singschwäne – die größten aller wintergäste

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Auch sie brauchen Lebensraum Carl-Albrecht von Treuenfels Ein milder Winter bekommt den freileben- den Tieren gut. Unter ihnen profitieren be- sonders die Vogel davon, wenn es wenig Schnee und Eis gibt. Zwar mussen sich dann in mitteleuropaischen Breiten die Ornitholo- gen, die vielen Hobbybeobachter und -zahler sowie die Tierfotografen eher bescheiden, weil nicht so viele gefiederte Durchziigler oder Gaste aus dem Norden und Osten des Kontinents auftauchen, doch sie werden sich freuen, dafl es weniger Kalte- und Hungerop- fer unter den Vogeln gibt als in einem stren- gen Winter. Und damit eine gute Vorausset- zung fur die - zumindest vorubergehende - Bestandsaufnahme mancher Art. Wasservogel leiden unter langen Frostperio- den vor allen anderen. Wenn sie auch grog- tenteils flexibel auf folgenreiche Temperatur- sturze durch spontane und groi3raumigeAus- weichmanover reagieren konnen, so fordert Singschwane - die grogten aller Wintergaste eine plotzliche, regional nicht begrenzte Ver- eisung von Seen, Fliissen und Uberschwem- mungsgebieten ihren Tribut. Da zeigt es sich, dai3 die einzelnen Arten unterschiedlich be- troffen werden: Die einen sind harter im Nehmen und konnen besser mit den Unbil- den des Winters umgehen als die anderen. Zu denen, die sich nicht so leicht unterkriegen lassen, gehoren die Singschwane (Cygnus cyg- n~s cygnus). Dort, wo sie die Eischalen spren- gen, herrschen auch im spaten Friihling noch bisweilen Temperaturen unter dem Gefrier- punkt, und somit sind die Vogel mit dem schwarzgelben Schnabel von Kindesbeinen an einiges gewohnt. Im Oktober treffen die ersten kleinen Zugverbande, oft zunachst nur in Familienstarke von bis zu acht Tieren (die Jungenzahl schwankt zwischen eins und sechs), aus den nordeurasischen Brutgebieten der borealen Zone und den sich siidlich an- Biologie in unserer Zeit / 19. Jahrg. 1989 / Nr. 1 0 V C H Verlagsgesellschafi mbH, 0-6940 Weinheim, 1989 004J-20~X/89/0102-0029 $ 02.JO/O schliei3enden ,,Trittsteingewassern" an der Nordsee und der Ostsee ein. Diejenigen aus Island landen im nordlichen Schottland und ziehen spater weiter nach Siiden und Westen: In England und Irland sind sie regelmaflige Wintergaste. Andere, die im Norden Skandi- naviens und im europaischen Norden der So- wjetunion den Sommer verbringen, stellen sich in schwedischen, danischen, norddeut- schen und polnischen Wasserrevieren ein und ziehen, je nach Wetterlage, nach kurzem oder langem Aufenthalt weiter siidwarts innerhalb der Bundesrepublik und in die Niederlande. Neben dem Wetter spielt auch der Wasser- stand in den Rastgebieten eine wichtige Rolle. Sind an der Unterelbe, an der Weser und am Niederrhein die angrenzenden Wiesen iiber- schwemmt, halten sich viele Schwane dort wochenlang auf, gelegentlich sogar den gan- Zen Winter. Wird es zu kalt, so ziehen einige weit nach Siiden: In Spanien und sogar in 29

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Auch sie brauchen Lebensraum

Carl-Albrecht von Treuenfels

Ein milder Winter bekommt den freileben- den Tieren gut. Unter ihnen profitieren be- sonders die Vogel davon, wenn es wenig Schnee und Eis gibt. Zwar mussen sich dann in mitteleuropaischen Breiten die Ornitholo- gen, die vielen Hobbybeobachter und -zahler sowie die Tierfotografen eher bescheiden, weil nicht so viele gefiederte Durchziigler oder Gaste aus dem Norden und Osten des Kontinents auftauchen, doch sie werden sich freuen, dafl es weniger Kalte- und Hungerop- fer unter den Vogeln gibt als in einem stren- gen Winter. Und damit eine gute Vorausset- zung fur die - zumindest vorubergehende - Bestandsaufnahme mancher Art.

Wasservogel leiden unter langen Frostperio- den vor allen anderen. Wenn sie auch grog- tenteils flexibel auf folgenreiche Temperatur- sturze durch spontane und groi3raumige Aus- weichmanover reagieren konnen, so fordert

Singschwane - die grogten aller Wintergaste

eine plotzliche, regional nicht begrenzte Ver- eisung von Seen, Fliissen und Uberschwem- mungsgebieten ihren Tribut. Da zeigt es sich, dai3 die einzelnen Arten unterschiedlich be- troffen werden: Die einen sind harter im Nehmen und konnen besser mit den Unbil- den des Winters umgehen als die anderen.

Zu denen, die sich nicht so leicht unterkriegen lassen, gehoren die Singschwane (Cygnus cyg- n ~ s cygnus). Dort, wo sie die Eischalen spren- gen, herrschen auch im spaten Friihling noch bisweilen Temperaturen unter dem Gefrier- punkt, und somit sind die Vogel mit dem schwarzgelben Schnabel von Kindesbeinen an einiges gewohnt. Im Oktober treffen die ersten kleinen Zugverbande, oft zunachst nur in Familienstarke von bis zu acht Tieren (die Jungenzahl schwankt zwischen eins und sechs), aus den nordeurasischen Brutgebieten der borealen Zone und den sich siidlich an-

Biologie in unserer Zeit / 19. Jahrg. 1989 / Nr. 1 0 VCH Verlagsgesellschafi mbH, 0-6940 Weinheim, 1989 004J-20~X/89/0102-0029 $ 02.JO/O

schliei3enden ,,Trittsteingewassern" an der Nordsee und der Ostsee ein. Diejenigen aus Island landen im nordlichen Schottland und ziehen spater weiter nach Siiden und Westen: In England und Irland sind sie regelmaflige Wintergaste. Andere, die im Norden Skandi- naviens und im europaischen Norden der So- wjetunion den Sommer verbringen, stellen sich in schwedischen, danischen, norddeut- schen und polnischen Wasserrevieren ein und ziehen, je nach Wetterlage, nach kurzem oder langem Aufenthalt weiter siidwarts innerhalb der Bundesrepublik und in die Niederlande. Neben dem Wetter spielt auch der Wasser- stand in den Rastgebieten eine wichtige Rolle. Sind an der Unterelbe, an der Weser und am Niederrhein die angrenzenden Wiesen iiber- schwemmt, halten sich viele Schwane dort wochenlang auf, gelegentlich sogar den gan- Zen Winter. Wird es zu kalt, so ziehen einige weit nach Siiden: In Spanien und sogar in

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Auch sie brauchen Lebensraum

Nordafrika wurden schon Singschwane ge- sichtet, wenngleich derartig ausgedehnte Flugreisen die Ausnahme sind. Schon in Belgien und Nordfrankreich gelten sie als Raritaten.

In der norddeutschen Tiefebene hingegen las- sen sich die groEen, zwischen sechs und vier- zehn Kilogramm schweren Vogel in jedem Winter besonders gut beobachten. Und weil sie dort zeitweise Wasserflachen und Wiesen mit zwei anderen der weltweit insgesamt sechs Arten der Gattung Cygnus teilen, den heimischen Hockerschwanen (Cygnus olor) und den von noch weiter aus dem Norden, namlich uberwiegend aus der Tundren-Zone, zugereisten Zwergschwanen (Cygnus colum- bianus bewickii), werden die besonderen Merkmale und Eigenschaften der Sing- schwane im Vergleich noch besser als sonst deutlich.

In der Groge steht der Singschwan dem Hok- kerschwan kaum nach. Er kann gut 150 Zen- timeter lang werden, und seine Flugelspame mi& zwei Meter - das sind 20 bis 30 Zenti- meter weniger als die des Hockerschwans.

Der Singschwan, dessen neuweltlicher ,,Ver- treter", der nordamerikanische Trompeter- schwan (Cygnus cygnus buccinator), der grogte aller Schwane ist, wirkt schlanker und elegan- ter als der Hockerschwan. Der stets senkrecht in die Hohe gestreckte Hals tragt mafigeblich zu diesem Eindruck bei. Auf dem Land be- wegt sich der Singschwan wesentlich leichtfii- Eiger. Auch braucht er vor dem Auffliegen nicht einen derart langen Anlauf wie sein uberwiegend halbdomestizierter Verwandter.

Die fast ausschliefilich vegetarisch - zu ei- nem guten Teil von Unterwasserpflanzen - lebenden Singschwane gehen gerne zum ,,Grasen" aufs griine Land. Vie1 haufiger als Hockerschwane fliegen sie im Winter auf Felder und Wiesen fernab von ihrem Ruhe- gewasser, das sie zur Nacht aufsuchen. Wo immer sie erscheinen (und darin ahneln sie den kleineren und gedrungener wirkenden Zwergschwanen), machen sie lauthals auf sich aufmerksam. Singschwane sind im Gegensatz zum iiberaus schweigsamen Hockerschwan, der auger selten geaugerten rauhen Rufen al- lenfalls ma1 im Zorn zischt oder schnarcht, ausgesprochen ruffreudig. Im Wasser, am Bo- den, insbesondere vor einem gemeinsamen Start und in der Luft halten sie gleichermaflen intensiv Stimmfuhlung untereinander. An stillen Wintertagen kiindigen sie sich mit ih- rem ,,angangang" schon mehrere Kilometer im voraus an. Die ,,singenden" Fluggerau- sche, die durch besondere Schallfedern beim Durchschlagen der Schwingen entstehen, kann indes nur der Hockerschwan erzeugen.

So gesellig sich die Singschwane im Herbst und Winter miteinander geben, so unduld- Sam verhalten sich die Paare nach der An- kunft im Brutgebiet gegen Artgenossen. Schon bei der Balz im Winterquartier, die mit vie1 Halsrecken, Kopfnicken, Fliigelschlagen und Stimmaufwand stattfindet, werden Un- freundlichkeiten ausgetauscht, doch sie sind harmlos gegen manchen Schlagabtausch, den sich zwei Mannchen um ein Nistrevier liefern konnen. D a bleibt mitunter einer der Rivalen auf der Strecke. Denn auch im Norden sind einsame Waldseen mit Uferbewuchs, schilf- reiche Zonen an Altwassern und geniigend groEe nahrungsreiche Moorblanken nicht so zahlreich, dai3 alle Singschwane sich pro- blemlos niederlassen konnen. Nicht nur die Menschen, auch ihresgleichen meiden sie zur Brutzeit unter allen Umstanden. Und die dauert gut funf Wochen. Nach zwei Monaten sind die Jungen bereits flugfahig, und wenn das Schicksal ihnen hold ist, konnen sie etwa zwanzigmal die Winterreise in den Siiden an- treten. Wie lange die Vogel leben, hangt nicht zuletzt davon ab, wie viele und wie gute Rast- raume sie in Mitteleuropa vorfinden (die im Norden Ostsibiriens brutenden in den chine- sischen und japanischen Kustengewassern).

Unbelastete Gewasser, von einigermagen sauberem Flugwasser iiberschwemmte, genu- gend groi3e Griinlandbereiche und Storungs- freiheit sind nur einige der Qualitatsmerk- male solcher Winterquartiere.

Carl-Albrecht v. Treuenfels, 1938 in Schwerin (Mecklenburg) geboren und nach 1945 auf dem Land in Schleswig-Holstein aufgewach- sen, beschaftigt sich seit fruhester Jugend mit der freilebenden Tierwelt. Schon in der Schulzeit berichtete er in Wort und Bild regel- magig in verschiedenen Zeitungen aus der Natur. Der gelernte Jurist ist Autor einer Reihe von Buchern (u. a. ,,Abenteuer Natur- schutz in Deutschland", ,,Sie alle brauchen Lebensraum", ,,Fur unsere Natur - Der WWF-Ratgeber" und als jungste Erschei- nung ,,Kraniche - Vogel des Glucks"), stan- diger Mitarbeiter verschiedener Zeitungen und Zeitschriften und u. a. Vorstandsmitglied der Umweltstiftung WWF-Deutschland (World Wildlife Fund for Nature). Prakti- schen Naturschutz verwirklicht er auf einigen Dutzend Hektar seines Bauernhofes im Kreis Herzogtum Lauenburg.

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