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Rechtswissenschaftliches Institut
GrundrechteFS 2015
Grundrechtsbindung und Grundrechtsträgerschaft
Dr. Stefan Schürer
Rechtswissenschaftliches Institut
Seite 2
Grundrechtsverpflichtete (-adressaten)
– Art. 35 Abs. 2 BV:
Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen.
– Art. 1 EMRK:
Die Hohen Vertragsparteien sichern allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I bestimmten Rechte und Freiheiten zu.
– Art. 2 Abs. 1 UNO-Pakt II:
Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, die in diesem Pakt anerkannten Rechte zu achten und sie allen in seinem Gebiet befindlichen und seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen ohne Unterschied […] zu gewährleisten.
Prof. R. Kiener
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Seite 3
Verpflichtung staatlicher Akteure
Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt
– Alle staatlichen Organe auf allen Ebenen des Bundesstaats
– im Rahmen aller Zuständigkeiten (auch in Überschreitung von Kompetenzen)
– Auch in Sonderstatusverhältnissen
Prof. R. Kiener
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Seite 4
Staatliche Aufgaben (Art. 35 Abs. 2 BV)
Begriff:
– Alle Tätigkeiten, die Verfassung oder Gesetz dem Staat zuweisen
– Massgebend ist der konkrete Zweck (Erfüllung einer Staatsaufgabe), nicht die Trägerschaft (staatlich oder privat) bzw. die Handlungsform (öffentliches Recht oder Privatrecht)
Formen der Aufgabenerfüllung:
– in hoheitlichen Handlungsformen
– in Formen des Privatrechts
Literaturhinweis:
Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 3. A., Bern 2011, S. 106 ff.
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Seite 5
Unmittelbare Verpflichtung Privater?
Grundsatz:
– Private sind grundrechtsberechtigt, und nicht -verpflichtet
Ausnahmen:
– Private sind direkt an ein Grundrecht gebunden (direkte Horizontalwirkung, direkte Drittwirkung)
– Private erfüllen Staatsaufgaben
Prof. R. Kiener
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Seite 6
Horizontalwirkung von Grundrechten
Direkte Horizontalwirkung (auch: direkte Drittwirkung):
– Verfassungsunmittelbare Geltung von Grundrechten unter Privaten
– Art. 8 Abs. 3 Satz 3 BV (Gleicher Lohn von Mann und Frau für gleiche Arbeit)
– Art. 23 Abs. 2 und 3 BV (Koalitionsfreiheit)?
– Art. 28 Abs. 3 BV (Streikrecht)?
Indirekte Horizontalwirkung (auch: indirekte Drittwirkung):
– Pflicht der Träger von Staatsaufgaben, den Grundrechtsinteressen Privater beim Erlass und bei der Anwendung von Rechtsnormen, die das Verhältnis unter Privaten regeln, Rechnung zu tragen (vgl. Art. 35 Abs. 3 BV)
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Fall Seelig (BGE 80 II 26)
- Der Grundsatz der Pressefreiheit betrifft ausschliesslich die Rechtsbeziehungen zwischen dem Bürger und dem Staat.
- Die Freiheitsrechte gewährleisten dem Bürger die freie, vom Staat nicht behinderte Betätigung in den betreffenden Lebensbereichen.
- Die Freiheitsrechte verschaffen keinen Anspruch auf positive Leistungen des Staates (veraltet!)
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Rechtswissenschaftliches Institut
Fall Post (BGE 129 III 35)
- Die Post nimmt im Bereich der Wettbewerbsdienste keine staatlichen Aufgaben wahr
- Keine Grundrechtsbindung der Post gestützt auf Art. 35 Abs. 2 BV
- Keine Grundrechtsbindung der Post gestützt auf Art. 35 Abs. 1 und 3, da die Post im Bereich der Wettbewerbsdienste gleich gestellt sein soll wie ihre private Konkurrenz
- Zivilrechtlicher Ansatz: fehlende sachliche Gründe für die Ablehnung des Versands
Seite 8
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Fall Verkehrsbetriebe (BGE 127 I 84)
- Die Grundrechte müssen auch dann gewahrt werden, wenn das Gemeinwesen privatrechtlich handelt
- Die Delegation von öffentlichen Aufgaben an einen Privaten hebt die Pflicht zur Wahrung der Grundrechte nicht auf
- Das Gemeinwesen muss dafür sorgen, dass der private Konzessionär die Grundrechte respektiert
Seite 9
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Seite 10
Konstellationen
– Staat – GR-Bindung
Hoheitliches Handeln – Private – GR-Bindung
Privat-rechtlichesHandeln
– Private
– Grundsatz: Keine GR-Bindung; allenfalls Horizontalwirkung
– Ausnahmsweise: GR-Bindung, wenn staatliche Aufgabe erfüllt
– Staat
– GR-Bindung, wenn staatliche Aufgabe erfüllt
– Handeln im „freien Wettbewerb“? Umstritten
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Prof. D. Moeckli Seite 11
Grundrechtsträgerschaft
• Wer ist Träger eines Grundrechts und kann sich somit auf dieses Grundrecht berufen?
• Die Grundrechtsträgerschaft muss für jedes Grundrecht gesondert ermittelt werden
• Die Grundrechtsträgerschaft lässt sich nicht immer dem Text der BV entnehmen. Beispiel: Art. 8 Abs. 1 BV:
• Text: «Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.»
• Umfasst auch juristische Personen!
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Prof. D. Moeckli Seite 12
Grundrechtsträger: Überblick
Grundrechte
Schweizer Bürgerinnen und Bürger
Ausländer-/innen mit Niederlassungsbewilligung
Juristische Personen
Übrige Ausländerinnen und Ausländer
Gemeinden
Staat ?
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Prof. D. Moeckli Seite 13
Natürliche Personen
• Grundsätzlich sind alle natürlichen Personen Träger aller Grundrechte
• Ausnahmen:
• Bürgerrechte: nur Schweizerinnen und Schweizer: politische Rechte, Niederlassungsfreiheit, Schutz vor Ausweisung
• Wirtschaftsfreiheit: nur Schweizerinnen und Schweizer sowie ausländische Staatsangehörige, die fremdenpolizeilich uneingeschränkt auf dem Arbeitsmarkt zugelassen sind
• Grundrechtsträgerschaft beginnt mit der Geburt
• Ungeborenes Leben?
• Grundrechtsträgerschaft endet mit dem Tod
• Fortwirkung bestimmter Grundrechte über den Tod hinaus: BGE 129 I 173 (Meilen oder Rom?)
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Seite 14
Meilen oder Rom? (BGE 129 I 173)
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Prof. D. Moeckli Seite 15
Grundrechtsmündigkeit
• Minderjährige sind Träger aller Grundrechte
• Aber verfügen sie auch über die Grundrechtsmündigkeit?
• Grundrechtsmündigkeit = Prozessuale Handlungsfähigkeit bei Grundrechtsverletzungen: Recht, eine Grundrechtsverletzung selbständig (d.h. auch ohne gesetzlichen Vertreter) geltend zu machen
• Art. 11 Abs. 2 BV: Kinder und Jugendliche üben ihre Rechte im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit aus
• Spezifisch in Bezug auf die Religionsfreiheit: Art. 303 ZGB: Abs. 1: Über die religiöse Erziehung verfügen die Eltern; Abs. 3: ab 16 entscheidet das Kind selbständig über sein religiöses Bekenntnis
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Prof. D. Moeckli Seite 16
Juristische Personen des Privatrechts
• Grundrechtsträger, soweit die fragliche Garantie nicht an natürliche Qualitäten des Menschen anknüpft und sich von ihrer Funktion her auch für juristische Personen eignet
• Geeignet: z.B. Rechtsgleichheit (Art. 8 BV), Eigentumsgarantie (Art. 26 BV), Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV)
• Nicht geeignet: z.B. Ehefreiheit (Art. 14 BV), Recht auf Leben (Art. 10 Abs. 1 BV)
• Umstritten: z.B. Religionsfreiheit (Art. 15 BV). Bundesgericht: nur juristische Personen, die nach ihren Statuten ein religiöses oder kirchliches Ziel verfolgen
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Prof. D. Moeckli Seite 17
Juristische Personen des öffentlichen Rechts
• Regel: Können sich nicht auf die Grundrechte berufen: Der Staat ist grundrechtsverpflichtet, aber nicht grundrechtsberechtigt
• Ausnahmen:
• Wenn sie nicht hoheitlich handeln und wie Privatpersonen betroffen sind
• Beispiel: bei Eingriffen in ihre Eigentumsgarantie
• Soweit sie sich auf Autonomiegarantien berufen können, insbesondere die Gemeindeautonomie
• Beispiel: BGE 139 I 280 (Kopftuchverbot Bürglen)
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Seite 18
Grundrechtsverzicht
Begriff:
– Einzelner stimmt einem an sich unzulässigen GR-Eingriff des Staates zu
– Einzelner setzt sich nicht gegen staatlichen GR-Eingriff zur Wehr
⇒ Eingriffe können zulässig werden, die ohne Zustimmung verfassungswidrig wären
Prof. R. Kiener
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Seite 19
Verzichtbarkeit?
Grundsatz
– Genereller Verzicht auf GR ist nicht möglich
– Widerrufbarer Ausübungsverzicht im Einzelfall möglich
Voraussetzungen an die Verzichtbarkeit
– Ausdrücklicher Verzicht
– Urteilsfähigkeit (freier Wille; Urteilsfähigkeit; Kenntnis über die Situation und die Folgen der Entscheidung)
Prof. R. Kiener
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Völkerrecht und Bundesrecht
Völkerrecht und Bundesgesetz
-Art. 190 BV enthält keine Vorrangregel
-Grundsätzlicher Vorrang des Völkerrechts gegenüber Bundesgesetzen
-Ausnahme: Parlament ist bewusst vom Völkerrecht abgewichen (Schubert-Praxis, BGE 99 Ib 39)
-Keine Anwendung der Schubert-Praxis bei menschenrechtlichen Verträgen (PKK-Praxis, BGE 125 II 417)
Völkerrecht und Bundesverfassung
-Vorrang des zwingenden Völkerrechts (Art. 139 Abs. 2, Art. Art. 193 Abs. 4 und Art. 194 Abs. 2 BV)
-Übriges Völkerrecht? Siehe BGE 139 I 16
Seite 20
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Zwingendes Völkerrecht
- Zwingendes Völkerrecht als harter Kern des Völkergewohnheitsrechts
- Teilweise als Vertragsrecht ausgestaltet
- Regeln, von denen aufgrund ihres Inhalts unter keinen Umständen abgewichen werden darf
- Beispiele: Genozidverbot; Verbot der Sklaverei, der Folter und systematischen Rassendiskriminierung (Apartheid); non-refoulement-Gebot
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