich waren immer ein Kernstückder Politik der CDU und auch des Wirt-schaftsrates. Die deutsch-französischeFreundschaft ist die Voraussetzung fürden Bau des Hauses Europa. Damitübernehmen wir uns nicht, aber es ent-spricht dem Geist der Geschichte. Ohnedeutsch-französische Freundschaft wirdes keinen wirklichen Fortschritt inEuropa geben.

Von den Tagen Robert Schumannsund Jean Monnets führt über den vonAdenauer und de Gaulle 1963 unter-zeichneten Elysée-Vertrag ein direkterWeg durch die Jahre und Jahrzehntegemeinsamer Anstrengungen hin zurEinführung des Euro und zum weiterenAusbau des Hauses Europa.

Es ist mir wichtig, gerade auch vordiesem Kreis und auch gegenüber derÖffentlichkeit immer wieder zu sagen:Wir in der CDU/CSU waren in diesenJahren nicht nur Zuschauer, die nachLust und Laune applaudierten. Wir inder CDU/CSU haben diesen Weggemeinsam und tatkräftig gestaltet. Unddas lassen wir uns von niemandem neh-men – egal wer es ist.

Herr Premierminister, lieber Freund,Sie bringen eine lange politische Erfah-rung in ihr Amt als Regierungschef mit.

Ludwig-Erhard-Gedenkmünze in GoldPremierminister Jean-Pierre Raffarin ausgezeichnet

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Schon in jungen Jahren engagierten Siesich in der Jugendorganisation von Gis-card d’Estaing. Nach Jahren der Tätigkeitin der Privatwirtschaft wurden Sie 1988Präsident des Regionalrats der RegionPoitou-Charentes in Westfrankreich. Siehaben dieses Amt 14 Jahre bis 2002bekleidet. Man kann so sagen – ich sagedies gern – Sie haben Ihre große und rei-che politische Erfahrung nicht zunächstin Paris erworben, sondern in der Pro-vinz.

Und Sie waren nicht immer ein Mit-glied der hochmögenden Klasse, die sichin Paris als Elite versteht. Sondern Siewaren draußen im Land bei den Leuten.Das merkt man Ihrer Politik an, das spürtman in Ihrem Wesen. Und – ich sage esganz offen – mir gefällt dies ganz beson-ders. Für Sie ist Subsidiarität eben keinFremdwort, weil Sie die Praxis erlebthaben und gestalteten.

Von 1989 bis 1995 waren Sie Mit-glied des Europäischen Parlamentes.Nach 1995 – und das ist wichtig, sich inErinnerung zu rufen – wurden Sie Gene-ralsekretär der von Giscard D’Estainggegründeten UDF. Sie waren Mitglieddes französischen Senats. Sie warenMinister für Mittelstand, Handel undHandwerk – das passt genau zumErhard-Preis –, und Sie waren Bürger-meister einer Gemeinde in Westfrank-reich. Diese Aufgaben waren ganz wich-tige Stationen bis zu Ihrem jetzigen Amt.Vor zwei Jahren ernannte Sie Staatspräsi-dent Jacques Chirac zum Premierminis-ter. Seit diesem Zeitpunkt setzen Sie sichunermüdlich dafür ein, Frankreich fürdie Zukunft fit zu machen. Sie tun dasnicht mit irgendeiner Ideologie, Sie tunes aus der Überzeugungskraft eines fran-zösischen Patrioten und – das finde ichin diesem Zusammenhang besonderswichtig – eines Mannes, der Land undLeute kennt, und der auch weiß, wo derSchuh drückt.

Zu den Kernprojekten gehören dieReformen der gesetzlichen Rentenversi-cherung, des Gesundheitswesens undeine Steuerreform. Sie, Herr Premiermi-nister, sind mit einer großen Überzeu-gungskraft ans Werk gegangen.

Aber Sie haben wie jeder in einemsolchen Amt dann auch erleben müssen,

dass man bei solchen Entscheidungen ofteinsam ist. Dass die Zahl der Freundenachlässt, bis sich der Erfolg einstellt.Dann kommen die Freunde wieder häu-figer. Ich weiß es zu schätzen, dass SieIhren Kurs halten. Ich möchte Sie – auchals persönlicher Freund – ermutigen,Ihrer Überzeugung treu zu bleiben. DerÜberzeugung, dass Ihr Wort gilt. Wirhaben davon einen großen Vorteil:Frankreich und Deutschland haben ausvielen, vielen Gründen ähnliche, abernicht genau die gleichen Herausforde-rungen zu bewältigen.

Auch in unserem Land dreht sich dieAlterspyramide um, steigen die Kostenfür Gesundheit kontinuierlich, fehlt esan Arbeitsplätzen. Auch in Deutschlandmuss die notwendige Erneuerung derWirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitikvorangetrieben werden. Es ist schon vielZeit verlorengegangen.

Wir sollten noch mehr den Men-schen sagen, dass wir ja eine Steuerre-form hätten haben können – und zwareine Steuerreform, die diesen Namenwirklich verdient hätte – wenn man 1997unsere Vorlage auch im Bundesrat hättepassieren lassen, die ja von vielen einsti-gen Sozialdemokraten entsprechendgewürdigt wurde. Lafontaine, Eichel undSchröder haben im Glück des Wahl-kampfes damals die Blockade probiert.Wenn ich heute abends das verständli-cherweise zerfurchte Gesicht von HerrnEichel im Fernsehen sehe, denke ichimmer: Wenn der im Bett liegt, denkt ervielleicht auch, ich hätte damals als derVerhandler der SPD besser eine Kerzeaufgesteckt als die Blockade durchge-setzt.

Ich kann noch viele andere Beispielenennen: Die Absurdität, dass der von unseingeführte demographische Faktor beider Rente abgeschafft wurde und jetztunter einem anderen Namen wieder ein-geführt wird. Wir haben an dieser Ent-wicklung keine Freude! Bei aller partei-politischen Auseinandersetzung, geht esnämlich um unser Land – und es ist unsnicht einerlei, wie dieses Land sich ent-wickelt.

Es ist uns auch nicht einerlei, ich sagdas vor allem auch in Gegenwart einesführenden französischen Politikers, dass

man außerhalb unserer Staatsgrenzenlangsam beginnt, auf uns herabzu-schauen. Hier geht es nicht darum, dasswir psychologische Großmannssuchtpflegten. Es geht aber darum, dass wirden richtigen Platz, den uns zukommen-den Platz wieder einnehmen.

Aber das geht nur durch eigene Leis-tung. Die Erneuerung der Wirtschafts-,Finanz- und Sozialpolitik in Deutsch-land und Frankreich ist absolut notwen-dig. Nicht nur für unsere eigenen Län-der, sondern für Europa.

Das steht ja nicht zuletzt im Lichteder ehrgeizigen Ziele, die sich die Staats-und Regierungschefs auf dem europäi-schen Gipfel im März 2000 setzten. Dorthieß es: Die Europäische Union musssich bis zum Jahr 2010 im Vergleich zuden USA zum wettbewerbsfähigsten unddynamischsten Wirtschaftsraum derWelt entwickelt haben. Wie GerhardSchröder das machen will, weiß ichnicht. Wir schreiben ja jetzt schon 2004.Es ist doch eigentlich ein Traum, der hiervorgegaukelt wird.

Deswegen ist es wichtig, dass wirauch auf dem Wirtschaftstag noch ein-mal die Linien ganz klar machen, diejetzt gezogen werden müssen. Es ist dabeieinfach unerlässlich, dass Deutschlandund Frankreich die Motoren der europäi-schen Einigung bleiben.

Lieber Freund, Herr Premierminis-ter! Ich will noch eine kleine Bemerkunganschließen: Wer den Traum hat, dasszwei Länder in Europa die anderenbestimmen, hat die eigentliche Wirklich-keit des großartigen Konzepts derEuropäischen Gemeinschaft nicht begrif-fen.

Wir brauchen Vorbildfunktionenvon Deutschland und Frankreich. Wirbrauchen vertrauensvolle Zusammenar-beit mit Partnern, ob groß oder klein.Und vor allem den Glauben daran, dasswir in Europa Kraft haben, wenn wir esnur selbst wollen.

Ich wünsche Ihnen – auch persönlichund allen unseren französischen Freun-den – Erfolg. Und für Ihr schweres Amtwünsche ich Ihnen Glück, Erfolg undGottes Segen.“

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� Familie und Beruf passen in Deutsch-land wenig zusammen.

� Die Berufsaussichten im Ausland lau-ten „Weniger Bevormundung – mehrChancen – mehr Einkommen.

� Die Ausbildung der jungen Leute dau-ert in Deutschland zu lange und istmit wenig attraktiven Berufsausichtenverbunden.

Volksverdummung statt Elitenbildung

Vom Innovationsjahr der Bundesre-gierung ist nichts übrig geblieben – allen-falls Prestigeobjekte: 1,9 Milliarden € sol-len insgesamt zehn Hochschulen überfünf Jahre verteilt zusätzlich bekommen.Pro Hochschule und Jahr macht dasgerade mal 25 Millionen €! Entstehen soEliten? Allein Harvard hat einen Jahres-etat von über zwei Milliarden Dollar.

Harvard und Stanford haben inSumme einen Etat von knapp fünf Milli-arden Dollar – der größer ist, als derBWL-Etat in Deutschland für alle Uni-versitäten, Hochschulen und Fachhoch-schulen zusammen. Was die Bundesregie-rung betreibt, ist keine Elitenbildung,sondern Volksverdummung.

Erst wenn die Universitäten mehrFreiheit und Wettbewerb bekommen,können sie sich mit den Besten der Weltmessen – anders geht es nicht.

Gegen Zuwanderung ins soziale Netz

Nicht nur die Abwanderung – auchdie Zuwanderung nach Deutschlandbestimmt unsere Zukunft maßgeblichmit. Qualifizierte Menschen, die hierarbeiten und leben wollen, sind uns will-kommen. Das müssen wir ihnen auch zei-gen – ohne Bürokratie und Restriktionen.Die Green Card der Bundesregierungdagegen war ein peinlicher Flop.

Zuwanderung in unsere Sozialsystemedagegen lehnen wir ab. Jeder vierte Sozial-hilfeempfänger hat keinen deutschen Pass.Die Kosten betragen jährlich sechs Milli-arden €. Zuwanderung in die Arbeitslo-sigkeit und ins soziale Netz muss verhin-dert werden.

Rechte auf Sozialleistungen müssenerworben werden und können nicht mehrnach Einwanderung verschenkt werden.Die Arbeitslosenquote unter Ausländernliegt bei 21 Prozent – doppelt so hoch wiebei den Deutschen!

Noch ist nicht klar, welchen Einflussdie EU-Osterweiterung auf die Beschäfti-gung und Zuwanderung nach Deutsch-land haben wird. Was wir aber wissen ist,dass nur ein vereintes Europa Frieden undFreiheit garantiert. Wirtschaftlich wirdEuropa gegen die USA und Asien nurdann bestehen, wenn die EU an einemgemeinsamen Strang zieht und gemein-same Ziele verfolgt.

EU-VermittlungsproblemDie Bürger der Europäischen Union

scheinen noch nicht im vereinten Europaangekommen zu sein! Die EU-Wahlbetei-ligung war mit 44 Prozent erschreckendniedrig. Deutschland liegt sogar knappdarunter. Die größte europäische Fraktionstellen damit die Nichtwähler.

Vor allem in den Beitrittsländernhaben die Menschen ihre Chancen nichtwahrgenommen, Europa mitzugestalten.Wahlbeteiligung Tschechien: 28 Prozent,Polen: 20 Prozent, Slowakei: 16 Prozent.Mit besonderer Sorge muss uns erfüllen,dass das neue EU-Parlament zu 15 Pro-zent mit Europas Skeptikern und natio-nalistischen Europagegnern besetzt ist.

Die Ursache für diese Entwicklungliegt auf der Hand: Die EU hat ein gra-vierendes Vermittlungsproblem! DieMenschen hören zwar, dass bis zu 70 Pro-zent der nationalen Gesetze letztlich ausBrüssel kommen, aber was dahintersteckt, das bleibt für die meisten ein Ge-heimnis. Auch deshalb gewinnen außer-parlamentarische Oppositionen wie„Attac“ immer größere Medienresonanz.Wir müssen uns mit ihnen auseinander-setzen.

Wir braucheneinen Neuanfang

Meine Zielsetzung auch als Europa-Abgeordneter ist klar:

� Rahmenbedingungen für Wettbewerbin der EU schaffen;

� Verlagerung von Entscheidungennach unten wo immer möglich;

� Europa muss wachsen und weltoffensein – ein Europa der Bürger;

� Europa muss die Vorteile der Globa-lisierung nutzen.

Deutschland als Kernland Europas istheute in einer dramatischen Lage, wirt-schaftlich und sozial. Wir brauchen des-halb einen Neuanfang. Der Wirtschaftsratwird in hervorragender Weise überwiegendvom Ehrenamt getragen – in einer Zeit, woehrenamtliche Tätigkeiten nicht einfachund schon gar keine Selbstverständ-lichkeiten mehr sind. Für dieses großartigeEngagement danke ich Ihnen von Herzen.Wir kämpfen gemeinsam weiter für unserLand! Deutschland braucht den Wirt-schaftsrat mehr denn je. *

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Vor einem Jahr ist der „Wirtschafts-rat Deutschland“ erstmals mit sei-nem neuen Erscheinungsbild und

der erneuerten Kommunikationsstrategiean die Öffentlichkeit getreten.

Die positive Resonanz in der Mit-gliedschaft und die wachsende Präsenz inder Presse und den elektronischen Medienbestätigen uns, dass sich die gemeinsamenAnstrengungen gelohnt haben.

Allen ehrenamtlichen Gremien, demPräsidium und dem Bundesvorstand, denVorsitzenden der Bundesfachkommissio-nen, den Landes- und Sektionsvorständenmöchte ich dafür danken, dass sie uns aufvielfältige Weise mit eigenen Ideen undAnregungen unterstützt haben.

Erstes bundesweites Treffender Führungskräfte

Den Auftakt für ein neues „WIR-Gefühl“ machte im November 2003 dieerste bundesweite Sektionssprecherkonfe-renz in Berlin. 93 von insgesamt 132 Sek-tionssprechern in ganz Deutschland nah-men an dieser Konferenz teil. Die Neu-ausrichtung unserer Mitgliederwerbung,die Stärkung der Öffentlichkeitsarbeitund die damals anstehende Beitragsan-passung standen im Mittelpunkt der Bera-tungen. Die praktischen Ergebnisse kön-nen sich sehen lassen. Sie haben unserNetzwerk und den Zusammenhalt derFührungskräfte im Wirtschaftsrat ge-stärkt. Die zweite bundesweite Sektions-sprecherkonferenz wird spätestens imFrühjahr des nächsten Jahres stattfinden.

Neue Internetpräsenzleitet Kommunikationsoffensiveein

Seit April diesen Jahres steht uns derneue Internetauftritt des Wirtschaftsratesals wichtiges Informationsinstrument zurVerfügung. Ein attraktives und übersicht-liches Design für unsere Angebote warüberfällig. Entscheidend war jedoch, dieBedürfnisse unserer Mitglieder und derinteressierten Öffentlichkeit durch neueund aktuelle Informationsangebote stär-ker zu berücksichtigen. Wir haben damitnicht nur die Präsenz für unsere Mitglie-der erhöht, sondern auch die Außenwir-kung erheblich gesteigert. Die Arbeit derBundesfachkommissionen, in denenmehr als 500 Unternehmer, Politiker undWissenschaftler aus ganz Deutschland zu-sammenarbeiten, steht nun voll im Lichtder Öffentlichkeit.

Mitgliedernetzwerk istGrundstein unseres Erfolgs

Jedes Mitglied erhält nun die Mög-lichkeit, die Leistungen des Wirtschaftsra-tes für sich selbst zu nutzen und die Qua-lität unserer Arbeit zu erproben. Wir sinddabei auf die Hilfe unserer Mitgliederangewiesen. Die Themenvorschläge undAnregungen, die uns in großer Zahl errei-chen, sind für den Wirtschaftsrat rich-tungsweisend. Das Internet hat für unseretägliche Arbeit innerhalb kurzer Zeit einenicht mehr wegzudenkende Bedeutungerlangt. Durch die Einführung von E-Mail-Schnellbriefen haben wir beispiels-weise erreicht, dass nach der Verbreitungunseres Steuerkonzeptes innerhalb vonwenigen Tagen 400 Reaktionen über E-Mail in der Bundesgeschäftsstelle desWirtschaftsrates eingegangen sind. Das ist

Neues Kommunikationskonzept trägt bereits erste FrüchteUnternehmerische Kompetenzin den politischen Prozess einbringen

Bericht der Bundesgeschäftsführung: Rainer Gerding

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ein großartiger Erfolg der Rückkopplungmit den Mitgliedern und verdeutlicht dasZusammenstehen im Wirtschaftsrat.

Konsequent und konstruktivim Dialog

Wir haben durch Ihr Feedback vielUnterstützung und Ermutigung bei derErarbeitung unseres radikalen Steuerkon-zepts erfahren. Aber weil es um Offenheitgeht, darf nicht verschwiegen werden,dass sich unsere Mitglieder auch mit kri-tischen Anmerkungen zu Wort melden.Der Wirtschaftsrat ist immer auch ein Ortder konstruktiven Auseinandersetzunggewesen, deshalb darf niemand davorzurückschrecken.

Wenn der Wirtschaftsrat der Über-zeugung ist, dass nur eine wirklicheErneuerung unseres Einkommenssteuer-rechts hilft, dann muss auch der Mut unddie Bereitschaft da sein, bei allen Ausnah-meregelungen einen konsequentenSchnitt zu machen.

Gleichwohl haben uns auch E-Mailserreicht, aus denen deutlich wurde, dasseinzelne Branchenvertreter unser Steuer-konzept nicht mittragen können oderwollen. Falsche Kompromisse in den eige-nen Reihen sind jedoch ein Irrweg, derunser Steuersystem erst zu dem gemachthat, was es heute ist. Wenn wir die Argu-mentation in den eigenen Reihen für dieDurchsetzung eines radikalen Steuer-systems nicht durchhalten können, dannwird das Wort des Wirtschaftsrates seine

Bedeutung in der Öffentlichkeit verlierenDieser Meinungsaustausch hat die zen-trale Bedeutung des intensiven Kontaktsmit den Mitgliedern herausgestellt. UnserEhrgeiz ist es, den Dialog innerhalb desWirtschaftsrates noch weiter auszubauen.Wir haben inzwischen einen E-Mail-Verteiler, in dem 74 Prozent aller Mitglie-der erfasst sind. Dies ist eine enormeQuote, um die uns andere Verbändebeneiden. Für den Wirtschaftsrat ist dasjedoch kein Grund, sich zurückzulehnen.Im Gegenteil, wir werden demnächst wie-der unbequem. In den kommendenMonaten wollen wir eine E-Mail-Quotevon 90 Prozent erreichen, darum werdenwir unsere Mitglieder erneut ansprechen.

WR-Politpuls – Ohr am Puls der Wirtschaft

Die enorm gesteigerte Vernetzung hatdazu geführt, dass unsere neue Mitglie-derbefragung, der WR-Politpuls, zu einerdurchschlagend großen Resonanz geführthat. Der WR-Politpuls steht für das Ohram Puls der Wirtschaft und ebenso amPuls der Politik. Es ist die erklärte Strate-gie des Wirtschaftsrates, die politischenParteien in Deutschland zu mutigerenKonzepten und zu größerer Erneuerungzu treiben, als es bisher erkennbar ist.

Unsere Positionen haben ein solidesordnungspolitisches Fundament. Um siewirkungsmächtig nach außen vertreten zukönnen, sind wir auf die breite Zustim-mung unserer Mitglieder angewiesen. Wirwollen Ihre Kompetenz unmittelbar und

in großer Zahl einholen. Mit dem WR-Politpuls haben wir dafür das passendeInstrument. Dass mit „TNS Emnid“ einexternes Unternehmen vom Präsidiumbeauftragt wurde, die Befragung und Aus-wertung des WR-Politpuls durchzu-führen, verstehen wir als eine Selbstver-ständlichkeit. Der Wirtschaftsrat willobjektive Fragen und ehrliche Antworten– kein Abnicken oder blinde Gefolgschaft.

Wirtschaftsrat – Sprachrohr der Unternehmer

Den Vergleich mit bekannten reprä-sentativen Umfragen braucht der WR-Politpuls im Übrigen nicht zu scheuen:Mit mehr als 1.700 komplett ausgefülltenFragebögen – allein im ersten Anlauf –schafft der Wirtschaftsrat ein Verhältniszwischen Teilnehmern am WR-Politpulsund der gesamten WR-Mitgliedschaft von1 zu 5. Umfragen in der Gesamtbevölke-rung schaffen gerade einmal ein Verhältniszwischen Umfrageteilnehmern und derwahlberechtigten Bevölkerung von 1 zu60.000.

Die Meinungsprofis von Emnid be-stätigen uns: Was die Mitglieder des Wirt-schaftsrates wollen, ist fast deckungsgleichmit den Ansichten der gesamten deut-schen Wirtschaft. Dieses Pfund werfenwir in die Waagschale. Deshalb werdenwir unsere Mitglieder von nun an in regel-mäßigen Abständen zu wichtigen The-men der Wirtschafts-, Finanz- und Sozial-politik befragen.

Mit Ihrer weiteren aktiven Beteiligungwird der WR-Politpuls schon bald zueinem Markenzeichen mit Wiedererken-nungswert. Daran wollen wir gemeinsamarbeiten.

92 Prozent der WR-Mitglieder durch Regierungspolitik benachteiligt

Ein Ergebnis des WR-Politpuls ver-dient besondere Beachtung. Rund 92 Pro-zent der befragten Mitglieder des Wirt-schaftsrates sind der Auffassung, die Poli-tik der derzeitigen Bundesregierung schä-digt ihr Unternehmen massiv. DiesesErgebnis ist nicht das einseitige oder ober-flächliche Votum von Interessenvertre-tern, sondern hier wird die Realität in denBetrieben und in der Gesellschaft wider-gespiegelt. Und gerade deshalb ist Ihre

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Beteiligung auch an den nächsten Umfra-gen wichtig. Wir selbst lernen vonUmfrage zu Umfrage.

Vision Deutschlanddurch konkretes „Wir-Gefühl“

Der Wirtschaftsrat wird schon inwenigen Monaten zum zweiten Mal dieUnterstützung seiner Mitglieder einfor-dern. Dabei wird auch die Arbeit desWirtschaftsrates zur Bewertung gestellt.Wir möchten von Ihnen wissen, an wel-chen Stellen wir uns verbessern können.

Wir müssen in der Kommunikationbesser werden und die Menschen voneiner positiven Vision über die ZukunftDeutschlands begeistern. Die Menschenmüssen wissen und lernen, dass es nichtnur um Einschnitte und Kürzungen geht.Sondern, dass es vor allem darum geht,dass wir in Deutschland wieder eine bes-sere Zukunft haben. Eine Zukunft mitWirtschaftswachstum, eine Zukunft miteiner wirksamen Bekämpfung derArbeitslosigkeit.

Wirtschaftsrat Deutschland – aus Tradition unabhängig

Fassen wir die bisherigen Ergebnissezusammen, so hat der Wirtschaftsrat vorallem die Aufgabe, die zunehmende Rea-litätsverweigerung in der Politik zu entlar-ven. Das gilt in unterschiedlichen Nuan-cen für alle politischen Parteien, auch fürdie Union. Wir sind daher gut beraten,unsere Unabhängigkeit zu bewahren, sowie es Tradition im Wirtschaftsrat ist.

Pressestelle als internerDienstleister für die Länder

Ein weiterer Schritt unserer Kommu-nikationsoffensive ist die Verstärkung derPressearbeit. Unsere Pressestelle wurdemit zusätzlicher journalistischer Qualitätaufgewertet. Nicht zuletzt auch deshalb,damit die Pressearbeit in den Ländernintensiviert werden kann. Sie erfordertauch von den Sektionssprechern und denLandesvorsitzenden ein großes Engage-ment. Diese Maßnahme hat bereits in vie-len Landesverbänden ihren Niederschlaggefunden. Es wird in Zukunft daraufankommen, dass wir die öffentliche Prä-senz des Wirtschaftsrates flächendeckendsicherstellen. Der Einsatz in den Ländernist Grundlage für den Erfolg unserer Prä-senz-Offensive.

Kommunikationsfähigkeitrunderneuert

Die Erneuerung unserer Kommunika-tionsfähigkeit hat auch finanzielle Konse-quenzen zur Folge. Die anstehendeErneuerung des EDV-Systems spielt dabeieine Schlüsselrolle. Der Bundesschatz-meister, Herr Dr. Schleifer, wird darüberausführlich berichten. An dieser Stelle willich Herrn Dr. Schleifer besonders herzlichdanken für die wichtige Arbeit und die vie-len Stunden, die er im letzten Jahr für Vor-lage einer soliden Bilanz eingesetzt hat.

Netzwerk schaffen für junge Leistungsträger

Die Erneuerung der Kommunikationzwischen den heutigen Mitgliedern des

Wirtschaftsrates ist eine hervorragendeBasis, um junge Leistungsträger undNachwuchsunternehmer in unser Netz-werk einzubinden. Der Wirtschaftsrat istder natürliche Ansprechpartner für dieGestalter von morgen. Diesem Anspruchmüssen wir gerecht werden und die jun-gen Leute auf unsere Seite ziehen.

Erfolgsmodell GenerationenforumDer Erfolg des ersten Berliner Gene-

rationenforums im März 2004 hat unsereErwartungen weit übertroffen. Mehr als400 junge High-Potenzials aus ganzDeutschland haben über die Vorausset-zungen für eine erfolgreiche Zukunft inDeutschland diskutiert. Die Motivationder jungen Leute, ihre Zukunft aktiv zugestalten, hat uns darin bestärkt, dasErfolgsmodell Generationenforum wei-terzuentwickeln. Mit der für das Frühjahr2005 geplanten Neuauflage werden wirdie Anbindung der jungen Generation anden Wirtschaftsrat vorantreiben.

Wirtschaftsrat – dasUnternehmen der Unternehmer

Die Stärke des Wirtschaftsrates ist zujedem Zeitpunkt messbar. Das ist dieGeschlossenheit in den eigenen Reihen.Wenn es gelingt, Ihre unternehmerischeKompetenz in den politischen Prozess ein-zubringen, sind wir – der Wirtschaftsrat –authentisch. Wenn wir Geschlossenheitbeweisen, gewinnen wir an Einfluss undDurchsetzungsstärke. Dafür möchte ichSie um Ihre Unterstützung und um IhrVertrauen bitten.

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Wettbewerb der Kontinente:Gewinner und VerliererAmerika – Asien – Europa

Klaus-Peter Müller Sprecher des Vorstandes Commerzbank AG

Nach den Worten Klaus-Peter Mül-lers muss der weltweite Wettbewerb imProzess der Globalisierung nicht unbe-dingt Gewinner und Verlierer haben.„Dies zeigt auch die aktuelle Situation, inder die deutsche Wirtschaft spürbar vondem starken Wachstum in den anderenRegionen der Welt profitiert“, betonte derCommerzbank-Chef. Bezüglich der rela-tiven Entwicklung sei die Kategorisierungin Gewinner und Verlierer zwar richtig,jedoch ließe sich dieses Bild bei derBetrachtung von absoluten Wohlstands-größen nicht aufrechterhalten. „Aus Sichtder deutschen Wirtschaft ist ein kräftigesWachstum in Nordamerika und Asien füruns vorteilhaft“, betonte Müller. Eventu-elle Gefahren für den Standort Deutsch-land und die hiesigen Arbeitsplätze ergä-ben sich nicht aus der Globalisierung sel-

ber, sondern aus den strukturellen Schwä-chen der deutschen Wirtschaft, die einAusnutzen der sich aus der Globalisierungergebenden Chancen erschwerten oder

Podium I

In das Thema ,,Wettbewerb derKontinente: Gewinner und VerliererAmerika – Asien – Europa“ führten ein:David K. P. Li, Chairman und ChiefExecutive, Bank of East Asia sowie Dr.Jürgen Stark, Vizepräsident der Deut-schen Bundesbank.

Unter der Moderation von StefanBaron, Chefredakteur Wirtschaftswoche,diskutierten: Klaus-Peter Müller, Spre-cher des Vorstandes Commerzbank AG;Dr. Reinhard Uppenkamp, Vorstands-vorsitzender Berlin-Chemie AG; KarstenD. Voigt, Koordinator für deutsch-amerikanische Zusammenarbeit, Aus-wärtiges Amt sowie Prof. Dr. WolfgangWiegard, Universität Regensburg, Vor-sitzender des Sachverständigenrates zurBegutachtung der gesamtwirtschaft-lichen Entwicklung.

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David Li erläuterte die wachsendeBedeutung Chinas für die Weltwirt-schaft. Auf der Basis von Kaufkraftpa-ritäten sei das BruttoinlandsproduktChinas hinter den Vereinigten Staatenbereits das zweithöchste der Welt.„Hinzu kommt, dass die chinesischeVolkswirtschaft seit zwei Dekaden mitdurchschnittlich acht Prozent pro Jahrwächst“, unterstrich Li. Der Anteil amWelthandel sei von einem Prozent 1979auf sechs Prozent im vergangenen Jahrgestiegen. 2003 habe China 46 Prozentzum Wachstum des Welthandels beige-tragen.

Ferner habe die chinesische Volksre-publik im vergangenen Jahr mit 53 Mil-liarden Dollar erstmals mehr Direktin-vestitionen aus dem Ausland angezogenals die USA, die mit 40 MilliardenDollar nur noch auf Platz zwei kamen.„Angesichts dieser Zahlen ist es enormwichtig, dass die Welt die chinesischeVolkswirtschaft und deren Perspektivenfür die weitere Entwicklung versteht“,hob Li hervor.

Die wichtigste Frage, die derzeit inBezug auf die chinesische Wirtschaftdiskutiert werde, sei jene, ob Chinaangesichts der hohen Wachstumsrateneine harte oder weiche Landung bevor-stehe. Mit einem Wirtschaftswachstum

um neun Prozent und einer Inflationvon rund vier Prozent pro Jahr setztenviele Beobachter darauf, dass China dieZinsen anhebe. Dies wäre zweifelsohneder Fall, wenn der amerikanische Fed-Chef Alan Greenspan oder die Europäi-sche Zentralbank (EZB) über die Zins-politik Chinas zu entscheiden hätten.„Die chinesische Führung sieht dasindes völlig anders“, erklärte Li.

Zur Begründung führte der Chair-man der Bank of East Asia an, dass diechinesischen Spitzenpolitiker die Spiel-regeln einer Zentralverwaltungswirt-schaft gewohnt seien. Zwar bedientensie sich nicht mehr der üblichen Steue-rungsinstrumente einer solchen –jedoch gebe es noch staatlich kontrol-lierte Medien, die die Führungsriege alsSteuerungsinstrument nutze. „Wenn diechinesische Führung über die Staatsme-dien die hohen Wachstumszahlen in derZement- und Stahlproduktion sowie derAutomobilindustrie hervorhebt, ist diesals Warnung an die Investoren in diesenSektoren zu verstehen“, erläutere Li.Darum dürften die Berichte hinsichtlichübertriebener Investitionen in Produkti-onskapazitäten nicht als reine Nachrich-ten gelesen werden sondern als State-ment der Politik. „Das Signal an dieInvestoren ist eindeutig: Stoppt dieInvestitionen in diesen Sektoren.“

Ferner sei bei der im Ausland erho-benen Forderung nach einer Zinsanhe-bung zu berücksichtigen, dass Chinakeineswegs ein generelles Problem miteiner überhitzten Investitionstätigkeithabe. Vielmehr sei die Balance zwischenden einzelnen Sektoren nicht mehr aus-geglichen, wie der Blick auf die ver-gleichsweise geringe Investitionstätigkeitim Agrarbereich zeige. „Das ist exakt derGrund, warum die chinesische Führungsich entschlossen hat, mit Ziel gerichte-ten Äußerungen über die Medien stattmit einer Zinssenkung auf partielleÜberhitzungserscheinungen zu reagie-ren“, betonte Li.

Als weiteres Problemfeld skizzierteLi die steigende Inflationsrate. Voreinem Jahr, so der Chairman and Chief

Executive, habe man sich noch über eineDeflation in China und deren Export inandere Länder gesorgt. „Heute wirdargumentiert, China habe seine Infla-tion nicht mehr im Griff“, kritisierte Li.Auch darum werde ein Anheben derZinsen gefordert. Dies sei aus Sicht derChinesen indes auch für dieses Problemder falsche Lösungsansatz.

Zur Begründung verwies Li auf dieunterschiedlichen Wirtschaftssektoren,in denen Inflation und Deflation auf-träten. Während sich die Deflationwegen der hohen Produktivitätsfort-schritte auf die Industrie konzentriere,sei die Inflation insbesondere in derLandwirtschaft und bei den Rohstoffenzu beobachten.

„Tatsächlich ist dieses Zwillings-phänomen überaus gesund für diechinesische Volkswirtschaft“, sagte Li.„Denn höhere Preise für Rohstoffe undAgrarprodukte und sinkende Preise fürIndustrieprodukte sind notwendig, umdie große Einkommensschere zwischenStadt- und Landbevölkerung zuschließen.“ Dies sei ein wichtiges, seitlangem diskutiertes Problem in China.

Li ging ferner auf die Forderungender westlichen Welt nach einer Aufwer-tung des Renminbi ein. Nach Auffas-sung der Chinesen ist der Renminbinicht unterbewertet. Li begründete diesdamit, dass das chinesische Leistungs-bilanzdefizit mehr oder weniger imGleichgewicht sei. Nach Auffassung derChinesen spreche auch aus dieser Sichtnichts für eine Zinserhöhung.

Li begründete dies ferner damit,dass eine Zinserhöhung vor allem auf dieKonsumenten durchschlagen würde.Dies sei insofern nicht im Interesse derchinesischen Führung, als diese sich seitJahren bemühe, die Konsumenten beieiner Sparquote von 28 Prozent zumGeldausgeben zu bewegen. „Die Bin-nennachfrage in China würde bei einerZinserhöhung sofort einbrechen – unddas ist das letzte, was wir uns für die chi-nesische Wirtschaft wünschen sollten“,warnte Li.

David K. P. LiChairman und Chief Executive, Bank of East Asia

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Jürgen Stark betonte, dass die inter-nationale Arbeitsteilung kein Nullsum-menspiel sei. Sie bringe Vorteile für alle.Voraussetzung sei allerdings, dass dieVolkswirtschaften flexibel agierten: „Dasheißt: Die Bereitschaft zur Innovationund zur Anpassung muss vorhandensein, ebenso die Bereitschaft, hohe Qua-lifikationsstandards erreichen zu wollenund auch die Bereitschaft, unternehme-risches Risiko bei verbesserten gesamt-wirtschaftlichen Rahmenbedingungenzu übernehmen“, sagte der Vizepräsidentder Deutschen Bundesbank.

Stark hob hervor, dass marktwirt-schaftliche Ordnungsprinzipien inzwi-schen weiter verbreitet seien, als man vorwenigen Jahren noch geglaubt habe. Die„Globalisierung der Marktkräfte“ seigekennzeichnet durch die Integrationvieler, zum Teil sehr großer Volkswirt-schaften und solcher, die ein enormesEntwicklungspotenzial hätten. „Auf deranderen Seite haben wir es auch mit derErweiterung und Vertiefung regionalerWirtschaftsräume zu tun, mit einer Inte-gration, die in den einzelnen Regionenvoranschreitet“, betonte Stark. Dadurchwerde der globale Wettbewerb intensiver– zwischen Unternehmen, Standortenund letztlich auch zwischen Volkswirt-schaften, konstatierte der Bundesbank-Vizepräsident. Die „Globalisierung der

Marktkräfte“ sei eine der wichtigstenErklärungen für die gegenwärtige Erho-lung der Weltwirtschaft. „In den meistenRegionen der Welt kann man tatsächlichvon einem Aufschwung sprechen, wasfür Europa allerdings nicht unbedingtder Fall ist“, stellte Stark fest. Seit Mitteder neunziger Jahre habe sich das globaleWachstumsmuster stärker aufgefächert.„Die Vereinigten Staaten haben sichdabei an die Spitze gesetzt. In Asienhaben sich die Kräfteverhältnisse zuGunsten Chinas verschoben, Südame-rika ist es nicht gelungen, aus seinerbegrenzten Rolle für die internationaleArbeitsteilung herauszuwachsen.“ DieWachstumsschwäche Europas seit Endeder neunziger Jahre habe die strukturel-len Schwächen der europäischen Volks-wirtschaften offen gelegt. Gleichwohl seider Euroraum nicht der große Verliererder vergangenen Jahre. „Es hat durchausstrukturelle Veränderungen gegeben, dielangfristig wirken, so etwa die Ein-führung des Euro“, betonte Stark. Aller-dings habe dies bislang nicht dazugeführt, dass die notwendigen Struktur-reformen in den großen Ländern desEuro-Gebietes aktiv durchgeführt wor-den seien. „Jedoch wird der Euro und derverstärkte Wettbewerb zwangsläufig dazuführen, dass diese Anpassungsprozessestattfinden“, prognostizierte Stark. ImProzess der Globalisierung würden jeneWirtschaftsregionen an Bedeutung ge-winnen, welche willens und in der Lageseien, die Chancen der Globalisierungaktiv aufzunehmen. Von den Regierun-gen sei gefordert, die dafür notwendigengünstigen Rahmenbedingungen zuschaffen. „Das heißt aber auch, dass sichdie Einstellung jedes Einzelnen ändernmuss. Es geht darum, die Eigenverant-wortung nicht als Bedrohung, sondernals Chance zu sehen“, betonte der Vize-präsident der Bundesbank.

Die Prozesse der Globalisierung bie-ten nach Auffassung Starks auch besserewirtschaftliche Integrationsmöglichkei-ten für Entwicklungs- und Schwellen-länder. Mehrere Studien hätten inzwi-schen nachgewiesen, dass auch afrikani-sche Entwicklungsländer höhere Wachs-tumsraten erreichten, wenn sie bereit

seien, sich in einem regionalen Verbundzu integrieren, ihre Grenzen öffnetenund die Bereitschaft zeigten, sich in dieWeltwirtschaft zu integrieren. „Chinaund Indien sind hier herausragende Bei-spiele“, sagte Stark.

Nach Einschätzung des Bundesbank-Vizepräsidenten wird sich das „weltwirt-schaftliche Gravitationszentrum“ konti-nuierlich Richtung China verschieben.Bereits heute gebe es mit China und denVereinigten Staaten zwei große weltwirt-schaftliche Pole. Aber auch Amerikanerund Chinesen hätten ihre jeweils spezifi-schen Probleme zu lösen, betonte Stark.Die USA müssen nach Auffassung desBundesbank-Vizepräsidenten etwas ge-gen ihr hohes Leistungsbilanzdefizitunternehmen, China müsse sich in eini-gen Dekaden ebenso wie Europa undJapan den Problemen der alterndenGesellschaften stellen. „Entscheidendwird sein, wie diese Länder mit ihrenjeweiligen spezifischen Problemen umge-hen“, sagte Stark. Europa wiederummüsse vor allem sein Reformtempo stei-gern. „Eine in etwa ausgeglichene Leis-tungsbilanz, die inzwischen verbessertekonjunkturelle Lage und die institutio-nellen Grundlagen bieten gute Voraus-setzungen dafür, dass die Herausforde-rungen gemeistert werden können,“zeigte sich Stark überzeugt. Allerdings seies erforderlich, dass das Wachstumspo-tenzial des Euro-Gebietes erhöht werde.Die Entwicklungen in den USA hättengezeigt, dass eine höhere Produktivitätletztlich nicht Arbeit vernichte, sondernArbeitsplätze schaffe. „Hierzu bedarf eseiner Änderung der Mentalität, um dieAkzeptanz von Innovationen zu verbes-sern und die Umsetzung von Innovatio-nen in Produkte zu erleichtern.“ Diegroße Aufgabe der wirtschaftlich undpolitisch Verantwortlichen sei, besser alsbisher zu verdeutlichen, dass der Gewinnaus Strukturreformen breit gestreut seiund mögliche Belastungen in der kurzenSicht überkompensiere. Ferner sei besserdeutlich zu machen, dass ein Verzichtoder eine weitere Verzögerung vonReformen hohe volkswirtschaftlicheKosten und Wohlfahrtsverluste nach sichzögen.

Dr. Jürgen StarkVizepräsident der Deutschen Bundesbank

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unmöglich machten. „Das eigentlicheProblem liegt nicht in der Verlagerung derProduktion an billigere Standorte, son-dern auch in unserer fehlenden Fähigkeit,neue und produktivere Arbeitsplätze zuschaffen“, sagte Müller. Alle Regionen derWelt teilten mit der massiven Alterungihrer Gesellschaften dasselbe Problem.„Zwar wird Europa von dieser Entwick-lung als erstes betroffen sein, aber auchdie USA und China sehen sich in dieserHinsicht mit großen Herausforderungenkonfrontiert“, betonte Müller. Der ent-scheidende Erfolgsfaktor im weltweitenWettbewerb werde die Qualifizierung derArbeitskräfte und damit der Bildungs-stand sein. Indes dürfe sich die bildungs-politische Diskussion nicht allein auf dieAusbildung von Akademikern konzen-trieren, sondern müsse auch eine guteAusbildung von Facharbeitern berück-sichtigen. „Nur wer hier Überdurch-schnittliches zu bieten hat, wirdmittelfristig auch einen überdurch-schnittlichen Lebensstandard halten kön-nen.“

Dr. Reinhard Uppenkamp Vorstandsvorsitzender Berlin-Chemie AG

Nach Auffassung von ReinhardUppenkamp ist der entscheidende Faktorfür deutsche Unternehmen im internatio-nalen Wettbewerb die Fähigkeit, Wert-schöpfungsketten zu globalisieren. „Deut-sche Unternehmen müssen entscheiden,welche Stufen der Wertschöpfungskette siein Niedriglohnländer verlagern wollen.Zudem können sie gleichzeitig Marktpo-tenziale in diesen Ländern erobern“, sagte

Uppenkamp. Parallel dazu gelte für dieBeschaffung, wertschöpfungsrelevanteVorprodukte für Industrieprodukte inNiedriglohnländern einzukaufen. „DieGlobalisierungsprozesse sind Realität“, soder Vorstandsvorsitzende der Berlin-Che-mie AG, „in einzelnen Branchen werdensie aber mit einer unterschiedlichen Dyna-mik betrieben“. Während ganze Industrie-zweige wie die Unterhaltungselektronikoder die Textilproduktion bereits ausDeutschland abgewandert seien, würdensich diese Prozesse in der Chemie- undPharmaproduktion auch künftig langsa-mer entwickeln, prognostizierte Uppen-kamp. Der deutsche Mittelstand müssesich gut überlegen, welche Prozesse insAusland verlagert werden sollen. Ohneprofunde Analyse solle keine Entscheidunggetroffen werden, Wertschöpfungskettenin Geschäftsbereichen zu globalisieren,warnte er. „Was jedoch früher lediglich alsOption galt, kann heute entscheidend fürden zukünftigen Erfolg des Unternehmenssein.“ Eine halbherzige Umsetzung vonGlobalisierungsschritten oder überstürzteAktionen seien jedoch mit beträchtlichenRisiken verbunden, warnte der Vorstands-chef der Berlin-Chemie AG. Eine einmalgetroffene Entscheidung müsse indes mitäußerstem Nachdruck und hoher Prioritätrealisiert werden.

Karsten D. Voigt Koordinator für die deutsch-amerikanischeZusammenarbeit, Auswärtiges Amt

Karsten Voigt warnte europäischeWirtschaftspolitiker und Investoren da-vor, Asien allein unter ökonomischen

Gesichtspunkten zu betrachten. Diesemüssten wie bei der amerikanischenAußenpolitik mit sicherheitspolitischenFragen kombiniert werden. „Bei langfris-tigen Investitionen in Asien müssen auchdie Risikofaktoren kalkuliert werden“,mahnte Voigt. „Das, was wir unter islami-schem Extremismus für den Mittlerenund Nahen Osten diskutieren, ist auch inweiten Teilen Asiens ein Problem.“ FürInvestoren spiele dies insbesondere inIndonesien, Malaysia oder den Philippi-nen eine wichtige Rolle. „Ich glaube, dieasiatischen Führungen erwarten, dass wiruns als Europäer auch an der Diskussionund der Lösung sicherheitspolitischerProbleme im asiatischen Raum beteili-gen“, sagte Voigt. Zur innenpolitischenReformpolitik bemerkte der Koordinatorfür die deutsch-amerikanische Zusam-

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menarbeit im Auswärtigen Amt, dass dieBevölkerung „sehr abstrakt für die Moder-nisierung“ sei. Sobald diese aber konkretund mit Belastungen für einzelne Bevöl-kerungsgruppen verbunden wird, werdejede Partei, die in Deutschland Reformenin Gang setze, bestraft. „Das wichtigste ist,dass wir in Deutschland eine Konkur-renzsituation schaffen müssen, die diesesLand fit für die Globalisierung macht“,bemerkte Voigt. Über die Konzepte könneman zwar streiten, Bezugspunkt für jedenReformer aber müsse sein, dass sichDeutschland nicht von der Globalisierungabkoppeln könne. „Deshalb ist es sehrwichtig, dass die Reformkräfte innerhalbder beiden großen Volksparteien weiterdominieren.“

Prof. Dr. Wolfgang WiegardVorsitzender des Sachverständigenrates zurBegutachtung der gesamtwirtschaftlichenEntwicklung

Der Wirtschaftsweise Wolfgang Wie-gard betonte, dass Europa beim Wachstumhinter den anderen großen Wirtschaftsre-gionen der Welt zurückbleibe. „Wir habendefinitiv keine Chance, das in Lissabongesetzte Ziel zu erreichen, bis zum Jahr2010 die dynamischste Wirtschaftsregionder Welt zu werden“, sagte Wiegard.Dynamik entstehe durch die Zuwachsratedes Bruttosozialprodukts, „aber da schnei-det Europa im Vergleich zu allen anderenRegionen seit Jahren schlecht ab“, kriti-

sierte der Ökonom. In den VereinigtenStaaten werde die Wirtschaftsleistung imlaufenden Jahr um rund 4,6 Prozentzunehmen, in Lateinamerika um 3,8 Pro-zent, in China um acht Prozent und selbstJapan werde mit einer prognostiziertenWachstumsrate von rund vier ProzentEuropa weit hinter sich lassen, gab Wie-gard zu bedenken. Im Euro-Raum seiindes nur mit einer Wachstumsrate vonetwa 1,8 Prozent zu rechnen. „Deutsch-land nähert sich jetzt dem Durchschnittdes Wachstums im Euro-Raum“, erläu-

terte Wiegard, „das war lange Zeit nichtder Fall. Wir sind erheblich hinter demEU-Durchschnitt zurückgeblieben.“ Zuden wichtigsten Reformfeldern der Bun-desregierung zählt der Wissenschaftler denArbeitsmarkt und das Steuerrecht. DerArbeitsmarkt in der Bundesrepublik seiviel zu unflexibel, um neue Beschäfti-gungsimpulse zu geben. Das deutscheSteuerrecht ist nach Auffassung desWirtschaftsweisen investitionsfeindlich:„Deutschland hat – gemessen an der Belas-

tung der unternehmerischen Gewinne –die höchste Steuerbelastung in derOECD“, kritisierte Wiegard. „Da müssendie Reformen ansetzen.“

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Wilhelm Bonse-GeukingVorsitzender des Vorstandes Group Vice President Europe, Deutsche BP AG

Wilhelm Bonse-Geuking kritisierte,dass in Deutschland unverändert die Auf-fassung vorherrsche, das Land sei Spitze.„Wir sind es nicht, wir sind der krankeMann Europas“, sagte Bonse-Geuking.Wäre Deutschland ein Unternehmen,würde man sich eine Neuausrichtung,eine neue Unternehmenskultur und dieStraffung der Organisations- und Ent-scheidungsstrukturen zum Ziel setzen,betonte Bonse-Geuking. Übertragen aufdie politischen Herausforderungen, kön-ne vom Aufbruch erst dann gesprochenwerden, wenn folgendes erreicht sei: Leis-tungswille, Eigenverantwortung undInvestitionen in Wissen, müssten wiederan erster Stelle stehen. Die hoffnungslosüberlasteten Staatsbudgets und Sozial-systeme müssten saniert werden. Das Le-

ben auf Kosten der nächsten Generationmüsse beendet werden. „Es muss einengrundlegenden Mentalitätswandel ge-ben“, forderte Bonse-Geuking. Nach denWorten des BP-Vorstandschefs werden

Podium II

In das Thema „IndustrienationDeutschland 2010: Staatsversagen oderAufbruch“ führten ein: Friedrich MerzMdB, Stellv. Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestagsowie Dr. Michael Rogowski, Präsidentdes Bundesverbandes der DeutschenIndustrie e.V.

Unter der Moderation von Carl GrafHohentahl, Stellv. Chefredakteur DieWelt, diskutierten: Wilhelm Bonse-Geuking, Vorsitzender des VorstandesGroup Vice President Europe, Deutsche BP AG; Hermann-Josef Lam-berti, Mitglied des Vorstandes Deut-schen Bank AG; Prof. Dr. BernhardScheuble, Vorsitzender der Geschäfts-führung Merck KGaA sowie Prof. Dr.Horst Teltschick, Präsident BoeingDeutschland, Boeing International Cor-poration.

Industrienation Deutschland2010: Staatsversagen oderAufbruch

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Friedrich Merz erinnerte daran, dasssich unmittelbar nach der Wiederverei-nigung viele Beobachter in den europäi-schen Nachbarstaaten nicht nur voreinem politischen, sondern auch voreinem ökonomischen Übergewicht derBundesrepublik gefürchtet hätten.

„Heute ist dagegen nur noch vomkranken Mann Europas die Rede“,stellte Merz fest. Deutschland ziehe dasWachstum der gesamten EuropäischenUnion nach unten und müsse sichinzwischen Mahnungen seiner Nach-barn hinsichtlich seiner verfehlten Wirt-schafts- und Haushaltspolitik anhören.

„Dieses Land steckt in einer tiefenstrukturellen Wachstums- und Beschäf-tigungskrise“, betonte Merz, „die sichmittlerweile fundamental auf demArbeitsmarkt und in einer größer wer-denden Wachstumslücke zu unsereneuropäischen und außereuropäischenPartnern bemerkbar macht.“

Seit Februar 2001 bis zum Frühjahrdieses Jahres sei die Zahl der sozialversi-cherungspflichtig Beschäftigten von27,6 auf nur noch 26,4 Millionen Men-schen gesunken. „Ist uns eigentlich klar,was es bedeutet, wenn ein Volk von 82Millionen Menschen nur noch etwasmehr als 26 Millionen Beschäftigte hat,

nur noch 32 Prozent der Bevölkerung ineinem sozialversicherungspflichtigenBeschäftigungsverhältnis stehen, abermittlerweile 41 Prozent der Erwachse-nen aus sozialen Transfersystemenleben, aus der Arbeitslosenversicherung,der Arbeitslosenhilfe, der Sozialhilfeund der Rentenversicherung?“, fragteMerz.

100.000 Arbeitslose weniger oder100.000 Beschäftigte mehr bedeutennach den Worten des Unionspolitikerszwei Milliarden € Unterschied für denStaatshaushalt. „Oder anders gewendet:1,2 Millionen Beschäftigte weniger inden letzten zweieinhalb Jahren sindMindereinnahmen und Mehrausgabenfür den Bundeshaushalt und dieBundesagentur für Arbeit von 24 Milli-arden €“, betonte Merz.

Er wies auf die Größenordnung hin,die sich im Vergleich mit der Diskussionum die Abschaffung der Eigenheimzu-lage ergebe. „Wegen der gegebenenZusagen könnten 2005 nur rund 250Millionen € im Bundeshaushalt einge-spart werden – das ist soviel, wie derBundesfinanzminister gegenwärtig inzweieinhalb Tagen an Zinsen braucht,um die Bundesschuld zu bedienen.“

Merz betonte ferner, dass sich dieRolle Deutschlands als Exportnation inden zurückliegenden Jahren spürbarverschlechtert habe. „Es ist falsch zubehaupten, dass die BundesrepublikDeutschland nach wie vor stärksteExportnation sei und die Stärke desExports der Beleg für die Stärke derVolkswirtschaft ist“, betonte Merz.

Die Wahrheit sei vielmehr, dassDeutschland seit etwa einer Dekadekontinuierlich Weltmarktanteile ver-liere. Der Anteil der Bundesrepublik amWelthandel habe vor rund zehn Jahrennoch zwölf Prozent betragen, heute liegeer nur noch bei neun Prozent.

„Deutschland verliert also an relati-ver Stärke an den Handelsmärkten die-ser Welt“, sagte Merz. „Der Anteil derdeutschen Volkswirtschaft hält nicht

Schritt mit dem Wachstum der Welt-wirtschaft.“

Der Fraktionsvize der CDU/CSUim Bundestag zitierte aus einem aktuel-len Monatsbericht der Bundesbank,wonach Deutschland im Jahr 2003 erst-mals nicht Vermögen aufgebaut, son-dern abgebaut hat. „Das heißt, wir kön-nen mit Fug und Recht sagen, dass die-ses Land nicht nur von der Substanzlebt, sondern wir bereits heute aufKosten unserer Kinder leben“, betonteMerz. „Das ist nicht nur unsozial, diesist unmoralisch für eine Gesellschaft wiedie der Bundesrepublik Deutschland.“

Merz schlug vor, anspruchsvolleZiele zu formulieren. „Unser Ziel müss-te sein, dieses Land innerhalb von einerDekade von der Schlussposition in derEuropäischen Union wieder in eineSpitzenposition zu führen“, bei allenZukunftstechnologien müsse sichDeutschland zum Ziel setzen, mindes-tens unter den ersten Dreien der Welt zusein, sagte Merz. Dies setze indes eineungeheure Anstrengung voraus, „einegeistige Anstrengung, eine politischeAnstrengung, aber auch manche mate-rielle Zumutung.“

Die wirtschaftspolitische Reform-agenda muss nach den Worten desCDU-Politikers einer strengen Prioritä-tenliste folgen. „Die absolute Prioritäthat für mich und für uns in der Unionunverändert der Arbeitsmarkt“, stellteMerz klar.

„Es muss wieder einen Arbeitsmarktgeben und nicht die Bewirtschaftungvon Arbeitslosigkeit.“ Angebot undNachfrage auf dem Arbeitsmarkt müss-ten möglichst ohne übermäßige staat-liche und tarifvertragliche Regulierungzueinander finden, betonte Merz.

„Ich bin der festen Überzeugung,dass die Tarifvertragsparteien inDeutschland nur dann eine Zukunfthaben, wenn sie es ermöglichen, dassinnerhalb der Tarifverträge auf betrieb-licher Ebene von deren Kernbestandtei-len abgewichen werden kann.“

Friedrich Merz MdBStellv. Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deuschen Bundestag

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„Freiheit wagen, Fesseln sprengen“ –unter dieses Leitmotiv stellte BDI-Präsi-dent Michael Rogowski die Reform-agenda des Industrieverbandes. DieIndustrie steht nach den Worten Ro-gowskis wie kein anderer Wirtschafts-zweig im Fokus des strukturellen Wan-dels. Dieser Strukturwandel werde durchdrei Megatrends angetrieben: Durch dieTertiarisierung der Wirtschaft, die Glo-balisierung und die Informatisierung.Gleichzeitig bilde sich ein neuer Sektoraus Industrie und Dienstleistungen,beide Sektoren bedingten sich gegensei-tig, erläutere Rogowski.

„In den letzten Jahren hat sichgezeigt, dass wesentliche Impulse fürWachstum und Beschäftigung desDienstleistungssektors von wichtigenKernbereichen der Industrie ausgehen“,so Rogowski weiter. Die Politik sei auf-gefordert, diesen Strukturwandel kon-struktiv zu begleiten. Sie müsse die Rah-menbedingungen so gestalten, dass mehrWachstum möglich werde und sichDeutschland im Standortwettbewerbbehaupten könne. „Die Frage mussimmer sein: Kann es der Staat wirklichbesser?“ Nur ein schlanker Staat schafftnach den Worten Rogowskis Hand-lungsspielräume für Bürger und Unter-nehmen. „Bei einer Staatsquote von fast50 Prozent aber geht annähernd jeder

zweite Euro durch die Hände des Staa-tes“, kritisierte der Industriepräsident.Der Staat müsse sich endlich wieder aufseine Kernaufgaben besinnen, betonteRogowski. Dazu zählen nach seiner Auf-fassung beispielsweise die Garantie derRechtsstaatlichkeit und die Sicherungder inneren und äußeren Ordnung. Bis2010 müsse die Staatsquote auf 40 Pro-zent reduziert werden. „Andere Länderhaben gezeigt, dass dies möglich ist“,betonte der BDI-Chef. Dazu gehöreauch, dass Subventionen konsequentabgebaut werden. Rogowski schlug einenRichtwert von pauschal zehn ProzentKürzungsvolumen pro Jahr vor.

Ferner forderte der BDI-Präsident,die Belastungen für Unternehmer undArbeitnehmer zu senken. „Nur dann ent-steht mehr Raum für Investitionen undEigeninitiative.“ Deutschland gehörenach wie vor zu den Hochsteuerländern,dies gelte insbesondere für die Unterneh-men. Dies werde im europäischen Stand-ortwettbewerb immer offensichtlicher,sagte Rogowski. Das Steuersystem müssevereinfacht, die Unternehmenssteuerngesenkt und die Gewerbesteuer ersetztwerden.

Zudem dürfe die Vermögenssteuernicht wieder eingeführt werden. DieSumme der Sozialversicherungsbeiträgeliege mit rund 42 Prozent vom Brutto-einkommen ebenfalls auf einem viel zuhohen Niveau, wodurch der FaktorArbeit weit über Gebühr belastet werde.„Notwendig sind trotz aller bereitsbegonnenen Reformen im Rahmen derAgenda 2010 weitere Strukturreformenin den Systemen der sozialen Sicherung“,unterstrich Rogowski. Dies bedeute aucheine Abkoppelung der Sozialversiche-rungsbeiträge vom Faktor Arbeit, insbe-sondere in der gesetzlichen Krankenver-sicherung. Dies erfordere ebenso eineHeraufsetzung des Renteneintrittsaltersauf 67 Jahre, die Beseitigung jeglicherAnreize zur Frühverrentung sowie bes-sere Rahmenbedingungen für eine kapi-talgedeckte Altersvorsorge. „Nur wennüberflüssige Regulierungen abgeschafftwerden, können wir Wachstumskräfteentfesseln und Beschäftigung schaffen“,

sagte Rogowski. In Deutschland werdenach wie vor vieles bis ins letzte Detailreguliert, monierte der BDI-Präsident.Staatlich verursachte Bürokratie kostedeutsche Unternehmen jedes Jahr 46Milliarden €. „Hier müssen wir anset-zen“, forderte Rogowski. „Statt jedochRegulierungen abzubauen, bringt diePolitik neue Regulierungen für die Wirt-schaft ins Spiel.“ Als Beispiel führte derBDI-Präsident die Diskussion um dieAusbildungsplatzabgabe an, die nurdurch einen Ausbildungspakt zwischenRegierung und Wirtschaft habe verhin-dert werden können. Auch auf demArbeitsmarkt müssten Regulierungenabgebaut werden. Der Kündigungs-schutz müsse weiter gelockert werden,um die Markteintrittsbarrieren fürArbeitslose zu senken. „Wir brauchenzudem mehr Gestaltungsspielräume fürdie betriebliche Ebene, unter anderembei Lohn- und Arbeitszeitfragen“,betonte der Industriepräsident. „Fürbetriebliche Bündnisse für Arbeit mussdie entsprechende gesetzliche Grundlagegeschaffen werden.“

Ferner forderte Rogowski mehr Mutfür Innovationen ein. Nur dann könnedie internationale WettbewerbsfähigkeitDeutschlands verbessert werden. „Dasheißt vor allem: Mut zu Neuem undweniger Denken in Tabuzonen.“ Bei-spiele seien die Gentechnik oder die Dis-kussion um die künftige Energieversor-gung.

Der Industriepräsident hob zudemdie Bedeutung von Zukunftsinvestitio-nen hervor. Während Deutschland 2,4Prozent seines Bruttoinlandsprodukts(BIP) für Forschung und Entwicklungausgebe, seien es in den USA 2,8 Prozent,in Finnland 3,5 Prozent, in Schwedensogar 4,3 Prozent des BIP. „Wir brauchenandere Prioritäten“, unterstrich Ro-gowski. Die Handlungsfähigkeit desStaates sei eine zentrale Voraussetzung,um die Innovations- und Wettbewerbs-fähigkeit von Wirtschaft und Gesell-schaft zu sichern. Daher müsse auch dasföderale System reformiert werden,damit Zuständigkeiten und Verantwort-lichkeiten wieder klar zuweisbar seien.

Dr. Michael RogowskiPräsident Bundesverband der Deutschen Industrie e.V.

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die notwendigen Maßnahmen indes voneinem „exzessiven Föderalismus, einemvermachteten Verbändestaat und derdamit verbundenden Schwerfälligkeit derEntscheidungsprozesse“ verhindert. Bonse-Geuking schlug vor, die Zahl der Bundes-länder zu reduzieren und die Wahlterminezu konzentrieren. Auf Bundesebene solleeine fünfjährige Legislaturperiode einge-führt werden. Bonse-Geuking kritisierteferner die Macht der Gewerkschaften inden Unternehmen und Sozialversiche-rungssystemen. Den Betrieben müssemehr Freiraum gegeben werden: mehrbetriebliche Flexibilität bei Tarifverträgen,mehr Abweichmöglichkeiten vom Flächen-tarif und verschärfte Anforderungen andie Erklärung der Allgemeinverbindlich-keit.

Hermann-Josef Lamberti Mitglied des Vorstandes Deutsche Bank AG

Hermann-Josef Lamberti sieht grund-sätzlich gute Chancen für eine Überwin-dung der wirtschaftlichen Stagnation.„Aber der Aufschwung ist kein Selbstläu-fer“, betonte das Vorstandsmitglied derDeutschen Bank. Bislang sei die konjunk-turelle Erholung in Deutschland vomAusland geborgt, weil die Binnenkon-junktur nicht in Fahrt komme. „Eine ver-lässliche, vertrauensbildende Wirtschafts-politik kann viel dazu beitragen, dass einselbsttragender Aufschwung in Gangkommt.“ Nach Auffassung Lambertis sinddie ersten Schritte hierfür bereits getan.„Aber viele Partnerländer sind uns bei der

Liberalisierung der Märkte und bei derEntlastung der Unternehmen von Büro-kratie, Steuern und Abgaben deutlich vor-aus.“ Während der Staat in Deutschlandnoch immer auf 48 Prozent des Sozial-produkts zugreife, liege die Staatsquote imDurchschnitt der Industriestaaten bei nur40 Prozent. In einer solchen Lage seienwohlfeile Forderungen nach einer Re-formpause kontraproduktiv, merkte Lam-berti an. „Sie passen nicht zu den Heraus-forderungen der EU-Osterweiterung undder weltwirtschaftlichen Integration In-diens und Chinas.“ In Deutschland müsseakzeptiert werden, dass der Staat nichtalles regeln könne. „Der Staat ist nicht dieLösung, sondern die Ursache mangelnderWirtschaftsdynamik“, sagte Lamberti.Deutschland müsse mehr Freiheit wagen,dies sei das geeignete Motto für eine

Reformpolitik aus einem Guss. So müs-sten sich etwa die Flächentarifverträge aufdie Vorgabe breiter Korridore für Löhneund Arbeitszeiten beschränken. Um diegefährdete Innovationsfähigkeit des Lan-des zu sichern, müssten bürokratischeHemmnisse, restriktive Forschungsetatsin staatlichen Institutionen und der Man-gel an jungen Fachkräften beseitigt wer-den, forderte Lamberti. „Der Aufbruch indie Innovationsgesellschaft beginnt frei-lich in den Köpfen.“

Prof. Dr. Bernhard ScheubleVorsitzender der Geschäftsführung Merck KGaA

Die Position der „Apotheke der Welt“habe Deutschland unwiederbringlich ver-loren, kritisierte Scheuble. Im letztenJahrzehnt sei die Gesundheitspolitik alleindurch das Bestreben zur Kostendämpfunggekennzeichnet gewesen. Dies habe diewirtschafts- und forschungspolitischenBelange völlig außer Acht gelassen unddamit dem Pharmastandort Deutschlandeinen schweren Schaden zugefügt, mo-nierte Scheuble. „Außerdem können mitprimär auf Kostendämpfung ausgerichte-ten Gesundheitsreformen weder kurzfris-tig die strukturellen Qualitäts- und Effizi-enzprobleme des Systems, noch mittel-fristig die finanziellen Probleme dergesetzlichen Krankenversicherungen ge-löst werden.“ Arzneimittelforschung amStandort Deutschland ist nach AuffassungScheubles Voraussetzung dafür, dass Inno-vationen in der Arzneimitteltherapie auchin Zukunft den deutschen Patientenunmittelbar und ohne zeitliche Verzöge-

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rung zur Verfügung stünden. „Für dieseForschung gibt die Industrie jeden Tagzehn Millionen € aus“, unterstrichScheuble. Dies sei indes angesichts derPolitik der vergangenen Jahre nicht mehrselbstverständlich, da Arzneimittel undinsbesondere Innovationen ausschließlichals Kostentreiber und nicht als Chance fürdie Patienten und den Forschungsstand-ort verstanden würden. „Aus industrie-politischer Sicht muss man hier vonStaatsversagen sprechen“, resümierteScheuble. Angesichts dieser Lage müssedie Politik nun die Frage beantworten, obDeutschland ein attraktiver Forschungs-standort für medizinisch-therapeutischenFortschritt mit einer forschungsintensivenPharmaindustrie bleiben wolle. „Oderwill Deutschland gänzlich absteigen zumAbsatzmarkt für importierte medizinischeProdukte und Dienstleistungen?“, fragteScheuble.

Prof. Dr. Horst TeltschickPräsident Boeing Deutschland, Boeing International Corporation

Horst Teltschick beklagte, dass dieProbleme unserer Wirtschafts- und Sozial-ordung seit über zwei Jahrzehnten bekanntseien. „Wir sind Weltmeister in der Ana-lyse, aber Kreisklasse in der Durchsetzung“,konstatierte Teltschick. Nationale Lösun-gen der Wirtschaftspolitik reichten nichtmehr aus. Politische und wirtschaftlicheEntscheidungen hätten heute eine globaleDimension. „Politiker und Mandatsträgerdenken und handeln aber häufig nicht überihren Wahlkreis hinaus“, kritisierte Telt-schick. Der gesellschaftliche Wandel sei zur

Konstante geworden, was bei den BürgernSorgen und Ängste auslöse. „Sie könnenihre eigenen Zukunftschancen nicht ein-schätzen, und sie vermissen überzeugendeAntworten auf ihre dringlichen Fragen undBefürchtungen.“ Nach Auffassung Telt-schicks hat es die Politik versäumt, klareund überzeugende Ziele zu formulierensowie entsprechende Maßnahmen vorzu-bereiten und durchzusetzen. „Es fehlen dieRichtlinien in der Politik, die für die Bür-ger Sicherheit und Orientierung anbieten“,monierte Teltschick. Kompetenz sei in derPolitik zufällig. „Es gibt keine definiertenKriterien, noch gezielte Verfahren für die

Rekrutierung von politischen Mandatsträ-gern.“ Dies führe dazu, dass die Regierungimmer häufiger auf externe Berater ange-wiesen sei. „Auch die Führungskräfte in derWirtschaft und in den Wirtschaftsverbän-den können sich nicht vom eigenen Versa-gen freisprechen“, kritisierte der Boeing-Präsident. Sie würden ihrer gesellschaftspo-litischen Verantwortung vielfach nichtgerecht oder seien sich dieser nicht be-wusst. „Das Auftreten einzelner Wirt-schaftsführer beeinträchtigt erheblich dieGlaubwürdigkeit und Überzeugungskraftwirtschaftspolitisch gerechtfertigter Forde-rungen.“

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Günter Dibbern Vorsitzender des Vorstandes DKV Deutsche Krankenversicherung AG

Günter Dibbern erläuterte, dass dieSozialausgaben im Jahr 2002 mit rundeinem Drittel des Bruttoinlandsproduktsauf den höchsten Stand in der Geschichteder Bundesrepublik geklettert seien. DieSchulden der gesetzlichen Krankenkassenbeliefen sich auf fünf bis sechs Milliarden€, hinzu kämen fehlende Reserven vonvier Milliarden €. „Das Ziel der Gesund-heitsreform, die Beiträge auf 13,6 Prozentzu senken, rückt damit in weite Ferne“,sagte Dibbern. Das Umlageverfahren seinicht mehr zur Finanzierung der gesetzli-chen Kassen geeignet. Es könne die Fol-gen der alternden Bevölkerung nichtmehr bewältigen. Im Jahr 2002 hättenRentner zwar 48 Prozent der Leistungs-

ausgaben verursacht, aber nur 22 Prozentzu den Beitragseinnahmen der gesetz-lichen Krankenkassen beigetragen. Derdurchschnittliche Monatsbeitrag einesRentners betrage nur 149 €, erwerbstätigeMitglieder der Krankenkassen zahltenhingegen durchschnittlich 263 € proMonat. „Zum Alterungsprozess hinzukommt, dass die Gesundheitsausgabennicht nur mit zunehmendem Alter stei-gen, sondern diese Steigerung überpro-portional ausfällt“, sagte Dibbern. EinSechzigjähriger verursache mehr als diedoppelten Gesundheitsausgaben einesZwanzigjährigen, bei einem Achtzigjähri-gen erhöhten sich die Ausgaben auf das5,5-fache. „Es bedarf einer Generationen-solidarität, bei der keine Generation zuLasten einer anderen Generation Ressour-cen verbraucht“, forderte Dibbern. „JedeGeneration muss ihre eigenen Kosten tra-

Podium III

In das Thema ,,Aufstand der Jugend –für eine Zukunft im eigenen Land“führte ein: Philipp Mißfelder, Bundes-vorsitzender der Jungen Union Deutsch-lands.

Unter der Moderation von Dr. PeterGillies diskutierten: Günter Dibbern,Vorsitzender des Vorstandes DKV Deut-sche Krankenversicherung AG; DorliesLast, Bundesvorsitzende des RingsChristlich-Demokratischer Studenten;Hildegard Müller MdB, Mitglied desPräsidiums der CDU Deutschlands;Nikolaus Schweickart, Vorsitzender desVorstandes der Altana AG; Prof. Dr.Dagmar Schipanski, Thüringer Minis-terin für Wissenschaft, Forschung undKunst.

Aufstand der Jugend – für eine Zukunft im eigenen Land

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Philipp Mißfelder erinnerte an dieneunziger Jahre. Bereits damals seien diedemographischen Probleme bekanntgewesen und dennoch habe die damaligeCDU-Regierung sehenden Auges eineumlagefinanzierte Pflegeversicherungeingeführt. „Das war verantwortungs-los.“ Zwar seien die Finanznöte dergesetzlichen Pflegeversicherung in deraktuellen politischen Diskussion nur einRandthema, bemerkte Mißfelder. Den-noch werde der Beitragssatz dort ohnestrukturelle Reformen in den kommen-den Jahrzehnten von heute 1,7 Prozentauf 5,6 Prozent explodieren, mahnte derBundesvorsitzende der Jungen Union.„Das heißt, allein die Pflegeversicherungkönnte die Ergebnisse jahrelangerReformpolitik einer zukünftigen Bun-desregierung in anderen Bereichen derSozialversicherung zunichte machen.“Mißfelder kritisierte ferner die Tarifver-tragsparteien. Sowohl Gewerkschaftenals auch Arbeitgeberverbände hätten inden vergangenen Jahren zur Praxis derFrühverrentung beigetragen. „Das hatdazu geführt, dass wir schon heute, vorBeginn der demographischen Krise,große Finanzierungsprobleme in dergesetzlichen Rentenversicherung ha-ben.“ Mißfelder betonte, Deutschlandhabe zudem den unflexibelsten Arbeits-markt in Europa, das höchste Maß anBürokratie und Sozialsysteme, die ohne

grundlegende Veränderung für die jün-gere Generation zu einem „Ausbeu-tungsystem“ würden. Für die Jungenwerde angesichts der aufgetürmten Las-ten in den Sozialsystemen und der aus-ufernden Staatsverschuldung nur sehrwenig bleiben, beklagte der Bundesvor-sitzende der Jungen Union. „Wenn sichErwerbsverhalten und Lebensarbeitszeitnicht ändern, wird in Zukunft einErwerbstätiger für einen Ruheständleraufkommen müssen, darf dabei fast einDrittel seines Einkommens für die Kran-kenversicherung ausgeben und soll dieStaatsverschuldung abtragen, die durchungedeckte Pensionszusagen in ganzneue Dimensionen vorstoßen wird.“Solche Perspektiven sind nach den Wor-ten Mißfelders für junge, leistungsbe-reite Menschen häufig der Grund, inseuropäische Ausland oder in die USAabzuwandern. Sie sähen ihre persönlicheZukunft nicht mehr in diesem Land.„Wir haben mittlerweile einen massivenBrain-Drain, der zwangsläufig dazuführt, dass unsere besten Köpfe sich derTeilhabe an unserer Gesellschaft und ander Zukunft der Bundesrepublik verwei-gern“, machte Mißfelder deutlich. Vielzu hohe Steuern, ein ausufernder Sozial-staat und nicht zuletzt die schlechtenPerspektiven, die sich für Leistungsträ-ger hier zu Lande böten, seien dieGründe für diese Entwicklung. „Dieskönnen und dürfen wir uns nicht leis-ten, weil wir ohnehin im Bereich derTopqualifizierten eine viel größereNachfrage haben werden als ein Angebotvorhanden ist.“ Abwanderung sei nichtmehr nur auf Ostdeutschland be-schränkt, sondern betreffe inzwischendas ganze Land, unterstrich Mißfelder.„Wir müssen alles dafür tun, diese Men-schen in Deutschland zu halten, ihnenPerspektiven zu bieten, Aufstiegsmög-lichkeiten zu geben und ihren Ehrgeiz zuwecken, unser Land mitzugestalten undwieder nach vorne zu bringen.“ Patrio-tismus allein werde dafür indes nichtausreichen, zumal dieser in Deutschlandeine nur geringe Bindungskraft entfalte.Es bleibe darum nur, eine gesellschaftli-che Stimmung zu erzeugen, in der Leis-tung sich wieder lohne und nicht dasGefühl vorherrsche, dass Leistung per-

manent bestraft werde. „Deswegen for-dere ich im Interesse meiner Generation,uns auf die Prinzipien der SozialenMarktwirtschaft zurückzubesinnen unddiese auch zu verwirklichen.“ Aus derSicht Mißfelders sind dabei drei Leit-prinzipien von zentraler Bedeutung: DieIndividualität, die Subsidiarität und dieSolidarität der Sozialsysteme. „Wie beider Rente und der Pflegeversicherungstehen wir auch im Gesundheitssystemvor der Herausforderung, dem demo-graphischen Wandel und den Interessender jungen Generation gerecht zu wer-den“, sagte Mißfelder. Dies könnejedoch nur erreicht werden, wenn auchim Gesundheitssektor eine kapitalge-deckte Altersvorsorge eingeführt werde,wie sie die Herzog-Kommission vorge-schlagen habe. „Ohne ein solches Ele-ment der Zukunftsvorsorge wird auchein Prämiensystem auf lange Sicht schei-tern – mit katastrophalen Folgen für dasVersorgungsniveau und die Wirtschaft“,warnte der Bundesvorsitzende der Jun-gen Union Deutschlands. Eine solcheReform ohne Zukunftsfähigkeit wärejedoch die hohen politischen Kostennicht wert, die bei dem Umbau desGesundheitssektors auf ein Prämienmo-dell ohnehin entstünden. Die Zukunfts-fähigkeit Deutschlands stehe auch beimThema Steuern auf dem Spiel. „Eingrundlegender, das heißt an die Wurzelgehender Umbau des Steuersystems inseiner ganzen Struktur ist unerlässlich,wenn für leistungsbereite Menschen wie-der Perspektiven geschaffen werden sol-len.“ Die hohe Grenzbelastung, dieschon bei mittleren Einkommen ein-setze, und die unüberschaubare Kom-plexität der Unternehmensbesteuerungmachten Leistungsanreize zunichte,auch und gerade für neu gegründete undinnovative Unternehmen. „Das deutscheSteuersystem ist eine Innovationsbremseersten Ranges“, konstatierte Mißfelder.Der Bundesvorsitzende der JungenUnion machte eindringlich deutlich,dass nicht mehr lange über den bestenWeg für Reformen gerungen werdenkönne. „Wir haben schon viel zu langeüber den besten Weg diskutiert, stattdarüber nachzudenken, wie wir ihn amschnellsten durchsetzen.“

Philipp MißfelderBundesvorsitzender der Jungen Union Deutschlands

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gen und das Mittel der ersten Wahl zurUmsetzung dieses Ziels ist mehr Kapital-deckung im Gesundheitswesen.“ Bei denprivaten Krankenversicherern sei dieses

Ziel durch Altersrückstellungen bereitserreicht, diese seien daher auch ein geeig-netes Vorbild für eine Reform der gesetz-lichen Krankenversicherung.

Dorlies LastBundesvorsitzende des Rings Christlich-Demokratischer Studenten

„Junge Leute sind der wichtigste Roh-stoff unseres Landes“, betonte DorliesLast. „Sie sind ein wichtiger Garant für dieInnovationsfähigkeit.“ Wohlstand undWirtschaftswachstum seien untrennbarmit der Altersstruktur einer Gesellschaft

verbunden. Darum müsse alles dafürgetan werden, die Geburtenrate von heutenur noch 1,4 Kindern pro Frau wieder zuerhöhen. Die niedrige Geburtenrate unddie zunehmende Kinderlosigkeit vielerPaare seien verantwortlich für das Schei-tern des Generationenvertrages. „Dieserberuht nicht nur darauf, durch das Ein-zahlen von Beiträgen künftige Ansprüchezu erwerben, sondern auch darauf, Kinderaufzuziehen, die durch ihre späterenBeiträge für die Rente der heute Erwerbs-tätigen aufkommen“, unterstrich Last.Die RCDS-Vorsitzende beklagte, dassKinder nach wie vor ein hohes Armutsri-siko darstellten. Eltern mit Kindern ver-zichteten im Durchschnitt auf 15 Jahres-

gehälter im Laufe ihres Berufslebens,Familien verfügten nur über 65 Prozentdes Einkommens kinderloser Paare. Fer-ner wies Last auf die künftigen Belastun-gen der heute jungen Generation hin.„Die heutige Jugend sieht sich mit kaumlösbaren Problemen konfrontiert – dieJugendarbeitslosigkeit steigt, die Staats-schulden ebenso und die Beitragszahlerder Sozialversicherungssysteme könnenkünftig kaum mehr mit einer staatlichenRentenversicherung rechnen.“ Mit Ver-weis auf die 14. Shell-Jugendstudie kriti-

sierte Last zudem, dass Jugendliche in Ostund West ihre gesellschaftliche Zukunft„eher düster“ einschätzten. Der Mangelan Perspektiven zeige sich zunehmend

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auch unter jungen Akademikern. DieFolge sei, dass sich die jüngere Generationenttäuscht von der Politik abwende. „DieJugendlichen werden das Vertrauen in diepolitischen Systeme nur zurückgewinnen,wenn ihnen eine ehrliche Perspektivegeboten wird.“

Hildegard Müller MdB Mitglied des Präsidiums der CDU Deutschlands

Mit Verweis auf die jüngsten Zahlendes Statistischen Bundesamtes erläuterteHildegard Müller, dass im Jahr 2030 aufrund 100 Menschen im erwerbsfähigenAlter 71 Ruheständler kämen. Heuteseien es 44. „Dies würde bedeuten: Dieheute junge Generation erbt von der alten

Generation nicht nur einen Berg vonStaatsschulden, sondern auch immenseZahlungsverpflichtungen für die gesetz-liche Rentenversicherung und für die Pen-sionen der Beamten des Bundes, der Län-der und der Gemeinden.“ Die Unionspo-litikerin verwies auf die Berechnungen derCDU-Kommission „Soziale Sicherheit“,wonach bei der Beibehaltung der heutigensozialen Sicherungssysteme spätestens imJahr 2050 eine Belastung mit Sozial-beiträgen von mehr als 60 Prozent erreichtwerde. „Diese Lage bedeutet: Wir solltenalles daran setzen, die Last der Demogra-phie möglichst gleichmäßig auf die Gene-rationen zu verteilen“, betonte Müller.„Die Misere, die die heute junge Genera-tion vorfindet, wird sie unglaublich belas-ten.“ Diese Generation dürfe nicht dieallein Leidtragende sein, zumal sie diese

Entwicklung nicht verursacht habe. Zielbeim Umbau der Sozialsysteme müssesein, die Lohnzusatzkosten zu senken.„Dabei darf man aber nicht verkennen,dass keine wirkliche Reform auf Dauer zudem Ergebnis führen wird, die Aufwen-dungen für die soziale Sicherung insge-samt zu senken.“ An den Kosten der ver-änderten Demographie wird sich die Poli-tik nach den Worten Müllers nicht vor-beimogeln können. Eine Konsequenz die-ser Entwicklung werde sein, dass ein Teilder Kosten der sozialen Sicherung in dieindividuelle Eigenverantwortung der Bür-ger gegeben werden müsse. „Wer den Bür-gern hingegen verspricht, dass Eigenver-antwortung vermeidbar und kapitalge-

deckte Ergänzungen der solidarischenSicherung verzichtbar seien, der verkenntdie Lage oder spricht bewusst dieUnwahrheit“, kritisierte Müller.

Nikolaus SchweickartVorsitzender des Vorstandes der Altana AG

Nikolaus Schweickart betonte, dass dieUnternehmen ein legitimes Interesse aneiner Zukunft im eigenen Land hätten.„Denn ohne einen qualifiziert ausgebilde-ten Nachwuchs im eigenen Land entste-hen keine Innovationen, entstehen keineProdukte und entstehen keine Märkte.“Schweickart erklärte die Zurückhaltungder Unternehmen bei der Finanzierung

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von Hochschulstipendien damit, dass dieWirtschaft kein Geld in ein ineffizientesHochschulwesen stecken wolle. EineReform des Hochschulsektors etwa nachdem Vorbild der USA sei darum unum-gänglich. Der Altana-Vorstandschef kriti-sierte ferner, dass die herkömmlichensozialen Sicherungssysteme an der Über-alterung der Gesellschaft zerbrechen wür-den, wenn nicht rechtzeitig gegengesteuertwerde. „Obwohl die Fakten seit 25 Jahrenoffensichtlich sind, hat die gesellschaftspo-litische Debatte darüber erst im vergange-nen Jahr an Intensität gewonnen“, sagteSchweickart. Die drängenden Herausfor-derungen seien von den politisch Verant-wortlichen jeder Couleur seit Jahren ver-drängt worden. „Mit der unerfreulichen

Realität waren eben keine Wahlen zugewinnen.“ Schweickart verwies auf dieimplizite Staatsverschuldung der sozialenSicherungssysteme. Diese belaufe sich –neben der offen ausgewiesenen Staatsver-schuldung von 1,3 Billionen € – auf zweiBruttoinlandsprodukte und damit insge-samt auf rund sechs Billionen €. „Eineerfolgreiche Erneuerung kann meinesErachtens nur durch die Ausrichtung aufmehr Freiräume und Eigenverantwortungerfolgen", betonte der Altana-Vorstands-vorsitzende. Aus seiner Sicht müssenstrukturelle Reformen vier Schwerpunk-ten folgen: Einer Entfesselung des Arbeits-markts, einem Umbau der sozialen Siche-rungssysteme, einer grundlegenden Re-form der schulischen und universitärenAusbildung sowie einer konsequenten För-derung von Forschung und Entwicklung.

Prof. Dr. Dagmar Schipanski Thüringer Ministerin für Wissenschaft,Forschung und Kunst

Dagmar Schipanski betonte, dass dieJugend im vereinten Europa heute unver-gleichbar mehr Chancen habe als noch voreinigen Jahren. „Richtig ist aber auch: DieHerausforderungen nehmen zu. Es wirdimmer schwieriger, in unserer zusammen-wachsenden Welt die Übersicht zu behal-ten“, sagte Schipanski. Die ThüringerWissenschaftsministerin ist der Auffas-sung, dass hier auch die ältere Generationgefragt ist, mit ihren Erfahrungen Hilfe-stellungen für die junge Generation zuleisten. „Ebenso sind wir als die derzeit

Verantwortlichen gefordert, für die JugendRahmenbedingungen zu schaffen, damitsie neue Chancen auch wirklich nutzenkann.“ Hierzu zählen nach den WortenSchipanskis vor allem gut ausgebildetejunge Menschen. „Unsere Jugend mussgut ausgebildet sein, aber auch verantwor-tungsbewusst für die Demokratie eintretenkönnen.“ Dringend notwendig sei eingutes Schulsystem, „das Leistung aner-kennt und fordert und das nach Neigun-gen und Begabungen Ziel gerichtet för-dert“. Schulen und Hochschulen müssteneine solide Grundausbildung in einzelnenDisziplinen vermitteln, zugleich aber auchfachübergreifendes, vernetztes Denkenlehren, um die komplexen Probleme unse-rer Zeit lösen zu können. Schipanski ver-wies auf das Beispiel Thüringen, wo nach

ihrer Auffassung „verantwortungsvoll mitder Lebenszeit der jungen Menschen“umgegangen werde. Das Abitur werdenach zwölf Jahren abgelegt, mit 24 Jahrenhabe das Bundesland zudem die jüngstenHochschulabsolventen. Schipanski vertei-digte das deutsche Hochschulwesen gegenKritik. „Wir haben sehr gute Universitätenin der Breite und sehr viele Universitäten,die ich erhalten möchte.“ Auch das deut-sche Hochschulwesen sei in der Lage, her-vorragend ausgebildete Spitzenkräfte her-vorzubringen. Der Verweis auf die USA alsVorbild für die Reform des deutschenHochschulwesens sei indes insofern irre-führend, als dort immer nur auf die Spit-zenuniversitäten geblickt werde. *

Berichterstattung Wirtschaftstag 2004

Erwin Lamberts und Peter Hahne

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