trend dokumentation zum wirtschaftstag 2005

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I ch möchte mich beim Wirtschaftsrat für seine gute Arbeit bedanken. Sie ist für uns immer ein Impuls, aus dem Blickwinkel der Wirtschaft darüber nach- zudenken, was Deutschland voranbringt. Wir wissen, dass es in Deutschland nicht vorangehen wird und dass auch keine Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn sich die Politik gegen die Wirtschaft aufstellt. Wir schaffen es nur mit der Wirtschaft gemeinsam. Der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel hat innerhalb einer überschaubaren Zeit gezeigt, wie man das Schicksal eines Landes durch entschlossenes Handeln wenden kann. Seine Regie- rungsarbeit zeichnet aus, dass er gleich am Anfang der jeweiligen Legislaturperiode in einem umfassenden Ansatz durchgesetzt hat, was er für nötig hielt. So wurden für die Menschen die Zusammenhänge klar. Es reicht nicht aus, hier und dort Einzelmaßnahmen zu beschließen. Wer erfolgreich sein will, muss in einer konzertierten Aktion vorgehen. Wolfgang Schüssel hat diese Politik aus einem Guss nicht nur in ein Wahlprogramm gefasst, sondern er hat sie gegen manche Widerstände, aber mit einem großen Erfolg für die Österreicherinnen und Österreicher verwirklicht. Auch Deutschland braucht wieder eine Politik aus einem Guss. Der Bundeskanzler hat nach den Erfolgen der Union in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfa- len die Vertrauensfrage gestellt, mit dem Ziel, Neu- 7 t r e nd III. Quartal 2005 PERSPEKTIVEN Deutschland auf Kurs bringen Unionskonzepte 2005 bis 2009 Dr. Angela Merkel MdB, Vorsitzende der CDU Deutschlands und Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag ...

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trend Dokumentation Wirtschaftstag 17.06.2005

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Ich möchte mich beim Wirtschaftsrat für seine guteArbeit bedanken. Sie ist für uns immer ein Impuls,aus dem Blickwinkel der Wirtschaft darüber nach-

zudenken, was Deutschland voranbringt. Wir wissen,dass es in Deutschland nicht vorangehen wird unddass auch keine Arbeitsplätze geschaffen werden,wenn sich die Politik gegen die Wirtschaft aufstellt.Wir schaffen es nur mit der Wirtschaft gemeinsam.

Der österreichische Bundeskanzler WolfgangSchüssel hat innerhalb einer überschaubaren Zeitgezeigt, wie man das Schicksal eines Landes durchentschlossenes Handeln wenden kann. Seine Regie-rungsarbeit zeichnet aus, dass er gleich am Anfang derjeweiligen Legislaturperiode in einem umfassenden

Ansatz durchgesetzt hat, was er für nötig hielt. Sowurden für die Menschen die Zusammenhänge klar.Es reicht nicht aus, hier und dort Einzelmaßnahmenzu beschließen. Wer erfolgreich sein will, muss ineiner konzertierten Aktion vorgehen. WolfgangSchüssel hat diese Politik aus einem Guss nicht nurin ein Wahlprogramm gefasst, sondern er hat siegegen manche Widerstände, aber mit einem großenErfolg für die Österreicherinnen und Österreicherverwirklicht. Auch Deutschland braucht wieder einePolitik aus einem Guss.

Der Bundeskanzler hat nach den Erfolgen derUnion in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfa-len die Vertrauensfrage gestellt, mit dem Ziel, Neu-

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Deutschlandauf Kurs bringen

Unionskonzepte 2005 bis 2009

Dr. Angela Merkel MdB, Vorsitzende der CDU Deutschlandsund Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag

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wahlen herbeizuführen. Die Begründung dafür hatsich unter anderem auf die unterschiedlichen Mehr-heitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat bezo-gen. Richtig ist, der Bundesrat ist mehrheitlich durchunionsregierte Länder geprägt. Wir haben eine ganzeFußballmannschaft von Ministerpräsidenten, zehnbei der CDU und den elften von der CSU.

Aber nur, weil die Mehrheiten im Bundesrat uni-onsgeprägt sind, kann man nicht von Blockade spre-chen. Wir hatten in dieser Legislaturperiode 92Gesetze, die in den Vermittlungsausschuss mussten.Von diesen 92 Gesetzen sind 91 einvernehmlich mitder rot-grünen Koalition zu einem Kompromissgebracht worden. Jedes dieser Gesetze ist besser ausdem Bundesrat herausgekommen, als es hineinge-kommen ist. Bei einem einzigen Gesetz, nämlichbeim so genannten Verfütterungsverbotsgesetz ist eszu keiner Einigung gekommen.

In 91 von 92 Fällen hat es Kompromisse gegeben.Unser Prinzip dabei lautete immer: Wenn der Kom-promiss dem Lande dient, wenn die Vorteile dieNachteile überwiegen, werden wir zum Wohl desLandes der Sache zustimmen. Diesen Weg haben wirganz konsequent fortgesetzt. Von Blockade kann alsokeine Rede sein.

Bilanz nach sieben JahrenRot-Grün im Bund

Angesichts der bevorstehenden Neuwahlen möch teich die Bilanz von sieben Jahren rot-grüner Re gierungziehen. Wir haben fast fünf Millionen regis trierteArbeitslose. Wir wissen, wie viele arbeitslose Men schendarüber hinaus durch Tricks aus der Statistik gefallensind, wie viele in den vorzeitigen Ruhestand geschicktwurden. Wir wissen, wie viele Menschen Angst haben,ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Je den Tag verschwindenin Deutschland über tausend so zial versicherungsp flich -tige Beschäftigungsverhältnisse.

Wir haben 40.000 Insolvenzen pro Jahr. Wirhaben ungefähr hundert Milliarden € strukturelles

Defizit, davon mindestens 40 Milliarden € imBundeshaushalt (zum Vergleich: der Bundeshaushaltumfasst etwa 250 Milliarden €). Wir haben 20 Mil -liarden strukturelles Defizit in den sozialen Siche-rungssystemen. Das ist im Wesentlichen auch auf diesehr schlechte Beschäftigungssituation zurückzufüh-ren. Und wir haben noch einmal etwa 30 bis 40Milliarden € Defizit in unseren Bundesländern. DieLänderhaushalte sehen dramatisch aus.

Vor 2010 kann beispielsweise Nordrhein-West -falen keinen verfassungsgemäßen Haushalt, alsoeinen Haushalt, bei dem die Investitionen größersind als die Netto-Kreditaufnahme, vorlegen. Das istim größten Bundesland der BundesrepublikDeutschland die Hinterlassenschaft von Rot-Grün.

Wir sind Letzter im Wirtschaftswachstum inEuropa. Die rote Laterne für Deutschland kann mannicht mit der wirtschaftlichen Entwicklung in denneuen Bundesländern entschuldigen. Aufgrund derpositiven Entwicklung im produktiven Bereich müss -ten die neuen Bundesländer eher höhere Wachstums-raten haben. Dass Deutschland im Gegensatz zuÖsterreich sehr viel schlechter abschneidet, ist haus-gemachte Politik und hat nichts mit Globalisierungs-effekten zu tun.

Globalisierung bestimmt unser Leben

Die gute Nachricht ist, dass wir die Dinge an -packen können, wenn wir uns über ein paar grund -legende Dinge einigen. Wir können die Frage, wasunser Land voranbringt, nicht mehr allein entschei-den. Denn die Globalisierung bedeutet auch eineimmer stärkere Durchdringung der verschiedenenÖkonomien. Damit ist das, was andere tun, für unsimmer auch ein Maßstab und eine Aufforderung, selber etwas zu tun. Physikalisch formuliert: Es zähltheute nur die Relativgeschwindigkeit. Ob wir glau-ben, dass wir uns angestrengt haben, ist bei derBetrachtung des Resultats relativ egal, wenn andereum uns herum sich mehr angestrengt haben.

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Globalisierung bestimmt unser Leben, unser Tun.Globalisierung heißt für uns, dass wir uns entschei-den müssen, wo wir mitspielen wollen. Wo wollenwir den Ton angeben? Deutschland wird sich, das hatder Bundespräsident wunderbar gesagt, sicher nichtan dem Kampf um die niedrigsten Löhne in den ver-schiedensten Bereichen beteiligen können. Wir müs-sen in Deutschland so viel besser sein wie wir teurersind. Dieser ökonomischen Wahrheit müssen wir unsstellen.

Wachstum braucht FreiheitSchon die DDR hat es nicht geschafft, die Na -

turgesetze außer Kraft zu setzen. Auch Demokratieund Freiheit können das in dem Fall nicht. Wir müs-sen uns fragen, womit wollen wir in Zukunft eigent-lich unser Geld verdienen? Was können wir gut undwas brauchen wir dafür? Für mich ist das ThemaArbeit das zentrale Thema. Um mehr Arbeitsplätzezu schaffen, brauchen wir Wachstum. Aus meinerSicht ist sicher, dass Wachstum Freiheit braucht. Des-halb ist die Diskussion darüber, was das bedeutet,zentral.

Unser Freiheitsverständnis bedeutet keine Abwehrvon irgendetwas. Sondern unser Freiheitsverständnisresultiert aus dem christlichen Menschenbild. Das

macht auch den sozialen Charakter der Marktwirt-schaft aus. Es gibt in der politischen Diskussion jetzteine Tendenz, einen Gegensatz zwischen der Wirt-schaft und den Menschen zu konstruieren. Aber ohneMenschen gäbe es keine Wirtschaft. Der Markt istder Aktionsraum, in dem sich einzelne Menscheneinmischen und sich ihrem Gegenüber versuchen zubewähren, Angebote zu machen, in einen Wett -bewerb einzutreten, um sich damit selbst zu verwirk-lichen, um ihre Produkte zu verkaufen. Wirtschaftohne Menschen gibt es nicht.

Gerechtigkeitund Solidarität

Es geht darum, die Rahmenbedingungen so zufassen, dass aus dem Wirtschaften ein möglichsthohes Maß an Gerechtigkeit und Solidarität entsteht.Das setzt voraus, dass das, was geschaffen wird, ersteinmal mehr ist als das, was verbraucht wird, damitman für die Schwachen in der Gesellschaft nochetwas zum Verteilen hat. Das war auch viele Jahre biszur großen Koalition in den 60er Jahren in derBundesrepublik Deutschland ganz klar. Erst danachhat man angefangen, Schulden zu machen undWachstum auf Pump zu finanzieren. Das können wiruns nicht weiter leisten, schon gar nicht in der demo-graphischen Lage, in der wir uns befinden.

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Wenn wir nun so viel besser sein müssen wie wirteurer sind, müssen wir uns unserer Ressourcen,Fähigkeiten und Kräfte besinnen. Das sind in aller ers -ter Linie die Menschen in unserem Land. Wir habennoch die Steinkohle als Rohstoff, aber die bringt unswenig Gewinn. Wir haben die Braunkohle, die ist daetwas besser. Aber im Wesentlichen sind wir auf dieFähigkeiten der Menschen angewiesen. Aus diesemGrund lautet die zentrale Frage: Wie ist unser Bil-dungssystem ausgerichtet? Wie können wir mit ande-ren Ländern der Welt mithalten, die vielleicht sogarnoch über Rohstoffe verfügen und sich gar nicht sosehr auf die menschliche Kreativität stützen müssen?

Bildung auf dem PrüfstandWir müssen alle Ebenen der Bildungspolitik

immer wieder auf den Prüfstand stellen und hinter-fragen. Zu einem modernen, hoch entwickeltenIndustrieland, zu einem Land, das sich der Wissens-gesellschaft öffnen will, gehört nach meinem festenVerständnis eine Schulausbildung, bei der die Kinderam Ende Lesen, Schreiben und Rechnen können.Selbst das ist heute nicht mehr hundertprozentig ga -rantiert. Nun ist es bereits eine große Verheißung,wenn die Stunden, die auf dem Stundenplan stehen,auch gegeben werden. Roland Koch hat das in Hessen verwirklicht und Jürgen Rüttgers wird das fürNordrhein-Westfalen jetzt auch tun.

Wir müssen auch den Leistungsgedanken in derSchule wieder voll anwenden. In Nordrhein-Westfa-len ist die „geniale“ Idee geboren worden – die mituns jetzt natürlich wieder rückgängig gemacht wird– in den Klassen fünf, sechs, sieben und acht Biolo-gie, Physik und Chemie zu einem Fach – zu Natur-wissenschaften – zusammenzulegen. Das sieht dannso aus: Wer sich mit der Schwerkraft nicht so be fas-sen möchte, kann drei Blumennamen auswendig ler-nen, dann kriegt er die gleiche Zensur. Es ist auchhochgradig verlogen, wenn bis weit in Gewerk-schaftsfunktionärskreise hinein jeder versucht, seinKind auf einer Privatschule unterzubringen, währendbei staatlichen Schulen nicht einmal mehr die Bil-

dungsgrundversorgung gewährleistet ist. Wir brau-chen einen funktionierenden Staat, der diese Grund-bildung unserer Kinder endlich wieder sicherstellt.

Ein weiteres wichtiges Thema ist das duale Ausbil-dungssystem, bis heute ein echter Schlager derBundesrepublik – da, wo duale Ausbildung stattfin-det. In Wirklichkeit aber bekommt nur noch jederzweite Schulabgänger einen Berufsausbildungsplatzim klassischen dualen System. 50 Prozent der Schul-abgänger werden durch verschiedenste staatlicheErsatzmaßnahmen erst einmal weitergebildet. Es hatkeinen Sinn, über Ausbildungsplatzabgaben undähnliches zu reden, wir müssen endlich wieder mehrAusbildungsplätze bekommen. Wir müssen diemittelständische Wirtschaft so stärken, dass sie nichtständig vom Konkurs bedroht ist, sondern eine Per-spektive hat. Dann stellen die Unternehmen auchwieder junge Leute ein, weil sie Nachwuchs brauchenfür die Prosperität ihres Unternehmens.

Seit vielen Jahren beschäftigt uns das Thema Studiengebühren. Es bedurfte eines Verfassungsge-richtsprozesses, damit die Bundesbildungsministerineinsah, dass das Verbot im Bundesgesetz nichtverfassungs gerecht ist. Jetzt lautet die Frage: wie kön-nen Studiengebühren ausgestaltet sein. Leider ist es inDeutschland ja so, dass im internationalen Vergleichverhältnismäßig wenig Kinder aus Nichtakademiker-familien studieren. Mit Gerechtigkeit hat das heutigeStudiensystem wenig zu tun. Deshalb halten wir es fürrichtig, dass Universitäten selbst darüber entscheiden,ob sie Gebühren erheben wollen, und dass dafür dieMöglichkeit von Darlehen eröffnet wird. Wenn manvon maximal 500 € ausgeht, wie die Kultusministerdas jetzt pro Semester ins Auge gefasst haben, dannbedeutet das: Falls man in zehn Semestern fertiggeworden ist, muss man ein Darlehen von 5.000 €zurückzahlen.

5.000 €Darlehen, die man zurückzahlen muss, so -bald man einen Arbeitsplatz hat, sind eine machbareHerausforderung. Für diejenigen, die schneller studie-

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ren wollen, kann man Stipendien als Leistungsanreizesetzen. Ich bin auch der Meinung, dass die Universitä-ten sich ihre Studenten vollständig selbst aussuchensollten, damit hier wieder eine persönliche Bindungentsteht. Außerdem halte ich Langzeitstudiengebüh-ren für völlig angemessen. Es gibt nicht den geringstenGrund, dass Krankenschwestern und Facharbeiter mitihren Steuergeldern das Studium von Menschenbezahlen sollen, die 16, 17, 18 Semes ter studieren.

Wenn der Mensch sich dann fertig gebildet undausstudiert hat, stellt sich die Frage, was er mit seinemWissen macht. Da kommt für mich der zentralePunkt, der auch über das Schicksal Deutschlands,über seine Zukunft entscheiden wird. Wie inno -vationsbereit sind wir? Wie viel Kraft haben wir, neueWege zu gehen? Welche Hindernisse müssen aus demWeg geräumt werden?

Energiepolitik im FocusWenn man davon ausgeht, dass Energie auch in

den nächsten Jahren der Blutkreis einer entwickeltenVolkswirtschaft ist, müssen wir als erstes unsere Ener-giepolitik in den Fokus nehmen. Der Strom kommtnicht einfach aus der Steckdose, sondern mussirgendwo erzeugt werden und zwar zu wettbewerbs-fähigen Preisen.

Die gesamte Liberalisierung, die im Strommarktin den Jahren 97/98 durchgeführt wurde und diePreissenkungen in Höhe von 20, 25 Prozent erbrachthaben könnte, ist im Grunde durch zusätzliche staat-liche Maßnahmen wieder aufgefressen worden. Des-halb heißt für mich die Devise: Es ist ein ideolo -gischer Beschluss gewesen, volkswirtschaftlich durchnichts zu rechtfertigen, nach bestimmten ZeitenKernkraftwerke abzuschalten. Die Frage, wie langeein Kernkraftwerk in Deutschland läuft, muss sicham Stand von Wissenschaft und Technik, also amSicherheitsstand orientieren und an nichts anderem.Alles andere ist volkswirtschaftlicher Unsinn. Wirbrauchen einen Mix von Energieträgern. Wir müs-sen aber aufpassen, dass wir gerade beim Gas nicht in

einseitige Abhängigkeiten kommen. Wir brauchennatürlich erneuerbare Energien, aber Degression unddie langfristige Wirtschaftlichkeit dieser erneuer -baren Energien dürfen nicht aus dem Auge geraten.Die Gesamtheit der staatlichen Mittel, CO2-Emis-sionszertifikate, Erneuerbare-Energiegesetz, Öko-steuer, dürfen nicht kumulieren. Sie müssen so ein-gesetzt werden, dass die notwendigen Anreizwirkun-gen entfacht werden.

Bei der Ökosteuer existiert so gut wie keine An -reizwirkung. Leider wird es bei der von mir beschrie-benen Haushaltslage nicht möglich sein, den Weg,den man da gegangen ist, nun sofort wieder umzu-kehren. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir unsbeim Erneuerbaren-Energiengesetz und dem Zu -sammenspiel mit den CO2-Zertifikaten nicht Bürdenauferlegen, die wir später im Energiepreis nicht mehrrechtfertigen können und die zur Abwanderung vonverschiedenen Industrien führen.

Bei der unbegrenzten Förderung von Wind- undSonnenenergie müssen wir uns ebenfalls fragen, obdas dem Industriestandort Deutschland entspricht.Wir werden nach der Erprobungsphase der CO2-Zertifikate fragen müssen, ob dabei Wachstums -restriktionen entstehen. Österreich hat z. B. immerWachstumsmargen in die CO2-Zertifikate mit einge-rechnet, während Deutschland da sehr restriktiv vor-gegangen ist. Wir dürfen uns durch solche Maßnah-men im europäischen Wettbewerb nicht Nachteileschaffen, für die uns nachher keiner bedauern wird,weil wir sie uns selbst geschaffen haben. Wir brau-chen eine wettbewerbsfähige Energiepolitik, diezukunftsgewandt ist und uns nicht in einseitigeAbhängigkeiten bringt. Wir brauchen im Übrigenauch eine sehr viel breiter angelegte Energiefor-schung. Auch dort sind wir auf dem besten Wege, unsvon internationalen Entwicklungen abzukoppeln.

Grüne GentechnologieIch kann zum zweiten Gebiet übergehen, zur grü-

nen Gentechnologie: Wenn wir die Möglichkeit

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bekommen, Politik in diesem Land zu gestalten, dannwerden wir die einseitige Risikoabladung beim Nut-zer der grünen Gentechnologie verändern. Denn diesist ein Wachstumsbereich, der weit über die Fragehinausgeht, ob man Babynahrung nun mit gentech-nisch veränderten Lebensmitteln macht oder nicht.Darüber soll jeder Verbraucher selbst entscheiden.

Aber die grüne Gentechnologie ist unmittelbarmit der weißen Gentechnologie, mit der gesamtenEnzymforschung verbunden. Wenn wir uns auf demGebiet der nachwachsenden Rohstoffe nicht zu -trauen, dass wir hier ganz gezielte Eigenschaftsverän-derungen machen, werden wir in der Enzym for -schung zurückfallen. Das hat dann tiefste Auswirkun-gen bis hinein in die chemische Industrie.

REACH – zusätzliche Lasten

Ich kann sofort bei der chemischen Industrieweitermachen. Da richte ich meinen Blick nachEuropa. Die viel gelobte Richtlinie REACH hat4.000 Änderungsanträge im Europäischen Parlamenterfahren. Diese Richtlinie hat über tausend Seitenund ist aus meiner Sicht der sichere Weg, Europa unddamit natürlich die Chemiestandorte, also auch inganz besonderer Weise Deutschland, in eine Si tu a -tion hineinzubringen, in der wir mit SicherheitMarktanteile im Weltwettbewerb verlieren werden.

Wir konkurrieren mit Importen aus außereuro -päischen Ländern, die nach den WTO-Regeln längstnicht die Anforderungen an die Produkte stellenmüssen, die wir uns in Europa mit Reach selber auf-erlegen. Eine KPMG-Studie zeigt zwar, dass derMehraufwand geringer ist als erwartet, nur 20 Pro-zent Mehraufwand und nicht 40 Prozent. Wenn ichmir aber die Rendite von kleinen und mittelstän -dischen Chemieunternehmen anschaue, so liegt dieweder bei 20 noch bei 40 Prozent, sondern eher zwi-schen drei und fünf Prozent. Es ist das sichere Aus fürviele kleine Chemikalienhersteller, wenn wir ihnensolche zusätzliche Lasten aufbürden.

Nun hatten der Bundeskanzler, Tony Blair undJacques Chirac zusammen die gute Idee, eine Initia-tive zu ergreifen, die Chemikalienrichtlinie nicht nurim Umweltausschuss, sondern auch im Wettbewerbs-ausschuss beraten zu lassen, um sie auch industriepo-litisch zu bewerten. Sie liegt jetzt beim Wettbewerbs-rat und wer kommt für Deutschland? Trittin! Weildie nationale Kabinettsordnung vorsieht, dass immerderjenige in den Rat geht, dessen Thema dort behan-delt wird, und der Bundeskanzler seine Kompetenznicht nutzt, um genau das in diesem Fall zu ändern.Dann brauchen wir solche Initiativen nicht. Dannwerden im Wettbewerbsrat die gleichen Anträgegestellt wie im Umweltministerrat. Damit ist dasGanze erledigt.

Wir wissen, dass wir in einem starken Wettbewerbstehen, in der pharmazeutischen Industrie und in vie-len anderen Bereichen. Aber unter dem Strich ist dieZahl der Beschäftigungsfelder, die Zahl der Bereiche,in denen wir weltführend sind, nicht mehr geworden,sondern weniger und sie reicht für 80 MillionenMenschen nicht aus. Deshalb müssen wir an dieserStelle wieder besser werden.

Halten, was zu halten istDas psychologisch Dramatische an dieser Situa-

tion ist, dass viele Menschen befürchten, dass dort,wo sie arbeiten, pro Stunde mehr hergestellt werdenkönnte durch Rationalisierung und höhere Effizienz.Sie ziehen für sich die Schlussfolgerung, dass dieSumme der Arbeit in Deutschland immer wenigerwird. Die Zahl der Menschen, die die Erfahrungmachen, dass es Arbeitsgebiete gibt, die wir gesternund vorgestern noch gar nicht kannten, dass völligneue Beschäftigungsfelder entstehen können, reichtnicht aus für Optimismus in die Zukunft und für dieÜberzeugung, dass die Arbeit nicht weniger wird.

Ich habe kürzlich SAP besucht. Was ist aus derTatsache geworden, dass der erste Computer inDeutschland erfunden wurde? Wenn wir uns heutean gucken, wie viel Prozent der Wertschöpfung im

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Software-, im Hardwarebereich und im Internet -bereich in Deutschland stattfindet, dann ist das einesIndustrielandes wie Deutschland nicht würdig undso haben wir den Schritt in die Wissensgesellschaftnicht geschafft.

Es ist, wenn man einmal den Anschluss verlorenhat, unendlich schwer, im globalen Wettbewerb wie-der mitspielen zu können. Deshalb heißt die Devise:Halten, was zu halten ist. Es heißt vor allen Dingenauch, verlässliche Rahmenbedingungen für Investo-ren von außen zu schaffen, denn wir werden voninnen heraus nicht alle zusätzlichen Investitionentätigen können. Das heißt, es muss auch das Bewusst-sein dafür geschärft werden, Investoren, die zu unskommen, willkommen zu heißen, weil sie zum Teilauch völlig neue Wertschöpfungsmöglichkeiten nachDeutschland bringen. Ansonsten werden wir unsereWachstumsmöglichkeiten niemals voll ausschöpfen.

Kein Draufsatteln mehr bei EU-RichtlinienIch will das Thema Bürokratiehindernisse nur

streifen. Für mich ist klar: EU-Richtlinien werdenmit uns nur noch 1:1 umgesetzt, kein Draufsattelnmehr, weil alles Draufsatteln uns Wettbewerbsnach-teile verschafft. Man kann das wunderbar an derLegehennenverordnung sehen. Da werden inzwi-

schen 60 Millionen Eier im Jahr außerhalb Deutsch-lands gekauft und in Deutschland gegessen. Es hatzum Schluss noch nicht mal die deutsche Henneetwas davon, weil sie in Deutschland überhaupt nichtmehr gehalten wird, weil sie hier nicht mehr brütenkann, weil ihre Eier teurer sind und vom Kundennicht gekauft werden. Das nützt niemandem etwas:Weder dem deutschen Arbeitsplatz noch dem deut-schen Huhn.

Wir müssen uns überlegen, wie wir insbesonderekleine Unternehmen von Bürokratie entlasten. Dasist sicherlich auch eine Gemeinschaftsaufgabe vonBund und Ländern. Gerade bei den kleinen Unter-nehmen werden die Renditen durch die Bürokratie-aufwendungen nahezu aufgefressen oder, andersherum, die Eigenkapitalbasis der kleinen Unterneh-men könnte wesentlich besser aussehen, wenn wir dieBürokratieaufwendungen runterfahren würden.

Gegen große Koalition – Für grundlegenden Wechsel

An die Adresse derjenigen, die sagen: „Vielleichtwäre eine große Koalition ja auch nicht schlecht“:Schauen Sie sich die Summe der sozialdemokra -tischen Abgeordneten an. Es reicht nicht, einmal mitHerrn Clement Abendbrot zu essen, weil die sozial-

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demokratische Fraktion im Allgemeinen das Gegen-teil von dem macht, was Herr Clement für richtighält. Es geht bei allem, was in der Politik umgesetztwerden muss, nicht nur darum, dass der zuständigeMinister eine gute Idee hat, sondern man muss aucheine parlamentarische Mehrheit finden. Deshalbbrauchen wir einen grundlegenden Politikwechsel inDeutschland. Alles andere hält uns auf und bringtuns wieder nur Halbheiten.

Weil wir nicht in allen Bereichen von vornhereinschon Weltspitze sein können, ist es wichtig, dass wirunser Arbeitsrecht an die veränderten globalenBedingungen anpassen. Wir wollen, dass die Betriebedie Möglichkeit erhalten, während der Dauer desTarifvertrages in spezifischen Fragen davon abzuwei-chen, wenn die Mehrheit der Belegschaft und dieBetriebsleitung das für richtig halten. Das sind die sogenannten betrieblichen Bündnisse.

Ich halte sie für die adäquate Antwort auf die He -rausforderung der Globalisierung. Als Unternehmermuss ich mich nämlich schnell entscheiden. Ich kannnicht wochenlang warten, ob die Gewerkschaftszen-trale mir nun das o.k. gibt oder ob sie es mir nichtgibt. Alles andere führt dazu, dass zunehmendArbeitsplätze in andere Länder abwandern. Viele

Menschen sind doch inzwischen bereit, um desErhalts ihres Arbeitsplatzes willen, gerade auch beider Arbeitszeit Kompromisse einzugehen. Ich finde,man muss an das Selbstbewusstsein der Menschenglauben. Die Soziale Marktwirtschaft wäre inDeutschland niemals zustande gekommen, wennErhard der Meinung gewesen wäre, man müsse denLeuten alles vorschreiben, sondern sein Konzept warein Vertrauensbeweis an den einzelnen Menschen.Ein Stück müssen wir genau da wieder hinkommen.

Deshalb ist die Frage nach der Zumutbarkeit auchimmer eine sehr differenziert zu beantwortendeFrage. Ist es eine Zumutung, seinen Arbeitsplatz zuverlieren? Ich finde, es ist die schwierigste sozialeZumutung, die mir widerfahren kann. Gemessen ander Frage, ob ich stattdessen vielleicht eine oder zweiStunden in der Woche mehr arbeite, ist es doch voll-kommen klar, dass die meisten Menschen sich dannfür die Variante, etwas länger zu arbeiten, entschei-den.

Veränderungen sind nichtunbedingt Zumutungen

Auch wenn wir über den Kündigungsschutzreden, bin ich weit davon entfernt, hier Veränderun-gen gleich als Zumutung zu empfinden. Wir haben

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heute folgende Situation: In vielen kleinen und mitt-leren Betrieben werden Überstunden gemacht.Gleichzeitig wissen wir, dass fünf Millionen Men-schen auf einen Arbeitsplatz warten. Viele sagen, ichtue mir das nicht an, in einer konjunkturell unsiche-ren Zeit Neueinstellungen vorzunehmen. Dann lasseich lieber die Leute, die ich habe, Überstundenmachen. Ehe ich mich nachher bei einer notwen -digen Entlassung vorm Arbeitsgericht wiederfinde,lasse ich das lieber sein. Jetzt haben wir gesagt: Jeder,der einen Arbeitsplatz hat, soll diesen Arbeitsplatzbehalten, mit dem Kündigungsschutz, der ihmgewährt worden ist. Aber für diejenigen, die neu inArbeit kommen, soll die Option bestehen, dass beiEinstellung vereinbart wird, welche Höhe von Abfin-dung er bekommt, falls er entlassen werden muss.

Für wen ist das eine Zumutung? Für den Arbeit-geber ist es keine, weil er das Arbeitsgericht nichtmehr im Nacken hat. Für den, der gar nicht so gerneÜberstunden macht, ist es auch keine, weil er nichtmehr so viele Überstunden machen muss. Und fürden, der in einen Job kommt, ist es nun schon garkeine, weil er endlich wieder eine Chance hat, Arbeitzu finden. Ich finde, dass wir diese Dinge so diskutie-ren müssen, dass wir in ihnen auch einmal die Chan-cen sehen. In Deutschland wird an vielen Stellen dieChancendebatte immer unterdrückt, indem man erstmal langwierig über die Risiken einer möglichen Ver-änderung spricht.

Dieses Denken muss sich ändern. Das brauchteinen Mentalitätswandel. Wir sollten die EU-Arbeitszeitrichtlinie umsetzen. Ich begegne bei so vie-len Betriebsbesuchen der Tatsache, dass die Unflexi-bilität des deutschen Arbeitsrechts, nämlich dass manpro Tag nicht länger als zehn Stunden arbeiten darf,dazu führt, dass zum Teil sogar unentgeltlich längergearbeitet wird. In den unteren Lohnbereichen habenwir in Deutschland das Problem, dass wir nicht nurdie Löhne haben, sondern natürlich auch die Lohn-zusatzkosten. Das heißt, hier besteht die Notwendig-keit – die haben wir zwischen CDU und CSU auch

ausgiebig diskutiert –, eine Entkoppelung des Fak-tors Arbeit von den sozialen Sicherungssystemen zuerreichen.

Lohn- und Sozialkosten entkoppelnIch sehe mit großer Sorge, dass die im Grundsatz

richtigen Minijobs zu einem Ausweichfeld zu werdendrohen, weil sie bei den Minijobs nur 20 ProzentLohnzusatzkosten zahlen gegenüber den klassischensozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhält-nissen. Wenn sich das in den Bereichen festmacht,die heute noch alle mit sozialversicherungspflichtigenBeschäftigungsverhältnissen ausgestattet sind, hatdiese natürlich einen dramatischen Einnahme-schwund der sozialen Sicherungssysteme zur Folge,den wir überhaupt nicht verkraften können. Deshalbist für mich die geregelte, die geordnete Entkoppe-lung der Lohnkosten von den Sozialkosten einer derganz zentralen Punkte. Deshalb haben wir auch dieDiskussion über die Gesundheitsprämie geführt.

Mit der Gesundheitsprämiemehr Wettbewerb

Die Gesundheitsprämie bietet die Chance, mehrWettbewerb im System zu haben. Wir können denMenschen im Übrigen sagen, niemand zahlt mehr alssieben Prozent seines Einkommens. Ich weiß, dass dieWirtschaft den Kompromiss mit der CSU sehr kriti-siert hat. Ich bitte Sie aber im Kopf zu behalten: Wirhaben den Arbeitgeberbeitrag auf 6,5 Prozent festge-legt und dauerhaft eingefroren. Ob Sie so ein Ange-bot noch einmal bekommen? Das würde ich mirüberlegen, bevor Sie unseren Kompromiss kritisieren.Das ist ein ganz festes Versprechen, das wir auchumsetzen werden.

Wir werden dann die Prämie haben mit derZusage, niemand leistet mehr als sieben Prozent sei-nes Einkommens. Die Gesundheit der Kinder wirdnicht mehr nur eine Aufgabe der Beitragszahler, son-dern eine Aufgabe des Steuerzahlers sein. Denn es istnicht sozial gerecht, dass jemand wie ich zur Gesund-heit der gesetzlich krankenversicherten Kinder über-

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haupt keinen Beitrag leistet, dafür die gesamteGesundheit aller Kinder in Deutschland nur vondenen finanziert wird, die bis 3.500 € verdienen. Wermehr verdient, zahlt nur bis 3.500 € ein. Das ist nichtgerecht. Aus meiner Sicht ist es richtig, diese Entkop-pelung einzuführen. Das macht etwa die Hälfte derUmverteilungssummen im deutschen Gesundheits-system aus und ist ein erheblicher Beitrag zur Ent-koppelung und vor allem zum Abbau von Schwarz-arbeit. Der Facharbeiter wird dann nicht mehrgezwungen, für jede Überstunde wieder Beiträge zubezahlen.

Sie werden die Wahl haben bei dieser Bundestags-wahl zwischen einer Bürgerversicherung und unsererGesundheitsprämie. Das erinnert an ganz alteDiskussionen mit Ludwig Erhard, als es schon malEnde der 50er, Anfang der 60er Jahre die Idee derZwangskollektivierung der sozialen Sicherungs -systeme gab. Ludwig Erhard vertrat aus meiner Sichtrichtigerweise, dass es auf gar keinen Fall sein darf,dass alle in die gesetzlichen Systeme kommen, son-dern dass die, die nun erwiesenermaßen für die Risi-ken ihres Lebens alleine einstehen können, diesesauch tun sollten. Darin besteht doch auch ein Leis -tungsanreiz, sich im Wettbewerb der Versicherungs-möglichkeiten zu bewähren.

Ein zentraler Punkt SteuerrechtEin zentraler Punkt in der Diskussion wird das

Steuerrecht bleiben. Beim Steuerrecht wird in dennächsten Jahren angesichts der Finanzlage der öffent-lichen Kassen der Gedanke der Vereinfachung Vor-rang vor dem Gedanken der Steuersenkung haben.Davon unabhängig muss man die Besteuerung vonUnternehmen betrachten, wobei Sie alle wissen, dasswir hier in Deutschland das prinzipielle Problem zwi-schen Personengesellschaften und Körperschaftenhaben. Das müssen wir lösen. Wir werden die Ein-kommensteuersätze nicht so weit senken können,dass wir mit den Körperschaftssteuern internationalwettbewerbsfähig sind. Dafür müssen wir eineLösung finden. Aber im Einkommenssteuerbereich

ist das eigentliche Problem die extreme Kompliziert-heit des Steuersystems.

Die radikale Vereinfachung darf dann aber nichtso diskutiert werden, dass bei jeder Ausnahme – obdas nun die Filmförderung oder die Windenergieför-derung oder der Sonntagszuschlag ist oder die Pend-lerpauschale – gesagt wird: Ja, einfach soll es sein,aber bitte nicht an dieser Stelle. Das wird schlicht undergreifend nicht gehen.

Ich will auch darauf hinweisen, dass wir sehr großeFreibeträge einführen, 8.000 € pro Person in einerFamilie. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Mir istbesonders wichtig, dass diejenigen, die Kinder erzie-hen, im Steuersystem nicht schlechter gestellt wer-den, sondern dass sie sozusagen einen Leistungsbo-nus bekommen. Ein Land wie Deutschland kannsich aus meiner Sicht nun wirklich nicht damit abfin-den, dass wir bei der Bewertung von Steuersystemenin der Welt nur auf Platz 120 sind. Hier sollten wireinen höheren Anspruch an uns selber haben. Es istsicher nicht so einfach wie in Mittel- und Osteuropa,wo man ganz neue Steuersysteme installieren kann.Aber die Erfahrung von Ländern wie der Slowakeioder Estland zeigt, dass nicht weniger Steuern einge-sammelt werden, sondern im Gegenteil, diese Länderverzeichnen zum Teil steigende Steuereinnahmen.Das heißt: Das Gefühl für Gerechtigkeit in unsererGesellschaft könnte sich dramatisch verbessern, wennman mit den vielen Schlupflöchern und Ausnahmenwirklich Schluss machen würde.

Entscheidungen sind zu langwierigEin Manko in der deutschen Politik ist, dass

unsere Entscheidungen langwierig sind. Die Väterund Mütter des Grundgesetzes hatten die Hoffnung,dass 30 Prozent der Gesetze zustimmungspflichtig,70 Prozent nicht zustimmungspflichtig sind. Wirhaben heute genau eine umgekehrte Relation: 70Prozent zustimmungspflichtig, 30 Prozent nicht.Deshalb bleibt aus meiner Sicht die Föderalismusre-form ganz oben auf der Agenda. Es ist ausgesprochen

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bedauerlich, dass die Sozialdemokraten jetzt nichtmehr die Kraft hatten, die Dinge zu Ende zu führen.Wir wären dazu bereit gewesen. Wir hatten sehr wohlMinisterpräsidenten, die befürchtet haben, auch Ein-flussmöglichkeiten zu verlieren. Aber wir habengesagt: Um der Schnelligkeit von Entscheidungenwillen und um der Tatsache willen, dass man wiedersagen kann, wer ist für was verantwortlich, ist es wün-schenswert, dass wir diese Föderalismusreformhaben. Wir werden dafür auch weiter kämpfen.

Ausdruck des Unbehagens in EuropaIch bin damit fast automatisch beim Europäischen

Verfassungsvertrag. Sie haben alle gehört, es wird jetztein Jahr nicht mehr darüber gesprochen. Mal sehen,ob es dann besser wird. Aber, es ist ja auch bei denEntscheidungen in Frankreich und Holland gar nichtim Wesentlichen nur über diesen Verfassungsvertragabgestimmt worden, die Menschen haben ihr Unbe-hagen über das Europa, das sie vorfinden und erle-ben, ausgedrückt. Wenn ich höre, dass in der Kom-mission noch 700 Richtlinien in der Pipeline sindund Herr Verheugen jetzt stolz sagt, wahrscheinlichmöchte er doch nur 254, dann befriedigt mich dasalles nicht. Es gibt keinen politischen Mechanismus,mit dem in Europa politisch relevant entschiedenwird, „was brauchen wir jetzt eigentlich und was

nicht“. Wenn die Europäer es mit dem Lissabon-Ziel,also dem Ziel, Wachstum zu kreieren und einer derdynamischsten Kontinente der Welt zu werden, ernstmeinen, wenn wir dieses Ziel zur Priorität erheben,muss sich jede Richtlinie, die in Europa verabschie-det wird, an der Frage messen lassen: Dient das die-sem Ziel? Oder dient das diesem Ziel nicht?

Politischer Steuerungsprozess wieder notwendig

Ich bin mir nicht sicher, ob wir 254 neue Richtli-nien brauchen, wir müssen besser ein paar Richt -linien richtig gestalten. Es hat auch keinen Sinn,bestimmte Richtlinien zu Hassobjekten zu erklärenund andere ganz locker durchlaufen zu lassen. Ich binmir nun wirklich ganz sicher, dass die Regelung derSonnenschirmdichte in deutschen Biergärten nichtnotwendigerweise durch die Europäische Uniongeregelt werden muss. Man hat das gemacht, weilbestimmte Kellner sich beklagt haben, dass bei zu vielSonnenschein die Köpfe rot werden. Deshalb brauchtman einen bestimmten Besatz an Sonnenschirmen.Das mag ja in Portugal oder in Spanien ganz sinnvollsein. Aber dass wir es von Irland bis Norddeutschlandbrauchen und damit schon die Gründung von Bier-gärten verhindern, weil das Eigenkapital für den Kaufvon so viel Sonnenschirmen gar nicht ausreicht, das

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kann ernsthafterweise nicht die Intention der Euro-päischen Union sein.

Deshalb ist hier ein politischer Steuerungsprozesswieder notwendig. Es kann doch nicht sein, dass ausden Tiefen von Generaldirektionen unentwegt Richt-linien hervorsprießen, die man durch nichts auf derWelt wieder wegkriegt, weil das Europäische Parla-ment noch nicht mal das Diskontinuitätsprinzipkennt, was besagt, dass ein noch nicht verabschiede-ter Entwurf das Ende einer Legislaturperiode nichtüberlebt. In Europa überlebt die Richtlinie schon perGesetz. Das ist nicht richtig und auch ein Unter-schied zu den nationalen Parlamenten.

Der Verfassungsvertrag war an vielen Stellen eineAntwort auf Beschwernisse mit der EuropäischenUnion. Er hat Entscheidungsmechanismen einfachergemacht und nationale Parlamente in die Lage ver-setzt, Einspruch zu erheben, wenn man meint,Europa kümmert sich um etwas, wofür Europa garnicht zuständig ist. Dafür muss der Blick wieder freiwerden. Ich denke, dafür brauchen wir einige wirk-lich klare Signale, die zeigen, jawohl, die Staats- undRegierungschefs, die politisch Verantwortlichen die-ser Europäischen Union haben verstanden, was dieMenschen beschwert.

Integrationskraft nicht überfordernDer zweite Punkt ist die Erweiterung der Euro -

päischen Union. Ich kann sehr gut verstehen, dassBulgarien und Rumänien eine europäische Perspek-tive haben wollen. Ich finde es auch richtig, dass sie2007 nur beitreten können, wenn sie die Kopen -hagener Kriterien erfüllen. Aber dass man in derEuropäischen Union dann einstimmig beschließt,wenn sie diese 2007 nicht erfüllen, kommen sie 2008auf jeden Fall rein, ohne die Erfüllung der die Kopen-hagener Kriterien noch mal zu überprüfen, das kannich nicht verstehen und das kann ich auch keinemMenschen in Deutschland erklären. Das ist das, waszurzeit in Europa schief läuft.

Auch in Wirtschaftskreisen wird die Frage derVollmitgliedschaft der Türkei kontrovers diskutiert.Diese Frage ist viele Jahrzehnte hin- und hergewen-det worden. Ich halte in der augenblicklichen Situa-tion und hinsichtlich der Frage, wie die EuropäischeUnion auf absehbare Zeit ihre Integrationskraftbehalten kann, ohne überfordert zu werden, eineVollmitgliedschaft der Türkei für nicht realistisch. Ichhalte es politisch auch deshalb für außerordentlichfragwürdig, der Türkei eine Perspektive zu eröffnen,weil ich nach heutigem Stand eigentlich sagen müss -te: Selbst wenn Verhandlungen aufgenommen wer-

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den, kann man überhaupt nicht absehen, ob eine sol-che Entscheidung jemals die Mehrheit der Bevölke-rung bekommen würde. Dann ist der politischeSchaden nämlich da. Wenn Sie zehn Jahre verhandelthaben, mit der Türkei alles ausgemacht haben,anschließend zu erleben, dass Frankreich oder irgend-ein anderes Land ein klares Nein dazu sagt.

Deshalb gebietet es die politische Verantwortung,zu sagen, was wir glauben leisten zu können undnicht irgendwelche Erwartungen zu erwecken, diehinterher zu ganz massiven Friktionen z. B. mit derislamischen Welt führen können. Mein Gebot derStunde ist an dieser Stelle: Ehrlichkeit zum rechtenZeitpunkt und nicht Visionen, die niemals erfülltwerden können und die unrealistisch sind.

Damit bin ich abschließend auch bei dem, wassich – wenn wir den Auftrag bekommen sollten –durch unsere Regierungsarbeit ziehen muss wie einroter Faden. Das sind Prinzipien. Es muss sich nichtnur in der Sache in Deutschland etwas ändern, son-dern es muss sich vor allem auch an dem Stil, wiePolitik agiert und arbeitet, wieder etwas ändern.

Verlässlichkeit ist das AllerwichtigsteDie Menschen erwarten, dass das, was gemacht

wird, handwerklich vernünftig ist. Sie erwarten, dassnicht alles und jedes nach einem halben oder dreivier-tel Jahr wieder nachgebessert werden muss. Die Men-schen erwarten, dass sie sich verlassen können. FürInvestoren ist ja oft die Verlässlichkeit das Allerwich-tigste. Wenn sie jedes halbe Jahr wieder eine neueDiskussion über die Veränderung der Mindestbesteu-erung bekommen, obwohl man die Mindestbe -steuerung an sich schon für Unsinn hält, dann ist dasfür Investoren, die das Ganze vom Ausland her be -trachten, natürlich keine adäquate Möglichkeit. Dannwerden selbst Familienunternehmen sich noch fragen,ob sie denn in diesem Land weiter investieren wollenoder nicht. Die CDU war immer eine Partei, die keineAngst hatte, in bestimmten Phasen Dinge auch zulösen, Widerstände zu durchbrechen und damit einen

Beitrag dazu zu leisten, dass diese Dinge dann zurStaatsraison oder zum Allgemeingut wurden. AlsBundeskanzler Konrad Adenauer zum ersten mal imDeutschen Bundestag über das Prinzip der SozialenMarktwirtschaft sprach, vermerkt der stenographischeBericht im Deutschen Bundestag: „Lachen links“.

Soziale Marktwirtschaft oft nicht richtig verstanden

Wir können uns ja freuen, dass heute links nichtmehr gelacht wird, aber wir müssen uns Sorgenmachen, dass die Soziale Marktwirtschaft bis heutein ihrem Wesen offensichtlich immer noch nichtrichtig verstanden wurde.

Es ist notwendig, dass wir uns den Realitäten stel-len, dass wir Wege zur Veränderung finden und dasswir diese Wege auch in einen Gesamtzusammenhangstellen. Die Dinge hängen miteinander zusammen,fast ein bisschen wie bei diesem so genannten Zau-berwürfel, den es mal in den 70er Jahren gab und denich gerne aus dem Westpaket entnommen habe, umihn dann meinem Bruder zu geben, damit er dasordentlich einstellen kann. Die Dinge hängen zusam-men. Wir können nicht mit einer eindimensionalenÄnderung erwarten, dass sich alles ändert, sondernwir müssen in den verschiedenen Richtungen dieZusammenhänge begreifen und das machen, was ichoft sage: Politik aus einem Guss.

Politik aus einem GussDieses auch den Menschen zu erläutern und nicht

die politischen Einzelmaßnahmen und Punkte im merwieder in Belastung und Entlastung und Zumutungund noch mehr Zumutung zu dividieren, das halte ichfür wichtig. Die Menschen haben das begründeteRecht, von der Politik einen Weg zu sehen, mit demDeutschland es schaffen kann, mit dem Licht amEnde des Tunnels zu sehen ist. Wir wollen diesen Wegaufzeigen. Und wir werden darum werben, dass nichtPopulismus regiert, sondern Realismus. �

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Europa steckt nach den abschlägigenVoten bei den Referenden in Frank-reich und in den Niederlanden in

einer Krise. Das kann man nicht bestrei-ten. Es ist eine Krise mit einem ganz eige-nen Charakter. Es ist keine Krise zwischenMitgliedsländern oder führenden Staats-männern. Sondern es ist offenkundig eineKrise des Vertrauens, eine Krise derZustimmung und eine Krise wegen derBereitschaft der Bürgerinnen und BürgerEuropas, den Weg der europäischen Inte-gration weiter so wie bisher mitzugehen.

Es ist wichtig und richtig, dass inunseren Gesellschaften über Europadiskutiert und gestritten wird. Es ist mirviel lieber, es wird über Europa gestritten,als dass mit Ahnungslosigkeit oder Teil-nahmslosigkeit einfach das hingenommenwird, was geschieht. Aber auf eines müs-sen wir gemeinsam achten: Die Funda-

mente dessen, was wir in fünf Jahrzehnteneuropäischer Integration geschaffenhaben, dürfen nicht erschüttert werden.Die europäische Einigung ist die histo-risch notwendige und auch einzig mögli-che Antwort auf die unglücklicheGeschichte Europas im 20. und 19. Jahr-hundert. Es ist das Beste, was Europa inseiner Geschichte politisch eingefallen ist.Es ist die Grundlage für Frieden, Wohl-stand und soziale Sicherheit in Europa.

Man kann, man muss über vieles strei-ten. Es geht darum, dass Europa nie wie-der zurückfallen darf in die Zeiten dernationalen Egoismen und Rücksichtslo-sigkeiten auf Kosten der anderen. Es istrichtig, dass die europäische Einigunggerade in den vergangenen 15 Jahren eineungeheuer starke Dynamik entfaltet hat.Ich kann verstehen, dass viele Menschenin Frankreich, in den Niederlanden und

auch in Deutschland sagen, das ging unszu schnell. Ich habe darauf eine Antwort:Wir können uns als verantwortliche Poli-tiker nicht die Aufgaben aussuchen, diedie Geschichte uns stellt. So wie Deutsch-land sich 1989 nicht aussuchen konnte,wie es mit dem Zusammenbruch desSowjetimperiums und dem Fall der Mauerumgehen wollte. Hätte BundeskanzlerHelmut Kohl 1989 sagen sollen: Das las-sen wir erstmal liegen? Das ist im Augen-blick nicht so wichtig? Das geht vielleichtzu schnell für die Menschen? Natürlichnicht. Gleiches gilt für Europa. Hätte maneinfach den Binnenmarkt und die Wäh-rungsunion lassen sollen? Hätte mansagen sollen, das geht vielleicht zu schnell?Es ist eine historische Notwendigkeit,Europa auf den schärferen Wettbewerbdurch die Globalisierung vorzubereiten.

Ich erinnere aber auch an die Wechsel-kursschwierigkeiten der achtziger Jahre,an die Schwierigkeiten, die alle europäi-schen Volkswirtschaften damals hatten.Wenn ich heute sehe, dass die Gemein-schaftswährung in Teilen der Öffentlich-keit in Frage gestellt wird, dann frage ichmich, welches kurze historische Gedächt-nis haben die Leute, die die Vorteile nichtsehen wollen? Die Dynamik des Eini -gungsprozesses ist nicht eine, die künst-lich geschaffen wurde, sondern sie ist eine,die uns von historischen Gegebenheitenauferlegt wurde. Sie musste gestaltet wer-den. Der Streit über Europa, in dem wiruns im Moment befinden, kann ein heil-samer Streit sein. Das Projekt einer Euro-päischen Verfassung sollte nicht aufgege-ben werden. Ganz einfach deshalb nicht,weil es, so paradox das klingen mag, ja dieAntwort gibt auf die Unzufriedenheit,Unsicherheit und Ängste vieler Bürgerin-nen und Bürger Europas. Eine Euro -päische Verfassung schafft die Voraus -setzungen für mehr direkte Demokratie,de mokratische und transparente Ent-scheidungsstrukturen und eine klare Ab -grenzung von Aufgaben zwischen Mit-gliedsländern und EU-Institutionen. Unddie Verfassung schafft auch die Instru-mente, die Europa braucht, um auf derWeltbühne als starker Akteur aufzutreten,der seine Interessen vertritt. Darum solltedas Projekt einer Europäischen Verfassungnicht aufgegeben werden.

Die von den Staats- und Regierungs-chefs beschlossene Denkpause im Rah-

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Europa im AufbruchNeue Politik fürWachstumund BeschäftigungGünter Verheugen, Vizepräsident der Europäischen Kommission,zuständig für Industrie und Unternehmen

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men des Ratifizierungsprozesses kann nurals eine ,Pause zum Denken’ verstandenwerden. Sie sollte auch wirklich dazugenutzt werden, um in einen Dialog miteiner breiten europäischen Öffentlichkeitzu treten, um darüber zu reden, wie esweitergehen soll. Ich betone: Mit einerbreiten europäischen Öffentlichkeit, nichtnur mit den Eliten. Die Probleme, die wirhaben, hängen auch damit zusammen,dass es so schwer ist zu erklären, wohin dieReise gehen soll. Das ist vor allem deshalbso schwer zu erklären, weil es darüberkeine Einigkeit unter den 25 Mitglieds-staaten der Europäischen Union gibt. Wirmüssen jetzt die Frage beantworten, wasEuropa tun soll und was nicht. Ich plä-diere entschieden dafür, dass wir uns sehrviel mehr Zurückhaltung auferlegen beider Inanspruchnahme von Kompetenzenund Regelungsmöglichkeiten. Und dasswir sehr viel stärker als bisher auf denGrundsatz der Subsidiarität achten. Esmuss zu einer ganz entscheidenden Fragewerden, ob wir bestimmte Dinge nichtbesser national oder regional regeln kön-nen. Wir dürfen Europa nicht auswu-chern lassen in alle nur möglichen Lebens-bereiche. Europa soll da tätig werden, woein europäisches Land die Bedürfnisse sei-ner Bevölkerung nicht mehr erfüllenkann, weil nationale Gestaltungskraftdazu nicht mehr ausreicht.

Es muss auch die Frage beantwortetwerden, wie weit die Vertiefung der euro-päischen Integration noch gehen kann.Können wir mit schnellen Schritten inRichtung einer politischen Union gehenoder muss dieser Prozess verlangsamt wer-den? Ich möchte es sehr deutlich sagen: Esist eine Illusion zu glauben, dass wir invorhersehbarer Zukunft einen europäi-schen Bundesstaat erreichen können. Ichbin noch nicht einmal sicher, ob das wün-schenswert wäre. Ich bin nicht davonüberzeugt, dass wir gut beraten sind, wennwir den Menschen in Europa ihre natio-nale Identität nehmen würden, die sichnormalerweise festmacht an der Kultur,der Tradition, der Sprache und derGeschichte. Ich denke, dass der Versuch,den wir in Europa gemacht haben, eineneue Art der Verschränkung zwischensouveränen Nationalstaaten herbeizufüh-ren, der richtige Weg ist. Damit wird derKompromiss zwischen Staaten zumWesen der europäischen Politik. Darumsollte man aufhören, über einen europäi-

schen Superstaat oder ähnliches zu reden.Ich möchte daran erinnern, dass die ver-schiedenen Erweiterungsrunden, die wirseit 1957 erlebt haben, aus unterschied-lichen Motiven erfolgt sind. Sie sind teil-weise aus wirtschaftlichen Gründenerfolgt. Sie sind teilweise aus strategischenund außenpolitischen Gründen erfolgt.Und dann gab es die große Erweiterungs-runde, die im vergangenen Jahr vollzogenwurde, und die jetzt ein bisschen, wie ichüberrascht zur Kenntnis nehme, insGerede gekommen ist.

Ich möchte daran erinnern, dass diestrategische Entscheidung, die Reform-staaten Mittel- und Osteuropas dauerhaftdadurch zu stabilisieren, dass man ihnenden Weg in die Europäische Union ebnet,im Jahre 1990 von der BundesrepublikDeutschland als erstem Land eingefordertworden ist. Der damalige BundeskanzlerHelmut Kohl hat als erster die Auffassungvertreten, dass auch diese Länder dasRecht haben, voll an der europäischenIntegration teilzunehmen. Und das wirdie Pflicht haben, ihnen auf diesem Wegzu helfen. Ich erwähne das Jahr 1990 des-halb, weil man jetzt oft hört, die Osterwei-terung sei viel zu schnell gegangen. Ichfinde das nicht. Ich finde nicht, dass 14Jahre zu schnell sind. Ich bin der Auffas-sung, dass wir alle gemeinsam stolz daraufsein können, dass es dank der europäi-schen Integration gelungen ist, die friedli-che Transformation eines ganzen Dutzendfrüherer kommunistischer Länder invitale junge Demokratien, in offeneGesellschaften und in freie Marktwirt-schaften zu verwandeln – ohne, dass eineinziger Schuss abgegeben worden ist. Dassoll uns Europäern erst mal jemand nach-machen.

Bestimmte deutsche Medien, die denEindruck erwecken, Menschen, die öst-lich der Elbe leben, seien Europäer minde-ren Rangs, muss ich schon daran erinnern,dass diese europäische Einigung notwen-dig geworden ist wegen unseres Landes,wegen der Verbrechen, die mit unseremNamen verbunden sind – kein anderesLand in Europa hat so viel Anlass wieDeutschland, sich zur europäischen Eini-gung zu bekennen. Wenn die Erweite -rungsrunde mit den zwölf mittel- und ost-europäischen Ländern abgeschlossen ist,bleiben noch Kroatien und die Türkei. Inbeiden Fällen weiß ich nicht, wie lange die

Prozesse dauern und ob sie zum Erfolgführen werden. Damit ist dann das Maßdes für uns Möglichen erreicht. Das mussdann erst einmal konsolidiert und verar-beitet werden. Wir müssen Erfahrungensammeln, wie das große, kontinentaleEuropa funktioniert.

Die Vollmitgliedschaft in der Euro -päischen Union ist im Übrigen nicht dieeinzige Möglichkeit, die Verbreitung dereuropäischen Werte Freiheit und Demo-kratie zu erreichen. Was wir jetzt brau-chen, ist ein breiter Dialog. Ich bitte alle,die in der Wirtschaft und in der Gesell-schaft Verantwortung tragen, den Mythenentgegenzutreten, was Europa bewirktoder nicht bewirkt. Niemand darf zulas-sen, dass die von allen deutschen Regie-rungen seit Konrad Adenauer betriebenePolitik der offenen Grenzen, des Freihan-dels und der Liberalisierung für die hoheArbeitslosigkeit und die wirtschaftlichenProbleme Deutschlands verantwortlichgemacht werden. Die größte und stärksteExportnation der Welt, die Bundesrepu-blik Deutschland, kann nicht ohne offeneGrenzen und freie Märkte existieren.

Offenheit ist eine Existenzgrundlagefür uns. Niemand darf zulassen, dass beiuns der Eindruck entsteht, dass wir vonBilliglöhnern aus unseren Nachbarlän-dern überrannt werden. Es mag solcheErscheinungen geben, aber diese sind ille-gal und müssen mit aller Kraft bekämpftwerden. In der EU gibt es eine ganz klareRegel. Arbeitnehmer sollen nach denRegeln des Landes behandelt und bezahltwerden, in dem sie arbeiten. Es ist auchnicht im Interesse der osteuropäischenLänder, Billigarbeit zu exportieren. Werdas tut, setzt eine Spirale nach unten inGang. Und am Ende einer solchen Spiralesind alle ärmer. Ferner muss auch immerwieder darauf hingewiesen werden, dassdie mittel- und osteuropäischen Ländereinen enorm großen Markt für dieExportnation Deutschland bieten. Wirdürfen nicht zulassen, dass die europäi-sche Integration zum Schuldigen gestem-pelt wird für die Probleme des Struktur-wandels, die wir in europäischen Ländernhaben. Wir können uns nicht gegen denWandel stemmen. Was wir aber tun kön-nen, ist den Wandel ökonomisch undsozial vernünftig begleiten. �

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Europa liegt mir am Herzen: Als Bür-ger, als Unternehmer und auch alsPräsident des BDI.

Vor mehr als 50 Jahren waren Kohleund Stahl die Wirtschaftszweige, die dieGründungsstaaten der EuropäischenUnion zusammenbrachten. In der Mon-tanunion verpflichteten sich sechs Mit-gliedsstaaten zu enger Zusammenarbeit.Dabei war es kein Zufall, dass dieGeschichte der europäischen Integrationmit Kohle und Stahl begann. Der Kriegspielte eine Rolle, vor allem aber die inter-nationale industrielle Verflechtung zwi-schen Deutschland, Frankreich, Luxem-burg und Belgien. Stahl war die Boom-branche in den Aufbaujahren der Europä-ischen Gemeinschaft. Heute stehen wirvor der Frage, wie sich die Europäische

Union darstellt. Die Staats- und Regie-rungschefs haben aus dem Nein der Fran-zosen und Niederländer zur EU-Verfas-sung die Konsequenz gezogen, den Prozessder Ratifizierung ein Jahr lang auszusetzen.Das gibt den Regierungen genügend Zeit,den Bürgerinnen und Bürgern den Verfas-sungsvertrag zu erläutern und die Vorteileder EU besser zu vermitteln. Für die wach-sende Distanz der Bevölkerung gegenüberEuropa gibt es viele Ursachen. Auf drei willich eingehen: Das Tempo der Erweite-rung, die europäische Rechtsetzung unddie Wirtschaftssituation in Europa.

Die Performance der europäischenWirtschaft war trotz der Lissabon-Strate-gie in den vergangenen Jahren enttäu-schend. Der Konjunkturaufschwung fielschwächer aus als in den USA und Asien.

Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in derEU macht nur 72 Prozent des US-Niveausaus. Auf der weltweiten Rangliste liegtDeutschland nur noch auf dem 17. Platz.Der Produktivitätszuwachs pro Arbeitneh-mer ist geringer als in den USA. Die EUinvestiert nur rund zwei Prozent des Brut-toinlandsprodukts in Forschung und Ent-wicklung. Europa steht vor großenHeraus forderungen. Der internationaleWettbewerb verschärft sich. Europa wirdvon Asien und den USA gewissermaßen indie Zange genommen. Zugleich eröffnetder chinesische Markt ein großes Wachs-tumspotenzial. Europa steht jedoch auchvor dramatischen Veränderungen seinerBevölkerungsstruktur. Heute steht vierErwerbstätigen eine Person im Ruhestandgegenüber. Bis zum Jahr 2050 wird sichdie Zahl der Rentner mindestens verdop-peln. Zwar soll die Lissabon-Strategie aufgenau diese Schwächen Europas reagieren– die Bilanz jedoch ist enttäuschend. Auchdie Neuausrichtung, die im März diesesJahres vorgenommen worden ist, ist mei-nes Erachtens nicht entschlossen genug.

Von der dringend notwendigen Fokus-sierung auf Wachstum, Wettbewerbsfähig-keit und Beschäftigung – wie sie von derEU-Kommission gefordert worden war, istbis heute nur wenig erkennbar. Die Lissa-bon-Strategie muss sich stärker auf dieeigentlichen Ursachen der europäischenWachstumsschwäche konzentrieren. DieRahmenbedingungen für die Unterneh-men müssen jetzt im Vordergrund stehen.Denn nur Unternehmen sind in der Lage,dauerhaft und wirtschaftlich Arbeitsplätzezu schaffen. Die Neuausrichtung der Lis-sabon-Strategie muss sich dabei stärker alsbisher im Legislativprogramm der Europä-ischen Kommission niederschlagen.

Ein zweiter wichtiger Grund für diewachsende Skepsis der Bürger gegenüberEuropa ist die europäische Rechtsetzung.Bürger und Unternehmen fühlen sichdurch intransparente Entscheidungen undeiner Flut von Regulierungen zunehmendfremdbestimmt. Ich weiß zwar sehr wohl,dass ein vernünftiges Maß an Harmonisie-rung notwendig ist, wenn der Binnen-markt funktionieren soll. Der Binnen-markt und die Gemeinschaft haben denBürgern und den Unternehmen in denvergangenen Jahren unschätzbare Wettbe-werbsvorteile und Wachstumsdynamikgebracht. Aber immer wieder versuchen

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Was erwartet die deutsche Wirtschaft vonder EuropäischenUnion?Jürgen R. Thumann, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI)

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sowohl die europäischen Institutionen alsauch die Mitgliedstaaten unter Berufungauf den Binnenmarkt, Maßnahmendurchzusetzen, die zu einer übertriebenenRegulierung führen. Das galt in denzurück liegenden Jahren insbesondere fürden Umwelt- und Verbraucherschutz. AusSicht des Bundesverbandes der DeutschenIndustrie (BDI) muss es gelingen, dasPotenzial des Binnenmarktes noch besserauszuschöpfen, ohne dass gleichzeitig derWettbewerb behindert wird.

Zu den vorrangigen Projekten gehörtdie überfällige Öffnung der Märkte fürDienstleistungen. Wenn wir von Europareden, müssen wir auch über Subsidiaritätsprechen. In den vergangenen Jahren hatsich jedoch der Eindruck verstärkt, dass sichdie Balance in der Rechtsprechung immerstärker zugunsten der europäischen Ebeneverschoben hat. Vor diesem Hintergrund istes geradezu paradox, dass viele Bürger demEU-Verfassungsvertrag skeptisch gegen-überstehen – denn dieser hätte in dieserHinsicht durch die Einbeziehung der natio-nalen Parlamente und durch ein Klagerechtentscheidende Fortschritte gebracht. Viel-leicht gelingt es ja, wenigstens Teile des Ver-fassungsvertrages noch zu realisieren.

Seit Jahren bemüht sich die Europäi-sche Union um eine bessere Rechtsetzung.Dabei muss indes auch beachtet werden,dass alle Regeln, die zu unverhältnismäßi-gen Belastungen für Unternehmen führen,auf den Prüfstand gehören. Zur gleichenZeit muss endlich eine praktikable Geset-zesfolgenabschätzung auf EU-Ebene ge -schaffen werden. Und wenn die Euro -päische Kommission eine Folgenabschät-zung durchführt, muss sie auch die not-wendige Unabhängigkeit der prüfendenDienststellen garantieren.

Ferner muss in der EuropäischenUnion die Frage beantwortet werden, wodie politischen, geographischen und kul-turellen Grenzen Europas liegen. DieseFrage ist noch nicht zu Ende gedacht.Darum ist es auch kein Wunder, dass dasTempo der Erweiterung die Menschenverunsichert. Für die deutsche Industriemöchte ich feststellen, dass die Erweite-rung der Europäischen Union um zehnneue Mitgliedstaaten in Mittel- und Ost-europa ein historischer Schritt war. Schonjetzt ist die Einbindung der neuen EU-Länder in den Binnenmarkt ein wirt-

schaftlicher Erfolg – und ein politischerohnehin. Gerade deutsche Unternehmenhaben von der Erweiterung profitiert.Kein anderes Land hat so profitiert wie dieBundesrepublik und zur gleichen Zeit sozur wirtschaftlichen Dynamik in denneuen EU-Ländern beigetragen. Abergleichzeitig ist auch klar, dass die jüngsteErweiterungsrunde die Integrationskraftder EU noch lange Zeit beanspruchenwird. Deshalb muss jetzt eine Phase derKonsolidierung folgen.

Vor jeder neuen Entscheidung für Bei-tritte muss geprüft werden, ob die politi-sche und institutionelle Balance der Euro-päischen Union gewahrt bleibt. DieErweiterung der EU darf keine Bedrohungwerden. Sie soll eine Chance bleiben!Heinrich von Pierer hat einmal eine Paral-lele gezogen zwischen unternehmerischerTätigkeit und dem politischen Prozess derErweiterung. Die Herausforderung liegenicht nur in der Wahl der richtigen Akqui-sition und des passenden Zeitpunkts, son-dern auch in der Integration. Eine Erfolgs-geschichte entstehe nur, wenn das größereGanze so aufgestellt und gesteuert werde,wie es die neue Dimension verlange. VieleUnternehmer, mich selbst eingeschlossen,haben hier immer wieder Lehrgeld zahlenmüssen. Ähnliches gilt auch für die Euro-päische Union. Die Wirtschaft hat einInteresse daran, dass es nicht zu einer erns -teren Krise kommt mit dauerhaften Fol-gen für die Handlungsfähigkeit der EU imBinnenmarkt und für die EuropäischeGemeinschaftswährung. Denn trotz derKritik und dem offensichtlichen Unbeha-gen in der Bevölkerung gilt, dass uns dieEuropäische Union mit ihren 450 Millio-nen Einwohnern alle Vorteile bringt.

Wir dürfen die europäische Integrationnicht grundsätzlich in Frage stellen – auchdeshalb, weil andere Volkswirtschaften auf-holen und der globale Wettbewerb schärferwird. Die Europäische Union darf auchnicht zum Sündenbock werden für das,was die Regierungen der Mitgliedstaatenversäumt haben. Womit wir auch bei derSituation in der Bundesrepublik wären.Ähnlich wie die Referenden in Frankreichund in den Niederlanden waren auch dieLandtagswahlen Ende Mai in Nordrhein-Westfalen ein deutliches Zeichen. Wirhaben gesehen, dass die Bürger zu Verände-rungen und weiteren Reformen bereit sind– und keine politische Stagnation wollen.

Sicher ist, dass wir Veränderungen brau-chen. Deutschland ist im europäischenVergleich schon seit Jahren Wachstums-schlusslicht, und unsere Nachbarn regis -trieren unsere Schwäche mit zunehmenderSorge. Die Politik wird zu Recht darangemessen, ob es gelingt, die Arbeitslosig-keit zu bekämpfen. Angesichts einer uner-träglich hohen Zahl von Arbeitslosen istdies auch angebracht. Jedoch müssen wirdie Reihenfolge beachten. Nur wenn esgelingt, in Deutschland für Wertschöpfungzu sorgen, kann es zu spürbaren Impulsenfür die Binnennachfrage und die Beschäf-tigung kommen. Deutschland muss wiederMotor des Wachstums in Europa werden.Das ist unser wichtigster Beitrag für dieZu kunftsfähigkeit der Europäischen Union.Und das erwarten unsere europäischenPartner und Freunde auch zu Recht.

Deutsche Unternehmen profitierenzwar weiterhin von der gut laufenden Welt-konjunktur. Sie investieren auch wiederetwas mehr. Unser Hauptmotor bleibt derExport. Unser Exportwachstum zeigt, wel-ches Potenzial unsere Unternehmen undunser Standort noch immer haben. Trotz-dem aber halten sich viele Unternehmenmit ihren Investitionen in Deutschlandzurück, weil sie kein Vertrauen in denAbsatz haben oder weil sie woanders inves -tieren. Gerade der industrielle Mittelstandprüft Produktionsverlagerungen. In frühe-ren Konjunkturzyklen konnten wir nochstets darauf setzen, dass der Außenhandeldie schwache Inlandsnachfrage ausgleicht.Aber der Exportfunke springt nicht mehrso schnell und stark auf das Inland über.Das liegt daran, dass unsere Exporte immermehr importierte Vorprodukte enthalten.Das hat zur Folge, dass unsere euro -päischen Nachbarländer immer mehr amdeutschen Export mitwirken. Das hat auchviel mit unserer Kostenstruktur inDeutschland zu tun. Die Arbeitskostenund Energiepreise sind in den vergangenenJahren durch politisches Zutun, allzu oftaus ideologischen Gründen, erhöht wor-den. Um die Wertschöpfung bei uns imLande zu halten und auszubauen, müssenwir jedoch die Investitionsbedingungen amStandort Deutschland wieder verbessern.Das bedeutet vorrangig, dass wir endlicheine verlässliche Politik brauchen. Refor-men in Deutschland und in Europa – fürmehr Wachstum brauchen wir beides! �

Aus Rede Wirtschaftstag 2005

23trendIII. Quartal 2005

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Wirtschaftstag 2005

85trendIII. Quartal 2005

Deutschland stark machen –Neuer Kurs für Wachstum und Arbeit

Deutschlands Zukunft als Industrienation und internationales Kompetenzzentrum steht vor einer Bewährungsprobe: Entwe-der gelingt es, den Weg wieder freizumachen für Kreativität, Innovation und Unternehmergeist, oder es droht der Absturz indie Zweitklassigkeit. Steuer-, Sozial-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik müssen auf das Wachstumsziel ausgerichtet und die

Wertschöpfung wieder verstärkt ins eigene Land geholt werden.

Deutschlands Erfolg wird mitentscheidend dafür sein, ob auch Europa im Wettbewerb der Kontinente wieder eine Chance erhält:Asien macht Tempo, Amerika legt zu, wo bleibt Europa?

Diese nationalen und internationalen Perspektiven standen im Mittelpunkt des Wirtschaftstages 2005 in Berlin unter dem Motto:„Deutschland stark machen – Neuer Kurs für Wachstum und Arbeit“.

Bekanntermaßen lösen Medienberichte nicht immer Beifallsstürme aus. Als positives Beispiel ist „Die Welt“ zu zitieren, die dieAufgaben des Wirtschaftsrates nach der Präsentation seines Masterplanes 2005 bis 2009 „Von der Anspruchs- zur Leistungsgesell-schaft – Deutschland nimmt wieder Fahrt auf“ zum politischen Neubeginn beschrieb: „Der Wirtschaftsrat schreibt sich seit Jahrzehn-ten auf die Fahnen, die Union in Wirtschaftsfragen zu beraten. Frau Merkel stößt dabei auf Menschen, die ihr wohlwollen und ihrdeutlich sagen, was sie programmatisch für richtig und für falsch halten.“

Wirtschaftsrat-Präsident Kurt J. Lauk betonte: „Unabhängigkeit im Urteil und Kontinuität in der Ordnungspolitik bleiben unsereMarkenzeichen!“

Und Kanzlerkandidatin Angela Merkel bedankte sich: „Ich möchte mich beim Wirtschaftsrat für seine gute Arbeit bedanken. Sieist für uns immer ein Impuls, aus dem Blickwinkel der Wirtschaft darüber nachzudenken, was Deutschland voranbringt. Wir wis-sen, dass es in Deutschland nicht vorangehen wird und dass auch keine Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn sich die Politik gegendie Wirtschaft aufstellt. Wir schaffen es nur mit der Wirtschaft gemeinsam!“

www.w

irtschaftsrat.de

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86 trend III. Quartal 2005

Die rot-grüne Bundesregierung hatInsolvenz angemeldet. In den Koa-litionsparteien brechen jene alten

Konflikte auf, die der Machterhalt bisherübertünchte. Rot-Grün befindet sich inSelbstauflösung. Richtungskämpfe bre-chen auf. Die Sozialdemokraten zerlegensich. Fast möchte ich ihnen zurufen: Hal-tet ein, Genossen! Wir brauchen euchnoch als Opposition!

Ludwig Erhard wäre entsetzt gewesen

Das Erbe von sieben Jahren rot-grünerPolitik hat diesem Land mehrereschmerzliche Rekorde beschert: DieStaatsfinanzen sind zerrüttet; unter demSchuldenberg erstickt die Zukunftsfähig-keit unseres Landes; über den Systemender sozialen Sicherung schwebt der Pleite-geier; mehr als fünf Millionen Menschen

sind der Perspektive eines selbstbestimm-ten Erwerbsleben beraubt. Gewiss hatdiese traurige Bilanz historische Wurzeln,die teilweise über Jahrzehnte zurückrei-chen. Aber unter dieser Bundesregierungsind die Versäumnisse zur Krise mutiert,das Reparable wurde zum gefährlichenSanierungsfall. Dass die Gesellschaft imInnern erschüttert ist und sich zuneh-mend in Konflikten zerreibt, hat eine fun-

Bundesdelegierten-Versammlung 2005

Der Weg von der Anspruchs- zurück zur Leistungsgesellschaft iststeinigDie Wende zur Sozialen Marktwirtschaft beherztund zügig angehen

Bericht des Präsidenten: Kurt J. Lauk

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damentale Ursache: Die Bürger haben dasVertrauen in die Politik der rot-grünenBundesregierung verloren. Sie haben siean der Wahlurne entsprechend abgestraft.

Enthemmt ist der Umverteilungswirrwarr

Besonders zu beklagen waren die ord-nungspolitischen Entgleisungen der letz-ten Jahre. Unser bewährtes Leitbild derSozialen Marktwirtschaft wurde rot-grü-ner Deutungshoheit unterworfen, ausge-höhlt und mit wirren Inhalten gefüllt.Ludwig Erhard wäre entsetzt gewesen.Den Höhepunkt dieser ordnungspoliti-schen Verdrehung setzt SPD-Chef Mün-tefering. Gesichtslose Finanzinvestorenfielen, so wetterte er, „wie Heuschrecken -schwärme über Unternehmen her, grasensie ab und ziehen weiter“.

Man wollte seinen Ohren nichttrauen. Derselbe Politiker, der sich alsReformer preist und gerade um Steuersen-kungen für Unternehmen warb und In -ves toren umgarnt, fällt über diese Inves to -ren her. Dass er damit den Abstieg desStandorts Deutschland im internationa-len Wettbewerb eher beschleunigt als ver-hindert, kam ihm offenbar nicht in denSinn. Dem Kapital – besser: dem Investi-tionskapital – die Zähne zu zeigen, statt eswillkommen zu heißen, wird Investoreneher „Heuverschrecken“ als ermuntern,sich in diesem Land zu engagieren.

Vom Sozialismus ist kein Land reich geworden

Enthemmt ist hierzulande nicht derKapitalismus, sondern Umverteilungs-wirrwarr, Bürokratie und deutsche Rege-lungswut. Das bremst die Marktkräfteaus, von denen Wohlstand erwartet wird.Die Marktwirtschaft, an der Münteferingdas Soziale vermisst, wird nicht durch raff-gierige Manager aus dem Lot gebracht,sondern durch Überfrachtung mit Sozial-leistungen, die verteilt werden, bevor sieerarbeitet sind. Dieser unsoziale Prozessendete bekanntlich in einer Rekordver-schuldung des Staates. Wer die Kapitalis-muskeule schwingt, sei daran erinnert:Alle wohlhabenden Länder dieser Welthaben im letzten Jahrhundert ihrenReichtum durch den Kapitalismus erwor-ben. Dagegen ist keines bekannt, wo diesdurch Sozialismus er reicht worden wäre.Unsere Alternative ist klar, sie war überauserfolgreich und wird uns wiederum ein

verlässlicher Kompass durch die Krisesein: die Soziale Marktwirtschaft. LudwigErhard war übrigens Zeit seines Lebensvehement gegen jeden Laissez-faire-Kapi-talismus. Liberalismus, wie er ihn ver-stand, sei „weder Freibeutertum noch einseelenloser Termitenstaat“.

Deutschland nimmt wieder Kurs auf

Zum umstrittenen Adjektiv derMarktwirtschaft, dem Sozialen, hatte Er -hard gegenüber dem Nobelpreisträger

Friedrich August von Hayek bemerkt:„Ich meine, dass der Markt an sich sozialist, nicht dass er sozial gemacht werdenmuss.“ Bei der Gründungsveranstaltungunseres Wirtschaftsrates im Jahre 1963ermunterte uns Erhard: „Der Wirtschafts-rat muss Mitverantwortung für die frei-heitliche Gestaltung unserer Wirtschafts-ordnung übernehmen.“ Und er fügte an:„Je freier die Wirtschaft – um so sozialerist sie auch.“ Dass die CDU in dieser Tra-dition lebt, belegt ein Schlüsselzitat ausder Rede von Angela Merkel zum 13. Jah-

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Nach den Turbulenzen des letzten Jahresist der Wirtschaftsrat jetzt organisato-risch und inhaltlich optimal aufgestellt.

Das vergangene Jahr war für den Wirt-schaftsrat ein Jahr des Umbruchs mitvielen organisatorischen und personellenVeränderungen. Wir waren Angriffenbis hin zu Verleumdungen ausgesetzt,die wir erfolgreich abwehren konnten.

Aber es bedurfte eines intensiven, außer-ordentlichen und in der Sache auchhöchst ungewöhnlichen Einsatzes durchdas Ehrenamt.

Dabei sind wir auf einige administrativeund satzungstechnische Unzulänglich-keiten gestoßen. Diese haben uns veran-lasst, die Schwachstellen in unserer Sat-zung zu bereinigen.

Wir haben erwogen, die Satzung grund-sätzlich zu überarbeiten. Davon habenwir jedoch Abstand genommen, weil wirim Jahr der politischen Zeitenwendeund einer besonderen Herausforderungfür unseren Verband diesen nicht miteiner zusätzlichen Satzungsdiskussionbelasten wollten. Vor diesem Hinter-grund schlagen wir die sich als unab-dingbar zeigenden Änderungen vor.

Die außerordentlichen Belastungen imvergangenen Jahr geben mir allen Anlass,den beiden Vizepräsidenten und demSchatzmeister aufrichtig zu danken. Eswar eine besonders gute Erfahrung, dassdann das gesamte Präsidium in derschwierigen Zeit zusammenstand undkooperativ und kollegial zusammengear-

beitet hat. Wir bedanken uns auch beimBundesvorstand, der alle Entscheidun-gen des Präsidiums uneingeschränktmitgetragen hat. Aus den schwerenTagen und Monaten ist der Wirtschafts-rat gestärkt hervorgegangen. Wir habenin kurzer Zeit überzeugende Lösung fürdie personell notwendige Erneuerunggefunden. Auch dies gelang einvernehm-lich und in bester freundschaftlicherWeise.

In unserer Mitte begrüße ich deshalbheute unseren neuen GeneralsekretärHans Jochen Henke. Lieber HerrHenke, seit Ihrer Berufung im Spät-herbst 2004 sind Sie Ihre neue Aufgabemit Elan und Tatkraft angegangen. Wirwünschen Ihnen in dieser Zeit desUmbruchs, dass es uns gemeinsamgelingt, die politische Einflussnahmeauszubauen und das einzigartige Mar-kenprodukt „Wirtschaftsrat“ erfolgreichweiter zu entwickeln.

Zu danken ist Rüdiger von Voss, der 21Jahre lang die Geschäfte des Wirtschafts-rates mit großem Geschick lenkte. Erwich keiner kritischen Debatte aus undspeiste so manche Idee in die politischeDebatte ein. Herr von Voss hat unsereOrganisation entscheidend geprägt undihr intellektuellen Glanz verliehen.

Ein besonderes Kompliment gilt allenMitgliedern und Freunden, die sichehrenamtlich engagierten. Ich weiß, wiemühevoll dies manchmal ist. UnsereGesellschaft, an deren Fortschritt Sie allemitwirken, lebt mit und vom Ehrenamt.Dank dafür.

Nach einem Jahr des Umbruchs nun optimal aufgestellt

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restag der deutschen Einheit. Sie wieder-holte den Erhardschen Imperativ: „DieSoziale Markwirtschaft ist eine Ordnungder Freiheit.“ Dieses Erbe ist dem Wirt-schaftsrat historische Verpflichtung, ob -gleich zuweilen eine Bürde, die uns inDiskussionen zwingt – was wir begrüßen.

Es bedeutet: Freiheit statt Gleichheit,Wettbewerb statt Regulierung, Aufbruchstatt Verzagtheit, Bürgerverantwortungstatt Bevormundung, Eigeninitiative stattBehördenbefehl. Wir dürfen keine An -sprüche wecken, ohne sie seriös zu fi nan -zieren, und keine Besitzstände ze men -tieren, sondern die Chance des Wandelswahrnehmen.

Unser Leitmotto für die Neuordnungder Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpoli-tik in der kommenden Legislaturperiodelautet: „Deutschland nimmt wieder Kursauf: Wachstum – Arbeit – Wohlstand.“

Der Weg von der Anspruchs- zurückzur Leistungsgesellschaft ist gewiss steinig.Lassen Sie mich unsere wichtigsten Weg-marken kurz skizzieren:

Lohnenswerte Arbeitmit mehr Netto

Es ist ein wirtschaftliches wie sozialesÄrgernis, wenn dieses Land auf die Leis-tung und die Kreativität von mehr als fünfMillionen seiner Mitbürger verzichtetund sie ausgrenzt. Aus dieser sozialenKrise darf keine Katastrophe werden. Esdemotiviert die Menschen, wenn vonihren vergleichsweise hohen Bruttolöhnennur ein mageres Netto in der Tüte ver-bleibt.

Die Verantwortung für die Lohnpoli-tik zu markieren, bedeutet das Tarifkartellaufzubrechen. Der Arbeitsmarkt ist vonden starren Fesseln der Regulierung zubefreien. Die Beschäftigungshürden fürreguläre Arbeit müssen endlich abgeräumtwerden. Die Lohnnebenkosten sindbeherzt zu senken. Es ist ein ökonomi-scher Treppenwitz, wenn ein Klempnerfast sechs Stunden arbeiten muss, um sichauch nur eine einzige Dachdeckerstundeleisten zu können.

Beschäftigungsprogramme sind Be -schäftigungstheorie. Auch Ein-Euro-Jobssind ein Irrweg. Sie bedrohen rentableArbeitsplätze und verfestigen die Arbeits-

losigkeit, statt sie abzubauen. Sie wiegendie Menschen in Scheinsicherheit. Sowird Arbeit verrichtet, die man eigentlichnicht braucht, gegen Geld, das man nichthat.

Wer Nichtarbeit höher entlohnt alsArbeit, zermalmt das Leistungsprinzipund lädt zur Schwarzarbeit ein. Warumsind die Deutschen unfähig, ihren eigenenSpargel zu stechen oder ihre hei mischeErdbeeren zu pflücken? Dafür sei derdeutsche Rücken nicht geeignet, heißt es– eine Satire aus Absurdistan. Und: Wa -rum sollen mündige Belegschaften nichtdarüber entscheiden dürfen, ob ihnen ihrArbeitsplatz wichtiger ist als einige Lohn-prozente? Das Günstigkeitsprinzip wartetauf eine betriebsnahe Reform. Es war einhistorischer Fehler, den Arbeitslohn zumPackesel des Sozialstaates zu machen. Diesmuss korrigiert werden, indem man dieSozialabgaben weitgehend vom Lohnabkoppelt.

In einem Land, dessen Wiegen leerbleiben, aber dessen Altersheime sich fül-len, funktioniert das Prinzip „Jung zahltfür Alt“ in der Kranken-, Pflege- und Ren-tenversicherung nicht mehr. Schon heutebetragen die Anwartschaften an sozialenAnsprüchen 360 Prozent eines Bruttoin-landsprodukts.

Der Wirtschaftsrat hat ein schlüssigesKonzept vorgelegt, wie wir die Schulden-berge Schritt für Schritt abbauen können.Diese Generation darf nicht länger dasHolz verfeuern, an dem sich unsere Kin-der und Enkel wärmen sollten. Das ist eingrober Verstoß gegen das Prinzip derNachhaltigkeit, das Rot-Grün zwar pre-digt, aber tatsächlich ignoriert. Wer diemarode Umlagenversicherung schritt-weise durch Kapitaldeckung und Eigen-verantwortung ersetzt, stellt die Sozialsys -teme wieder vom Kopf auf die Füße.

Der Vorschlag der derzeitigen Bundes-regierung für eine Bürgerversicherung istso verführerisch wie gefährlich. Es handeltsich in Wahrheit um eine Bürger-zwangs-versicherung. Einem maroden System sollfrisches Geld zugeführt werden. Es wartetindes auf frische Reformen. Hier versuchtein Kapitän, alle Passagiere auf einen leck -geschlagenen Seelenverkäufer zu zwingen– und lässt auf dem Zwischendeck auchnoch Jubelgesänge anstimmen.

Die Bürgerzwangsversicherung atmetKollektivismus. Der Wirtschaftsrat setztihr die solidarische Gesundheitsprämieentgegen. Sie räumt endlich damit auf,den Arbeitslohn mit Krankenkassenbei-trägen zu befrachten. Zugleich räumt siemit der Ungerechtigkeit auf, dass nur dieBeitragszahler am Sozialausgleich für Ein-kommensschwache und Familien mitKindern beteiligt. Der soziale Ausgleichfindet dort statt, wo er ordnungspolitischauch hingehört: im Steuersystem. Michfreut es, dass inzwischen mehr als 80 Pro-zent der Mitglieder unser Gesundheits-konzept unterstützen. Aber geben Sie sichkeinen Illusionen hin: Das wird ein mühsamer Kampf der Argumente. ImRevier der Flachdenker ist viel Polemik zuHause.

Statt das Tarifkartell weiter zu betonie-ren, brauchen wir umgehend flexibleLöhne, die sich wieder stärker an der Qua-lifikation der Arbeitskräfte orientieren.Betriebliche Bündnisse für Arbeit vereini-gen Beschäftigungschancen mit Mündig-keit. Das Vetorecht betriebsfremderGewerkschaftsfunktionäre ist abzuschaf-fen. Wenn es gelänge, den Kündigungs-schutz bei Neueinstellungen zu lockern,würden die unseligen Prozesse um Abfin-dungen endlich aufhören.

Die Forderung nach gesetzlichenMindestlöhnen ist so verführerisch wiegefährlich. In der Bauwirtschaft, derenTarifparteien einen Mindestlohn verein-barten, ist der Abbau von rund 700.000Arbeitsplätzen damit nicht verhindertworden. Dort wird übrigens jeder zweiteEuro schwarz verdient. Man möchteFinanzamt und Krankenkasse nicht mitÜberweisungen behelligen. Die Gutmen-schen mit dem Mindestlohn übersehengeflissentlich, dass es durch das Arbeitslo-sengeld II bereits einen faktischen Min-destlohn gibt: rund zehn € in der Stunde.Die französischen Erfahrungen mit demMindestlohn werden von den Verfechternals Vorbild gepriesen. Sie sind jedoch eineWarnung, denn dort verdoppelte sich dieJugendarbeitslosigkeit – sie ist doppelt sohoch wie bei uns. Gegenüber der Jugendist dies verantwortungslos. Die Bundes-agentur für Arbeit zentralistisch zu organi-sieren, war ein Fehler. Städte undGemeinden können die Langzeitarbeitslo-sen viel gezielter betreuen. Es wäre eindoppelter Befreiungsschlag, würde sich

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die Bundesagentur auf ihre Kernaufgabe,die Arbeitslosenversicherung konzentrie-ren: Der Beitragssatz könnte mittelfristigauf drei Prozent halbiert werden und die90.000-Mitarbeiter-Behörde auf dieHälfte schrumpfen. Ausnahmsweisestimme ich BundeswirtschaftsministerWolfgang Clement zu, der kürzlich fest-stellte: „Es gibt kein Land, das so viel Geldgegen die Arbeitslosigkeit einsetzt, wiewir. Und keines ist so erfolglos.“

Die so genannten Hartz-Reformensind bei dieser Bundesregierung in keinenguten Händen, hat sie sich doch bei derenKosten um einen zweistelligen Milliarden-betrag verschätzt. Auch dies ein Grund,der jetzigen Bundesregierung die roteKarte zu zeigen – Pardon: die schwarze.

Regelungswut stoppen und Schulden drosseln

Die Verschuldung des Staates hat sichin den letzten drei Jahrzehnten verzwan-zigfacht, auf heute mehr als 1,4 Billionen€. Sie steigt um 1.714 € – in jeder Se kun -de! Jedem Neugeborenen legt der Staat17.000 € Schulden in die Wiege. Mit denAnwartschaften aus den Sozialversiche-rungen summiert sich diese Last auf mehrals 100.000 €. Gibt es hier einen Unter-nehmer, der seit 35 Jahren rote Zahlenschreibt und ständig neue Kredite aufneh-men muss, um die Zinsen für seine Alt-schulden zu zahlen?

Eine nationale Anstrengung ist auchnötig, um den gewucherten Paragra-phendschungel zu lichten – nicht wie bis-her mit der Nagelschere, sondern mit derAxt. Der Staat maßt sich eine Fülle vonAufgaben an, die Sache der Bürger sind.Die Staatsquote wieder unter 40 Prozentzu drücken, auch durch Privatisierungund Subventionsabbau, beschert Wachs-tumsgewinne. Dieses Land rast mit atem-beraubender Geschwindigkeit unge-bremst auf den Bankrott zu. Ex-Chrysler-Chef Lee Iacocca bringt es auf den Punkt:„Es ist Zeit, dass jemand der Regierungdie Kreditkarte entzieht.“

Um diese verhängnisvolle Entwick -lung endlich zu stoppen, wird der Wirt-schaftsrat seine Kampagne für gesundeStaatsfinanzen bundesweit ausbauen. AlleLandesvorstände und Sektionssprechersind mit Argumentationshilfen undRedeentwürfen ausgestattet worden.

Mit einer Großen Reform dasSteuerchaos beenden

Das deutsche Steuerrecht ist chao-tisch. Es bestraft die Leistung, belohnt dieTrickser und bremst mögliches Wachstumaus. Das fiskalische Flickwerk ist – weilirreparabel – endlich durch eine GroßeSteuerreform zu ersetzen. Um die Sätzekräftig zu senken, sind alle Privilegien undAbzugsbeträge abzuschaffen. Damitwären zugleich 163 Steuerschlupflöchergeschlossen, wie Paul Kirchhof errechnete.Die Ungleichbehandlung von Einzelper-sonen, Personen- sowie Kapitalgesell-schaften ist zu beenden. Die effektive

Steuerlast der Unternehmen muss unter30 Prozent sinken, die Gewerbesteuer istabzuschaffen. Kapitalerträge sollen miteiner Abgeltungssteuer von 24 Prozenterfasst werden. Ein einfaches, gerechtesund leistungsfreundliches Steuersystem isteine weitere fundamentale Voraussetzungfür mehr Wachstum und Beschäftigung.Deutschland hat europaweit mit 36 Pro-zent noch immer die durchschnittlichhöchste nominelle Steuerbelastung fürUnternehmen (UK: 28,9 Prozent, DK: 27Prozent, CH: 21,8 Prozent). Dennocherzielt der deutsche Finanzminister mitdie niedrigsten Steuereinnahmen in

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Der Wirtschaftsrat erhebt zu allen wich-tigen Fragen der Wirtschafts-, Finanz-und Sozialpolitik seine Stimme. Erbelebt die politische Debatte in jüngsterZeit immer häufiger mit eigenen muti-gen Konzepten. Nicht selten wird unsdie Meinungsführerschaft unterstellt –was ja so falsch nicht sein muss. Wirfreuen uns darüber.

Wir legten ein durchgerechnetes undschlüssiges Konzept zur Sanierung derStaatsfinanzen vor. Die Verschuldungdes Staates hat sich in den letzten dreiJahrzehnten verzwanzigfacht, auf heutemehr als 1,4 Billionen €. Jetzt ist dieSchuldenfalle zugeschnappt. Weilgesunde Staatsfinanzen Voraussetzungfür neue Wachstums- und Beschäfti-gungsdynamik sind, fordert der Wirt-schaftsrat einer Schuldendeckelung mitVerfassungsrang.

Unser Bundessymposion Staatsfinanzenmit dem österreichischem Finanzminis -ter Grasser und mehr als 400 Teilneh-mern gab dabei den Startschuss für un -sere Kampagne zur Haushaltskonsoli-dierung ab.

WR hat den Kampf um die bestenKöpfe für Deutschland wieder aufge-nommen. Wir wollen, die Zukunft derjungen Leistungsträger in Wirtschaft,Forschung und Politik im eigenen Landwieder attraktiv machen.

Das 2. Berliner Generationenforum –mit CDU-Generalsekretär Volker Kau-

der – hat erneut den Nerv von mehr als400 jungen Leistungsträgern getroffen.

Diese Generation – leistungsbereit, risi -kobereit und weltoffen – ist die urei gens -te Klientel des WR. Die jungen Leis -tungsträger passen zu uns – der WR bie-tet ihnen eine Heimat.

Wir haben darüber hinaus die europäi-sche und internationale Perspektive indie deutsche Corporate GovernanceDebatte eingeführt. Hauptredner unse-rer viel beachteten Tagung waren derChef der New Yorker Börse, John Thain,und BP-Chairman Peter Sutherland.Teile unseres Mitbestimmungskonzeptswerden jetzt in der Europäischen Unionaufgegriffen. Der pointierte Pressetenor:„WR übertrifft mit seinen Forderungenalle anderen Verbände.“

Zusammen mit namhaften Repräsen-tanten aus Energiewirtschaft und Euro-päischer Kommission haben wir in einerKlausurtagung die Leitsätze für einenParadigmenwechsel in der Energiepoli-tik erarbeitet.

Die Kehrtwende zu einer wettbewerbs-orientierten und ideologiefreien Politikist für den Industriestandort Deutsch-land eine Überlebensfrage.

Deshalb ist es wichtig, dass unsere Posi-tionen beim jetzt bevorstehenden Neu-anfang weitgehend von der Union über-nommen worden sind. Unsere Arbeithat sich gelohnt.

Kehrtwende zur ideologiefreienPolitik ist Überlebensfrage

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Europa – weil hohe nominelle Steuersätzedie Unternehmen verprellen und weil einWildwuchs an Ausnahmen und Umge-hungen Steuerzahler wie Staatskassenbelastet. Das deutsche Steuersystem ist zukompliziert, ungerecht und lädt zu Umge-hungen ein. Ich möchte noch einmal anLudwig Erhards Credo erinnern: „Wohl-taten müssen immer teuer bezahlt werden– denn kein Staat kann mehr geben, als ervorher Bürgern und Unternehmerngenommen hat.“ Mitglieder unserer Steu-erkommission erarbeiten zusammen mitFriedrich Merz mit Hochdruck ein voll-ständig neues Steuergesetzbuch. Eine los-gelöste Erhöhung der Mehrwertsteuerlehnt der Wirtschaftsrat energisch ab. Siewäre Gift für die Konjunktur, nähmeReformdruck aus dem Kessel und ver-führte die Finanzpolitik zum Weiterwurs -teln.

Bildung braucht FreiräumeDeutschland ist ein rohstoffarmes

Land. Über einen Rohstoff könnte esjedoch in Fülle verfügen – wenn es demBildungswesen seine Freiheitsräumezurückgibt. Bildung. Im Kampf um diebesten Köpfe ist es jedoch zurückgefallen.

Wir müssen uns wieder zu unseren Elitenbekennen, damit sie nicht abwandern.Um das Bildungssystem wettbewerbsfähigzu machen, brauchen die Hochschulendie Freiheit, ihre akademischen Lehrerund ihre Studenten selbst auszuwählen.Professoren sind nach Leistung statt nachBeamtenrecht zu bezahlen. Studienge-bühren fördern den Wettbewerb unddamit den Bildungsstandort Deutschland.Zur universitären Freiheit gehört dieKooperation mit der Industrie. Bildung,Forschung und Innovation sind derSchlüssel für künftigen Wohlstand.

Dieses Land war einst für seine indust -rielle Intelligenz und seine kreativen Tüft-ler weltweit berühmt und angesehen. Seites sein Bildungssystem einer Zwangsbe-wirtschaftung unterwarf, hat es seineChancen verschüttet. Der Chef derFraunhofer-Gesellschaft, Hans-Jörg Bul-linger, warnte jüngst: „Nur Dank derAutomobilindustrie, Pharma und Chemiegehört Deutschland noch immer zu denweltweiten Technologieführern.“ Heuteschauen wir neidvoll auf die Technolo-gien, die in den USA und im pazifischenRaum gedeihen und schneller als bei uns

zur Marktreife geführt werden. UnsereZukunft, unser Wohlstand liegt auch inDisziplinen wie der Nanotechnologie, denBiowissenschaften und der Gentechnolo-gie. Die deutsche Graswurzel-Fraktiongefällt sich dagegen darin, diese Unter-nehmen als Risiko darzustellen. Ergebnis:Spitzenforscher wandern ins Ausland ab.

Die Innovationsblockaden bei Kern-energie, Gendiagnostik, Pharma undStammzellenforschung sind schnellstensaufzulösen, die weitere Abwanderung vonBiotech-Unternehmen ist zu verhindern.Wir müssen diese zukunftsweisendenTechnologien aus der Umklammerungkurzsichtiger Öko-Folklore befreien.

Was berechtigt den Staat eigentlich,den braven Facharbeiter zu zwingen, derTochter eines gutverdienenden Arztesoder Anwalts ein kostenloses Studium zufinanzieren? Antwort: Nichts – weder dieGerechtigkeit noch das Subsidiaritätsprin-zip. Deswegen fördert die Freiheit, Stu-diengebühren zu erheben, auch die Frei-heit der Wissenschaft. 500 € pro Semestersind im internationalen Maßstab einerster Schritt. Noch im Herbst startet der

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Seit dem Jahr 2000 hat Herr Bonse-Geuking, Group Vice President der BP,unsere Energiekommission mit hohemEngagement geleitet. Er war zugleich dieStimme der Bundesfachkommissionenin der Herzkammer des Wirtschaftsrates– im Präsidium. Er wird zum Ende derLegislaturperiode die Kommissionslei-tung in neue Hände geben. Ich möchteihm für seine großartige Arbeit danken.

Zugleich freue ich mich, dass wir denVorsitzenden der Geschäftsführung derDeutschen Shell, Herrn Kurt Döhmel,für diese wichtige Aufgabe gewinnenkonnten. Nach über acht Jahren erfolg-reichem Einsatz für die KommissionInnovation & Information wird HerrDr. Joachim Dreyer – der Gründungs-vorsitzende – den Stab weitergeben. Ihmwird Herr Prof. Edward Krubasik, Mit-glied Zentralvorstand Siemens AG undZVEI-Präsident, als Kommissionsvorsit-zender folgen. Er übernimmt Mitverant-wortung beim WR für das Thema Kom-petenzzentrum Deutschland.

Schließlich steht die Verkehrskommis-sion unter neuer Leitung von Herrn Dr.Hugo Fiege, der ein bedeutendes Logis -tik-Unternehmen als persönlich haften-der Gesellschafter führt. Er hat sein Amtvon Dr. Wolfgang Ziebart –Vorstands-vorsitzender von Infineon – übernom-men. Den langjährigen Kommissions-vorsitzenden schuldet der gesamte WRfür den hohen persönlichen Einsatzbesondere Anerkennung.

Zugleich wünschen wir den neuenKom missionsvorsitzenden Überzeu-gungskraft und Durchsetzungsstärke,um unsere Positionen bei den neuenRegierungsparteien mehrheitsfähig zumachen.

Weil das Engagement im Ehrenamt einewichtige Basis unseres Erfolges ist, dankeich besonders unseren Landesvorsitzen-den, den Sektionsvorständen und Sek-tionssprechern, den Vorsitzenden undden mehr als 500 Mitgliedern derBundesfachkommissionen sowie ganz

herzlich Ihnen allen, den Mitgliedernder Bundesdelegiertenversammlung. Be -sonderer Dank gilt auch meinen Kolle-gen in Präsidium und Bundesvorstandsowie der Bundesgeschäftsführung undallen Mitarbeitern auf Bundes- und Lan-desebene.

Auf der jüngsten Präsidiumsklausurhaben wir uns eingehend mit der organi-satorischen und inhaltlichen Neuaufstel-lung des Wirtschaftsrates befasst undzugleich die Eckpunkte des Masterplans2005 bis 2009 festgelegt.

Auf der ersten Konferenz der Landesvor-sitzenden sind hierzu wichtige Vorarbei-ten geleistet worden. Bereits jetztmöchte ich Sie zur 2. bundesweiten Sek-tionssprecher-Konferenz im Herbst2005 einladen.

Mit den Konferenzen stellen wir diekontinuierliche und intensive Kommu-nikation mit dem Ehrenamt auf allenEbenen sicher.

Das Ehrenamt – wichtige Basis für unseren Erfolg

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Wirtschaftsrat dazu seine Schlüsselkam-pagne „Kompetenzzentrum Deutsch-land“. Wir möchten auch hier eine Vor-reiterrolle übernehmen.

Europa vertiefen statt erweiternFranzosen und Niederländer haben

den Entwurf zu einer EU-Verfassung ein-drucksvoll verworfen. Auch Großbritan-nien ging auf Distanz. Die EuropäischeUnion wirkt ziellos und verwirrt. Siesteckt in einer fundamentalen Krise. Eineabgehobene Politik hat es versäumt, dieBürger auf den schwierigen Integrations-prozess mitzunehmen. Darin liegt dieChance, Weg und Ziel der europäischenIntegration neu zu definieren. Das bedeu-tet, sich auf die Kernaufgaben zu besin-nen.

Eine maßlose Überregulierung durchBrüsseler Verwaltungsakten stößt dieMenschen ab und entmündigt sie. Sie ver-stehen immer weniger, warum man denKrümmungsradius von Salatgurken, dasGrundwasser oder den Neigungswinkeleines Traktorsitzes durch europäischeRichtlinien umständlich definieren muss– und das in 20 Amtssprachen. Allein dieAuflistung aller EU-Richtlinien umfasstbeeindruckende 130.000 (!) Seiten. Dassdie gescheiterte EU-Verfassung zehnmalso umfangreich ist wie die amerikanischeist Teil dieser Realsatire. Das erste Opferder Eurokraten ist der drangsalierte Bür-ger, das zweite die Subsidiarität. Das istjenes selbstgewählte, aber konstitutivePrinzip der EU, wonach stets die boden-ständige regionale Lösung der zentralisti-schen vorzuziehen sei. Zudem sind dieBrüsseler Ergüsse, die auf Europa nieder-gehen, demokratisch höchst zweifelhaftlegitimiert. Eine EU-Erweiterung umRumänien und Bulgarien, gar um dieTürkei, ist alles andere als vorrangig.Interessant ist, dass 60 Prozent der Mit-glieder unseres Wirtschaftsrates eine Voll-mitgliedschaft Ankaras ablehnen undstattdessen die privilegierte Partnerschaftmit der Türkei wünschen (Quelle: Polit-puls).

Das Subsidiaritätsprinzip sollte end-lich von den Festreden in die Realitätwechseln. So wie der Paragraphendschun-gel bei uns gelichtet werden muss, so müs-sen die Eurokratie ihren Wildwuchsbeherzt ausdünnen – nicht mit der Nagel-schere, sondern mit der Axt.

Die Vollendung eines liberalen Bin -nenmarktes geht allen zentralistischenMachtphantasien in Brüssel vor. Die EUbraucht nicht mehr Geld, sondern mehrDemokratie und mehr Marktwirtschaft.Ein Prozent des Bruttoinlandsproduktsgenügen vollauf. Wir bedauern es, dassder Bundeskanzler diese Linie bereits ver-lassen hat. Vermutlich möchte er sich inseinen letzten Wochen noch als Krisenma-nager in die Geschichtsbücher einschrei-ben – mit dem Scheckbuch, für das derdeutsche Steuerzahler haftet.

Wir glauben an dieses Europa. Derangeblich „alte“ Kontinent hat nochgenug jugendliches Feuer. Worunter erleidet, ist die alte Politik. Die EuropäischeUnion benötigt ein wirtschaftlich starkesDeutschland – und umgekehrt.

Männer wie Adenauer, de Gaulle undDe Gasperi stießen die epochale Idee dereuropäischen Einigung an. Für uns Nach-geborene ist sie ein kostbares Erbe. Eineführungslose und handlungsschwachePolitik darf es nicht verschleudern.Mutige deutsche Reformerfolge machennicht nur das eigene Land wieder stark,sondern auch die Europäische Union.

Wir wünschen klare Konturen des Neuanfangs

Wir stehen vor einer Richtungswahl.Der Wirtschaftsrat wünscht sich klare undunverwechselbare Konturen eines Neuan-fangs. Er muss von Vertrauen und Verläss-lichkeit begleitet sein. Das wird nicht ein-fach, denn niemand hält Politiker fürOrgane der Wahrheitsfindung, zumalnicht vor Wahlen.

Die Ehrlichkeit gebietet es, die Bürgervon einer Rundumversorgung zu entwöh-nen und sie für die Runderneuerung unse-rer Wirtschaft zu gewinnen. Es ist keinFreibier auszuschenken, sondern nur rei-ner Wein. Reformen, die nichts kosten,sollten unverzüglich ins Werk gesetzt wer-den. Das gilt beispielsweise für denerstarrten Föderalismus, für die Entrüm-pelung des Arbeitsmarktes oder für dieBürokratie. Für kostspielige Reformensollte man sich dagegen etwas Zeit neh-men. Sie müssen schließlich seriös undschuldenfrei finanziert sein. Den Polter-geist des Kapitalismus zu beschwören, hatsich schon einmal als Flop erwiesen. Voneiner Wiederholung ist abzuraten, aberdieser Rat dürfte ausgeschlagen werden.Wer mit dem Denkschema Reich gegenArm punkten möchte, sei daran erinnert,dass noch nirgendwo die Armen reichwurden, wenn die Reichen verarmten.Eine gute Politik sorgt vielmehr dafür,dass alle ihre Chance auf mehr Wohlstandbekommen. Schließlich ist ein Land ohneReiche ein armes Land.

Wende zur Sozialen Marktwirtschaft

Im Schillerjahr ist es gewiss nicht ver-boten, den Dichtertitan zu zitieren: „DasAlte stürzt, es ändern sich die Zeit, undneues Leben blüht aus den Ruinen.“

Die Wende zu Freiheit und Eigenver-antwortung, zu Wachstum und Beschäfti-gung – kurzum zur Sozialen Marktwirt-schaft – sollte beherzt und zügig angegan-gen werden. Aber bitte nicht nach Art vonDosenpfand und Legehennenverord-nung. Schon gar nicht nach Art der kaba-rettreifen Rechtschreibreform. �

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Ein Kernbestandteil unserer Anstrengun-gen – den Mitgliederservice und die Wir-kungsmächtigkeit zu erhöhen – ist derAusbau der Kommunikationsoffensive.

Die 2. Mitgliederbefragung WR-Polit-puls belegt:� 90 Prozent unserer Mitglieder beur-teilen den Internet-Auftritt als we -sentlich verbessert.

� 87 Prozent unserer Mitglieder emp-finden die Schnellbriefe als willkom-mene Information.

Inzwischen konnten wir die E-Mail-Erreichbarkeit unserer Mitglieder von70 auf über 80 Prozent erhöhen. Damitsind wir besser vernetzt als alle anderenVerbände.

Dieses Potenzial, das wir im letzten Jahraufgebaut haben, wollen wir künftig ver-stärkt nutzen. Mehr denn je kommt esdarauf an, dass wir die unternehmeri-schen Erfahrungen unser Mitgliedernoch stärker bei der Entwicklung unse-rer Positionen einbinden.

Ausbau der Kommunikationsoffensive...

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92 trend III. Quartal 2005

Es ist die erste Gelegenheit, Ihnen ausmeiner Sicht einige Ausführungenmachen zu können, in einer Zeit, die

sicherlich besonders bedeutungsvoll ist.Gestern feierte die Union ihr 60-jährigesGründungsjubiläum. 40 Jahre ist derWirtschaftsrat alt. Vor 20 Jahren wurdemit dem Doppelrüstungsbeschluss für dieNato die Weiche für die Wiedervereini-gung gestellt und vor zehn Jahren habenwir uns über den Maastricht-Vertragunterhalten.

Gleichwohl ist die Situation in diesemLand trotz signifikanter Meilensteine sehrviel bescheidener als viele es gewärtigen.Wenn es vor 40 Jahren für unsere Vorvä-ter gute Gründe gab den Wirtschaftsrat zugründen, dann gilt dies heute umso mehr.

Der Wirtschaftsrat hat in vierzig Jahrenviel bewegt und jeder der heute hier steht,steht in Verantwortung dieser Tradition,zu der ich mich klar bekenne.

„Weiter so“ funktioniert nicht mehr

Jede Zeit hatte ihre Herausforderun-gen und die heutige ihre ganz spezifi-schen. Wir erkennen, dass ein „weiter so“endgültig nicht mehr funktioniert. Wel-che Meilensteine der Wirtschaftsrat mitdem vorgelegten Masterplan in der nächs -ten Legislaturperiode von einer hoffent-lich unionsgeführten Regierung erwartet,zeigt, dass unser Berufsverband mitten-drin steht, wie er aufgestellt ist und wofürer steht. Inmitten einer Republik, die sichnicht nur von den Rahmenbedingungen,

sondern auch von den Standortbedingun-gen für unsere Organisation in den letz-ten 40 Jahren erheblich gewandelt undverändert hat.

Wenn wir Berlin im Jahr 2005betrachten, dann sehen wir nicht nur dasBerlin von 1945 – in dem damals die Alt-vorderen die Union gründeten – sonderndass sich der Wirtschaftsrat in einemUmfeld bewegt, in dem rund 120 Firmen-repräsentanzen ansässig und fast 1.900Verbände beim Deutschen Bundestagakkreditiert sind. 1.900 Verbände, mitdenen wir Tag für Tag auf der Bühne derHauptstadt konkurrieren.

Ordnungspolitisches Profil schärfen

Wir müssen als Wirtschaftsrat derCDU, der sich dem freiheitlichen, sozial-verpflichteten Unternehmertum im Sinneder Sozialen Marktwirtschaft verpflichtetweiß, dies jede Woche, jeden Monat, jedenTag neu leben und vermitteln. Wir müssenuns im Grunde ständig neu erfinden. Neuerfinden, als dass ordnungspolitische Ge -wissen ganz eigener Art, neu erfinden alsein ordnungspolitisches Kompetenzzen-trum in der Nähe der Union, zugleich aberunabhängig von der Union, so wie es inunserer Satzung steht. Ständig neu erfin-den als eine Verknüpfung aus unterneh-merischen, wirtschaftlichen und politi-schem Netzwerk und ständig neu erfindenals politische Einflussnehmer. Und wennwir ganz besonders anspruchsvoll sein wol-len, als politische Mitgestalter.

Deshalb stehe ich als Generalsekretärvor Ihnen, um zu erklären und mich zuverpflichten, dass mein Hauptaugenmerk

Deutschlands Zukunftsfähigkeit steht auf dem SpielDas Vertrauen der Bürger in die Politik schwindet, dasöffentliche System muss vollständig modernisiert werden

Bericht des Generalsekretärs: Hans Jochen Henke

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93trendIII. Quartal 2005

und nicht nur meines, denn wenn ich vonmir rede, dann rede ich von der ganzenhauptamtlichen Mannschaft, darauf zurichten, dass wir noch stärker unser ord-nungspolitisches Profil mit dem Ehren-amt mit den Verantwortungsträgern, denorganschaftlichen Verantwortungsträ-gern, schärfen wollen.

Junge Generation fördernDer Wirtschaftsrat muss aber auch

nachhaltig darauf achten, seine Auftritteund damit verbunden seine medienpoliti-sche Wahrnehmung, in Konkurrenz zuanderen Verbänden noch weiter zu verbes-sern. Wir müssen vor allen Dingen dasFundament, die Existenzsicherung unse-rer Organisation, dass sind Sie, das sinddie Frauen und Männer in der Organisa-tion draußen in den Landesverbändenund in der Breite in den Sektionen, nichtnur erhalten, sondern zukunftsfähigweiterentwickeln. Da gilt unser besonde-res Augenmerk und sicherlich auch Ihres,der Förderung des Nachwuchses der jun-gen Generationen. Denn wie wollen wirdie Zukunft meistern, in einer älter wer-denden Gesellschaft mit ausgezehrtenöffentlichen Finanzen, mit staatlichenUmlagesystemen die in ihrer Leistungsfä-higkeit ständig schwächer werden. Ineiner alternden Gesellschaft mit voraus-sehbar nicht mehr beliebig vermehrbarenWachstumsmargen und -raten, müssenwir alle Anstrengungen, alle möglichenInvestitionen in die nächste Generationlegen und diese nach Kräften fördern. DerWirtschaftsrat hat hier eine ganz be -sonders hehre und vorrangige Aufgabewahrzunehmen.

Diese Aufgabe und Verantwortunggeht noch weiter, denn nach Sinn undZweck unserer Satzung und dem Auftragdes Wirtschaftsrates, ist er ja eine zu -kunftsorientierte optimistische Organisa-tion. Wer sich selbstverantwortlich unter-nehmerisch wirtschaftlich bestätigt, istvon Haus aus Optimist. Unternehmerhaben dem Grunde nach Vertrauen in dieZukunft. Und das ist, was uns am aller-meisten fehlt in dieser Gesellschaft. Inso-fern sind wir im Wirtschaftsrat eigentlichdie geborenen Initiatoren, die geborenenMotoren und die geborenen Treiber. Wirwollen in der Verknüpfung von Haupt-und Ehrenamt – aber nicht nur auf derBundesebene in Berlin – sondern in derBreite der Republik diesem Anspruch

gerecht werden. Die Breite der Republik,das sind die 14 Landesverbände und mehrals 160 Sektionen. Diese als ein integrier-tes, modernes und zukunftsfähiges Lebe-wesen, als einen gemeinsamen Orga-nismus zu begreifen, das ist eine ganzwichtige Aufgabe und Herausforderung.Vor diesem Hintergrund versuchen wirunser Geschäft zu betreiben, haben esmeine Vorgänger mit allen Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern in engem, vertrau-ensvollem Zusammenwirken mit demEhrenamt begriffen und gelebt.

Wandel des Staates zu effizientem Dienstleister ist Muss

Deutschland leidet unter demZustand seines öffentlichen Systems und

dem schwindenden Vertrauen in die poli-tischen Akteure. Dies ist ablesbar amNiedergang der Umlagesysteme und deröffentlichen Finanzen. Wir haben es nichtgeschafft, in guten Zeiten, Vorsorge zutreffen wie es jeder kompetente Unterneh-mer und jeder Familienvater für seineAngehörigen tut. Das öffentliche Systemhat dies nicht geschafft. Das ist imGrunde eine der fundamentalsten Verwer-fungen und ich füge eine zweite hinzu,weil ich dieses System unserer Gesell-schaft, sowohl im öffentlichen wie im pri-vatwirtschaftlichen Bereich durchlebt undmitgetragen habe. Wenn es uns nichtgelingt die öffentlichen Apparate von denKommunen – die dabei noch am bestenabschneiden – bis auf die Bundesebene in

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einen leistungsgerechten und effizientenDienstleistungssektor zu modernisieren,so dass mit knappsten Ressourcen in denKernbereichen optimierte Wirkungsgradeerreicht werden, ist Deutschland nichtzukunftsfähig. Ich prophezeie Ihnenjedoch, dass vieles von dem was wir for-dern und vieles von dem, das hoffentlichEingang in ein Regierungsprogramm fin-det, hehre Worte bleiben werden. Dennzu Einsicht und Ehrlichkeit gehört einsehr langer Atem.

Neuauflage der VeranstaltungLeadership in Innovation

Der Wirtschaftsrat ist ein Kompetenz-zentrum eigener Prägung und wir wollendas ordnungspolitische Gewissen sein.Dafür haben wir die notwendige Ausstat-tung. Wir haben Ihnen den Wechsel imEhrenamt an der Spitze unserer Bundes-fachkommissionen im einzelnen darge-legt. Diese Bundesfachkommissionensind die Herzkammern für die kompe-tente sach- und fachpolitische Aufstel-lung, in der Verknüpfung zwischenHaupt- und Ehrenamt, zwischen Wirt-schaft, Politik und Wissenschaft. In die-sem Bereich haben wir einiges geleistetund uns viel vorgenommen: Mit demneuen Vorsitzenden der KommissionWachstum und Innovation, ProfessorEdward Krubasik aus dem Hause Sie-mens, haben wir besprochen, dass imHerbst das Bundessymposion – wie vomPräsidium ins Auge gefasst – in Fortset-zung dessen, was der Wirtschaftsratbereits im Jahr 2003 unter der Überschrift

„Leadership in Innovation“ initiiert hat,neu und zukunftsorientiert aufgestelltwird. Die Förderung von Innovation isteine zentrale Herausforderung für dieGenesung Deutschlands. Mit dem neuenVorsitzenden der Kommission Energiepo-litik, Kurt Döhmel, wollen wir uns –ebenfalls im Herbst – der Frage „Energie-und Umweltpolitik – vom nationalenKostentreiber zum weltweiten Innova-tionsmotor?“ zuwenden. Außerdem wirdsich der Wirtschaftsrat den Reformen undihren Zielsetzungen um Kranken- undPflegeversicherung mit eigens dafür ein-berufenen Arbeitsgruppen widmen.

Bundesgeschäftsstelleliefert Bausteine zu zentralen Themen

Grundlage dieser Themen wird derMasterplan 2005 bis 2009 mit seinen zen-tralen Zielsetzungen sein. Wenn aus mei-ner Sicht der Wirtschaftsrat als Gesamt -organisation nachhaltigen Verbesserungs-bedarf in der Breite und Tiefe der bundes-weiten Organisation hat, dann in derschärferen Profilierung und Konturie-rung. Deshalb wollen und werden wir,von Berlin aus, in Abstimmung mit denLandesvorsitzenden, in Abstimmung mitden obersten Organen – auch mit denSektionssprechern – alles tun, um die sogenannte Aktions- und Kampagnefähig-keit des Wirtschaftsrates zu stärken.

Das heißt, wir wollen im Grunde jedeSektion von Berlin aus so auszustatten,dass sie zu den wichtigsten Themen, Re -

formen und Herausforderungen mit allennotwendigen Bausteinen versorgt ist, diedann anschließend vor Ort aktiv gelebt,kommuniziert und vielleicht auch in derWirkung des Umfeldes des Wirtschaftsra-tes verstärkt und intensiviert werdenkann.

Interne Wettbewerbssituationin der Mitgliederwerbung

Mit diesen Kampagnen hängt das Ver-triebs- und Marketingsystem des Wirt-schaftsrates untrennbar zusammen. Siehaben sicherlich noch in Erinnerung, dassdieses Thema in den letzten Jahren einzentrales war. Im Moment ist es dies mitSicherheit nicht, denn nach meinemDafürhalten sind wir im Jahr 2005 sehrzukunftsorientiert aufgestellt. Das heißt,wir fahren in der Mitgliederwerbungmehrgleisig: In zehn Landesverbändenbedient sich der Wirtschaftsrat der bishe-rigen Vertriebsform, der WR-MarketingGmbH. Darüber hinaus praktizieren wirseit dem 1. Januar in vier Landesverbän-den den so genannten Eigenvertrieb. Dasheißt, wir akquirieren in Eigenverantwor-tung und Eigenregie neue Mitglieder undsetzen auch in diesem Bereich auf ihrehrenamtliches Engagement.

So haben wir eine interne Wettbe-werbssituation geschaffen: Die Bundes -geschäftsführung wird sich sehr genau an -schauen, wie sich diese beiden Systeme inden nächsten ein- bis anderthalb Jahrenentwickeln, um dann, gemeinsam mitIhnen, weitergehende Meinungsbildungund Entscheidungsgrundlagen zu gegen-wärtigen.

Insgesamt braucht es uns um denWirtschaftsrat nicht bange zu sein. Wirkönnen es schaffen als unternehmerge-prägte Organisation unverwechselbar imüberschaubaren Maßstab, das zu lebenund zu vermitteln, was wir als Anspruchan die Gesellschaft insgesamt richten. Vonden hauptamtlichen Mitarbeitern unsererOrganisation dürfen Sie entgegenneh-men, das wir uns als Dienstleister ineinem Unternehmen für Unternehmerbegreifen. Wenn es uns gelingt, die Mit-gliederzahlen nicht nur stabil, sondernhoffentlich auf Wachstumskurs zu haltenund so für die notwendige, finanzielle Sta-bilität mit ihren Spielräumen sorgen,dann ist der Wirtschaftsrat bestens aufge-stellt. �

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Asien macht Tempo –Wo bleibt Europa?

Dr. Michael FuchsEhrenpräsident Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels e.V.

Michael Fuchs verwies auf den Wachs-tumsunterschied zwischen der Eurozoneund Asien. Während das Wachstum imEuroraum im Jahr 2004 nur 1,8 Prozentbetragen habe, sei der asiatische Konti-nent – ohne Japan – mit 7,8 Prozent ge -wachsen. Fuchs zog eine positive Bilanzder EU-Erweiterung sowohl für die 15alten EU-Länder als auch für die zehnneuen Mitglieder. „Sie nützte vor allemder Eurozone, weil der Export in die neu -en EU-Staaten bedeutend angestiegen istwährend der Import aus den Beitrittslän-dern zurückgegangen ist“, betonte Fuchs.Der Ehrenpräsident des BGA verwies da -rauf, dass die neuen Mitgliedsländerkleine, offene Volkswirtschaften seien,weshalb das schwache Wachstum derEurozone die Beitrittsländer stark belaste.Fuchs be nannte als wichtigste Problemeder EU den Vertrauensverlust der Bürger

in die Politik, die rasche Erweiterung unddie fortwährende Verletzung des Europäi-schen Stabilitätspakts. „Der Eurozonemangelt es an Anpassungsfähigkeit gegenexterne Schocks“, sagte Fuchs. Ferner ver-

Podium I

In das Thema „Asien macht Tempo– Wo bleibt Europa“ führten ein: Prof.Dr. Edward Krubasik, Präsident desZVEI, Zentralverband Elektrotechnik-und Elektroindustrie e.V., Mitglied desZentralvorstandes Siemens AG sowieWashington SyCip, Gründer der SGV-Gruppe, Manila.

Unter der Moderation von HenningKrumrey, Leiter ParlamentsredaktionFocus, Berlin diskutierten: Dr. MichaelFuchs, Ehrenpräsident Bundesverbanddes Deutschen Groß- und Außenhan-dels e.V.; Dr. Werner Langen MdEP, Parlamentarischer Geschäftsführer derCDU/CSU-Gruppe im EuropäischenParlament; Prof. Dr.-Ing. Eckhard Roh-kamm, Vorsitzender des Präsidiums Ost-asiatischer Verein e.V., Mitglied des Vor-standes ThyssenKrupp a.D.; Dr. Jo -achim Schneider, Mitglied des Vorstan-des ABB AG.

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96 trend III. Quartal 2005

Edward Krubasik erklärte, dass esfalsch sei, wegen der Verzögerungen inder Umsetzung der Lissabon-Strategiedas Ziel aufzugeben, Europa zur weltweitdynamischsten und wettbewerbsfähigs -ten Wirtschaft zu machen.

„Dies gestattet uns der globale Wett-bewerb nicht“, mahnte der ZVEI-Präsi-dent. „Die beiden anderen großen Wirt-schaftsregionen Asien und Amerika ver-folgen dieses Ziel ohne zu zögern.“Europa müsse sich dem Wettbewerb stel-len und die Lissabon-Agenda konse-quenter umsetzen. Auch internationaleUnternehmen setzten auf den weltweitgrößten homogenen Markt mit 450Millionen Verbrauchern. „Wir solltendiese Wirtschaftskraft nutzen“, forderteKrubasik. Die Währungsunion sei einErfolg, der die Integration des Marktesverstärke. „Deutschland und Europagewinnen aus der Mobilisierung diesesMarktes.“ Angesichts der globalen He -rausforderungen für Deutschland undEuropa sei der Handlungsbedarf indesauch unübersehbar: Es gebe klare Sig-nale, dass sich die Fertigungsindustrie inEuropa an das starke Wachstum in Asien,in den USA und in Osteuropa und andas langsamere Wachstum im übrigenEuropa anpasse. Dies habe auch entspre-chende Auswirkungen auf die Beschäfti-

gung, die sich in die Wachstumsregionenverschiebe. Diese Veränderungen seien inder vergangenen Dekade allerdings auchdurch den Umstand beschleunigt wor-den, dass die Länder, die sich erst vor 15Jahren der Marktwirtschaft geöffnet hät-ten, wegen ihres großen Entwicklungsbe-darfs enorme Investitionen anzögen.„Eine erfolgreiche Teilnahme an diesenWachstumsmärkten ist auch für deutscheUnternehmen und Arbeitsplätze wich-tig“, betonte Krubasik. Weil Wachstums-länder wie China, Russland und die Staa-ten Osteuropas ihre Infrastrukturen undIndustrien aufbauen müssten, ergäbensich auch große Chancen für die deut-sche Industrie, unterstrich der ZVEI-Präsident. „Das sind Chancen, die unsereIndustrie nutzen muss.“ Die Folgen derGlobalisierung lägen auf der Hand:„Wertschöpfung wandert zum Wachs -tum. Dass andere Länder und Regionensich schneller und besser entwickeln,sollte uns nur anspornen, in Deutschlandund Europa die Attraktivität von Investi-tionen zu steigern.“

Krubasik forderte, dass sich europäi-sche Politiker und Unternehmen denHerausforderungen stellen müssten, „umabwandernde Wertschöpfung zu erneu-ern“. Deutsche und europäische Unter-nehmen haben sich nach den Worten desZVEI-Präsidenten auch in der Vergan-genheit immer am Aufbau wachsenderWeltregionen beteiligt und reife Techno-logien durch die Verlagerung in Low-Cost-Länder wettbewerbsfähig gehalten.„Wir haben die verlorene Wertschöpfungaber regelmäßig ersetzen können, in demwir neues Wachstum schufen durch Ein-satz neuer Technologien“, erinnerte Kru-basik. Neues Wachstum und Wohlstandkönnten nur durch Innovationen gene-riert werden. Das Motto Deutschlands ineinem schärfer werdenden Wettbewerbmüsse darum sein, Leitmärkte für neueTechnologien zu schaffen. Denn Exportvon Produkten und Dienstleistungenwerde nur möglich sein, wenn diese ihrenLeitmarkt in Deutschland hätten. „Wirwerden weder vom Export reifer Pro-dukte leben können noch vom Exportvon Technologien, die im Wesentlichen

im Ausland angewandt werden können“,stellte Krubasik klar. Der erste Bau einerMagnetschwebebahn in China sei einBeispiel: Dies könne als beachtlicherErfolg der Deutschen betrachtet werden,indes würden Arbeitsplätze, Forschungund Entwicklung nach China verlagert.

Krubasik betonte, dass in Europaeine signifikante Steigerung der Produk-tivität und gleichzeitige Senkung derArbeitskosten notwendig seien. Dieswerde dennoch nur zu einem Teil dieinternationale Wettbewerbsfähigkeitwie derherstellen können. Zugleich müss -ten innovative Talente und risikofreudigeUnternehmer abgezogen werden. NachAuffassung des ZVEI-Präsidenten be -steht der schnellste und kostengüns tigsteWeg zu mehr Wachstum darin, attraktiveBedingungen für Investitionen zu schaf-fen. „Wir brauchen ein einfacheres undbesseres regulatorisches Umfeld fürunsere Industrie“, forderte Krubasik mitBlick auf die EU und den nationalenGesetzgeber. „Mehr Markt, wenigerStaat, weniger Ideologie und Detail-Direktiven, klare Priorität für Unterneh-mertum und Marktmechanismen.“ Eineweitere, bislang nicht ausgeschöpfteWachstumsquelle liege in der Moderni-sierung der europäischen Infrastruktu-ren. Die Anwendung neuer Technolo-gien könne gerade hier in Europa wiederneue Leitmärkte schaffen. Viele solcherInfrastrukturprojekte würden die ganzeWertschöpfungskette mobilisieren – vomkleinen Zulieferer bis zum Generalunter-nehmer. Ferner müssten die öffentlichenAufgaben überdacht werden. WenigerKonsum, mehr Investitionen, sei einStichwort. Für die Modernisierung derInfrastruktur seien private Investoren zumobilisieren, attraktive Investitionsbe-dingungen für Public-Private-Partner -ship-Modelle seien erfolgsentscheidend.Der Staat bleibe als innovativer Regulie-rer gefragt. Auf mittlere Sicht geht esnach den Worten Krubasiks vor allemdarum, durch eine möglichst engeKooperation von Wissenschaft undIndustrie schneller anwendungsnaheTechnologiemärkte entwickeln zu kön-nen.

Prof. Dr. Edward Krubasik Präsident des ZVEI, Zentralverband Elektrotechnik- und Elektroindustrie e.V., Mitglied des Zentralvorstandes Siemens AG

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Washington SyCip machte deutlich,dass Europa trotz der bemerkenswertenFortschritte der asiatischen Volkswirt-schaften gemessen am Bruttosozialpro-dukt pro Kopf und gemessen am Brut-tosozialprodukt pro Beschäftigten öko-nomisch nach wie vor weit vor den asi-atischen Volkswirtschaften liege. „Esgibt natürlich Ausnahmen wie Japan,die schon vor dem Zweiten Weltkriegwirtschaftlich selbst stärker waren als dieVereinigten Staaten von Amerika – den-noch ist Japan in der vergangenenDekade sogar noch langsamer gewach-sen als Europa.“

SyCip betonte, dass die abschlägigenEU-Verfassungsvoten der französischenund niederländischen Bevölkerung sei-ner Auffassung nach allenfalls ein tem-porärer Rückschlag für die EuropäischeIntegration seien. „Die gemeinsameWährung und die Beseitigung der Han-delsbeschränkungen veranlassen diejungen Generationen, sich als Europäerzu fühlen.“ Die Beseitigung der religiö-sen Grenzen hingegen könnte längerdauern, sagte SyCip.

Der Gründer der SGV-Gruppeerinnerte daran, dass kleine politischeEinheiten wie Singapur, Hong Kong,Taiwan und Süd Korea in den vergange-nen 20 Jahren wirtschaftlich sehr schnell

gewachsen seien und Wirtschafts -leistungen vergleichbar der der euro -päischen Kernländer erreicht hätten. „Inihrer Befreiung aus der Armut hattendiese vier Staaten keine westlicheDemokratie in dem Sinne, dass jederBürger die Freiheit zu wählen hat unddass unabhängige Medien existieren“,sagte SyCip. „Sie folgten dem asiati-schen Modell mit einer ziemlich autori-tären politischen Führung bei gleichzei-tiger wirtschaftlicher Freiheit und sehrgroßer Disziplin.“

Dies habe die Regierungen dieserLänder dazu befähigt, sehr langfristigeStrategien zur Entwicklung der Infra-struktur, Armutsbekämpfung und Bil-dungsreformen umzusetzen. „NachErreichen der Ziele in diesen Bereichenkam eine nachhaltige demokratischeStaatsform schrittweise und ganz natür-lich“, so SyCip.

SyCip betonte, dass der frühere chi-nesische Staatschef Mao Tse-Tung zwardas Riesenreich der Mitte politischerfolgreich geeinigt habe. Die Wirt-schaftspolitik Maos habe jedoch nichtbewirken können, den Lebensstandardder Chinesen zu heben. „China begannseinen ökonomischen Aufstieg mitDeng Xiao Ping, der den Menschenökonomische Freiheiten gab und dasMotto ,Geldverdienen ist großartig’ inChina einführte.“

Die Chinesen seien durch die öko-nomischen Reformen ermuntert wor-den, härter zu arbeiten, weil sie Unter-nehmer sein durften und die Früchteihrer Anstrengungen behalten durften,betonte SyCip.

Der Gründer der SGV-Gruppesagte, dass Westeuropa und die USAbesorgt seien über das schnelleWachstum des Riesenreiches mit 1,3Milliarden Menschen. Dabei habe sichauch Indien mit seiner westlich gepräg-ten Demokratie aufgemacht, hoheWachstumsraten zu erreichen. Dies wer -de auf dem asiatischen Subkontinentauch erreicht, weil die Regierung büro-kratische Regulierungen abgebaut habe

und der Staat weniger stark in den Pri-vatsektor eingreife. SyCip verwies aller-dings darauf, dass Indien nach seinerAuffassung im Gegensatz zu China nachwie vor unter einer schwachen Infra-struktur, einer geringeren Bildungs- undAlphabetisierungsrate sowie unter einerhohen Armutsrate leide. „Während diehochentwickelten Industriestaaten desWestens bislang in China und Indienvor allem Märkte für den Absatz ihrerhochwertigen Industrie- und Marken-produkte sahen, haben sie jetzt Angst,dass gut ausgebildete Asiaten die glei-chen Arbeiten verrichten können wiegut ausgebildete Arbeiter und Ent -wickler aus dem Westen – zu weit gerin-geren Kosten.“

Die meisten Asiaten seien, anders alsdie Europäer, nicht durch exorbitanthohe Zahlungen ihrer Wohlfahrtsstaa-ten korrumpiert worden. „Verglichenmit dem europäischen Durchschnittmüssen Asiaten weitaus länger arbeitenund außerdem ist den meisten ihr Jobweitaus wichtiger.“

SyCip machte deutlich, dass Euro-päer und Amerikaner nicht in einer akti-ven Politik zur Verlangsamung des asia-tischen Wachstums die Antwort auf denAufstieg Asiens suchen sollten.

Nach Auffassung des SGV-Gründerswerden die Asiaten mit weiter steigen-dem Einkommen auch einen ähnlichenLuxus einfordern, wie ihn Europäer undAmerikaner längst hätten. „Die asia -tischen Regierungen werden dem Bei-spiel Singapurs und Hong Kongs folgenmüssen – sie müssen bessere Wohnun-gen, eine bessere Verkehrsinfrastrukturund sogar Sozialleistungen anbieten.“

SyCip zeigte sich überzeugt, dass dieasiatischen Wachstumsraten künftignicht mehr so hoch ausfallen werdenwie heute. „Wenn Europa Bürokratieabbaut, die Mobilität seiner Arbeits-kräfte steigt und die Effizienz seiner Ser-viceindustrie steigt, wird die Lücke zwi-schen den asiatischen und europäischenWachstumsraten wieder sinken“, pro-phezeite SyCip.

Washington SyCipGründer der SGV-Gruppe, Manila

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wies der BGA-Ehrenpräsident auf diehohen Ölpreise und die starke Aufwer-tung des Euro sowie die Wachstumsdelleim Welthandel. „Hinter den Ereignissenverbergen sich strukturelle Probleme derEU-Volkswirtschaften.“ Allerdings mach -te Fuchs deutlich, dass auch Asien keineRegion ohne Probleme sei. „Die Wirt-schaft der Region ist weiterhin stark vonFremdkapital abhängig. Korruption undArmut sind große politische und gesell-schaftliche Probleme. Und im Außenhan-del sind protektionistische Tendenzen zubeobachten.“

Dr. Werner Langen MdEPParlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Gruppeim Europäischen Parlament

„Die europäische Antwort auf densich verschärfenden internationalen Wett-bewerb und die imposanten Wachstums-raten der asiatischen Tigerstaaten undSchwellenländer ist der weitere Ausbaudes europäischen Binnenmarktes, die Lis-sabon-Strategie und die Osterweiterung“,sagte Werner Langen. Allerdings sei derVersuch, mit dem Europäischen Verfas-sungsvertrag eine kontinuierliche Fortent-wicklung der Europäischen Verträge zuermöglichen, nach den abschlägigen Refe-renden in Frankreich und in den Nieder-landen vorläufig zum Stopp gekommen.„Entscheidend für die negativen Referen-den waren die Diskussionen über dieGrenzen der Europäischen Union in geo-graphischer, politischer und wirtschaft-licher Hinsicht“, sagte Langen. Europastehe heute am Scheideweg zwischenWettbewerb und Abschottung, merkteder Parlamentarische Geschäftsführer derCDU/CSU-Gruppe im EuropäischenParlament an. Europa könne mit den Bil-liglöhnen und den niedrigen Sozial- undUmweltstandards in Asien zwar nichtkonkurrieren. „Aber es festigt sich derEindruck, dass Kerneuropa zu satt für deninternationalen Wettbewerb geworden istund stattdessen auf subtile Formen derAbschottung setzt und damit auf die Vor-teile der globalen Arbeitsteilung verzich-tet“, sagte Langen. Der Europapolitikerbetonte, dass die Soziale MarktwirtschaftErhardscher Prägung seit langem das wirt-schaftspolitische Leitbild der EU sei.„Dieses Modell ist auch für den Wettbe-werb mit Asien nach wie vor geeignet“,

sagte Langen. Voraussetzung sei aller-dings, dass es keine einheitliche europäi-sche Sozialpolitik, sondern einen Wettbe-werb der Systeme und Staaten auch inZukunft innerhalb der EuropäischenUnion geben müsse. „Europa braucht einklares ordnungspolitisches Leitbild – dieDiskussionen um den Verfassungsvertragund Forderungen nach einem ,sozialenEuropa’ gehen in die falsche Richtung.“

Prof. Dr.-Ing. Eckhard RohkammVorsitzender des Präsidiums Ostasiatischer Verein e.V., Mitglied des Vorstandes ThyssenKrupp a.D.

„Die Beobachtung, dass die Wachs-tumsdynamik in Asien deutlich höher istals in Europa, ist richtig“, sagte EckhardRohkamm. „Dennoch muss man sie inihrer Tragweite relativieren: Die asiati-schen Schwellenländer haben im Ver-gleich zu den europäischen Industriestaa-

ten eine andere Ausgangsposition.“ Dasniedrige Wohlstandsniveau in Asienermögliche die beeindruckenden Wachs-tumsraten von bis zu zehn Prozent. Zurgleichen Zeit benötigten die asiatischenVolkswirtschaften ein Wachstum dieserGrößenordnung zur Armutsbekämpfungund zur Integration der rasch wachsendenBevölkerung in den Arbeitsmarkt“, sagteRohkamm. „Die beiden hoch entwickel-ten Volkswirtschaften der Region, Japanund Korea, sehen sich dagegen zum Teilähnlichen strukturellen Problemen gegen-über wie die europäischen Länder undverzeichnen ein wesentlich geringeresWirtschaftswachstum.“ Rohkamm be ton -

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te, dass das Charakteristikum und derwirtschaftliche Motor der asiatischen Län-der das Streben nach individuellem Wohl-stand sei – und damit eine Leis tungs -bereitschaft, wie sie in Deutschland nuraus der Nachkriegszeit bekannt sei. Nochdominanter und für die Zukunft wichti-ger sind nach den Worten Rohkamms derWunsch der Menschen nach einer Besser-stellung der eigenen Kinder. „Entspre-chend groß ist die Bereitschaft, in derenAusbildung zu investieren.“ Schon heutelebe in Indien und China ein Drittel derWeltbevölkerung. Nach den Worten Roh-kamms werde die Bedeutung Asiensdarum nicht nur als Produktionsstandortwachsen, sondern bei steigendem Wohl-stand zumindest von Teilen der Bevölke-rung auch als Absatzmarkt. „Dies mussEuropa erkennen und darauf hinarbeiten,zum einen an der Entwicklung derMärkte zu partizipieren und zum anderendie internationale Wettbewerbsfähigkeitder Märkte zu erhalten“, sagte Rohkamm.

Dr. Joachim SchneiderMitglied des Vorstandes ABB AG

„Deutschland und Europa können alsWirtschaftsstandorte nicht billiger sein alsAsien, aber besser“, sagte ABB-VorstandJoachim Schneider. Als Schlüsselbegriffefür eine solche Strategie nannte Schneidermehr Privatisierung und den Ausbau sogenannter Public-Private-Partnership-Modelle. Notwendig seien zudem wenigerGenehmigungsverfahren, niedrigere Steu-ersätze, ein besserer Zugang zu Venture

Capital, eine Vereinfachung des Arbeits-rechts und eine Differenzierung im Tarif-recht. „Fortschritt in Europa lässt sich nuraufrechterhalten durch neue Technolo-gien, Innovationen und Verbesserungen“,sagte Schneider. Dabei komme der Stär-kung von Forschung und Entwicklungeine hervorragende Bedeutung zu, betonteder ABB-Manager. Künftig sollten gezieltProjekte statt Institutionen gefördert wer-den und statt alter Wirtschaftszweige soll-ten neue Technologien staatlich gefördertwerden. Zudem müsse die Hightech-Infrastruktur ausgebaut werden und Exzel-lenz in der Bildung geschaffen werden.„Im Wettbewerb mit Asien muss sichEuropa als ein Standort begreifen“, for-

derte Schneider. „Wir brauchen dafüreinen europäischen Konzentrationspro-zess.“ Innovations- und Inves titionsschutzmüssten durch europaweit einheitliche,einfache Patente und Urheberrechtsregelnverbessert werden. Die Liberalisierung derStrommärkte müsse weiter vorangetriebenwerden. Ferner erforderlich sei ein europä-ischer Binnenmarkt für Finanzdienstlei-stungen und eine europäische Konsolidie-rung im In dust riesektor, um im interna-tionalen Wettbewerb Skaleneffekte bessernutzen zu können. „Die Verteuerung vonRohstoffen durch den hohen Bedarf inAsien erfordert Flexibilität von den Unter-nehmen“, betonte Schneider. „Aufgrundvon Skaleneffekten liegen hier Chancenfür internationale Unternehmen, sich zubehaupten.“

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Hermann-Josef LambertiMitglied des Vorstandes Deutsche Bank AG

Hermann-Josef Lamberti hob hervor,dass ein Kompetenzzentrum nicht alleinExzellenz in Forschung und Entwicklungvoraussetze, sondern auch eine zeitnaheUmsetzung von Forschungsergebnissen inneue Produkte und Dienstleistungen.„Um Deutschland dauerhaft als Kompe-tenzzentrum zu positionieren und neueKompetenzen für die Industrien derZukunft und den Export aufzubauen,sollte die technologische SpezialisierungDeutschlands als Wettbewerbsvorteilgenutzt werden und mehr Dienstleis -tungen im Bereich Forschung und Ent -wicklung angeboten werden“, schlug derVorstand der Deutschen Bank vor. Vor-

KompetenzzentrumDeutschland – Neue Chancen für Industrie und Export

Podium II

In das Thema „KompetenzzentrumDeutschland – Neue Chancen fürIndust rie und Export“ führten ein: Dr.Werner Marnette, VorstandsvorsitzenderNord deutsche Affinerie AG sowie Prof.Dr. Eicke R. Weber, University of Ca -lifornia, Ber k eley, Präsident GermanScho lars Or ga ni zation.

Unter der Moderation von Carl GrafHohenthal, stellv. Chefredakteur DieWelt diskutierten: Hermann-Josef Lam-berti, Mitglied des Vorstandes DeutscheBank AG; Dr. Alfred Oberholz, Mitglieddes Vorstandes Degussa AG; Prof. Dr.Norbert Winkeljohann, Mitglied desVorstandes PricewaterhouseCoopers. ...

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101trendIII. Quartal 2005

Werner Marnette verwies darauf, dassdie deutsche Industrie jede Chance undMöglichkeit des Exports nutze. VomBoom der Weltwirtschaft habe die deut-sche Volkswirtschaft als Exportweltmeisterprofitiert wie keine andere. „Unsere Pro-dukte und Dienstleistungen sind in allerWelt gefragt – auf diese Leistung könnendie Unternehmen und ihre Beschäftigtenstolz sein“, sagte Marnette. Auch im lau-fenden Jahr sei mit einem robusten Export-wachstum von rund fünf Prozent zu rech-nen. Jedoch seien die Exporte inzwischender einzige Garant für wirtschaftlichesWachstum in Deutschland. „Die Binnen-konjunktur tritt auf der Stelle, von ihr sindkeine Impulse zu erwarten. Die Unterneh-men halten sich aufgrund einer bislang nieda gewesenen Verunsicherung am StandortDeutschland mit ihren Investitionen zu -rück“, kritisierte der Vorstandsvorsitzendeder Norddeutsche Affinerie AG. Ganzvorn stehe die Verunsicherung durch diePolitik. „Die Bundesregierung und allepolitisch Verantwortlichen müssen endlichwieder Vertrauen schaffen, damit dieUnternehmen langfristig planen und in -ves tieren können“, forderte Marnette. Essei Gift für jede Investitionsplanung, wenneine Regierung jede Woche mit einerneuen Ankündigung zu Steuern und Abga-ben oder Verordnungen Unternehmenund Bürger überrasche. Auch die Verbrau-cher hätten kaum noch Vertrauen. „Noch

viel weniger haben sie Geld“, konstatierteMarnette. Denn seit Jahren stagnierten dieNettolöhne, weil Steuern und Abgabenweiter stiegen. „Wir haben kein Lohnprob -lem, sondern ein Abgabenproblem.Höhere Lohnabschlüsse helfen da nichtweiter“, sagte Marnette. Der Titel Export-weltmeister sage zwar viel aus über dieNachfrage nach und die Qualität von deut-schen Produkten – jedoch sage er nichtsaus über die Qualität des Standorts. „Wirmüssen genauer hinsehen: In unserenExporten steckt ein immer bedeutendererAnteil ausländischer Wertschöpfung. Pro-dukte ,Made in Germany’ sind zu einemimmer größeren Teil ,Made in EasternEurope’ oder ,Made in Asia’.“ In der In -dust rie sei die Entwicklung hin zu einer„Basarökonomie“ besonders deutlich abzu-lesen, erläuterte Marnette. Zwischen 1995und 2003 sei die Industrieproduktion inDeutschland um 18 Prozent gestiegen. Zudiesem Zuwachs indes habe die deutscheIndustrie nur zu rund einem Zehnteldurch eigene Wertschöpfung beigetragen.40 Prozent hingegen seien aus dem Bereichder industrienahen Dienstleister gekom-men und rund die Hälfte der zusätzlichenWertleistung als Vorleistung aus dem Aus-land. „Das Ausland produziert also fleißigmit.“ Aus dieser Beobachtung könne mannur eine Lehre ziehen, betonte der Vor-standsvorsitzender der Norddeutsche Affi-nerie AG: „Industrie und Dienstleistungengehören zusammen. Gerade die enge Ver-knüpfung beim Export zeigt, dass wir nichtauf dem Weg in die so genannte Dienstleis -tungsgesellschaft sind – die Industrie istund bleibt der Motor, der über den Exportdie Dienstleistungen in Schwung bringt.“Die Verdrängung inländischer Produktionwird sich nach den Worten Marnettes inden kommenden Jahren noch massiverund schmerzlicher fortsetzen als die Politiksich das bislang vorstelle. Jeden Tag gingen600 Arbeitsplätze in der Produktion verlo-ren. Von den rund acht Millionen Indust -riearbeitsplätzen in Deutschland würdennach Schätzung der Boston ConsultingGroup bis 2010 fast zwei Millionen wegfal-len. „Hierauf muss die Politik gemeinsammit der deutschen Industrie eine Antwortfinden“, forderte Marnette. Der globaleWettbewerb, die Kostenstruktur der Un -ternehmen und die Verlagerungsfähigkeit

der Arbeitsplätze bestimmten, wie starkeinzelne Industriezweige unter Abwande-rungsdruck gerieten. „Die deutschenUnternehmen stellen sich diesen Heraus-forderungen der Globalisierung und opti-mieren ihre Kostenstrukturen. Somitsichern sie auch am Standort Deutschlandwettbewerbsfähige Arbeitsplätze.“ Mar-nette forderte die Bundesregierung und dieEU-Kommission auf, für faire Wettbe-werbsbedingungen im globalen Wettbe-werb zu sorgen. Politiker müssten ernsthaftin die Pflicht genommen werden, um imRahmen der WTO-Gespräche jede Formvon Handelshemmnissen und Wettbe-werbsverzerrungen abzubauen. „Wir wol-len Wettbewerb, dazu steht die deutscheIndustrie“, sagte Marnette. Der Vorstands-vorsitzende der Norddeutsche AffinerieAG forderte die Bundesregierung fernerauf, für einen Patentschutz gegen chinesi-sche und andere asiatische Nachahmer zusorgen. „Das ist sicher unbequem. Aberwenn die Bundesregierung sich nicht dafüreinsetzt, werden wir in Asien nicht mehrernst genommen.“ Marnette unterstrich,dass die Bundesrepublik nicht mit denArbeitskosten Osteuropas und Chinaskonkurrieren könne. „Mit unserem indust -riellen Wissen und unserer industriellenKompetenz aber können wir es sehr wohl.“Spezialisierungsvorteile, neue Produkteund Verfahren müssten gestärkt und aus-gebaut werden. Innovationen seien derMotor für Wachstum und Beschäftigung.„Dafür brauchen wir mehr Investitionen inForschung und Entwicklung“, forderteMarnette. Allerdings sei Geld in dieserHinsicht nicht alles. Deutschland braucheeinen Mentalitätswechsel: „Risikobewusst-sein ist wichtig, aber überzogene Technik-feindlichkeit und Skepsis bringen unsnicht weiter.“ Die Standortpolitik der ver-gangenen Jahre sei in dieser Hinsicht vielzu defensiv ausgerichtet gewesen, weil siezu stark an den StandortschwächenArbeitsmarkt und Sozialpolitik ausgerich-tet gewesen sei. „So wichtig diese Bereichesind: Der Forschungs-, Technologie- undBildungspolitik muss künftig ein viel, vielhöherer Stellenwert als bisher eingeräumtwerden.“ Ludwig Erhard sei in Vergessen-heit geraten, kritisierte Marnette. „Fassenwir Mut, damit Deutschland nicht längerder kranke Mann Europas bleibt.“

Dr. Werner MarnetteVorstandsvorsitzender Norddeutsche Affinerie AG

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Professor Eicke Weber erinnerte andie historische Situation Deutschlandszu Beginn des vergangenen Jahrhun-derts. „Deutschland war überall bestensplatziert: Wir hatten die besten Wissen-schaftler, risikobereite Unternehmer,hart arbeitende Arbeiter und Angestellteund eine gesunde Aufteilung der Pro-duktion in einheimischen Konsum undExport.“ Zwei von den Deutschen imWesentlichen verschuldete Weltkriegeund die Gräuel des Holocausts hätten –auch durch die Vertreibung und Ver-nichtung jüdischer Mitbürger – derweltweit beneideten Ausnahmestellungein Ende bereitet.

Aber selbst nach dem Ende desZweiten Weltkrieges hätten die beidenTeile Deutschlands in Ost und Westeine ausgezeichnete Stellung in ihremjeweiligen Lager wiedererlangen kön-nen. Das wirtschaftliche Wachstumhabe es dann erlaubt, einen wohl abge-sicherten Wohlfahrtsstaat auszubauen.Ein innovatives Unternehmertum habedazu geführt, dass Deutschland eineweltweite Spitzenstellung etwa imMaschinenbau erreicht habe. „Heutesieht sich Deutschland einem zuneh-mend härteren globalen Wettbewerbausgesetzt, dem es mit den zusätzlichenLasten der deutschen Einheit zu begeg-nen hat“, sagte Weber. Beim Wettbe-

werb um die besten Köpfe finde er eserstaunlich, dass die Bundesrepublik inden vergangenen Jahren erheblicheMittel zum Beispiel mit Stipendienpro-grammen dafür aufgewendet habe,junge Nachwuchswissenschaftler auszu-senden. Das sei für sich genommen zwarsehr begrüßenswert – jedoch sei nichteinzusehen, warum nichts dafür getanworden sei, den Kontakt mit diesen Eli-ten im Ausland aufrecht zu erhalten.Ebenso unverständlich sei, dass auslän-dischen Studenten und Wissenschaft-lern keine dauerhafte Perspektive füreinen Aufenthalt in Deutschland gege-ben werde. „Ein erster Ansatz in dierichtige Richtung wurde leider in derletzten Legislaturperiode nicht realisiert– die USA dagegen waren in den ver-gangenen 200 Jahren das attraktivsteEinwanderungsland für Eliten aus allerWelt, was sicher zu ihrer jetzigen Spit-zenstellung ganz wesentlich beitrug.“Die veränderte Behandlung von Auslän-dern nach den Terroranschlägen am 11.September 2001 habe zwar in dieserHinsicht eine unerwartete Chance fürandere Länder eröffnet. Die Bundesre-publik aber habe nicht die Chancewahrgenommen, das Einwanderungs-recht zu ändern.

Andere Länder wie Kanada hinge-gen hätten sich die für die USA kontra-produktive Entwicklung zunutze ge -macht. „Um Deutschland für ausländi-sche Eliten attraktiv zu machen, istschließ lich auch eine Bewusstseinsver-änderung in der Politik, in den Medienund in der Bevölkerung im Hinblick aufAusländer erforderlich“, betonte Weber.„Man kann nicht erwarten, dass sichausländische Spitzenwissenschaftler ineinem Land wohl fühlen, das im Aus-land durch Ausländerfeindlichkeit vonsich Reden macht.“

Weber betonte, dass aus seiner Sichtinsbesondere die Zusammenarbeit zwi-schen Hochschulen, Forschungsinstitu-ten und Industrieunternehmen gestärktwerden müsse, um Innovationen in Pro-dukte und letztlich auch in Arbeits-plätze zu verwandeln. Weber erläuterteweiter, dass Deutschland im weltweiten

Innovationswettbewerb auch neue Stär-ken entwickelt habe. „Ich denke dabeibesonders auch an den Bereich derErneuerbaren Energien einschließlichder Photovoltaik, die in den letzten Jah-ren mit Steigerungsraten von 20 bis 40Prozent zu einer weltweiten Spitzenstel-lung der deutschen und japanischenIndustrie geführt hat.“ Auf der anderenSeite aber würden andere, innovativeund ebenfalls sehr schnell wachsendeForschungseinrichtungen behindert –besonders im Bereich der Biotechnolo-gie einschließlich der Gentechnologieund der Stammzellenforschung. „EinUmdenken ist in diesen Bereichen uner-lässlich“, sagte Weber. „Das setzt aller-dings auch eine Bewusstseinsverände-rung in der Bevölkerung voraus. Hiergibt es noch viel Informations- undDiskussionsbedarf.“

Nach Auffassung des Wissenschaft-lers bedarf die Umsetzung von Innova-tionen in Produkte auch einer besserenFörderung. Es müssten Instrumenteent wickelt werden, die es für Wissen-schaftler attraktiver mache, ohne Berüh-rungsängste mit der Industrie zu sam -men zuarbeiten. Auch müsse das Ar -beits recht künftig dazu beitragen, dassdie Schaffung neuer Arbeitsplätze ininnovativen Unternehmen nicht weitergehemmt werde.

Weber regte an, den Kündigungs-schutz zu lockern. Beispiele in der EUwie Dänemark und Irland zeigten, dassdies „wahre Jobwunder“ zur Folgehaben könne. Der Wissenschaftlerschlug zudem eine volle Steuerabzugsfä-higkeit von Spenden an gemeinnützigeEinrichtungen vor. Auch eine steuer -liche Abzugsfähigkeit von Hypotheken-zinsen ist aus seiner Sicht geeignet, denStandort wirtschaftlich nach vorne zubringen, weil sie in hohem Maße zurBildung von Wohneigentum und damitauch zur Sicherung der Altersvorsorgebeitrüge.

Im Gegenzug solle das gesamte Ein-kommen einer Mindeststeuer von 15 bis20 Prozent unterworfen werden, um diebeiden Vorschläge zu finanzieren.

Prof. Dr. Eicke R. WeberUniversity of California, Berkeley, Präsident German Scholars Organization

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aussetzung sei, dass mehr Geld in Men-schen und in Bildung investiert werde,bürokratische Hemmnisse abgebaut wür-den und Führungsmärkte etwa imGesundheitsbereich geschaffen würden.Lamberti machte deutlich, dass Deutsch-lands Kompetenzen in der Welt weiterhingefragt seien. „Die technologische Basis istgut, aber noch nicht Spitze“, konstatierteder Bankmanager. Von der Globalisierungprofitieren könne die Bundesrepublikstärker, wenn sie sich auf Dienstleistungenfokussiere. „Für die stetig wachsendenBallungsräume in den emerging marketskönnen deutsche Unternehmen die not-wendigen Infrastruktur- und Mobilitäts-technologien sowie komplexe und wis-

sensintensive Dienstleistungen bereit stel-len.“ Lamberti forderte, zukünftige Kom-petenzträger stärker zu fördern. Deutsch-lands Nachholbedarf bei der Bildungmüsse umgehend angegangen werden.„Die Umsetzung von Technologien unddie Absorption der neuen technischenMöglichkeiten kann nur gelingen, wennUnternehmen qualifizierte Beschäftigtehaben“, mahnte Lamberti. Diese Absorp-tion sei indes in Deutschland in Gefahr,weil der Anteil der Beschäftigten mithöherem Bildungsabschluss zuletzt leichtgefallen sei, während er in anderen Staatengestiegen sei. Mit Blick auf die Anforde-rungen an Politik und Wirtschaft sagteLamberti, dass es erheblich mehr Investi-

tionen in Aus- und Weiterbildungbedürfe. „Deutschland muss daher intelli-gent in die Bildung investieren und Spit-zenuniversitäten entwickeln, weil dadurchdie Grundlage für eine wissensbasierteDienstleistungsgesellschaft geschaffenwird.“

Dr. Alfred OberholzMitglied des Vorstandes Degussa AG

„Chancen ergeben sich leider meistnicht zufällig, sondern müssen hart erar-beitet werden“, sagte Alfred Oberholz,Vorstandsmitglied der Degussa AG.Dabei reiche es heute meist nicht mehraus, technisch anspruchsvolle oderbesonders wissensbasierte Produkte anzu-bieten. „Das technische Know-how inLändern wie China und Indien steigt

schnell und ist mittlerweile auf vielenGebieten nahe an unser Niveau herange-kommen“, sagte Oberholz. Dort, wo dieProduktionsanlagen nicht hochkomplexseien, hätten die Deutschen im Wettbe-werb immer häufiger das Nachsehen.

„Wenn wir im Produkt selbst nur nochgeringe Wettbewerbsvorteile haben, wodann? Die Antwort lautet: Dort, wo wirnicht nur Produkte verkaufen, sondern fürden Kunden komplette Systemlösungenerstellen.“ Im Zeitalter zusammenwach-sender Märkte müsse Deutschland seineChancen weltweit wahrnehmen und seinePosition global und permanent ausbauen.„Das gelingt natürlich am besten in wach-senden Märkten wie China oder Osteu-ropa“, sagte Oberholz. Nur allein durch

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Exporte könne Deutschland seine Markt-positionen in diesen Regionen aber nichtsichern, betonte der Degussa-Manager.„Um hier in Europa bestehen zu können,müssen wir auch neue Produktionsanla-gen in den Wachstumsregionen vor Orterrichten.“ Das Erfolgsgeheimnis dabeisei, die Stärken und Schwächen der einzel-nen Regionen sorgfältig zu analysieren.„Die Stärken von Deutschland liegenimmer noch in einer guten Infrastruktur,einem dichten Netz von hochklassigenwissenschaftlichen Institutionen undhochqualifizierten, motivierten Arbeits-kräften“, sagte Oberholz. „Produkte undTechnologien, die diese Standortvorteilein besonderem Maße benötigen und in

Markterfolge umsetzen können, werdenauch zukünftig ihren Platz in Deutschlandhaben.“

Prof. Dr. Norbert WinkeljohannMitglied des Vorstandes PricewaterhouseCoopers

Norbert Winkeljohann sagte,Deutschland gehöre weltweit zu denattraktivsten Produktionsstandorten.„Deutschland kann nicht nur durch seinegute Infrastruktur überzeugen. Auch dieEinbindung in den Europäischen Binnen-markt und die zentraleuropäische Lagesind nachhaltige Vorteile für die Wettbe-werbsfähigkeit Deutschlands.“ Hinzu

komme die soziale und politische Stabi-lität sowie ein immer noch hohes Ausbil-dungs- und Qualifikationsniveau. DieProbleme Deutschlands beruhen nachden Worten Winkeljohanns auf „tiefgrei-fenden strukturellen Defiziten“. Trotz dervielen positiven Merkmale liege dieArbeitslosigkeit auf Rekordniveau. Einineffizientes Steuer- und Abgabensys tem,Überregulierungen sowie dauerhafte Sub-ventionen verhinderten mehr Wachs tumund Arbeitsplätze.

Winkeljohann betonte, Innovationenseien die Voraussetzung zur Überwindungder wirtschaftlichen Probleme. „Eine ho -he Innovationsdynamik fördert die inter-nationale Wettbewerbsfähigkeit und gar-antiert ein kontinuierliches wirtschaft -liches Wachs tum.“ Insbesondere kleinere

und mittlere Unternehmen benötigtenjedoch Unterstützung bei der Umsetzungihrer Ideen. Das Bildungssystem müssezu dem reformiert werden, forderte Win -kel johann. „Primärer Faktor der In no -vation ist Bildung.“

Attraktive Rahmenbedingungen imSteuerrecht, eine Modernisierung desArbeitsrechts sind nach Auf fassung Win-keljohanns die weiteren notwendigen Vo -raussetzungen für eine wirtschaftlicheGenesung der Bundesre publik. Jedochdürfe der Ausbau des Dienstleistungssek-tors nicht auf Kosten der Industrie gehen.„Für das Wachstum des Dienstleistungs-sektors ist nach wie vor eine wettbewerbs-fähige, technologische und innovativeKompetenz der Industrie die Basis.“

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Neue Wirtschafts- und Sozialpolitik –Deutschlands Zukunftsichern

Dr. Michael AlbertVorsitzender des Vorstandes Bayerische Versicherungsbank AG

Michael Albert sagte, Deutschlandhabe mehr denn je wirtschafts-, arbeits-markt- und sozialpolitische Herausforde-rungen zu bewältigen. „Mit fast fünfMillionen arbeitslosen Menschen undeinem dauerhaft schwachen Wirtschafts-wachstum werden mutige Reformenimmer dringender“, mahnte Albert. Basisfür ein Reformprogramm bleibe die Sozi-ale Marktwirtschaft, die den Marktme-chanismus mit wirtschaftlicher Freiheit,ungehindertem Wettbewerb und offenenMärkten im Fokus habe sowie die Grund-werte der Humanität und Menschen-würde umfasse. Gleichzeitig sei der Staat

Podium III

In das Thema „Neue Wirtschafts-und Sozialpolitik – Deutschlands Zu -kunft sichern“ führten ein:. Prof. Dr.Tho mas Straubhaar, Leiter HWWIHam burg sowie Friedrich Merz MdB.

Unter der Moderation von BerndZiesemer, Chefredakteur Handelsblattdiskutierten: Dr. Michael Albert, Vor -sitzender des Vorstandes Bayerische Ver-sicherungsbank AG; Philipp Mißfelder,Bundesvorsitzender der Jungen UnionDeutschlands; Rainer Tögel, Mitglieddes Vorstandes D.A.S. Rechtsschutz-Versicherung AG; Cornelia Yzer, Haupt-geschäftsführerin Verband ForschenderArzneimittelhersteller e.V. ...

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Thomas Straubhaar machte deut-lich, dass es beim Konzept der SozialenMarktwirtschaft im Prinzip darumgehe, Wirtschafts- und Sozialpolitik zutrennen. „Die Wirtschaftspolitik istzunächst dafür da, die Voraussetzungenzu schaffen, etwas zu produzieren, wasdann in einem zweiten Schritt verteiltwerden kann.“ Die Wirtschaftspolitikmuss sich nach den Worten StraubhaarsEffizienz und Dynamik zum Ziel setzen,wohingegen sich die Sozialpolitik Ver-teilung und Gerechtigkeit zum Ziel set-zen müsse. Wohlstand für alle undWettbewerb gehörten untrennbarzusammen.

Dies bedeute, dass der Markt undder Wettbewerb überhaupt erst die Vo -raussetzungen böten, um Sozialpolitikbetreiben zu können. Der Wettbewerbsei, anders formuliert, das geeigneteInstrument, um den Kuchen, der ineiner Marktwirtschaft erwirtschaftetwerden kann, möglichst groß zumachen. „Marktergebnisse müssenzunächst akzeptiert werden“, sagte derLeiter des Hamburger Forschungsinsti-tuts. „Wir sollten nicht versuchen,durch Eingriffe in Marktprozesse sozial-politische Ziele zu erreichen.“ Preiseund Mengen, Löhne und Lohnsprei-zungen müssten zunächst in Kaufgenommen werden, um mit dem

System der Marktwirtschaft optimaleErgebnisse zu erzielen. „Wir müssen ersteinmal schauen, welches Sozialproduktwir mit dem Marktmechanismus erstel-len können“, sagte Straubhaar. In einemzweiten Schritt erst könne die Sozialpo-litik Marktergebnisse korrigieren, dieeine Gesellschaft aus normativer Sichtnicht als fair oder gerecht erachtet.„Wenn wir soweit sind, wird klar, dasswir solche Eingriffe sehr direkt vorneh-men müssen und nicht auf indirekteWeise durch Eingriffe in Marktpro-zesse.“

Wenn man Wirtschaftspolitik undSozialpolitik vermische, komme es, wiein Deutschland, zu Ineffizienzen, gerin-ger Treffsicherheit der Transfers und vielBürokratie. „Wir verteilen Geld nichtvon den Reichen zu den Armen um, dergrößte Teil der Umverteilung findet stattvon der linken in die rechte Tasche dergroßen bürgerlichen Mittelschicht“, kri-tisierte Straubhaar. „Das kann nichtsinnvoll sein. So wird nicht nur ein rie-siger Apparat beschäftigt, sondern auchdie Signalfunktion der Preise im Markt-mechanismus empfindlich gestört.“

Mit Blick auf das Steuersystem sagteder Schweizer Wissenschaftler, dass diedirekten Steuersätze gesenkt werdenmüssten. Direkte Steuern sollten nurnoch dazu dienen, öffentliche Güterund Dienstleistungen zu finanzieren,die nicht durch Gebühren oder verursa-chergerechte Preise bezahlt werdenkönnten. „Mit direkten Steuern müssenim Grunde nur die Kernkompetenzendes Staates finanziert werden: InnereSicherheit, äußere Sicherheit und dasJustizsystem beispielsweise.“ Die indi-rekten Steuern wie die Mehrwertsteuermüssten im Gegenzug hochgefahrenwerden. Bei den Sozialleistungen müssedas Prinzip der Steuererhebung umge-dreht werden. Statt indirekter Hilfen,die mit der Gießkanne wenig treffsicherüber alle Bürger verteilt werden, müss -ten mehr direkte zielgenaue Hilfen aus-gezahlt werden.

Hinsichtlich des Arbeitsmarktes sag -te Straubhaar, dieser sei kein effizientes

Instrument der Sozialpolitik. Sozialpoli-tik und Verteilungspolitik sollte nichtüber den Arbeitsmarkt betrieben wer-den. Es sei nicht die Globalisierung, die den Arbeitsmarkt in der Bundes -republik unter Druck gesetzt habe, son-dern die Überfrachtung des Faktors Ar -beit mit Sozialkosten. Straubhaar for-derte, Niedriglöhne müssten akzeptiertwerden und Eingriffe in die Lohnbil-dung seien zu unterlassen.

Für den Bereich der Sozialversiche-rungen regte der Wissenschaftler an, füreine klare analytische Trennung vonsozialpolitischen Zielen und dem Versi-cherungsgedanken zu sorgen. „WennSie mit einer Flinte auf zwei beweglicheZiele schießen, werden Sie keines tref-fen“, sagte Straubhaar. „Deswegen müs-sen Sie die Sozialversicherung auftei-len.“ Bürger, die sich die Versicherungs-beiträge nicht leisten könnten, solltendurch direkte staatliche Transfers unter-stützt werden, die aus der Steuerkassefinanziert werden müssten und nichtaus den Sozialabgaben.

Straubhaar begründete seinen in denWirtschaftswissenschaften gängigenVorschlag mit dem Argument, dass dersoziale Ausgleich nicht allein Sache dersozialversicherungspflichtig Beschäftig-ten sei, sondern als staatspolitische Auf-gabe von allen Steuerzahlern zu leistensei. Straubhaar zeigte sich zuversicht-lich, dass grundlegende marktwirt-schaftliche Reformen der angesproche-nen Art eine gute Chance zur Realisie-rung hätten. Je drängender die Prob -leme würden, desto mehr werde auchder Öffentlichkeit klar, wie teuer dasineffiziente wirtschafts- und sozialpoliti-sche System der Gegenwart sei.

Straubhaar verwies auf die Regie-rungen Reagan und Thatcher sowie dieBeispiele Neuseeland und Niederlande.Dort hätten Reformregierungen un -mittelbar nach der Regierungsüber-nahme für nachhaltige marktwirtschaft-liche Reformen gesorgt, weil sie sichdarüber im Klaren gewesen seien, dasssie ihre Wiederwahlchancen für dienächste Legislaturperiode erhöhten.

Prof. Dr. Thomas StraubhaarLeiter HWWI Hamburg

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Friedrich Merz verwies auf die enor-men wirtschaftlichen Probleme derBundesrepublik. Die Zahl der sozialver-sicherungspflichtig Beschäftigten nehmedramatisch ab, die Zahl der Insolvenzensteige und fast fünf Millionen Menschenseien offiziell arbeitslos registriert. „Ausder strukturellen Wachstums- undBeschäftigungskrise werden wir nurdann herauskommen, wenn die Arbeits-marktverfassung grundlegend geändertwird und so neue Beschäftigungsanreizegesetzt werden“, sagte Merz. Zusätzlichsei eine Korrektur der Lohnfindungssys -teme unter Einschluss der übrigen Ar -beitsbedingungen notwendig, etwa derArbeits- und Urlaubszeiten. Die Flä-chentarife und Verbandstarife auf derbetrieblichen Ebene müssten wesentlichflexibler ausgestaltet werden, mahnteMerz. „Es ist dringend notwendig, künf-tig betriebliche Bündnisse für Arbeitzuzulassen, die es ermöglichen, vonTarifverträgen abzuweichen, wenn diesdem Erhalt bestehender oder der Schaf-fung neuer Arbeitsplätze dient.“ DerCDU-Politiker betonte ferner, dass dasKündigungsschutzgesetz reformiert wer-den müsse. „In der derzeitigen Ausgestal-tung verhindert es, dass neue Beschäfti-gung entsteht, und – das zeigt die hoheArbeitslosigkeit – kann die Arbeitneh-mer vor Entlassung nicht schützen.“ Alsbedeutsam für die wirtschaftlichen Rah-menbedingungen identifizierte Merz

eine radikale Vereinfachung des Steuer-systems. „Dann können wir über Investi-tions- und Leistungsanreize einen wich-tigen Beitrag zur Überwindung derWachstums- und Beschäftigungsmisereleisten“, sagte Merz. Das deutsche Steu-ersystem werde von den Bürgern nichtmehr verstanden. „Es ist deshalb ein kla-res ordnungspolitisch fundiertes Sanie-rungskonzept notwendig, das die markt-wirtschaftlichen Kräfte der Volkswirt-schaft erneuert.“ Eine grundlegendeReform des Einkommenssteuerrechtsmüsse dabei neben der Vereinfachungdes Systems vor allem dafür sorgen, dassdie Bürger über ein ausreichendes Ein-kommen verfügten, um für sich selbstund ihre Familien zu sorgen. „Der Staatdarf nicht besteuern, was die Menschenfür die Sicherung ihres existenznotwen-digen Bedarfs selbst benötigen“, forderteder Bundestagsabgeordnete. Als zweitezentrale Reformbaustelle identifizierteMerz die sozialen Sicherungssysteme.Die Wachstums- und Beschäftigungsmi-sere werde verschärft durch den demo-graphischen Wandel. „Es werden immerweniger Menschen geboren und dieÄlteren werden immer älter. Währendder Bevölkerungsanteil der unter 20-Jäh-rigen von 1991 bis 2020 weiter von 22auf 17 Prozent zurückgehen soll, dürftesich jener der über 60-Jährigen von gut20 auf knapp 29 Prozent vergrößern“,erläuterte Merz. Weniger junge Men-schen bedeuteten ebenso wie mehr ältereMenschen auch weniger Steuer- undBeitragszahlungen. Die demographischeEntwicklung belaste die gesetzlicheKrankenversicherung darum gleichzweifach: Zum einen stehe heute einüber 65-Jähriger vier Personen im Alterzwischen 20 und 64 gegenüber, währendes bis zum Jahr 2050 über zwei 65-Jäh-rige sein würden. Hinzu komme, dassdie Gesundheitskosten im Alter überpro-portional anstiegen, so dass ein 50-Jähri-ger das Doppelte und ein 70-Jähriger dasFünffache eines 25-Jährigen benötigten.„Im Ergebnis droht der Beitragssatz dergesetzlichen Krankenversicherung aufbis zu 25 Prozent im Jahr 2030 anzustei-gen“, warnte der Parlamentarier. DerAnteil der Pflegebedürftigen, die vonVerwandten versorgt würden, werde sichbis 2020 von heute 70 auf dann 35 Pro-

zent halbieren. „Wenn die deutsche Poli-tik den Stillstand fortsetzt, führen diebeschriebenen Entwicklungen in Zu -kunft zu dramatisch steigenden Ausga-ben im Gesundheitsbereich. Gleichzeitigwird die Einnahmebasis durch die demo-graphische Verschiebung und den mas -siven Verlust von Arbeitsplätzen schwin-den, wobei der Arbeitsplatzabbau wiede-rum durch steigende Krankenversiche-rungsbeiträge mit verursacht wird“,warnte Merz. Die von der CDU/CSU-Fraktion vorgeschlagene Entkoppelungder Gesundheitskosten von den Arbeits-kosten sei daher der einzig gangbareWeg. Mit Blick auf Innovationen undTechnologie erklärte Merz, Deutschlandmüsse durch diese beiden Komponentenwieder führend werden im Wettbewerb.Der Ausstieg aus der Kernenergie undeine Verweigerung großer Chancen, diesich aus der Biotechnologie für dieZüchtung neuer Pflanzen ebenso wie fürdie Medizin ergäben, würden langfristigzu gravierenden Folgen führen. „Natür-lich müssen auch die Risiken untersuchtund abgewogen werden – aber wir müs-sen auch nach den Chancen fragen undsollten zumindest ein wenig an die Tech-nikbegeisterung und den Unternehmer-geist im Zeitalter der Industrialisierunganknüpfen, der Deutschland einst sostark gemacht hat“, sagte Merz. Der Ein-stieg müsse in den Schulen beginnenund sich in Hochschulen und For-schungseinrichtungen fortsetzen. Bil-dung, Ausbildung, Wissenschaft undForschung bildeten das Fundament fürWachstum und Wohlstand in einer glo-balisierten Welt. Weil Deutschland alsExport orientierte Nation in besonderemMaße auf Ideen und Innovationen ange-wiesen sei, müsse mehr Freiheit für dieHochschulen eingefordert werden. Merzbetonte ferner die Bedeutung soliderStaatsfinanzen. „Ökonomisch sind dieRückführung der staatlichen Neuver-schuldung und die Reduktion derGesamtverschuldung für die gegenwär-tige Generation umso leichter zu tragen,je höher das wirtschaftliche Wachstumder Volkswirtschaft ist“, betonte Merz.„Es gilt deshalb, alle Reformmaßnahmendarauf zu fokussieren, die Dynamik derWirtschaftsprozesse in Deutschland zubeschleunigen.“

Friedrich Merz MdB

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gefordert, sinnvolle Rahmenbedingungenzu schaffen, um eine optimale Versorgungder Menschen mit Gütern und Dienstleis -tungen sowie eine Basis an sozialer Sicher-heit für die Bevölkerung zu gewährleisten.„Den Menschen kommt gleichzeitig dieAufgabe zu, Eigenverantwortung zu über-nehmen“, sagte Albert. Deutschland stehevor dem Dilemma, aufgrund der demo-graphischen Entwicklung und einerÜberregulierung sowie der in den zurückliegenden Jahrzehnten massiven Eingriffedes Staates in die Soziale Marktwirtschaft,Beschäftigte und Arbeitgeber die explo-dierenden Sozialkosten nicht mehr tragenkönnten. „Der Staat muss sich wieder aufseine originäre Aufgabe beschränken unddie Bevölkerung ist gefordert, Eigenvor-sorge zu betreiben und Verantwortung fürihr Wohlergehen zu übernehmen“, sagteAlbert. In einem „Fahrplan für mehrWachstum, Wettbewerbsfähigkeit undBeschäftigung“ forderte der Vorstandschefder Bayerischen Versicherungsbank eineSteuerentlastung für Unternehmen, einflexibleres Arbeitsrecht, bessere Ausbil-dungsbedingungen, Beschäftigungschan-cen für einfache Arbeiten, eine Reformder Arbeitslosenversicherung, eineGesundheitsprämie, eine Reform dergesetzlichen Rentenkasse sowie der Pflege-versicherung, eine Reform der Unfallver-sicherung und eine bessere Vereinbarkeitvon Familie und Beruf.

Philipp MißfelderBundesvorsitzender der Jungen Union Deutschlands

Philipp Mißfelder sprach mit Blickauf die rot-grüne Bundesregierung voneiner „beispiellosen Selbstaufgabe“. Diesezeige zweierlei: „Zum einen, dass dieIdeen und Konzepte, die 1998 unsystema-tisch zum rot-grünen Projekt zusammen-gezimmert wurden, von Anfang an völligverfehlt, der Lage unangemessen undschlicht unzeitgemäß waren. Zum ande-ren wird klar, dass die Lage des Landesernst ist und die Union die letzte Chancezum Umsteuern nutzen muss.“ Die Bilanzder vergangenen sieben Jahre sei „fürch-terlich“: Mißfelder erläuterte, dass dieArbeitsmarktreformen Hartz I bis IV, dasJump-Gesetz, die Ökosteuer und der fort-gesetzte Verkauf von Vermögensbestän-den zur Haushaltssanierung nach seinerAuffassung fünf Millionen Arbeitslose, 25Prozent Jugendarbeitslosigkeit, 42 Pro-

zent Sozialversicherungsbeiträge und vierJahre in Folge Verletzung des Europäi-schen Stabilitäts- und Wachstumspaktnach sich gezogen hätten. Auf demArbeitsmarkt gelte es folglich, durch ent-schlossene Deregulierung wieder Bewe-gung zu erzeugen und die Verwaltung derArbeitslosigkeit so schlank wie möglich zuorganisieren. Zu einem wirksamen Maß-nahmebündel gehöre auch eine Reformdes Arbeitsrechts, der Tarifbindung unddes Lohntransfersystems. Für das deut-sche Steuersystem forderte Mißfelder eineGeneralüberholung. Absenkung des Ein-kommenssteuertarifs bei gleichzeitigerAbschaffung vorhandener Ausnahmetat-bestände und Subventionen. Unter demStichwort Bürokratieabbau schlug Miß-felder vor, jedes Jahr zehn Prozent aller

bestehenden Gesetze zu prüfen – mit demZiel, sie ersatzlos zu streichen. Der Vorsit-zende der Jungen Union machte sich zu -dem für eine Reform der Sozialen Siche-rungssysteme stark. „Rot-grünes Stück -werk hat wirkliche Reformen nur auf -gehoben und erschwert“, kritisierte Miß-felder.

Rainer TögelMitglied des Vorstandes D.A.S. Rechtsschutz-Versicherung AG

„Freiheit und Wettbewerb bilden dieBasis für bessere Lebenschancen der Men-schen und für den Erfolg von Unterneh-men“, sagte D.A.S.-Vorstand RainerTögel. „Hierzu muss sich unser Land wie-der klar an der Sozialen MarktwirtschaftLudwig Erhards orientieren.“ Prioritäthabe die Entfesselung der Eigeninitiativeund die Stärkung der Eigenverantwor-tung. „Die Erneuerung der SozialenMarktwirtschaft verlangt vor allem, dassdie Politik den Bürgern und Unternehmenwieder die Freiheit zurückgibt, für sich sel-ber zu entscheiden, statt sie mit Bevor-mundung und überhöhten Steuern undSozialabgaben zu belasten“, sagte Tögel.Gleichzeitig müsse sichergestellt werden,dass sich die Solidarität bei der sozialenSicherung auf die wirklich Bedürftigenkonzentriere, nämlich die Einkommens-schwachen und auf Familien mit Kindern.Tögel kritisierte, dass die Beschäftigtenvom ersten Euro an mehr als 40 ProzentSozialabgaben zahlen müssen. „Wenn wirso weitermachen, wird die Strafsteuer auf

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Arbeitsplätze in den kommenden Jahrenauf weit über 50 Prozent ansteigen“,warnte der D.A.S.-Vorstand. Mit Blick aufdas Gesundheitswesen kritisierte Tögel,dass alle bisherigen Reformen in dem Ver-such stecken geblieben seien, eine nach-haltige Finanzierung des Gesundheitswe-sens zu erreichen. „Wir sind es aber denjungen Generationen schuldig, mit einerhöheren Kapitaldeckung und mehr Eigen-verantwortung die Sozialversicherung vomKopf auf die Füße zu stellen. Dann wirdauch Arbeit in Deutschland wieder bezahl-bar.“ Das Umlageverfahren in der gesetz-

lichen Krankenversicherung sei jedochnicht mehr in der Lage, die Herausforde-rungen einer älter werdenden Gesellschaftund steigender Gesundheitskosten zubewältigen. „Die Bürgerversicherung istder falsche Weg. Dagegen wird mit derEinführung einer sozial flankierten undkapitalunterlegten Gesundheitsprämie diebeschäftigungsfeindliche Koppelung derKrankenversicherung an den Arbeitsplatzbeseitigt.“

Cornelia YzerHauptgeschäftsführerin VerbandForschender Arzneimittelhersteller e.V.

Cornelia Yzer sagte, dass sich die Ge -werkschaften nach ihrer Auffassungwomöglich gegen notwendige Sozialrefor-men stellen könnten. „Das wichtigste fürdie Unternehmen aber ist, dass sie auf ihreMitarbeiter hören“, sagte Yzer. Wenn zweiDrittel der Deutschen der Auffassungseien, dass insbesondere in der Kranken-und Pflegeversicherung tief greifendeReformen notwendig sind, dann seiendies auch die Mitarbeiter in den Unter-nehmen, die diese Forderung stellen. „Esist wichtig, die Karten offen auf den Tischzu legen.“ Die Hauptgeschäftsführerin desVerbandes der Forschenden Arzneimittel-hersteller sprach sich dafür aus, dieGesundheitskosten von den Lohnkostenzu trennen und eine sozial flankierte Ge -sundheitspauschale einzuführen. „Wennwir in der Krankenversicherung einenkonsequenten Weg gehen wollen, dann isteine grundlegende Steuerreform hierfüreine zentrale Voraussetzung“, sagte Yzermit Blick auf die Reihenfolge durchzufüh-render Reformen. Dies begründete Yzerauch damit, dass eine Gesundheitspau-schale aus Steuermitteln sozial abgefedert

werden solle. Arbeitsmarkt-, Steuer- undSozialreformen müssten deshalb zusam-men angegangen werden. Yzer erklärte,dass bei durchgreifenden Sozialreformenzwar mit massiven Widerständen vonInteressengruppen zu rechnen sei – diesemüssten aber überwunden werden, umdie Herausforderungen zu bewältigen.

Yzer beklagte, dass die Versicherten durchplanwirtschaftliche Steuerungselementein der Gesundheitspolitik seit JahrenRationierungen von Leistungen hinzu-nehmen hätten. „Keiner weiß mehr, waser im Ernstfall an Leistungen erwartenkann“, kritisierte die Hauptgeschäftsfüh-rerin des Verbandes der Forschenden Arz-neimittelhersteller. „Auch für die Leis -tungserbringer gilt, dass sie im gegenwär-tigen System kaum noch etwas zu verlie-ren haben.“ Darum sei es dringend not-wendig, ein wettbewerblich organisiertesGesundheitswesen zu schaffen. �

Berichterstattung Wirtschaftstag 2005

Erwin Lamberts und Peter Hahne

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