seminar epistem. kulturen u. felt, h. nowotny, k. taschwer wissenschaftsforschung – eine...
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Seminar Epistem. Kulturen
U. Felt, H. Nowotny, K. Taschwer
Wissenschaftsforschung – Eine Einführung
Frankfurt (M)/New York: Campus. 1995ISBN 3-593-35366-0
Kapitel 6 Geistes- und Sozialwissenschaften
Zur Geschichte der Sozialwissenschaften
Funktion der Geisteswissenschaften Verwendungskontexte transdisziplinäre Dialoge
Kap. 6: Geschichte
Trennung zwischen Natur- und Geistes-wissenschaften im 17. Jh. mit der Institutionalisierung der modernen NaWi: Hobbes vs. Boyle
zunächst Sieg der „mechanischen Naturphilosophie“ ... „Gerichtshof der Vernunft“
Kap. 6: Geschichte Imitation des „Erfolgsmodells“ durch
Gesellschaftswissenschaften: Reisen, Empirie als Erforschung des Sozialen
politische Arithmetik: Petty, Graunt, Halley, Süssmilch
Demographie, später nationalstaatliche „amtliche“ Statistik (insb. 19. Jh.)
Kap. 6: Geschichte 1830..1880: Statistik als allg.
„soziale“ Wissenschaft (Quetelet: homme moyen, statist. Gesetzmäßigkeiten wie in NaWi!), Statistik entdeckt Naturgesetz-lichkeiten ... Grundlage rationaler Politik
Royal Commission (UK), Verein für Socialpolitik (D)
Kap. 6: Geschichte Begriff „Sozialwissenschaft“:
Condorcet, Ende 18. Jh.; „Soziologie“: Comte, 19. Jh.
Aufgliederung in Teildisziplinen (SoWi, GeWi) im 19. Jh., im Zuge insb. Der universitären Institutionalisierung
wechselseitige Befruchtung, Wan-derung von „Metaphern“
Kap. 6: Geschichte keine gradlinige Entwicklung der SoWi! Wagner/Wittrock: Entwicklung anfangs
geprägt vor allem durch sozialreforme-rische Tätigkeit, weniger in akademi-schen Zirkeln
Ende 19. Jh. eher diffuse inhaltliche Vorstellungen, kaum Thematisierung großer Themen (wie Industrialisierung)
Kap. 6: Geschichte erst im 20. Jh. Spezialisierung, zuvor
umfassende und historisch geprägte Problemstellungen dominant
engere Verbindung zwischen National-staat und SoWi bildet sich aus
durch Weltkriege, Faschismus und Totalitarismus unterbrochene Entwicklungslinie der SoWi im 20. Jh.
Kap. 6: Geschichte Wagner/Wittrock: Verständnis der
Entstehung und Entwicklung der SoWi nur unter Bezugnahme auf formative Prozesse, die das sich ändernde Verhältnis Staat/Universität betreffen
u.a. Spaltung in akademischen und politisch-laienhaften Diskurs
Kap. 6: Geschichte aktuell: durch Zurücktreten des Staats
(zugunsten Markt, Globalisierung, ...) verlieren die SoWi ihren wichtigsten (wenn auch idR kritisierten) Ansprechpartner und auch Auftraggeber
mit diesem Rückzug geht auch der „kritischen“ (marktfremden) Strömung eine „Angriffsfläche“ verloren ...
Kap. 6: Funktion „Krise“ der SoWi ... in der wissen-
schaftspolitischen Diskussion domi-nieren naturwissenschaftliche Standards
USA: political correctness als Antwort
3 Gegenstrategien
Kap. 6: Funktion Kompensationsfunktion (O.
Marquard) ... „Unvermeidlichkeit der GeWi“: Stillung des Sinnbedarfs der Modernen
Orientierungsfunktion im Konzept der „zwei Kulturen“: rationale Bewältigung des nawi-techn. Verfügungswissens
Aufklärungsfunktion: Vollzug, nicht Kompensation der Moderne
Kap. 6: Funktion Kulturwissenschaften: Zusammen-
fassung der zersplitterten Gewi/Sowi Teildisziplinen, als Basis für Über-windung der Barrieren zwischen diesen Kulturen im transdisziplinären Diskurs?
eher: Forderung nach Legitimation durch ökonom. Verwertbarkeit des Wissens nimmt konkretere Formen an
Kap. 6: Funktion sich stark und rasch verändernde
Ansprüche einer komplexer werdenden Welt fordern die GeWi/SoWi in ihrem immer wieder beschworenen Wesen heraus
Kap. 6: Verwendungskontexte Frage nach der Verwertbarkeit der
SoWi ... Spektrum zwischen übertrieben optimistischen und selbstkritischen Ein-schätzungen
Schumpeter: Nationalökonomie in „selbstverschuldeter Nützlichkeit“ ist Ausnahme
Kap. 6: Verwendungskontexte Wechselwirkungen zwischen SoWi
und Entwicklung der modernen National-staaten (Wagner/Wittrock)
Bedarf an quantifizierenden Analysen gesellschaftlicher Tatbestände nimmt zu (18./19. Jh.)
Steuerung und Monitoring von Kollekti-vierungsprozessen: Expertise!
Kap. 6: Verwendungskontexte Desrosières: Wechselwirkung
Statistik und SoWi ... soziale Phänomene sind nicht nur „soziale Tatsachen“ (Durk-heim), sondern durchaus „gemachte Tatsachen“
... Statistik als politische Tätigkeit
Kap. 6: Verwendungskontexte moderne Gesellschaftssysteme ...
lassen sich nur durch reflexive Eingliederung des sich entfaltenden SoWi Kontexts konstituieren
SoWi organisieren sich umgekehrt so, dass ihre Entwicklung eine Reflexion auf die Evolution dieser Systeme darstellt
Kap. 6: Verwendungskontexte Disput über den Einsatz der SoWi als
„Sozialtechnologie“ heute eher pragmatische Sichtweise
... Wissenschaften produzieren nicht un-bedingt besseres (aber anderes) Wissen (Beck/Bonß)
„anschlussfähige“ prakt. Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse
Kap. 6: Verwendungskontexte Reformkoalition (1970er) zwischen
reformorientierten Politikern und SoWi ... Kontroversen um technische Risken führen zu starkem Vertrauenseinbruch in Expertenstatus
Expertenwissen: Anwendung setzt ausreichende Sicherheit voraus; sonst ist eher „Orientierungswissen“ gefragt
Kap. 6: Verwendungskontexte i.a. eher indirekte Wirkungsweise der
GeWi/SoWi: Interpretationsangebote, Übersetzungserfordernis in Alltagskontext
Y. Ezrahi: „Privatisierung“ der Wissenschaft ... Marktorientierung erzeugt Druck und Rückgang der Bedeutung von Wiss. im kulturellen Legitimationsgefüge einer auf Verbesserung ausgerichteten demokratischen Politik
Kap. 6: Verwendungskontexte Druck zur Transdisziplinarität: Organi-
sation der Wissensproduktion über etablierte disziplinäre Grenzen hinweg, Heterogenität bietet größere Offenheit gegenüber gesellschaftlichen Problemdefinitionen, macht aber auch Legitimation schwieriger
Wissensexpansion
Kap. 6: Verwendungskontexte heute ... Ebenbürtigkeit von NaWi
und GeWi/SoWi, letztlich auch hinsichtlich der Kommerzialisierung/Einbindung in den Markt
Unterschiede: u.a. in der stärker angelegten Reflexivität der veränderten Wissensproduktion
Kap. 6: Verwendungskontexte SoWi ... teilen mit GeWi das
Interesse, Funktionieren der Gesellschaft, Her-stellen von Kultur und Sinnproduktion zu verstehen
jedoch stärker analytischer Zugang, Konstruktion prakt. und techn. Hilfs-mittel zum Verständnis und zur Be-wältigung der Welt
Kap. 6: Transdisziplinarität Konstruktion einer Dichotomie
zwischen technisch-nawi und gewi-Kulturen (z.B. C.P. Snow, 1959): „Fortschritt vs. Traditionsbewahrung“
W. Lepenies: „dritte Kultur“ der SoWi ... Dilemma zwischen szientifischer und hermeneutischer Orientierung
Kap. 6: Transdisziplinarität Entstehung disziplinärer Identität ...
kognitive Identität soziale Identität historische Identität
Whitley: spezifische Organisations-strukturen von Wissenschaftskulturen ... wechselseitige Abhängigkeit und standardisierte Methoden
Kap. 6: Transdisziplinarität T. Becher: people-to-problem ratio
als Messgröße für die Struktur einer Forschungslandschaft ... „städtische“ vs. „ländliche“ Forschungsbereiche
Initiation: „Gründungsmythen“, Forschungssprachen/Standards/Riten
Kap. 6: Transdisziplinarität disziplinäre Verschiedenheit ... ist ein
Hemmnis für Transdisziplinarität Einheitswissenschaft (Wiener Kreis)
gescheitert; theoret. Physik träumt z.T. immer noch von “final theory“
trotz institutionalisierter Widerstände aufgrund auftretender Problemlagen Tendenz zur Transdisziplinarität
Kapitel 7 Wissenschaft und Technik: die
soziale Formbarkeit von Technik Wissenschaft und Technik: unscharfe
Grenzen Technische Innovationsprozesse Großtechnische Systeme Wissenschaft/Technik/Militär
Kap. 7: Technowissenschaft in der Entstehungsphase der
neuzeit-lichen Wissenschaft ... keine Trennung von Wissenschaft und Technik (z.B. Patentmonopol der wiss. Akademien wie Royal Society oder Académie des Sciences)
F. Bacon: Idee der Einheit von Wahrheit und Nützlichkeit
Kap. 7: Technowissenschaft 18. Jhdt.: in Frankreich ... Trennung
von wiss. Gesellschaften und Aus-bildungsinsitutionen
Humboldt: strenge Unterscheidung von Wissenschaft und ihrer Anwendung (Idee der „philosophischen Universität“)
dt. polytechnische Lehranstalten: prakt., anwendungsorientiertes Wissen
Kap. 7: Technowissenschaft dritte Phase (ab etwa 1870):
Trennung verschwimmt wieder mit zunehmender Einsicht in die Nützlichkeit von Wissen für Staat und Wirtschaft, außeruniv. Forschung, div. Kooperationsformen im Dreieck Staat, Universität, Industrie
„science based industries“ ab Ende d. 19. Jhdt.
Kap. 7: Innovationsprozesse seit den 1970ern ... wissenschaftliche
Produktivität und Innovation zentrale für Wettbewerbsfähigkeit und Prosperi-tät von Nationalökonomien
„lineares“ Technikgenese-Modell – Grundlagenforschung / Anwendungs-entwicklung / Vermarktung – aus-reichend?
Kap. 7: Innovationsprozesse G. Dosi/R. Nelson: Technik ... Bündel
an theoret. und prakt. know-how (Wissen, Methoden, Verfahren, Instrumente, Maschinen, ...)
„technologisches Paradigma“: legen von der Technik zu lösende Probleme und die Art der Lösung fest ... techno-logische Pfade (lock-ins, Optionen, ...)
Kap. 7: Innovationsprozesse social shaping of technology (SST):
seit den 1980ern ... These: Technik ist sozial geformt; folgt keiner eigenen, selbstbestimmenden Logik, sondern ist beeinflusst von ökonomischen, kulturel-len, politischen, organisatorischen, ... Faktoren
sozialkonstruktivistisches Modell
Kap. 7: Innovationsprozesse SST
soziale Interessensgruppen sind bestim-mend (nicht individuelle „Genies“)
Ablehnung von technologischem Determi-nismus, sondern soziale Aushandlung
keine Unterscheidung zwischen tech-nischen, gesellschafltichen, ökonomischen oder politischen Aspekten der Technikent-wicklung
Kap. 7: Innovationsprozesse SST
Formungsprozess von Technologie steht im Mittelpunkt
Herausforderung ist Darstellung des Zu-sammenhangs zwischen Gesellschaftsstruk-turen und technolog. Entwicklung
hohe Aufmerksamkeit wg. Neugestaltung bestimmter Technologien in sensiblen Bereichen wie Reproduktionstechnologien
Kap. 7: Innovationsprozesse social construction of technology
(SCOT) untersucht komplexen Zusammenhang
zwischen technischen Artefakten, Tätig-keiten und Akteuren
bezieht außerdem den Aspekt der techno-logischen Formung der Gesellschaft mit ein
„seamless web“ als Metapher
Kap. 7: Innovationsprozesse SCOT
„technologischer Rahmen“ ... Konstrukt soll helfen zu beschreiben, wie Technologie die soziale Umgebung strukturiert und eine spezifische Kultur formt, sowie erklären, wie neue Technologien konstruiert werden
Analyse der Interaktionen zwischen Akteuren, der Theorien, Problemlösungs-strategien, Verwendungspraktiken, ...
Kap. 7: Innovationsprozesse SCOT
Verwerfung eines klaren Stadienmodells Betonung der Rolle relevanter
Interessens-gruppen (stakeholders) im Entwicklungs- und Diffusionsprozess von Technologie
Rolle von Interpretation / Stabilisierung techn. Artefakte in sozialen Gruppen
Kap. 7: Big Technologies technische Großsysteme – wie
Eisen-bahn- oder Telekommunikations-systeme – spiel(t)en eine zentrale Rolle im Industrialisierungsprozess und veränder(te)n die Gesellschaft
bereits Ende 19. Jh. Entstehung von „big technologies“
Kap. 7: Big Technologies Th. Hughes: Beschreibung
großtech-nischer Systeme Analyse der komplexen Entstehungs-,
Diffusions- und Niedergangsprozesse sowie der sozialen Wechselwirkungen
Annahme: Systeme bestehen aus Vielzahl technischer Artefakte und anderer, hetero-gener Komponenten (Wissen, Geld, Recht, Organisationen, ...)
Kap. 7: Big Technologies nach Hughes ... großtechnische
Systeme werden von „system builders“ erfunden und errichtet/entwickelt Mit-Erfindung der entsprechenden sozialen
Strukturen ist erfolgsentscheidend systemischer Zusammenhang ist relevant:
„Passform“ zwischen System und seiner sozio-ökonomischen Umgebung
Kap. 7: Big Technologies Bsp. Edison ... mit der Glühbirne soz.
die Stromverbraucher-Gesellschaft mit-erfunden
in der Entwicklung Trend von Einzel-personen (Erfinder-Unternehmer; s. Schumpeter) zu Arbeitsteiligkeit in der Koordination des system building ... Reduktion der ursprüngl. Vielfalt
Kap. 7: Big Technologies Phasenmodell der Systemgenese
nach Hughes Erfindung, Entwicklung zur (lokalen)
Funktionstüchtigkeit; Einbettung Transfer: technische Stile für Diffusion
und Migration in div. Milieus Wachstum, Wettbewerb (mit anderen
Systemen) und Konsolidierung (Kapital-intensivierung, Effizienzoptimierung)
Kap. 7: Militärtechnik Wechselwirkung zwischen wiss.-techn.
Bereich und militärischem Bereich ... lange Tradition (Archimedes, Leonardo, Galilei, ...; frz. École Polytechnique)
trotz institutionell klarer Abgrenzungen infolge zahlreicher Verbindungen wechselseitige Interdependenz
20. Jh.: wissenschaftliche Kriegsführung
Kap. 7: Militärtechnik Manhattan State Project: jahrelange
Kooperation v. 2000+ Wissenschaftern
zahlreiche spin-offs der Waffen-forschung, zivile Kommerzialisierung
Großforschungseinrichtungen org. Zusammenarveit von Industrie,
Wissenschaft und Staat nach WK II
Kap. 7: Militärtechnik Kontextabhängigkeit technolog.
Entwicklungen (MacKenzie): Militär sucht Genauigkeitsverbesserungen, Industrie setzt mehr auf Verlässlichkeit und ökonom. Produktionsbedingungen z.B. Nukleartechnologie (Militär
präferiert Leichtwasserreaktoren wg. waffenfähigem Plutonium)
Kap. 7: Militärtechnik Balance im Dreieck Militär-Wissen-
schaft-Industrie ist entscheidend für funktionierende Kooperation Kommunikationsfreiheit der
Wissenschaft, Offenheit für Alternativen
Industrie braucht kostenreale Produktions-standards im Wettbewerb
Militär sucht pragmatische Antworten
Kap. 7: Militärtechnik Legitimationsstrategien:
in Kriegszeiten ... Mittelbeschaffung ist kein Problem
in Friedenszeiten ... militärische Forschung auf Kosten der Zivilforschung; Konstruktion von Feindbildern
Allianzen: Kooperation Wissenschaft-Militär auch „friedlich“, z.B. nach 1945
Kap. 7: Militärtechnik wechselseitige Verschränkung der
Interessen Militär greift auf akad. Forschung zurück Zivile/akad. Forschung „treibt“ z.T. mili-
tärische Anwendungen (neue Optionen) militärische Anwendung wiss.-techn.
Erkenntnisse nur sehr bedingt durch Wiss. kontrollierbar