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November 2010 Stellungnahme Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (für die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften) www.leopoldina.org www.acatech.de www.bbaw.de www.akademienunion.de

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November 2010

Stellungnahme

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention

Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften

acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (für die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften)

www.leopoldina.org

www.acatech.de

www.bbaw.de

www.akademienunion.de

Impressum

Herausgeber Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften –Geschäftsstelle: Emil-Abderhalden-Straße 37, 06108 Halle (Saale)Berliner Büro: Reinhardtstraße 14, 10117 Berlin

acatech – DEUTSCHE AKADEMIE DER TECHNIKWISSENSCHAFTENGeschäftsstelle: Residenz München, Hofgartenstraße 2, 80539 MünchenHauptstadtbüro: Unter den Linden 14, 10117 Berlin

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Jägerstraße 22/23, 10117 Berlin

Union der deutschen Akademien der WissenschaftenGeschwister-Scholl-Straße 2, 55131 Mainz

RedaktionDr. Kathrin Happe, Leopoldina

Gestaltungunicommunication, BerlinSatzInes Krause, Halle (Saale)DruckElbedruckerei Wittenberg

© 2010 Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e.V.– Nationale Akademie der Wissenschaften –

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Aktivitäten der Akademiengruppe sowie der Druck dieser Stellungnahme wurden ermöglicht durch die finanzielle Zuwendung des Bundesmini steriums für Bildung und Forschung und des Landes Sachsen-Anhalt.

ISBN: 978-3-8047-2852-3

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention

Vorwort I

Mitwirkende in der Akademiengruppe II

Zusammenfassung und Empfehlungen IV

1 Einleitung 1 AllgemeinePräventionsprogramme 1

IndividuelleVorsorgeimfamiliärenKontext 2

DasGendiagnostikgesetzvom31.Juli2009 3

DieZukunftgenetischerUntersuchungen–zwischenHoffnungenundSorgen 3

2 Genetische und epigenetische Grundlagen von Gesundheit und Krankheit 5 Einführung 5

GenetischeInformation 6

DieBedeutungmonogenerMerkmale 7

Multifaktorielle(genetischkomplexe)Krankheiten 9

ZurRollevonGenom,EpigenomundUmweltbeiderindividuellenEntwicklungvonMenschen,

derErhaltungihrerGesundheitundderEntstehungvonKrankheiten 11

Chromosomenstörungen 12

Mitochondriopathien 13

3 Medizinischer Kontext genetischer Diagnostik 15 DiemolekulareAbsicherungdesklinischenVerdachtsaufeinemonogenbedingteErkrankung 15

PräzisierungderPrognose 17

PrädiktiveDiagnostikmonogenbedingterKrankheiten,diesichspätmanifestieren 17

VorgeburtlicheDiagnostik 19

GenetischeReihenuntersuchungen 21

Informationsquellen 22

DasProblemderprädiktivengenetischenDiagnostikbeimultifaktoriellenKrankheiten 22

DieBesonderheitengenetischerInformationimmedizinischenKontext 23

InterdisziplinäreundüberregionaleKompetenzzentrenfürbehandelbaregenetischeKrankheiten 24

NotwendigkeitderärztlichenFortbildung 24

4 Quantifizierung von Risiken 27 RisikobewertunganhanddesBeispielsErblicherDarmkrebs 27

SensitivitätundSpezifitätalsMaßederTestgüte 28

PositivundnegativprädiktiverWert 29

AltersabhängigeErkrankungswahrscheinlichkeit 30

RelativeRisikomaße 30

Inhalt

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention

5 Die Zukunft der Humangenomforschung: Bedeutung für die prädiktive Diagnostik 31 GenomweiteAssoziationsuntersuchungen(GWAS) 31

Hochdurchsatzsequenzierung(„nextgenerationsequencing“) 32

BedeutungdermodernengenetischenAnalysemethodenfürdieKrankheitsforschung 34

TranslationgenetischerTestsineinebesserePatientenversorgung 35

Internet-basierte„Direct-to-Consumer“(DTC)-AngebotezurgenetischenDiagnostik 36

Heterozygotentestung 37

BedürfnisseinForschungundallgemeinerFortbildung 38

6 Die EuroGentest-Erhebung genetischer Reihenuntersuchungen in Europa 41 Neugeborenenscreening 41

VorgeburtlichesScreeningaufChromosomenstörungenundNeuralrohrdefekte 42

Kaskadenscreening 43

7 Gesundheitsökonomische Aspekte 45 WannistDiagnostikwirtschaftlich? 45

KomponentenderWirtschaftlichkeit 45

WirtschaftlichkeiteinesdiagnostischenTests 46

WirtschaftlichkeitvonScreeningprogrammen 46

AufgabenderForschungs-undGesundheitspolitik 47

8 Medizinethische Aspekte 49 WahrungderSelbstbestimmung 49

GenetischesWissenundFamilienangehörige 49

Schweigepflicht 50

Nutzenundnichtschaden 50

UnterschiedlicheEbenenderVerantwortung 51

Gerechtigkeitserwägungen 51

9 Das deutsche Gendiagnostikgesetz 53 PersönlicherundsachlicherAnwendungsbereich 53

GenetischeUntersuchungenzumedizinischenZwecken(§§7-14) 54

VorgeburtlicheUntersuchungenundgenetischeReihenuntersuchungen(§§15-16) 57

GenetischeUntersuchungenimArbeits-undVersicherungsbereich(§§18-22) 58

RichtlinienkompetenzderGendiagnostik-Kommission(§23) 58

Rechtsfolgen(§§25,26GenDG) 59

RegelwerkeberufsständischerOrganisationen 59

NovellierungsbedarfdesGendiagnostikgesetz 59

Inhalt

10 Literatur 65

11 Abkürzungsverzeichnis 69

12 Glossar 70

13 Anhang 73 AnhangzuKapitel4 73

AnhangzuKapitel6 75

AnhangzuKapitel7 87

Textgenese 89

IPrädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention

Die Früherkennung behandelbarer Krankheiten spielt in der modernen

Medizin eine immer größere Rolle. Die prädiktive genetische Diagnostik stellt

in Verbindung mit sich rasch fortentwickelnden Analysemethoden und der

Sequenzierung ganzer Genome in dieser Hinsicht Neuland dar.

Zentrale Aufgabe der Nationalen Akademie der Wissenschaften ist es, gerade

solche Themen und Fragen, mit denen die Gesellschaft Neuland betritt, auf­

zugreifen, und wissenschaftsbasierte Empfehlungen zu ihrer Beantwortung

aufzuzeigen.

Mit der vorliegenden Stellungnahme greifen die Leopoldina – Nationale

Akademie der Wissenschaften, die acatech – Deutsche Akademie der Technik­

wissenschaften und die Berlin­Brandenburgische Akademie der Wissenschaf­

ten (für die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften) ein gesell­

schaftlich außerordentlich relevantes und kontrovers diskutiertes Thema auf.

Die Stellungnahme leuchtet das weite Feld der prädiktiven genetischen

Diagnostik von verschiedenen Seiten umfassend aus. Vor dem aktuellen Stand

des Wissens werden Möglichkeiten und Grenzen ebenso betrachtet wie medi­

zinische, ethische, ökonomische und rechtlichen Dimensionen der prädiktiven

genetischen Diagnostik.

Prof. Dr. Jörg Hacker Prof. Dr. Reinhard F. Hüttl Prof. Dr. Günter Stock

Präsident Leopoldina Präsident acatechPräsident BBAW und

Akademienunion

Vorwort

II

Vorsitz

Prof. Dr. Peter Propping Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Bonn

Mitwirkende

Prof. Dr. Claus R. Bartram Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Heidelberg

Prof. Dr. Matthias Brandis Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin,

Universitätsklinikum Freiburg

Prof. Dr. Thomas Cremer Biozentrum, Ludwig-Maximilians-Universität München

Prof. Dr. Detlev Ganten Stiftung Charité, Berlin

Prof. Dr. Reiner Leidl Lehrstuhl für Betriebswirtschaft,

Ludwig-Maximilians-Universität München

Prof. Dr. Markus Löffler Institut für Medizinische Informatik, Statistik

und Epidemiologie, Universität Leipzig

Prof. Dr. André Reis Humangenetisches Institut, Universitätsklinikum Erlangen

Prof. Dr. Hans-Hilger Ropers Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik, Berlin

Prof. Dr. Jörg Schmidtke Institut für Humangenetik, Medizinische Hochschule

Hannover

Prof. Dr. Ludger Schöls Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, Tübingen

Prof. Dr. Karl Sperling Institut für Humangenetik, Charité Universitätsmedizin Berlin

Prof. Dr. Jochen Taupitz Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht,

internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung,

Universitäten Mannheim und Heidelberg

Prof. Dr. Gerd Utermann Department für Medizinische Genetik, Molekulare und

Klinische Pharmakologie, Medizinische Universität Innsbruck

Prof. Dr. Ulrich Walter Institut für Klinische Biochemie, Universitätsklinikum

Würzburg

Prof. Dr. Karl Werdan Klinik für Innere Medizin III, Universitätsklinikum Halle (Saale)

Prof. Dr. Urban Wiesing Institut für Ethik und Geschichte der Medizin,

Universität Tübingen

Die Stellungnahme wurde verfasst unter Mitarbeit von

Dr. Christoph Engel Institut für Medizinische Informatik, Statistik und

Epidemiologie, Universität Leipzig

Dr. Sabine Herterich Institut für Klinische Biochemie, Universitätsklinikum Würzburg

Prof. Dr. Bernhard Horsthemke Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Essen

Dr. Poupak Javaher Institut für Humangenetik, Medizinische Hochschule Hannover

Prof. Dr. Thomas F. Wienker Institut für Medizinische Biometrie, Informatik und

Epidemiologie, Universitätsklinikum Bonn

Mitwirkende in der Akademiengruppe

IIIPrädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention

Wissenschaftliche Administration

Dr. Ruth Raff Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Bonn

Dr. Kathrin Happe Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften, Halle (Saale)

Die Stellungnahme wurde vom Ständigen Ausschuss der Nationalen Akademie der

Wissenschaften am 17. September 2010 verabschiedet.

Externe Gutachter

Prof. Dr. Dr. Henning M. Beier Institut für Molekulare und Zelluläre Anatomie,

Universitätsklinikum Aachen

Prof. Dr. Jens Reich Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Berlin-Buch

Prof. Dr. Otmar Schober Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin, Universitätsklinikum

Münster

Die Akademien bedanken sich für die Beiträge der drei externen unabhängigen Gutachter.

IV

Präambel

DieprädiktivegenetischeDiagnostikistTeileinerindividualisiertenMedizin.InVerbindungmit

außerordentlichleistungsfähigenAnalysemethodenbishinzurSequenzierungganzerGenome

stelltdieprädiktivegenetischeDiagnostikfürdieGesellschaftNeulanddar.Sieunterliegtden

weithinakzeptiertenundvielfachfestgeschriebenenethischenPrinzipienderMedizin:Dieprä-

diktivegenetischeDiagnostiksollteMenschenhelfen,gesundzubleiben,dieGesundheitzurück

zuerlangenoderwenigstensdieKrankheitsfolgenzumildern.DerzuUntersuchende1mussjeder

DiagnostiknachAufklärungundBeratungfreiwilligzustimmen.

Die drei für diese Stellungnahme verantwortlichen Akademien halten es für notwendig,

Gesellschaft,Politik,Forschungsförderer,ÄrzteschaftundKrankenversichererüberdieChan-

cen,GrenzenundRisikenderprädiktivengenetischenDiagnostikzuinformieren.Währendder

VorbereitungsphasezudieserStellungnahmehatderDeutscheBundestagdasGendiagnostik-

gesetz (GenDG) verabschiedet. Da einige Regelungen des Gesetzes die prädiktive genetische

Diagnostikbetreffen,wirdzudiesenRegelungenebenfallsStellunggenommen.

men.

Selbstbestimmung

1. DiemedizinischeBedeutungderprädiktivengenetischenDiagnostikfürdeneinzelnenMen-

schenergibtsichbesondersdann,wenneineKrankheitdurcheinegenetischeUntersuchung

mithoherWahrscheinlichkeitvorhergesagtunddurchPräventionoderfrühzeitigeTherapie

erfolgreichverhindertoderbehandeltwerdenkann.Überdieskanneineprädiktivegeneti-

scheDiagnostikfürdieLebensplanungeinesMenschenvonVorteilsein.

siehe Kapitel 3, 8, 9

Eine prädiktive genetische Diagnostik darf nur auf Antrag und im Interesse

des einzelnen Menschen durchgeführt werden.

2. Die Akademiengruppe lehnt eugenische Vorstellungen, wie etwa das Ziel,

bestimmte Gene aus der Summe aller individuellen Genome einer Bevölkerung

eliminieren oder den menschlichen Genpool sogar systematisch „verbessern“

zu wollen, ausdrücklich ab.

siehe Kapitel 2, 3, 5, 8, 9

1DerEinfachheithalberwirdindieserStellungnahmediemaskulineFormfürbeideGeschlechterangewendet.

Zusammenfassung und Empfehlungen

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention V

Verantwortungsvoller Umgang mit Informationen aus genetischen Analysen

3. InZukunftwerdenindergenetischenDiagnostiksystematischeAnalysen(Array-Technolo-

gie,Hochdurchsatzsequenzierung)zurVerfügungstehen.DabeiwirdzumTeilmehrInfor-

mationgeneriertalsfüreineangestrebteUntersuchungbenötigtwird.Wennsolche„gene-

tischeÜberschussinformation“absehbarundmitdeminformiertenEinverständnisderzu

untersuchendenPersonerzeugtwird,mussvorhermitihrgemeinsamentschiedenwerden,

obdieseInformationa)unmittelbargezieltgenutzt,b)vernichtetoderc)vorerstungenutzt

gespeichertwerdensoll.

siehe Kapitel 5, 9

Das Problem des Umgangs mit genetischer Überschussinformation sollte mit

der betroffenen Person in angemessener Weise besprochen und es sollte ihre

„aufgeklärte Entscheidung“ herbeigeführt werden.

4. Eine längerfristige Speicherung der genetischen Information kann sinnvoll sein, weil sie

für die untersuchte Person in der Zukunft gesundheitliche Bedeutung bekommen kann.

Die Speicherung hat sowohl technische als auch rechtliche Aspekte. Genetische Informa-

tion unterliegtderVerfügungsgewaltderuntersuchtenPerson.UmneueErkenntnisseder

GenomforschungzumNutzenderuntersuchtenPersonverwendenzukönnen,solltedieun-

tersuchtePersonzueinemspäterenZeitpunktdieMöglichkeitzueinersekundärenAnalyse

dergespeichertenSequenzinformationhaben.

siehe Kapitel 5, 9

Das Gendiagnostikgesetz sollte den Gesichtspunkten der längerfristigen

Speicherung und späteren Analyse von genetischer Überschussinformation

Rechnung tragen. In die Krankenakten sollten nur die genetische Informa­

tion und deren Interpretation aufgenommen werden, die sich auf die Indi­

kation zur Untersuchung bezieht (primäre genetische Information). Geneti­

sche Überschussinformation sollte in der Krankenakte und im Arztbrief nicht

erscheinen.

5. DasGendiagnostikgesetzregelt in§14denUmgangmitgenetischenUntersuchungenund

dabeientstehendenDatenbeieinernichteinwilligungsfähigenPerson.Einesystematische

genetischeUntersuchungkann imgesundheitlichen Interessedernicht einwilligungsfähi-

genPerson liegen,umz.B. einegenetischeKrankheit exakt zudiagnostizieren.Nachdem

dasdiagnostischeZielerreichtist,solltedieentstandenegenetischeÜberschussinformation

bei einemKindoder einemvorübergehendnicht einwilligungsfähigenErwachsenennicht

interpretiertwerdendürfen,weilderuntersuchtenPersondieMöglichkeitdesNichtwissens

genommenwäre.Die genetischeÜberschussinformation sollte jedoch in gesperrter Form

gespeichertwerden,umdiesenPersonenkreisgegenübereinererwachsenen,einwilligungs-

fähigenPersonnichtzubenachteiligen.SobalddieEinwilligungsfähigkeitgegebenist,imFall

einesuntersuchtenKindesnachErreichendes18.Lebensjahres,solltediebetroffenePerson

aufeigenenWunschundnacheinergenetischenBeratungentscheidenkönnen,obdieInfor-

mationa)unmittelbargezieltgenutzt (primäreInformation),b)vernichtetoderc)vorerst

VI Zusammenfassung und Empfehlungen

ungenutztweiterhingespeichertwerdensoll.WenneinePersonaufGrundeinerschweren

undnicht-reversiblenBeeinträchtigungihrerintellektuellenFähigkeitendauerhaftnichtein-

willigungsfähigist,sollteihrgesetzlicherVertreterentsprechendNr.3entscheiden.

siehe Kapitel 8, 9

Das Gendiagnostikgesetz sollte den Gesichtspunkten der genetischen

Diagnostik im Hinblick auf die längerfristige Speicherung genetischer Über­

schussinformation bei nicht einwilligungsfähigen Personen Rechnung tragen

und die spätere Verwendung regeln. Diese Empfehlung hat zur Vorausset­

zung, dass eine Missbrauchssicherung technisch möglich ist.

6. Nicht seltenwerden Proben aus demAusland zu einer genetischenUntersuchung an ein

deutschesLaboreingesandt.DiesistimGendiagnostikgesetznichtgeregelt.Wennmandas

Gesetzstriktanwendet,würdedasGendiagnostikgesetzdefactoaufausländischePatienten

übertragen.DieAufklärungdesPatientenmüsstenachdendetailliertenVorgabendes§9

erfolgen.Alternativwäreesauchdenkbar,dasseinhöheresAufklärungsniveau,dasimAus-

landrechtlichvorgeschriebenist,aufdeutschesRecht„herabgestuft“werdenmüsste.Beides

istwedersinnvollnochpraktikabel.

siehe Kapitel 9

Die genetische Analyse einer im Ausland gewonnenen Probe durch ein

inländisches Labor sollte zulässig sein, wenn der einsendende Arzt bestätigt,

dass die betroffene Person gemäß den rechtlichen Vorgaben im Ursprungs­

land der Probe über Wesen, Tragweite und Aussagekraft der genetischen

Untersuchung aufgeklärt worden sei und die betroffene Person daraufhin

ihre Einwilligung erteilt habe. Wenn das inländische Labor Zweifel an der

Zuordnung der Probe zu der betroffenen Person oder begründeten Verdacht

auf ungenügende Aufklärung oder gar Missbrauch hat, dann ist die Untersu­

chung einer eingesandten Probe zu verweigern.

Neugeborenenscreening

7. In vielen Ländern, so auch in Deutschland, werdenNeugeborene systematisch auf gene-

tischbedingteundbehandelbareStoffwechselstörungenuntersucht.DiebetroffenenKinder

würden ohne die Diagnostik schwer erkranken, entwickeln sich jedoch bei sachgerechter

Behandlungnormal.

siehe Kapitel 1, 3, 9

Das Neugeborenenscreening ist ein erfolgreiches Vorbild für die Anwendung

einer Krankheitsfrüherkennung durch prädiktive Diagnostik. Reihenunter­

suchungen auf andere genetische Krankheiten sollten sich am Neugeborenen­

screening orientieren.

VIIPrädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention

8. DasGendiagnostikgesetz rechnetdasNeugeborenenscreeningzudengenetischenReihen-

untersuchungen. Dementsprechend hat seit Inkrafttreten des Gendiagnostikgesetzes vor

derBlutabnahmeeinegenetischeBeratungderElternzuerfolgen.Säuglingsschwesternund

Hebammen,diebisherdieBlutabnahmevorgenommenhaben,dürfendiesnichtmehr in

eigenerZuständigkeittun.EsgibtbereitsHinweisedarauf,dassdasNeugeborenenscreening

deshalbbeieinemTeilderNeugeborenenunterbleibt.DieskannzulebenslangerBehinde-

rung führen, die bei frühzeitigerDiagnose und entsprechender Therapie hätte verhindert

werdenkönnen.

siehe Kapitel 9

Das Gendiagnostikgesetz sollte das Neugeborenenscreening gesondert und

den besonderen Umständen angemessen regeln. Die Person, die im Rahmen

des Neugeborenenscreening die Blutprobe entnimmt, z. B. die Säuglings­

schwester oder Hebamme, sollte die Eltern über das Untersuchungsziel auf­

klären dürfen. Die Untersuchung sollte sodann davon abhängig sein, dass die

Eltern schriftlich ihr Einverständnis erteilen. Wenn ein unauffälliger Befund

erhoben wird, müssen die Eltern nicht mehr kontaktiert werden. Wenn der

Befund dagegen auffällig ist, sollten die Eltern von dem verantwortlichen Arzt

ausführlich aufgeklärt und genetisch beraten werden.

Monogene Krankheiten

9. EineReihegenetischbedingterundgrundsätzlichbehandelbarerKrankheiten,diemithoher

WahrscheinlichkeitimLaufedesLebensauftreten,könnenprädiktivdiagnostiziertwerden.

Dazugehörenz.B.erblicheFormenvonDarmkrebs,Brustkrebs,EierstockkrebsundSchild-

drüsenkrebs,diedominanterblicheHypercholesterinämieoderdierezessiverblicheHämo-

chromatose.InDeutschlandwerdenPatientenmitdiesenKrankheitenbishernurunsyste-

matischundunvollständigerfasst.WenndiegenetischeDiagnosenichtgestelltist,können

diePatientennichtangemessenbetreutwerden.

siehe Kapitel 3

Im Gesundheitssystem sollten organisatorische Maßnahmen getroffen wer­

den, um prädiktiv diagnostizierbare Krankheiten, die behandelbar sind, vor

der Krankheitsmanifestation mit höherer Effizienz zu identifizieren, so dass

die Betroffenen die Option zur Inanspruchnahme einer angemessenen ärzt­

lichen Versorgung haben. Die Akademiengruppe empfiehlt, dass in Deutsch­

land entsprechende Forschungsprogramme aufgelegt werden.

10.DieDiagnostik,BehandlungundlangfristigeVersorgungvonPatientenmitgenetischbeding-

tenundgrundsätzlichbehandelbarenKrankheitensowieihrerFamilienerfordertspezielle

Fachkenntnisseundeine sektorübergreifendeVersorgung.DieseStrukturierung ist im fö-

deralenundsektoralenGesundheitssystemDeutschlandsbishernichthinreichendgegeben.

siehe Kapitel 3, 5

VIII Zusammenfassung und Empfehlungen

Für die unter Nr. 9 beispielhaft genannten Krankheiten und weitere Krank­

heiten, bei denen für die Versorgung der betroffenen Personen besondere

Fachkunde erforderlich ist, sollten mehr Fachärzte für Humangenetik weiter­

gebildet, die genetische Kompetenz von Fachärzten der relevanten klinischen

Gebiete verbessert und eine adäquate Anzahl interdisziplinärer und über­

regionaler Kompetenzzentren eingerichtet werden.

11. DietechnologischeEntwicklungdergenetischenAnalyseverfahrenwirdesinZukunftinAna-

logie zumNeugeborenenscreening ermöglichen, durch Reihenuntersuchungen das Risiko

gesunderPersonenfürgenetischbedingteodermitbedingteKrankheitenzu identifizieren,

diebehandelbarsind.HierzuliegenersteErfahrungenausdemAuslandvor.

siehe Kapitel 3, 5

Die Akademiengruppe regt Forschungsprojekte an, um die Voraussetzungen

und Kriterien zu ermitteln, die in Deutschland für eine Ausweitung des Ange­

bots von genetischen Reihenuntersuchungen erfüllt sein müssen.

12.GesundePersonenbzw.PaarekönnenvorEintritt einerSchwangerschaft zurBeurteilung

desgesundheitlichenRisikoseigenerKinderbesondersdaraninteressiertseinzuerfahren,

obsieAnlageträgerfürirgendeinerezessiverblicheKrankheitsind,selbstwennesinihren

FamiliennochkeinenIndexfallfüreinederartigeKrankheitgibt.EinesolcheHeterozygoten-

untersuchungstelltfürunsereGesellschafteineneueSituationmitweitreichendenethischen

undsozialenImplikationendar.

siehe Kapitel 5

Systematische Heterozygotenuntersuchungen im Hinblick auf gesundheit­

liche Risiken für die Kinder der untersuchten Personen sollten vorerst nur

im Rahmen von Forschungsprojekten durchgeführt werden. Sie sollten ein­

gebettet sein in eine medizinische, ethische und soziale Begleitforschung, um

Erfahrungen über die persönlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen zu

gewinnen.

13.BevorprädiktivegenetischeDiagnostik indasGesundheitssystem integriertwerdenkann,

müssen Belege für ihreWirksamkeit undWirtschaftlichkeit vorliegen. Dazu gehören der

Patientennutzen,dersichausderDiagnostikundderanknüpfendenPräventionundVersor-

gungergibt,sowiediedazugehörigenKosten.

siehe Kapitel 4, 5, 7

Parallel zur genetischen Grundlagenforschung sollten in wissenschaftlichen

Begleitprojekten Belege, die die Wirksamkeit der prädiktiven genetischen

Diagnostik prüfen und die Wirtschaftlichkeit berücksichtigen, erarbeitet

werden.

14.DasGendiagnostikgesetzstuftdieSchweigepflichtgegenüberdemPatientenohneAusnahme

höhereinalsdieärztlicheFürsorgepflichtgegenüberdenVerwandten,dieunterUmständen

einhohesRisikofüreinebehandelbaremonogenbedingteKrankheitbesitzen.DerArzthat

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention IX

keineMöglichkeitzuüberprüfen,obdievoneinergenetischenKrankheitbetroffenePerson

dieInformationunddieärztlicheEmpfehlungzueinerBeratunganihreVerwandtenweiter-

gegebenhat.DerArztsollte imEinzelfallabwägen,welchesderbeidenRechtsgüterhöher

einzustufenist:dieSchweigepflichtoderdieFürsorgepflicht.

siehe Kapitel 8, 9

In sehr konkreten Fällen und bei klarem medizinischem Nutzen sollte der Arzt

erwägen, selber die Risikopersonen unter den Verwandten eines Patienten

mit einer behandelbaren erblichen Krankheit in angemessener Weise auf ihr

Risiko hinzuweisen und ihnen eine genetische Beratung anzuraten. Die Aka­

demiengruppe empfiehlt, § 11 Abs. 3 GenDG in diesem Sinne zu modifizieren.

15.DasGendiagnostikgesetzuntersagtin§15Abs.2dievorgeburtlicheDiagnostikdesEmbryo

bzw.desFetusaufeineErkrankung,die„nachdemallgemeinanerkanntenStanddermedi-

zinischenWissenschaftundTechnikerstnachVollendungdes18.Lebensjahresausbricht“.

DieFormulierungdesGesetzes istunverständlich.Es istnicht sinnvoll,denAusbruchei-

nerKrankheitmit„demallgemeinenStanddermedizinischenWissenschaftundTechnik“

inZusammenhangzubringen.Oftlassensichdiskrete,klinischnochnichtrelevanteSymp-

tomeeinerspäterenKrankheitbereitsvordem18.Lebensjahrfeststellen.DieFormulierung

von§15Abs.2erwecktdenEindruck,derGesetzgeberwollteeinevorgeburtlichegenetische

UntersuchungeinerspätmanifestenKrankheitnichtmehruntersagen,sobaldesmitfeine-

renAnalysemethodengelungenist,dasAuftretenderKrankheitsehrfrühzuobjektivieren.

Es ist eineErfahrungausdergenetischenBeratung,dasswegendeserhöhtenRisikos für

einespätmanifesteKrankheitvorgeburtlichegenetischeUntersuchungenvonSchwangeren

ohnehinnurseltengewünschtwerden.

siehe Kapitel 3, 9

§ 15 Abs. 2 GenDG sollte wegen der unscharfen Definition des Erkrankungsal­

ters gestrichen werden.

16.In§12Abs.1Nr.1schreibtdasGendiagnostikgesetzvor,dassdieverantwortlicheärztliche

PersondieErgebnissegenetischerUntersuchungenundAnalysengrundsätzlichzehnJahre

nachderUntersuchungzuvernichtenhat.VorAblaufder10-Jahres-Fristkannallerdings

nichtimmerbeurteiltwerden,welcheBedeutungeinbestimmtergenetischerBefundfürdie

betroffenePerson zu einem späterenZeitpunkt haben kann.GenetischeBefunde sind oft

auchfürFamilienangehörigerelevant.Siewären,fallsdiefrühererkranktePerson(Index-

fall)verstorbenist,sogarunwiederbringlichverloren.EsistimÜbrigeneinewiederkehren-

deErfahrunginderhumangenetischenPraxis,dassfrüheruntersuchtePersonenoderihre

Familienangehörigennichtseltennochjenseitsvon10Jahrenihrenerhobenengenetischen

Befunderfragen,weilsichneueGesichtspunkteergebenhaben.

siehe Kapitel 9

Die Ergebnisse der genetischen Diagnostik sollten im Interesse der Ratsu­

chenden selbst und der Familienangehörigen wie bisher ohne eine konkrete

Frist aufbewahrt werden dürfen.

X Zusammenfassung und Empfehlungen

Multifaktorielle Krankheiten

17.Diemeistenderhäufig auftretendenErkrankungen,wie z.B.Diabetesmellitus,Hyperto-

nieoderArteriosklerose,entstehendurcheinkomplexesZusammenwirkenvongenetischen

FaktorenundäußerenEinflüssen.DieEntstehungdiesermultifaktoriellenKrankheitenkann

durchgenetischeFaktorennurzumTeilerklärtwerden.AuchwenneineReihevonGenva-

rianten,diezumKrankheitsrisikobeitragen,schonbekanntsind,istfestzustellen,dassdie

wissenschaftlichenVoraussetzungenfüreinevalideprädiktivegenetischeDiagnostikgegen-

wärtignichterfülltunddiedarausresultierendenklinischenundgesundheitsökonomischen

Konsequenzennochnichthinreichendgeklärtsind.

siehe Kapitel 2, 3, 5

Die vollständige Sequenzierung des Genoms von gut definierten Patienten­

gruppen mit genetisch komplexen Krankheiten im Vergleich mit gesunden

Personen eröffnet die Möglichkeit, alle krankheitsrelevanten Unterschiede

in der DNA­Sequenz zu identifizieren. Diese Forschungsstrategie kann die

genetischen Beiträge zu multifaktoriellen Krankheiten aufdecken helfen. Die

Schwierigkeit bei der Interpretation solcher, außerordentlich umfangreicher

Datensätze besteht darin, krankheitsrelevante Unterschiede von irrelevanten

Unterschieden abzugrenzen. Die Akademiengruppe empfiehlt, entsprechende

systematische Forschungsprogramme in Deutschland verstärkt aufzulegen.

18.VonderEntdeckungeinerAssoziationzwischenGenenundeinerErkrankungbiszurVerbes-

serungderGesundheit(„Translation“)isteseinweiterWeg.BevoreinebreiteAnwendung

einerbestimmtenprädiktivengenetischenDiagnostik angezeigt ist,muss fürdie inFrage

stehendeKrankheiteineeffektivePräventionbzw.Therapieexistierenundeinzuverlässiges

Diagnoseverfahrenentwickeltwerden.DerPatientmussvordemTestundnachVorliegen

desErgebnisses sachgerechtberatenunddasErgebnismussabgesichertwerden.Fürdas

gesamteVerfahrenmüssenausreichendeFachkapazitätenvorhandensein.

siehe Kapitel 5

Die Akademiengruppe empfiehlt, neben der Grundlagenforschung auch die

translationale Forschung zu fördern. Darüber hinaus sollten medizinische

Leitlinien zur prädiktiven genetischen Diagnostik entwickelt werden.

„Direct-to-Consumer“-Tests (DTC)

19.GenetischeTests,wie sie gegenwärtigdirektüberdas Internet angebotenwerden– soge-

nannteDTC-Tests(„DirecttoConsumer“-Tests)–,habengrößtenteilseineunsicherewissen-

schaftlicheGrundlageunderfülleninderRegelnichtdieAnforderungeneinerangemessenen

genetischenBeratung.DasuntersuchendeLaborkannauchnichtüberprüfen,obdieeinge-

sandteDNA-ProbetatsächlichvonderPersonstammt,diedenUntersuchungsauftragerteilt

hat. siehe Kapitel 5

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention XI

DTC­Tests („Direct to Consumer“­Tests) sollten nicht zugelassen werden, weil

sie die Anforderungen an eine medizinisch und ethisch akzeptable prädiktive

genetische Diagnostik nicht erfüllen.

20.Bei DTC-Tests bestehen die gleichen Gefahren wie bei derWerbung für verschreibungs-

pflichtigeArzneimittel,dieaußerhalbderFachkreiseausgutenGründenverbotenist.

siehe Kapitel 5

Wie für verschreibungspflichtige Arzneimittel sollte für prädiktive Gentests

ein Werbeverbot gesetzlich verankert werden.

Information der Allgemeinheit und ärztliche Fortbildung

21.DieMöglichkeitendergenetischenAnalysewerdeninderZukunftfüreinezunehmendeZahl

vonMenschenBedeutungerlangen,insbesondereimHinblickaufdieKrankheitsprävention.

siehe Kapitel 2, 3, 5

Die Bevölkerung sollte über die Möglichkeiten und Grenzen der genetischen

Medizin einschließlich der prädiktiven genetischen Diagnostik fortlaufend

sachlich informiert werden. Insbesondere in den Schulen sollten die neuen

Erkenntnisse der Vererbungsforschung vermittelt werden.

22.Die Ärzte sind in der Vergangenheit in ihrer Aus- undWeiterbildung größtenteils nicht

hinreichendmitderBedeutungderGenetik inderMedizinvertrautgemachtworden.Der

betreuendeArztmussbeiseinenPatienten jedoch familiäreErkrankungsrisikenerkennen

können.

siehe Kapitel 3, 5

Die Akademiengruppe empfiehlt, Ärzte durch spezielle Maßnahmen in der

genetischen Medizin fortzubilden. Sie müssen in der Lage sein, Hochrisiko­

personen für behandelbare erbliche Krankheiten zu erkennen und an Spezia­

listen zur Beratung, Diagnostik und Betreuung zu überweisen.

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 1

DiemoderneMedizinistbemüht,Krankhei-

tenmöglichstfrühzeitigzuerkennenundbe-

reitsinderAnfangsphasezubehandelnoder

ihreManifestation ganz zu verhindern.Der

Heilerfolg hängt zumeist von der richtigen

DiagnosesowiederVerfügbarkeiteinerwirk-

samenTherapieab.InderRegelgilt:jefrü-

her desto besser.Die allgemeineErziehung

zu gesundheitsfördernder Lebensführung

bis hin zu Unfallverhütung und Impfungen

dientvonvornhereinderKrankheitsvermei-

dung und fällt unter die primäre Präven-

tion.DieFrüherkennungvonbehandelbaren

Krankheiten und Krankheitsneigungen, die

eine sekundäre Prävention ermöglicht, be-

sitztindermodernenMedizineinehoheund

wachsendeBedeutung.

Allgemeine Präventionsprogramme

DiePräventionvonKrankheitengiltfürjeden

Menschen. Auch die prädiktive genetische

Diagnostik kann in Zukunft jedenMenschen

betreffen.

ÜberalleLebensphasenverteiltistdiese-

kundärePräventioninunseremGesundheits-

system–undinvielenanderenLändern–ge-

radezu programmatisch verwirklicht. Dazu

gehörenu.a.

1. Vorsorgeuntersuchungen in der Schwan-

gerschaft,

2. die Reihenuntersuchung (Screening) auf

behandelbare Krankheiten bei Neugebo-

renen,

3. klinisch-chemische Früherkennungs-

untersuchungen ab dem mittleren Le-

bensalterund

4. Früherkennungsuntersuchungen auf die

häufigenKrebskrankheiten.

InDeutschlandistdieFinanzierungdieser

VerfahrenimRahmenderGesetzlichenKran-

kenversicherung durch die Richtlinien des

Gemeinsamen Bundesausschusses1 geregelt.

SiebasierenaufeinerrisikoadaptiertenFrüh-

erkennungvonKrankheitenundberuhenauf

folgendenAspekten:

1. Die zu untersuchenden Personen haben

altersabhängigeinerhöhtesRisikofürdie

betreffendenKrankheiten.

2. Wenn rechtzeitig erkannt, existieren gute

Möglichkeiten für eineKrankheitspräven-

tionodereineeffektiveBehandlung.

Schwangerschafts­Vorsorge: Vorsorge-

untersuchungen in der Schwangerschaft,

die der Gesundheit von Mutter und Kind

dienen–basierendaufden„Mutterschafts-

richtlinien“–, sind fürdie präventiveMe-

dizin beispielhaft geworden. Dabei wird

zwischen Screeninguntersuchungen durch

Ultraschall und weiterführenden Unter-

suchungen unterschieden. Werden durch

Screening z. B. „auffällige fetale Merkma-

le“gefunden,dannkönnenweiterführende

Untersuchungen durch einen Spezialisten

eingeleitetwerden,umgegebenenfallsthe-

rapeutischeMaßnahmen zu ergreifen. Die

Konsequenz aus „auffälligen Merkmalen“

imRahmen der Schwangerschaftsvorsorge

kannjedochaucheinSchwangerschaftsab-

bruchsein.

1 GemeinsamerBundesausschusshttp://www.g-ba.de/informationen/richtlinien/.

1 Einleitung

2 1 | Einleitung

Neugeborenenscreening: Neugeborenewer-

den in Form einerReihenuntersuchungmit

chemischen Analysemethoden auf 12 ange-

borene Stoffwechselkrankheiten untersucht.

HierzuwirddemKindmitEinwilligungder

Sorgeberechtigten eine geringe Menge Blut

ausderFerseentnommen.Jedeeinzelneder

untersuchten Krankheiten ist selten. In der

Summe findet man bei jedem tausendsten

Neugeborenen eine Erkrankung, die unbe-

handeltzueinerschwerenEntwicklungsstö-

rung führen würde. Mit einer geeigneten,

krankheitsspezifischen Therapie, sei es di-

ätetisch oder medikamentös (z. B. bei Feh-

len des Schilddrüsenhormons), entwickeln

sich dieKinder normal.Außerdemwird ein

Screening auf angeborene Hörstörungen

durchgeführt. Die frühzeitige Behandlung

der Gehörlosigkeit, für die heute effektive

MethodenzurVerfügungstehen, ist fürden

Spracherwerb und die geistige Entwicklung

des Kindes von entscheidender Bedeutung.

Im Verlauf von Kindheit und Jugend sind

weitere Untersuchungen vorgesehen, die in

einem Untersuchungsheft für Kinder doku-

mentiertwerden.

Klinisch­chemische Früherkennungsunter­

suchungen: Abdem36. Lebensjahr können

sichdiegesetzlichVersichertenallezweiJah-

reeinerärztlichenUntersuchungsowieeiner

Analyse von Laborparametern im Hinblick

aufKrankheitenvonHerzundKreislauf,der

Niere sowie vonDiabetesmellitus unterzie-

hen(„Gesundheits-Check“).Dadurchkönnen

klinischnochunauffälligePersonenfrühzei-

tigüberwachtundgegebenenfallsbehandelt

werden.

Krebsfrüherkennungsuntersuchungen: Die

Prognose einiger, leider noch immer nicht

aller,Krebserkrankungenistumsobesser,je

frühersieerkanntundtherapiertwerden.Sie

tretengehäuft inbestimmtenAltersgruppen

auf. Für die verbreiteten Organkarzinome

werden daher in bestimmtenAltersgruppen

und Intervallen Früherkennungsuntersu-

chungen2 empfohlen. Für deren Durchfüh-

rungunddieMaßnahmennacheinemauffäl-

ligenBefundexistierenLeitlinien3derinder

Arbeitsgemeinschaft derWissenschaftlichen

Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

zusammengeschlossenen Fachgesellschaf-

ten,diefortlaufendweiterentwickeltwerden.

Individuelle Vorsorge im familiären Kontext

AnderEntstehungdermeistenKrankheiten

sindgenetischeFaktorenmehroderweniger

stark beteiligt. Diese Faktoren sind bisher

nurzumTeilbekannt.BeieinergroßenZahl

vonKrankheiten,dienachdenMendelschen

Gesetzenvererbtwerden(sogenanntemono-

gen erbliche Krankheiten), werden zu ihrer

Diagnose genetische Methoden herangezo-

gen. Auch für die Prädiktion stellen geneti-

sche Methoden ein medizinisch etabliertes

Verfahren dar. Dies gilt z. B. für erblichen

Brust-/Eierstockkrebs und die verschiede-

nenFormen von erblichemDarmkrebs. Für

Anlageträgerkanneineprädiktivegenetische

Diagnostik eventuell in Form eines soge-

nannten Kaskadenscreening (siehe Kapitel

6)inBetrachtkommen:Beginnendmitdem

IndexpatientenkannjederGenträgerineiner

FamilieAusgangspunktfürweitereUntersu-

chungenbeidessenerstgradigenVerwandten

sein. Das Gendiagnostikgesetz schreibt vor,

mitderRat suchendenPersondieVor-und

Nachteile einer solchenDiagnostik imRah-

men einer genetischen Beratung zu bespre-

chen, ummit ihr und der Familie eine ad-

äquateEntscheidungzuermöglichen.

2 DeutscheKrebsgesellschaft:Krebsfrüherkennungs-RichtliniedesGemeinsamenBundesausschussesderÄrzteundKrankenkassenhttp://www.g-ba.de/downloads/62-492-410/RL_KFU_2009-10-15.pdf.Übersichtin:http://www.krebsgesellschaft.de/re_krebsfrueherkennungsuntersuchungen_mann,59012.htmlsowiehttp://www.krebsgesellschaft.de/re_krebs-frueherkennungsuntersuchungen_frau,59013.html

3 AWMFhttp://leitlinien.net/.

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 3

Nach der Geburt eines Kindes mit einer

genetisch bedingten Krankheit oder nach ei-

neranderweitigenAuffälligkeitinderFamilie

kann die genetische Beratung den Familien-

mitgliederndiemedizinischen Informationen

zu einer eigenen Entscheidung über die wei-

tereFamilienplanungliefern.Dazukannauch

die Untersuchung auf Anlageträgerschaft für

einerezessiveKrankheitgehören,diebeidem

VerwandteneinerRatsuchendenPersonauf-

getretenist.

Das Gendiagnostikgesetz vom 31. Juli 2009

Die zunehmenden Möglichkeiten der gene-

tischen Diagnostik versprechen Erkennt-

nisgewinne, diemancheMenschen faszinie-

ren, andere aber auch beunruhigen. Nach

Beratungen im Deutschen Bundestag, die

sich über drei Legislaturperioden erstreckt

haben, ist am 31. Juli 2009 das Gebiet der

genetischen Diagnostik gesetzlich geregelt

worden.4 DasGendiagnostikgesetz ist am 1.

Februar2010 inKraftgetreten.Eshatauch

fürdieprädiktivegenetischeDiagnostikBe-

deutung(sieheKapitel9).Diehiervorgelegte

Stellungnahmegehtdaherauchaufdie ein-

schlägigen gesetzlichen Bestimmungen ein.

Füreinigevon ihnenwerdenNovellierungs-

vorschlägeunterbreitet.

Die Zukunft genetischer Untersuchungen – zwischen Hoffnungen und Sorgen

DieMethodendergenetischenAnalysehaben

sich in jüngster Zeit rasant fortentwickelt.

Für die wissenschaftliche Bearbeitung der

in der Bevölkerung häufigenMerkmale und

Krankheiten(sogenannteVolkskrankheiten),

4 GesetzübergenetischeUntersuchungenbeiMenschen(Gendiagnostikgesetz–GenDG)2009.

dienicht einemmonogenenVererbungsmo-

dell folgen, werdenmoderneMethoden der

genetischenAnalyseseiteinigenJahren im-

mer konsequenter eingesetzt. In naher Zu-

kunft wird es sehr wahrscheinlich möglich

sein, das gesamte Genom eines einzelnen

Menschen technischzuverlässigundzuver-

gleichsweise geringen Kosten zu sequenzie-

ren („1000-Dollar-Genom“). Es besteht die

Hoffnung,dassauchdiegenetischenGrund-

lagender genetisch komplexenKrankheiten

allmählich besser verstanden werden und

sich eventuell dadurch neue Behandlungs-

möglichkeitenergeben.

Esbleibtjedochzuklären,inwieweitesge-

lingt, konkreteBeziehungen zwischengeneti-

schenVariantenundKrankheitenbzw.Krank-

heitsdispositionen aufzudecken und somit

ZusammenhängezwischenGenotypundPhä-

notypherzustellen.WenneinZusammenhang

hinreichendgroß ist, dannkannmanKrank-

heitsneigungen prädiktiv diagnostizieren

und–sofernTherapienzurVerfügungstehen

– rechtzeitig behandeln. Die Genetik könnte

der sekundärenPrävention neueMöglichkei-

ten eröffnen.DieWirksamkeit derVerfahren

mussjedochempirischvalidiertseinundauch

dieKostensindindenBlickzunehmen.

DasProblemistjedochsehrkomplex.Mit

derEntschlüsselungbzw.Sequenzierunggro-

ßer Anteile eines individuellen Genoms wer-

denauchInformationenüberdieDisposition

für solche Merkmale und Krankheiten auf-

gedeckt, nach denen die untersuchte Person

nichtgefragthat.DieBegründungzu§9des

Gendiagnostikgesetzes verwendet dafür tref-

fend den Begriff „Überschussinformation“.

DarunterkönntensichInformationenzuDis-

positionen für unbehandelbare Krankheiten

befinden, und es werden sich Auffälligkeiten

ergeben, die nicht interpretierbar sind. Dies

alleskönntezueinererheblichenBelastungfür

denEinzelnenführen.

Die Sorge ist verbreitet, insbesondere in

den Selbsthilfegruppen für Patientenmit ge-

4 1 | Einleitung

netischenKrankheiten, dass die kommenden

Möglichkeiten genetischer Methoden einer

„Genetisierung“derGesellschaftTürundTor

öffnen. Bereits jetzt werden über das Inter-

netgenetischeUntersuchungenvonSpeichel-

proben am Medizinsystem vorbei angeboten

(„Direct toConsumerGenetic-Testing“).Dies

wirft Problemeder adäquaten Indikation zur

Untersuchung,derQualitätskontrolleundder

InterpretationdererhaltenenBefundeauf.

Genetische Untersuchungen sind mit

Wertfragenverbunden.EsfälltderAllgemein-

heitundvielfachauchderPolitikschwer,sich

angesichtsdesraschenFortgangsderEntwick-

lung ein vernünftigesUrteil zubilden, zumal

Wissenschaftler,ÄrzteundMedienErgebnis-

seundMethoden inderÖffentlichkeitunter-

schiedlich interpretieren, falscheHoffnungen

wecken oder Ängste schüren. Es ist jedoch

wichtig,dassdieBevölkerungunddiepolitisch

Verantwortlichenadäquat informiertwerden.

DasnachfolgendeDokumentsolldazualskri-

tischeStellungnahmezumgesamtenProblem-

kreis der prädiktiven genetischen Diagnostik

einenBeitragleisten.

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 5

Ziel dieses Kapitels ist es, den wissenschaft-

lichen Denkrahmen vorzustellen, der nach

heutigem Wissensstand als Grundlage von

Entscheidungenfüreineprädiktivegenetische

Diagnostikdienenkann.5Währendnahezuje-

derErwachseneeinegewisseVorstellungmit

dem Wissenschaftsgebiet Genetik verbindet,

hat dasGebiet derEpigenetik kaumEingang

in den Biologieunterricht an Schulen gefun-

den.Sowohlgenetischealsauchepigenetische

KonzepteundBefundesindjedochfüreinan-

gemessenesVerständniseinerprädiktivenge-

netischenDiagnostik,ihrermöglichenErfolge

und ihrer Grenzen bei der Gesunderhaltung

vonMenschenunverzichtbar.

Einführung

Das Ziel einer prädiktiven genetischen Dia-

gnostik und einer darauf aufbauenden indi-

vidualisierten Medizin (engl.: „personalised

medicine“)bestehtdarin,Menschenzuhelfen,

gesundzubleiben,dieGesundheitzurückzuer-

langen oder wenigstens die Krankheitsfolgen

zumildern.Sieunterliegtdenweithinakzep-

tierten und vielfach festgeschriebenen ethi-

schenPrinzipienderMedizin.Diespezifische

GeschichtederHumangenetikinDeutschland

zur Zeit des Nationalsozialismus hat gezeigt,

wohin die Verletzung dieser Prinzipien füh-

ren kann. Die heutige eindeutige Ablehnung

jedweder eugenischer Zielsetzungen kommt

unter anderem in dem Positionspapier der

Deutschen Gesellschaft für Humangenetik

5 Müller-RöberBetal.(2009).

zumAusdruck.6

Die Vorstellung der Eugeniker im frühen

20.Jahrhundertberuhtenichtzuletztaufder

UnkenntnisderKomplexität genetischerMe-

chanismen.InderSichtweisedesMendelisti-

schenDenkrahmens vielerdamaligerGeneti-

kerwurdenGenealsjeweilsfürsichwirksame

Einheitenangesehen,diebestimmtephänoty-

pischeMerkmale steuern.DieTatsache, dass

individuelleGenevielfältige(pleiotrope)Wir-

kungen auf den Bau und die Funktion eines

Organismus(Phänotyp)habenkönnen,wurde

zwarschonfrüherkannt,dochwurdedieBe-

deutung pleiotroper Genwirkungen und das

Ausmaß der in genetischen Netzwerken vor-

handenen,funktionellenRedundanzlangeun-

terschätzt.Durchdie jüngstenEntdeckungen

epigenetischer Einflüsse hat sich dasWissen

umdieKomplexitätderBeziehungenzwischen

GenotypundPhänotypnochmalsinungeahn-

terWeiseverstärkt.7

„Die Genetik wird einen realen Einfluss

aufunserallerLebenhaben–undnochstär-

ker auf das Leben unserer Kinder. Sie wird

die Diagnose, Prävention und Behandlung

der meisten, wenn nicht aller menschlichen

Krankheiten revolutionieren“, meinte US-

PräsidentBillClintonimJuni2000anlässlich

desvorläufigenAbschlussesdesinternationa-

len Humangenomprojekts,8 des größten bio-

logisch-medizinischen Forschungsvorhabens

überhaupt.Tatsächlichgewinntdiegenetische

6 DeutscheGesellschaftfürHumangenetike.V.(2007)PositionspapierderDeutschenGesellschaftfürHu-mangenetike.V.http://www.medgenetik.de/sonder-druck/2007_gfh_positionspapier.pdf.

7 CremerT(2010).

8 Humangenomprojekt:www.genome.gov/10001356.

2 Genetische und epigenetische Grundlagen von Gesundheit und Krankheit

6 2 | Die genetischen Grundlagen von Krankheiten

DiagnostikeineimmergrößereBedeutung.

Während die erstmalige Bestimmung der

Basensequenz des menschlichen Erbguts

mit seinen 3,2Milliarden Bausteinen etwa 3

MilliardenUS$kostete,lassensichdurchdie

neuen Sequenziersysteme die Analysezeiten

unddieKostendrastischverringern,sodasses

bereitsinwenigenJahrenmöglichseinsollte,

dasGenomeinesIndividuumsfür1000US$

oder sogar weniger zu sequenzieren. Nimmt

manhinzu,dasseskaumeineKrankheitgibt,

anderErbanlagennichtbeteiligtsind,wirddie

DiagnostikaufDNA-Ebenezukünftigeinwich-

tigerBausteineinerindividualisiertenMedizin

sein.DieEntstehungvonKrankheiten(Patho-

genese)kanndabeinichtaufdieVeränderung

von Genen allein reduziert werden. Ebenso

wichtigsinddiezunehmendenMöglichkeiten

einer molekularen Diagnostik auf der Ebene

derProteineundderMoleküledesStoffwech-

selssowiedieErfassungderUmweltfaktoren,

die für die Auslösung und den Verlauf einer

bestimmtenmultifaktoriellenErkrankung re-

levantsind.

Genetische Information

Die Desoxyribonukleinsäure (DNS oder im

englischen Sprachraum DNA) als Träger der

über die Generationen vererbbaren geneti-

schen Informationbefindet sichmitAusnah-

me der mitochondrialen DNA in den Chro-

mosomen des Zellkerns. Der Mensch besitzt

in den Zellkernen aller normalen Körperzel-

len 2mal 23Chromosomen, davon zweiGe-

schlechtschromosomen. Das männliche Ge-

schlecht hat die Geschlechtschromosomen X

und Y, das weibliche zwei X-Chromosomen.

DieübrigenChromosomenwerdenunterdem

Begriff Autosomen zusammengefasst. Jedes

Chromosom enthält eine fadenförmige DNA,

dieauszweiwieeineDoppelhelixumeinander

gewundenenKettenaufgebautist.Diegesamte

DNA,dieeinMenschvonbeidenElternerhal-

tenhat,enthältetwa3,2MilliardenBausteine.

JederBausteinbestehtauseinemZuckermole-

kül,einemPhosphatmolekülundeinerdervier

DNA-BasenAdenin,Guanin,CytosinundThy-

min.JedesAdeninineinerderbeidenKetten

ist chemisch mit einem gegenüberliegenden

Thymin in der anderen Kette gepaart, jedes

GuaninmiteinemCytosin.MitAusnahmevon

ErbanlagenaufdenGeschlechtschromosomen

desMannessindalleinderDNAkodierten,ge-

netischenInformationenbeijedemMenschen

doppeltvorhanden.DieDNAliegtjedochnicht

nacktvor,sondernbildetmitvielenProteinen

eineäußerstkomplexeStruktur,dasChroma-

tin.Untersuchungen der letzten Jahre haben

deutlich gemacht, dass nicht allein die DNA

sonderndasChromatininsgesamtTrägerver-

erbbarerInformationenist.

ImGenom einermenschlichen Zelle sind

etwa 25.000 Gene vorhanden, deren DNA-

Basensequenz für die Bildung spezifischer

Proteine benötigt wird. Diese Gene können

miteinemriesigenOrchesterverglichenwer-

den, das in jeder Zelle vorhanden ist. Dieses

„Gen-Orchester“ scheint ohne einenDirigen-

ten seine zelltypspezifischeMusik zu spielen.

DarüberhinausgibtesvieleDNA-Abschnitte,

dienicht fürProteinekodierenundregulato-

rischeFunktionenhaben.AuchMoleküle,die

vonNachbarzellenodersogarweitentfernten

Zellgruppen des Körpers produziert werden,

undnichtzuletztauchvieleUmwelteinflüsse,

spielen eine wesentliche regulatorische Rol-

le. In der Summe resultiert ein auf die Not-

wendigkeiten der einzelnen Gewebe und des

gesamten Organismus abgestimmtes Gen-

expressionsmuster der Billionen Zellen eines

menschlichen Körpers. Im Bild des Orches-

tersistesdieaufeinanderabgestimmte„Gen-

Musik“dieserZellen.

Die Veränderung eines Gens ist nur eine

Komponente in diesem komplexen System,

wobei die Stoffwechsellage als Reaktion auf

genetische Veränderungen von Individuum

zu Individuum sehr variabel sein kann. Am

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 7

Beispiel der Erforschung des menschlichen

Genoms lässt sich gut zeigen, wie einerseits

durch reduktionistische Vorgehensweise ein

Einblick in dieKomplexität der Beziehungen

zwischen Genen und normalen oder patho-

logischen körperlichen Merkmalen gelingt,

wieengandererseitsaberdamitBegriffs-und

Theoriebildungverwobensind.Nachdemman

Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt hatte,

dass es auchbeimMenschenMerkmalebzw.

Krankheiten gibt, die nachMendelschenGe-

setzmäßigkeiten vererbt werden, hat man

dieseErkenntnissehrbaldaufdieVererbung

allermöglicherMerkmaleverallgemeinertund

dabeieinGenmiteinemPhängleichgesetzt.

Selbst dann, wenn die empirischen Befunde

nichtmiteinemeinfachenErbgangvereinbar

waren,hatmanvielfachmitHilfshypothesen

versucht,dieGültigkeiteinesmonogenenErb-

gangszuretten.TatsächlichlässtsichdieBe-

deutungeineseinzelnenGensameinfachsten

dannerschließen,wennesdurcheineMutati-

onspontanabgewandelt istundzueinerver-

änderten Merkmalsbildung führt. Auf diese

WeiselässtsichdieWirkungdesveränderten

GensvordemHintergrundallerübrigenGene

analysieren.

Schon bei Gregor Mendels bahnbrechen-

denKreuzungsexperimentenmitErbsenpflan-

zen inderMittedes 19. Jahrhunderts erwies

sichbeispielsweisediegelbeodergrüneFarbe

einerErbsealsgenetischeindeutigfestgelegt.

EinfürdieseFarbgebunginzweiKopien–wie

allemenschlichen Gene auch – vorhandenes

Gen kommt in zweiModifikationen (Allelen)

vor.Damit eine gelbe Erbse entsteht, genügt

einAllelfürdieseFarbe,auchdann,wenndas

zweiteAlleldie grüneFarbebewirkt.Mendel

nannte diesen Erbgang dominant. Um eine

grüneErbsehervorzubringen, isteserforder-

lich,dassbeideAllelediegrüneFarbebewir-

ken.DerGenotypfürdiebeidenhierbetrach-

teten Genkopien ist homozygot, wenn beide

Kopienidentischsindundheterozygogt,wenn

sich die beiden Kopien unterscheiden. Um-

welteinflüsse, etwa das Düngen und Gießen,

spielenkeineRolle.AuchbeimMenschengibt

eseinegroßeZahlMendelscherKrankheiten,

derenVererbungsichebensoalsreingenetisch

determiniert herausgestellt hatwie die Farb-

gebung der Erbsen.Dieser an einzelnen Bei-

spielen darstellbare kausale Zusammenhang

zwischen dem Genotyp und dem Phänotyp,

also der Auswirkung auf bestimmte sichtba-

re odermessbareMerkmale, verleitet jedoch

dazu,dassmanmehrzuwissenglaubt,alsman

tatsächlichweiß.DiebisherigenDiskussionen

über die Auswirkungen des Genomprojektes

aufdieDiagnostik(Schlagwort:„dergläserne

Mensch“)zeigen,dassdieseVorstellungenim-

mernochexistieren.

Die Bedeutung monogener Merkmale

SeitdiezuerstvonGregorMendel9formulier-

tenVererbungsregelnamBeginndes20.Jahr-

hundertswiederentdecktworden sind,haben

monogenbedingteMerkmale fürdieGenom-

forschungimAllgemeinenundfürdieHuman-

genetikimBesondereneinebedeutendeRolle

gespielt.Dereinfache,d.h.dominantoderre-

zessiverbliche,VererbungsmoduseinesMerk-

malsweistnachdrücklichaufeinespezifische

genetische Ursache hin. Liegt die relevante

Erbanlage auf einem der 22 menschlichen

Autosomen,dannwirdderErbgangalsauto-

somalbezeichnet.EinMerkmalistdannauto-

somal dominant erblich,wenn ein Allel bzw.

eineMutationineinemderbeidenhomologen

Gene,dieamjeweilsgleichenOrteinespaarig

vorhandenen,homologenAutosomslokalisiert

sind, zur phänotypischen Manifestation aus-

reicht (Mendels Beispiel der gelben Erbsen).

Es ist autosomal rezessiv erblich, wenn bei-

de homologenGene verändert (mutiert) sein

müssen, damit es zur phänotypischenMani-

9 MendelGJ(1866).

8 2 | Die genetischen Grundlagen von Krankheiten

festationkommt(MendelsBeispieldergrünen

Erbsen).Wiebereitserwähnt,bezeichnetman

dengenetischenStatus(homo-oderheterozy-

got)aneinembestimmtenGenortalsGenotyp.

Eine dominante Genmodifikation wird von

ihren Trägern unabhängig vom Geschlecht

durchschnittlich an die Hälfte ihrer Kinder

weitergegeben. Sie lässt sich in betroffenen

Familien typischerweise anhand des deutlich

abweichendenPhänotypsderTrägerüberdie

Generationenverfolgen.Einrezessiverbliches

MerkmalzeigtsichineinerFamilietypischer-

weise bei Geschwistern, die homozygot im

Hinblickaufdie fürdieMerkmalsentstehung

erforderlichen beiden homologen Gene sind.

Heterozygote Eltern, die Träger eines nor-

malenundeinesverändertenGenssind,sind

dagegen phänotypisch meist unauffällig, je-

dochbei genauerUntersuchungeventuell er-

kennbar.DerBegriffdermendelnderblichen

Krankheit fürmonogen bedingte Erkrankun-

gen, bei denen die zugrunde liegenden Gene

nach Mendelschen Regeln vererbt werden,

ist fest etabliert. Bei aller sprachlichen Ver-

kürzung darf jedoch nicht vergessenwerden,

dass nicht phänotypischeMerkmale sondern

Gene vererbt werden und dass der Genotyp

denkrankhaftenPhänotypbeivielenmonogen

bedingtenKrankheitennichtnotwendigdeter-

miniert.AusFamilienbeobachtungenistlange

bekannt,dassnichtjederveränderteGenotyp

sich entsprechend dem Mendelschen Verer-

bungsmodell auch phänotypisch ausprägen

muss. Dies gilt besonders beim dominanten

Erbgang.Mansprichtdannvonherabgesetzter

Penetranz. Auch die Expressivität, darunter

versteht man die phänotypische Ausprägung

und den Schweregrad einer monogen erbli-

chenKrankheit, kann bei betroffenen Indivi-

duen sehr unterschiedlich sein, selbst wenn

die gleicheMutation verantwortlich ist. Dies

kanndaraufberuhen,dassverschiedeneAllele

anderer Gene und/oder Umweltfaktoren die

Wirkungdesmutierten,fürdieKrankheitsent-

stehung entscheidendenHauptgens inunter-

schiedlicherWeisebeeinflussen.

Dringend zuwarnen ist vor einem leicht-

fertigen Gebrauch von unwissenschaftlichen

Ausdrücken wie „gesunde“ oder „kranke“,

„gute“ oder „schlechte“ Gene. An einem be-

stimmtenGenortvorkommendeAllelekönnen

in Abhängigkeit von den Umwelteinflüssen

vorteilhafte oder nachteilige phänotypische

Wirkungenhaben.Sostelltez.B.dieFähigkeit,

MilchunddendarinbefindlichenMilchzucker

alsKindundErwachsenerzusichzunehmen

(Laktosetoleranz), einen evolutiven Vorteil

bei der Besiedlung sonnenärmerer Regionen

dar (infolge erhöhter Kalziumaufnahme und

besseren Knochenaufbaus). Überall auf der

WeltkönnenSäuglingedieinderMuttermilch

vorhandeneLaktoseverdauen.NachdemAb-

stillenentwickelndieKinder jedoch invielen

Gebieten der Erde eine Laktose-Intoleranz.

DieUrsachedafürbestehtinderInaktivierung

einesGens,dasfüreinEnzymkodiert,welches

fürdenLaktoseabbauerforderlichist.Nehmen

diesePersonenweiterMilchzusich,kommtes

u.a.zuschwerenKoliken,da jetztdieBakte-

riendesDickdarmsdenMilchzuckervergären.

Das heißt, Träger des normalen Gens haben

unter diesen Umweltbedingungen einen ge-

sundheitlichen Nachteil.Wie ein bestimmtes

Allel sich auf die Gesundheit auswirkt, kann

aberauchvomVorhandenseindeszweitenAl-

lelsamgleichenGenortundvomVorhanden-

seinweitererAllele ananderenGenortenab-

hängig sein.DieNutzen-Risiko-Einschätzung

einesAllelsdarfdahernicht isolierterfolgen,

sondernnurimKontextdereinmaligenKom-

bination aller Erbanlagen eines Individuums

und seiner besonderen Umwelt. Die Vielfalt

menschlicher Genotypen ist ein hoher Wert,

dennsieermöglichtdieAnpassunganunter-

schiedlicheUmweltbedingungen.

InderGeschichtederHumangenetikspiel-

te der einfache Erbgang während der ersten

Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Bedeu-

tung der DNA als chemisch-physikalische

GrundlagederVererbungnochnichterkannt

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 9

war, eine besondere Rolle. Die Veränderung

körperlicher (phänotypischer) Merkmale ge-

stattete einen ersten Einblick in die „black

box“ der Vererbung. Tausende monogen be-

dingte Krankheiten wurden auf Grund ihres

besonderen Phänotyps und Erbgangs abge-

grenztundseit1966vondemHumangenetiker

VictorMcKusickenzyklopädischgesammelt.10

DiemeistendieserKrankheitensindaufMu-

tationen in Genen zurückzuführen, die für

bestimmte Proteine kodieren. Beispiele sind

ZystischeFibrose(Mukoviszidose)undspinale

Muskelatrophie(beideautosomalrezessiverb-

lich),HuntingtonscheKrankheitundMarfan-

Syndrom(beideautosomaldominanterblich),

Hämophilie A sowie Muskeldystrophie Du-

chenne (beide X-chromosomal rezessiv erb-

lich).DiemutationsbedingteVeränderungder

DNA-Basensequenz eines solchen Gens be-

dingt eine Veränderung der Aminosäurense-

quenzdesvondiesemGenkodiertenProteins.

EsgibtaberauchandereMutationsmechanis-

men,diedazuführen,dassGeneinmanchen

Geweben oder Entwicklungsstadien in RNA-

Moleküle umgeschrieben werden, die selber

funktionelle Relevanz besitzen, also nicht in

Proteine übersetzt werden (z.B. die Gruppe

der microRNA). Außerdem kann durch un-

terschiedliche Weiterverarbeitung auf RNA-

Niveau(alternativesSpleißen)auseinemGen

eineVielzahlvonProteinenmitunterschiedli-

cherFunktionentstehen.Störungenindiesem

SystemkönnenebensoanderEntstehungvon

Krankheitenbeteiligtsein.

Im Rahmen des Humangenomprojekts

wurde die DNA-Basenabfolge des menschli-

chen Genoms nahezu vollständig entschlüs-

selt. Dabei wurden bislang mehr als 2.000

Gene identifiziert, deren Mutationen zu

insgesamt etwa 3.500 monogen bedingten

Krankheiten führen, von denen die meisten

selten sind (Häufigkeit weniger als 1:2.000).

In diesen Fällen sind die Voraussetzungen

10 McKusickVA(1966-1998).

für eineDiagnostik der die Krankheiten ver-

ursachendenMutationen gegeben. Insgesamt

sind3-4%derGeborenenvoneinermonogen

bedingten Krankheit betroffen.11 Die große

MehrzahldieserKrankheitenmanifestiertsich

imKindesalter.Dieübrigenmanifestierensich

erstimspäterenLeben,manchmalerstmehre-

reJahrzehntenachderGeburt.

Multifaktorielle (genetisch komplexe) Krankheiten

In der Bevölkerung häufigeKrankheiten (so-

genannteVolkskrankheiten,wiez.B.Diabetes

mellitus, Herz-Kreislauf Erkrankungen, All-

ergien, seelische Krankheiten) unterscheiden

sichvondenmonogenbedingtenKrankheiten

dadurch,dasssiezwareinegewisse familiäre

Häufungaufweisen, aberkeinemklarenErb-

gang folgen. Die Krankheitsausprägung wie

Manifestationsalter und Krankheitsschwere

sind sehr variabel. Sie beruhen auf dem Zu-

sammenwirken erblicher und umweltbeding-

terFaktoren.DiemeistendieserKrankheiten

kommen vermutlich durch unterschiedliche

genetischeMechanismenzustande.

DasaufArchibaldGarrod12zurückgehende

Konzept der „biochemischen (heute würden

wir sagen ‚genetischen‘) Individualität“ be-

greiftKrankheitnichteinfachalsGegensatzzu

Gesundheit,sondernalsStörungeineshomöo-

statischen,d.h.einessichselbstregulierenden

Netzwerkes, welches das Ergebnis eines lan-

gen evolutionärenProzesses ist.DiesesNetz-

werk stellt ein stark gepuffertes System dar,

das nachteilige Auswirkungen kompensieren

kann. Veränderungen einzelner Gene betref-

fen nur einzelne Komponenten des Systems.

EntsprechendvariabelistdieindividuelleRe-

11 EURORDIS(2005)Rarediseases:understandingthispublichealthpriority.http://www.eurordis.org/IMG/pdf/princeps_document-EN.pdf.

12 GarrodAE(1908).

10 2 | Die genetischen Grundlagen von Krankheiten

aktionaufderartigeVeränderungen.13

Bei vielen multifaktoriellen Krankheiten

sind jedochmonogen bedingte Subtypen be-

kannt. Am einzelnen Erkrankten ist der be-

sondere genetische Sachverhalt meist nicht

erkennbar. Nur auf Grund der Familien-

konstellationkann fürdenArztderVerdacht

aufkommen.Beispielesinddiedominanterb-

lichenFormenvonBrust-undDarmkrebs,die

dominant erbliche Form der Alzheimerschen

Krankheit und die dominant erbliche Form

derHypercholesterinämie.IndiesenFällenre-

präsentierendiemonogenbedingtenFormen

einenkleinenTeilderüberwiegendmultifak-

toriellbedingtenKrankheiten;diesesindgene-

tischkomplex.

Die genetische Individualität eines Men-

schen ist z. B. eine mögliche Erklärung für

die unterschiedliche Anfälligkeit gegenüber

Infektionserregern oder Zivilisationskrank-

heiten und für die individuell unterschiedli-

che Reaktion auf die Einnahme bestimmter

Medikamente. InKenntnis einer genetischen

DispositionkanneineKrankheitsmanifestati-

on oftmals durch geeignete präventive Maß-

nahmenabgemildert,zeitlichverschobenoder

ganz vermieden werden. Man kann davon

ausgehen, dass jederMensch unterschiedlich

starke genetische Dispositionen für mehrere

multifaktoriell bedingte Krankheiten in sei-

nemErbgutaufweist.

In den letzten Jahren hat die Zahl der

identifizierten genetischen Varianten, die zu

verschiedenen multifaktoriellen Krankheiten

disponieren, deutlich zugenommen. Es wird

aber noch beträchtliche Zeit dauern, bis ihr

genetischesBedingungsgefügeund ihreklini-

scheRelevanzaufgeklärtsind.Diegenetische

Komplexität der multifaktoriellen Krankhei-

tenstelltimVergleichzumonogenbedingten

Krankheiten wesentlich höhere Anforderun-

genandiegenetischeAnalyse.

Berücksichtigtmandieaußerordentlichen

13 CremerT(2010).

technischen Fortschritte bei der DNA-Se-

quenzierung,dannistesabsehbar,dassdurch

Sequenzierung vollständiger Genome von

Kollektiven mit genetisch komplexen Krank-

heiten unddurchdenVergleichmit geeigne-

tenKontrollgruppen dieMöglichkeit eröffnet

wird, alle krankheitsrelevanten Unterschiede

in der DNA-Sequenz zu identifizieren. Die-

se Forschungsstrategie kann die genetischen

Beiträge zu multifaktoriellen Krankheiten

aufdecken helfen. Die Schwierigkeit bei der

Interpretation solcher, außerordentlich um-

fangreicher Datensätze besteht darin, krank-

heitsrelevante Unterschiede von irrelevanten

Unterschiedenabzugrenzen.

MitderneuenSequenziertechnologiesind

dieGenomeeinigergesunderPersonenkom-

plett sequenziert worden, wobei jede Person

anscheinend eine größereAnzahl krankheits-

relevanter Mutationen („deleterious muta-

tions“), meist in heterozygoter Form, trägt.14

DieVerortungderVariantenbzw.Mutationen

im Genom, ihre funktionellen Auswirkun-

gen und ihre Häufigkeit in der Bevölkerung

machen das Gesamtbild immer komplizier-

ter.15GegenwärtigwerdenunterFührungdes

englischen Sanger-Wellcome-Zentrums die

Genome von 1.000 gesunden Personen aus

verschiedenen ethnischen Gruppen der Welt

komplett sequenziert („1000 Genom-Pro-

jekt“),umdieGenomvariabilitätunterGesun-

denzuerfassen.

Eine der größten Aufgaben wird es sein,

die pathogenetisch wichtigen Sequenzverän-

derungenvondenvielenfunktionellunbedeu-

tenden Varianten zu unterscheiden. ImHin-

blickaufdieKrankheitsforschungkommtder

Verfügbarkeit großer Kohorten klinisch gut

charakterisierter Patienten (undKontrollper-

sonen)großeBedeutungzu.

14 ChunS,FayJC(2009).

15 CooperDNetal.(2010).

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 11

Zur Rolle von Genom, Epigenom und Umwelt bei der individuellen Entwicklung von Menschen, der Erhaltung ihrer Gesundheit und der Entstehung von Krankheiten16, 17

DieEntwicklungeinesjedenMenschen,seine

GesundheitunddieEntstehungvonKrankhei-

tensindphänotypischerAusdruckvonWech-

selwirkungen zwischen allen seinen Erbanla-

gen(Genom),derVerpackungundAnordnung

der Erbanlagen im Chromatin des Zellkerns

(Epigenom) und von Umweltbedingungen.

AlsZeitpunktfürdenBeginnderEntwicklung

einesMenschen gilt allgemein der Abschluss

der Befruchtung der Eizelle mit der Vereini-

gung der beiden elterlichenGenome.Da alle

Körperzellen letztlichdurchwiederholteZell-

teilung (Mitose) aus der befruchteten Eizelle

(Zygote)hervorgehen,enthaltensie(mitweni-

genAusnahmen)auchalledasgleicheGenom,

d.h.diegesamteDNAhatinjederZellediesel-

beBasensequenz.Darausergibtsich,dasseine

molekulargenetischeDiagnostikimPrinzipan

jederKörperzelleundzujedemZeitpunktder

Entwicklungvorgenommenwerdenkann,also

auchlangevorderGeburt(pränataleDiagnos-

tik)oderimLaufedesLebensJahrzehntevor

derManifestationeinerKrankheit(prädiktive

Diagnostik).

Der britische Biologe Conrad Hal Wad-

dington hat Mitte des letzten Jahrhunderts

die Genetik in die Embryologie eingeführt

und das Gebiet der Epigenetik begründet.18

DervonihmgeprägteBegriff„epigenetics“ist

eineFusionderWörter„epigenesis“und„ge-

netics“.WaddingtondefiniertedieEpigenetik

als das Studium der Wechselwirkungen zwi-

schendenGenen,ihrenProduktenundäuße-

renFaktoren,diedenPhänotyperzeugen.Er

16 Berlin-BrandenburgischeAkademiederWissenschaf-ten(2009).

17 SperlingK(1999).

18 WaddingtonCH(1966).

verstanddensichentwickelndenOrganismus

alseinsichselbstorganisierendesSystem,das

sich durch Robustheit (Waddington sprach

vonKanalisation)undPlastizitätauszeichnet.

RobustheitundPlastizitätbedeuten,dasssich

die Entwicklungsbahn einer Zelle oder eines

Organismus bei kleineren Störungen nicht

ändert, wohl aber durch die Einwirkung be-

stimmter Einflüsse während empfindlicher

Entwicklungsstadien.

Obwohl das Gebiet der Epigenetik schon

70Jahrealt ist,hat es erst inden letzten20

bis 30 Jahren einenDurchbruch erlebt.Dies

ist hauptsächlich durch die Fortschritte in

der Molekularbiologie und –genetik möglich

geworden.Heutewissenwir,dasssichZellen

verschiedener Gewebe und Entwicklungs-

stadien unter anderem in der quantitativen

undqualitativenExpressionzahlreicherGene

unterscheiden. Während in einer bestimm-

tenZellezueinembestimmtenZeitpunktbe-

stimmte Gene aktiv sind, sind andere Gene

stillgelegt. Der Aktivitätszustand von Genen

wird durchMethylierung von Cytosin in der

DNA und enzymatische Modifikation (Ace-

tylierung, Methylierung, Phosphorylierung)

von Histonproteinen, um die die DNA ge-

wickelt ist, bestimmt. Diese Muster können

übermehrereZellteilungenhinwegstabilsein

(Kanalisation),sindaberauchimPrinzipver-

änderbar (Plastizität). Die Veränderbarkeit

dieserMusterzeigtsicheindrucksvollbeider

Reprogrammierung des Genoms einer diffe-

renziertenZelledurchZellkerntransferineine

entkernteEizelle(KlonschafDolly)oderdurch

Transfektionmit Pluripotenzfaktoren („indu-

cedpluripotentstemcells,iPS).DurchdieRe-

programmierung lassen sich totipotente bzw.

pluripotenteZellenherstellen.

Die Chromatinmarkierung durch Me-

thyltransferasen und andere Enzyme ist ein

Beispiel fürdie vonWaddingtonpostulierten

WechselwirkungenzwischenGenenundGen-

produkten, stellt abernureinesvonvier epi-

genetischen Systemen dar. Weitere Systeme

12 2 | Die genetischen Grundlagen von Krankheiten

sind regulatorischeRNAs, autoregulatorische

Rückkopplungsschleifen („feedback loops“)

undsichselbstaufrechterhaltendeStrukturen.

AllenvierSystemenistgemeinsam,dasssiein

verschiedenen, metastabilen Zuständen exis-

tierenkönnen.

Welche Bedeutung hat die Epigenetik für

die menschliche Entwicklung und ihrer Stö-

rungen? Es gibt zahlreiche epidemiologische

Studien,diedieBedeutungprä-undpostnata-

lerEreignisse für das spätereLebenbelegen.

Barkerhatalserstergefunden,dassniedriges

GeburtsgewichtmiteinemerhöhtenRisikofür

kardiovaskuläreStörungenimAlterkorreliert

ist.19DieseundähnlicheBeobachtungenwer-

denunterdemStichwort„fetaloriginofadult

disease“zusammengefasst.DieHypothesebe-

sagt, dass ungünstige Einflüsse während der

vorgeburtlichen Entwicklung und der frühen

KindheitzudauerhaftenVeränderungeninder

Genexpression,derZellzahleinesGewebes,der

RezeptordichteaufeinerZelle,derPhysiologie

unddesMetabolismuseinesMenschenführen

können,sodasseinerhöhtesRisikofürAlters-

krankheitenbesteht.ZudenungünstigenEin-

flüssenzähleneinUnter-undeinÜberangebot

anNährstoffensowieStresshormonewährend

der Schwangerschaft. In der frühenKindheit

sindeseinefalscheErnährungsowieVernach-

lässigungdurchdieEltern.DieseZusammen-

hänge sind nicht neu; neu ist aber, dass die

molekulareEpigenetiknuninderLageist,die

genetischenundzellulärenMechanismendie-

ser Prägung zu verstehen. Umstritten ist, ob

sich beim Menschen solche Prägungen auch

voneinerGenerationaufdienächsteGenerati-

onvererbenkönnen.

DieBedeutunggenetischerundepigeneti-

scher Einflüsse für die Krankheitsentstehung

istaneinermonogenverursachtenKrankheit,

dem Angelman-Syndrom, eindrucksvoll ge-

zeigtworden.DieseschwerwiegendeEntwick-

lungsstörung beruht auf einer epigenetisch

19 BarkerDJ,OsmondC(1986).

und/oder genetisch bedingten Funktionsstö-

rungvonKeimzellen.DasverantwortlicheGen

istindenrelevantenGewebennuraktiv,wenn

es vonderMutter auf dasKind vererbtwor-

denist,währenddasvomVatervererbteGen

inaktiv bleibt. Den epigenetischen Prozess,

der zu diesemUnterschied führt, nenntman

„Imprinting“(Prägung).Einweiteresklinisch

relevantes Beispiel ist die Inaktivierung von

Tumorsupressorgenen durch epigenetische

MechanismeninsomatischenZellen.DerAus-

fallsolcherGenespielteinewichtigeRollebei

derEntstehungvonTumorerkrankungen,z.B.

wenn einTumorsupressorgen als Folge einer

fehlerhaften Chromatinmarkierung nicht

mehr transkribiert werden kann. Inzwischen

gibtesersteAnsätze,eineerneuteAktivierung

solcherGenedurcheinepharmakologischin-

duzierte Veränderung der Chromatinmarkie-

rungzuerreichen.

Die Ergebnisse der Epigenetik sind noch

zuneu,umihreBedeutungfürdieprädiktive

Diagnostik abschätzen zu können. Die hier

nur angedeuteten Zusammenhänge sollen

deutlich machen, dass und warum einfache

mendelistischeKonzeptederVererbunglängst

nichtmehrgenügen.Sokannz.B.aufGrund

derPlastizitätderEntwicklungderprädiktive

WertvonDNA-Variantenstarkeingeschränkt

odersogargleichnullsein.

Chromosomenstörungen

In teilungsfähigen, menschlichen Zellen

können Zahl und Struktur der individuellen

Chromosomen während der Mitose bei etwa

1000-facher Vergrößerung unter dem Mik-

roskop untersucht werden. Inzwischen ist es

möglich,alleChromosomenundsogareinzel-

ne Gene auch während der Interphase, dem

LebensabschnitteinerZellezwischenzweiMi-

tosen,direktimZellkernsichtbarzumachen.

Mit diesen Untersuchungsmethoden wurde

eineFülleangeborenerChromosomenstörun-

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 13

genentdeckt,diedieZahlderChromosomen

oder ihre Struktur betreffen.DerartigeChro-

mosomenstörungen sindmeistmit schweren

gesundheitlichen Auswirkungen verbunden,

besonders angeborenen Fehlbildungen und

geistiger Behinderung, da oftmals eine große

Anzahl von Genen entweder verloren gegan-

genoderverdoppeltist.Besondersbekanntist

dasDown-Syndrom,bei der dasChromosom

21inallenZellkerneneinesBetroffenenindrei

anstattzweiKopienvorkommt(Trisomie21).

DerartigeFehler,die imPrinzip jedesder

23Chromosomenbetreffenkönnen,kommen

bei der Keimzellbildung, speziell der Eizell-

bildung,häufigvor.SieführeninihrerMehr-

zahlzumfrühenAbsterbendesEmbryosund

stellendiehäufigsteUrsachevonFehlgeburten

dar.

Wenn es zwischen verschiedenen Chro-

mosomen zu einem Austausch chromosoma-

lerAbschnittekommt,sprichtmanvoneiner

Translokation. Wenn dabei kein genetisches

Material verloren geht und keines hinzuge-

wonnenwird,dann istdieChromosomenstö-

rung balanciert und ihr Träger in der Regel

gesund. Bei Verlust oder Zugewinn an gene-

tischemMaterialresultierteinunbalancierter

Zustand.DerTrägereinerbalanciertenTrans-

lokationhat jedoch ein erhöhtesRisiko, dass

seineKindereineunbalancierteTranslokation

aufweisen. Die Untersuchung weiterer Fa-

milienangehöriger deckt dann aufGrundder

ErblichkeitderChromosomenstörungoftmals

auchweitereTrägerderbalanciertenTranslo-

kationauf.

Wenn die Geschwister eines Patienten,

der eine unbalancierteChromosomenstörung

aufweist, untersucht werden, dannwird eine

Aussage darüber gemacht, ob deren Kinder

ein erhöhtes Risiko für einen unbalancierten

chromosomalenStatushaben.Eshandeltsich

umeineFormderprädiktivengenetischenDi-

agnostik. Siewird inder skizziertenKonstel-

lationimRahmeneinergenetischenBeratung

besprochen,daeinechromosomaleImbalance

meistmiteinerschwerengesundheitlichenBe-

einträchtigungverbundenist.

Heute ist die Analyse der Chromosomen

nicht mehr auf teilungsfähige Zellen be-

schränkt, sondern kann an jedweden Zellen

vorgenommenwerden.Hierzuwird dieDNA

extrahiert und auf DNA-Chips hybridisiert,

diemehrals500.000verschiedeneSequenzen

desmenschlichenGenomsaufweisenkönnen.

Damit lassensich ineinemeinzigenTestMi-

krodeletionenoderMikroduplikationennach-

weisen,diewenigerals1000DNA-Basenpaare

umfassen können und in unterschiedlicher

Kopienzahl vorliegen, sogenannte „gene copy

number variants“ (CNVs). Im Vergleich zum

UmfangdesdiploidenGenomseinesMenschen

mitetwa6MilliardenBasenpaarenhandeltes

hieralsoumwenigeralsdenMillionstenTeil

desgesamtenGenoms.NochvorwenigenJah-

ren waren CNVs unbekannt. ZweiMenschen

weisenimDurchschnittetwa80Geneauf,die

sich in der Zahl der Kopien unterscheiden.20

Die möglichen Konsequenzen reichen von

neutralenPolymorphismenbiszupathogenen

odersogarprotektivenWirkungen.21

Mitochondriopathien

DieMitochondrien,die„Kraftwerke“derZel-

le,verfügenübereineigenesringförmigesGe-

nom, das für 37 Gene kodiert und praktisch

ausschließlichüberdieEizellevonderMutter

auf die Nachkommen vererbt wird. Die Zahl

derMitochondrien pro Zelle kann, insbeson-

derebeiZellenmithohemEnergiebedarf,weit

übertausendliegen.BeimNachweisvonMu-

tationen im mitochondrialen Genom ergibt

sichnichtseltendasProblem,dassdiebetrof-

fene Person nebenMitochondrienmitMuta-

tionen auch funktionell intakteMitochondri-

en aufweist (Heteroplasmie), deren relativer

20 AlkanCetal.(2009).

21 BeckmannJSetal.(2008).

14 2 | Die genetischen Grundlagen von Krankheiten

AnteilzwischenverschiedenenGewebennoch

zusätzlich variieren kann. Entsprechend

schwierig sind alle prognostischenAussagen.

Ein Defekt dieser Gene wirkt sich nachteilig

aufdenEnergiehaushaltderZelleaus,wobei

regelmäßigmehrere Organe betroffen sind.22

Somatische Mutationen des mitochondrialen

Genoms spielen beim Alterungsprozess eine

wichtigeRolle.

22 FinstererJ(2004).

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 15

Die Aufklärung der genetischen Grundlage

monogenerKrankheiteneröffnetdieMöglich-

keit der molekularen Absicherung des klini-

schenVerdachtsaufeinemonogeneKrankheit,

derPräzisierungderPrognose,derprädiktiven

Diagnostikspätmanifestermonogenbedingter

Krankheiten, der vorgeburtlichen Diagnostik

undvongenetischenReihenuntersuchungen.

Beica.3.500monogenbedingtenErkran-

kungen können ursächliche Genmutationen

identifiziertwerden.DieZahlderbislangun-

bekannten monogen bedingten Krankheiten

liegtsicherlichumeinVielfacheshöher.23Mit

denmodernen Verfahren der Genomsequen-

zierung wird sich, entsprechende Förderung

vorausgesetzt, diese Situation grundlegend

ändern. Allerdings kann es wegen der gro-

ßen Zahl möglicher Mutationen (sogenannte

allelische Heterogenität) und vor dem Hin-

tergrund funktionell irrelevanter genetischer

VariantenimEinzelfallschwierigbleiben,die

für ein monogenes Merkmal verantwortliche

Mutationzuerkennen.

Die Diagnose eines Krankheitsbildes

geht primär vonder klinischenSymptomatik

aus. Dies galt traditionell auch für monoge-

ne Krankheiten. Die Zuordnung klinischer

Krankheitsbilder zu Mutationen in der Erb-

substanz DNA hat eine grundlegend neue

AusrichtungauchderklinischenMedizinaus-

gelöst. AufGrund der klarenmolekulargene-

tischenZuordnungvielerKrankheitsbilderist

dieDiagnostikpräzisermöglich,dieTherapie

besserplanbarunddiePrognosesichererge-

worden.DieLebenserwartungeinesPatienten

23 RopersHH(2007).

mitZystischerFibroselagvor30Jahrenbei10

Jahren,heute istsie inZentren,die fürdiese

Erkrankung spezialisiert sind, mit 30 bis 50

Jahren anzusetzen, wobei besondere Geno-

typen einen vorhersehbar leichteren Verlauf

nehmen.

Die molekulare Absicherung des klinischen Verdachts auf eine monogen bedingte Erkrankung

KlinischgestellteDiagnosensindhäufigunsi-

cher.DasgiltvorallemfürdasAnfangsstadi-

umeinerKrankheit,einemZeitpunktalso,zu

dem sekundär präventiv wirkende Maßnah-

meninGanggesetztwerdenmüssen.Dieklini-

scheDiagnostikwirddahertraditionelldurch

labormedizinischeundbildgebendeVerfahren

(Röntgen, Ultraschall u. a.) ergänzt. Geneti-

sche Tests komplementieren diese Untersu-

chungen.DasienichtamSymptom,sondern

an der Ursache ansetzen, erzeugen Gentests

jedocheineungleichgrößereErkenntnistiefe.

BeieinermonogenenKrankheitkanndieglei-

cheklinischeSymptomatikdurchMutationen

in verschiedenen Genen zustande kommen.

AuchdasUmgekehrteistmöglich:Verschiede-

neKrankheitensindFolgeverschiedenerMu-

tationenimgleichenGen.

Es gibt immermehr Beispiele, bei denen

die Resultate vonGentests zuwichtigen the-

rapeutischen bzw. präventiven Entscheidun-

gen führen. Beim Long-QT-Syndrom, einer

genetischsehrheterogenenKrankheitsgruppe

mit häufig fatalen Herzrhythmusstörungen,

orientiertsichdieBehandlungzunehmendan

3 Medizinischer Kontext genetischer Diagnostik

16 3 | Medizinischer Kontext genetischer Diagnostik

dem jeweils zu Grunde liegenden Genotyp.24

BeidenerblichenBindegewebserkrankungen,

diemiteinemhohenRisikofüreinelebensge-

fährliche Dissektion (Aufspaltung) der Aorta

einhergehen(Marfan-Syndromundverwand-

teSyndrome),richtetsichderZeitpunkteines

prophylaktischen Aortenersatzes nach dem

Gen,25dasbeidemPatienteneinedieKrank-

heit verursachende Mutation aufweist. Ein

drittesBeispielsinddieverschiedenenFormen

derZystennieren(autosomalrezessiverbliche

Zystennieren, ARPKD; autosomal dominant

erbliche Zystennieren, ADPKD). Die Kinder

mit ARPKD können schon als Neugeborene

mitschwerstverändertenNierenaufdieWelt

kommenundunter konventionellerTherapie

begrenzt lebensfähig sein. Andererseits kann

durch eine frühzeitige bilaterale Nephrekto-

mieundanschließendeNierentransplantation

solchen Kindern eine Lebenschance gegeben

werden, sofern ein Spenderorgan zur Verfü-

gungsteht.BeiderADPKDbeginntdieSymp-

tomatikmeistbeiErwachsenen,eineDialyse-

TherapieoderTransplantationkannbeivielen

PatienteneinefastnormaleLebenserwartung

ermöglichen.EinepränataleDiagnostikkann

in Betracht kommen, ist aber nicht unum-

stritten, wenn ein Schwangerschaftsabbruch

erwogenwird.

In diesemKontext soll auch die Pharma-

kogenetik als eine besondere Dimension der

genetischen Diagnostik erwähnt werden. Die

Wirkung einesMedikaments kann von gene-

tischen Faktoren beeinflusst werden, sowohl

im Hinblick auf die (erwünschte) Wirkung

eines Medikaments als auch auf (natürlich

unerwünschte) Nebenwirkungen. Die Anzahl

bekannter, klinisch wichtiger pharmakoge-

netischer Phänomene ist bisher begrenzt.

Die Möglichkeiten der molekulargenetischen

Analyse dürften die Aufdeckung neuer, auch

klinisch relevanter pharmakogenetischerMe-

24 LuJT,KassRS(2010).

25 vonKodolitschYetal.(2010).

chanismenerleichtern.

Zu den klassischen Beispielen pharma-

kogenetisch relevanter Störungen zählen die

Porphyrie, ein komplexes Krankheitsbildmit

Bauchkoliken und zuweilen psychiatrischen

Symptomen,welchesdurchAlkoholundeine

VielzahlvonMedikamentenausgelöstwerden

kann,unddiemaligneHyperthermie,einele-

bensbedrohliche Entgleisung der Körpertem-

peraturregulation als Reaktion auf Narkose-

mittel.

Ein pharmakogenetisches Phänomen, das

für 10%derMenschen inMitteleuropa rele-

vant ist, betrifft dasMedikament Tamoxifen.

Es wird z. B. Frauen verabreicht, die wegen

Brustkrebs operiert worden sind. Wenn das

postoperativ untersuchte Tumorgewebe sich

als Östrogenrezeptor-positiv herausstellt,

dann ist die Verabreichung von Tamoxifen

über mehrere Jahre sinnvoll. Die Substanz

wirktderEntwicklungeinesBrustkrebs-Rezi-

divsentgegen.Tamoxifenistjedochnichtsel-

berwirksam,esmussdurcheinkörpereigenes

EnzymineineaktiveFormumgewandeltwer-

den.Beietwa10%derEuropäerbleibtdienot-

wendigeAktivierungdesMedikamentsausge-

netischenGründenaus.26DieseFrauensollten

andersbehandeltwerden.VorBeginnderThe-

rapie ist also eine entsprechende genetische

UntersuchungdieserPatientinnensinnvoll.

DieFortschrittederGenetikundGenomik

haben in ihrer Anwendung auf medizinische

Problemstellungen das Konzept der „indivi-

dualisierten Medizin“ hervorgebracht. Durch

eine verfeinerteDifferenzialdiagnose und die

personengerechte Auswahl und/oder Dosie-

rung therapeutischer Substanzen, die bei der

zubehandelndenPersondierelativbesteWirk-

samkeitbeimöglichstgeringenNebenwirkun-

genhat,solldiefürdasIndividuumbestmög-

licheTherapiegefundenwerden.Esistdavon

auszugehen,dassinnaherZukunftzahlreiche

weitere Genvarianten identifiziert werden,

26 SchrothWetal.(2009).

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 17

welche dieMedikamentenantwort individuell

steuern.Denkbar sindauchPolymorphismen

anonymer DNA-Marker (SNP-Profile), die

auch ohne Kenntnis der zugrundeliegenden

GeneVorhersagenübergenetischbeeinflusste

ReaktionsweisenaufMedikamentezulassen.

Präzisierung der Prognose

In gewissen Grenzen eignen sich die Ergeb-

nisse vonGentests auch für die Präzisierung

der Prognose im Einzelfall, nämlich immer

dann, wenn eine gesicherte Korrelation zwi-

scheneinembestimmtenGenotypundeinem

bestimmten Phänotyp existiert. Dazu einige

Beispiele:

1. ZahlreicheMutationenimCFTR-Genkön-

nenzumVollbildeinerautosomalrezessiv

erblichen Mukoviszidose (Zystische Fi-

brose) führen. Einige Mutationen gehen

jedoch mit einer Teilsymptomatik (z. B.

InfertilitätalsalleinigeKrankheitsmanifes-

tation)einher,odersiesindAnhaltspunkte

für einen überdurchschnittlich günstigen

Verlauf.

2. MutationeninGenen,diefürEnzymemit

enzymatischen Restaktivitäten kodieren,

zeigen einen milderen Krankheitsverlauf

alsMutationen,diezueinemvollständigen

Verlust der enzymatischen Aktivität füh-

ren.

3. JegrößerdieExpansiondesTrinukleotids

CAG imHuntington-Gen ist,desto früher

leidendieBetroffenenandenSymptomen

derHuntingtonschenKrankheit.

4. ImFallederautosomaldominanterblichen

FamiliärenadenomatösenPolyposishängt

dasManifestationsalterderKrankheitvon

derPositionderMutationimGenab.

5. Die autosomal rezessiv erbliche spina-

le Muskelatrophie entsteht infolge einer

Homozygotie für eine krankheitsrelevan-

teMutation imSMN1-Gen.DerGrad der

MuskelatrophiekannjedochinAbhängig-

keitvonderAnzahlvonSMN2-Genen,die

einePersonbesitzt,kompensiertwerden.

Prädiktive Diagnostik monogen bedingter Krankheiten, die sich spät manifestieren

DieMöglichkeit,Krankheitsanlagenzueinem

Zeitpunkt zu erkennen, der eventuell Jahr-

zehnte vor dem eigentlichen Ausbruch der

Erkrankungliegt,stelltdieeigentlichneuarti-

geDimensiondar,welchedieGenetik inden

Mittelpunkt der aktuellen Diskussion stellt.

Um sie in ihren medizinischen, psychologi-

schen und gesellschaftlichen Auswirkungen

besserzuverstehen,müssenprädiktivegeneti-

scheTestskontextbezogenbetrachtetwerden.

Die Inanspruchnahme eines prädiktiven

Tests wird heute vorrangig dann diskutiert,

wenn ein Mensch auf Grund der familiären

Vorgeschichte ein erhöhtes Risiko für eine

monogen bedingte Krankheit hat. Beispie-

le sind die familiären Krebserkrankungen

(Brust-, Darm-, Schilddrüsenkrebs), neuro-

degenerative Erkrankungen, Huntingtonsche

Krankheit, spinocerebelläre Ataxien, spinale

Muskelatrophien, verschiedene Stoffwechsel-

erkrankungen, Immunmangelerkrankun-

gen, Hämochromatose, dominante Form der

Hypercholesterinämie, genetisch bedingte

NeigungzurThrombose(Thrombophilie).

Eine prädiktive genetische Diagnostik

kann für gesunde Personen, die auf Grund

eines Familienbefundes ein hohes Erkran-

kungsrisikofüreinespätauftretendeerbliche

Krankheithaben, einegroßeHilfedarstellen.

AufdereinenSeitekanndieuntersuchtePer-

son durch Ausschluss des Risikos in vielen

Fällenentlastetwerden.AufderanderenSei-

te kann auch der Nachweis der krankheits-

bedingenden Mutation eine Hilfe sein, weil

die betreffende Krankheit durch Prävention

verhinderbar oder durch frühzeitige Thera-

pieeffektiverbehandelbarist.Beimerblichen

18 3 | Medizinischer Kontext genetischer Diagnostik

Darmkrebs(Lynch-Syndrom,HereditaryNon-

polyposisColorectal Cancer,HNPCC) konnte

injüngsterZeitz.B.gezeigtwerden,dassesbei

Hochrisikopersonengelingt,dieentstandenen

Karzinome durch systematisch durchgeführ-

te Darmspiegelungen in einem frühen Stadi-

umzudiagnostizieren.27,28,29Frühstadienvon

Darmkrebs können durch eine Operation zu

einemhohenProzentsatzgeheiltwerden.Alles

sprichtdafür,dassdieszueinerdeutlichver-

bessertenLebenserwartungführt.

ImHinblickaufspätmanifesteKrankhei-

ten,diesichmedizinischkaumbzw.garnicht

beeinflussen lassen, z. B. neurodegenerative

Krankheiten, bittenHochrisikopersonen sehr

vielselteneralsbeigutbehandelbarenKrank-

heitenumeineprädiktivegenetischeDiagnos-

tik.DieErfahrung zeigt jedoch,dassmanche

MenschendasprädiktiveWissen für ihreLe-

bensplanunghabenwollenundsichselbstmit

der ungünstigen Nachricht arrangieren kön-

nen.

Die prädiktive Diagnostik einer erblich

bedingtenKrankheit kann für die untersuch-

tePersonallerdingsmitpsychischen,sozialen

oder finanziellen Problemen verbunden sein.

Auch die prädiktive Diagnose einer prinzipi-

ell behandelbaren Krankheit, z. B. erblicher

Brust- oder Darmkrebs, kann Probleme mit

sichbringen.DaheristesschonlangePraxis,

dass einer prädiktiven genetischen Diagnos-

tik einegenetischeBeratungvorausgeht.30 In

dergenetischenBeratungwirdderRatsuchen-

deüberdieKrankheit,ihrenVerlaufundihre

Behandelbarkeit,dieArtihrerVererbung,die

MöglichkeitendergenetischenDiagnostikund

die möglichen psychosozialen Konsequenzen

informiert. Die prädiktive genetische Diag-

nostik betrifft meist eine ganze Familie. Die

27 EngelCetal.(2010).

28 JärvinenHJetal.(2009).

29 VasenHFAetal.(2010).

30 DeutscheGesellschaftfürHumangenetike.V.(2007)PositionspapierderDeutschenGesellschaftfürHu-mangenetike.V.http://www.medgenetik.de/sonder-druck/2007_gfh_positionspapier.pdf.

Angehörigen einer Familie müssen über die

Krankheit und ihre Vererbung miteinander

sprechen.Zunächstmussbei einemerkrank-

ten Familienmitglied die ursächlicheMutati-

onidentifiziertwerden.Daraufhinkönnendie

Angehörigen nach einem kaskadenartig auf-

gebauten Schema darauf untersucht werden,

obsiediebetreffendeMutationtragen.Wenn

die Mutation bei einer Person ausgeschlos-

senworden ist,dann istdasRisiko fürdie in

Frage stehende Krankheit nicht erhöht. Die

untersuchte Person und ihre Nachkommen

können entlastet werden.Wird dieMutation

bei einemFamilienangehörigen jedoch nach-

gewiesen, dann besteht ein altersabhängiges,

meisthohesErkrankungsrisiko(sieheKapitel

4), über das eine untersuchte Person in ad-

äquater Weise informiert werden muss. Die

genetischeBeratung erfolgt imKontext eines

interdisziplinären Beratungs- und Betreu-

ungskonzeptesdurchdieHumangenetikerim

Zusammenwirkenmit den jeweiligen Organ-

bzw. Krankheitsexperten und gegebenenfalls

auchPsychotherapeuten.

Bei unbehandelbaren Krankheiten sollte

derWunschnachprädiktiver genetischerDi-

agnostik mit besonderer Umsicht behandelt

werden. Paradigmatisch ist dafür die Hun-

tingtonscheKrankheitgeworden.Bereitssehr

bald nach der Zuordnung des verantwortli-

chenGenortes–alsonochvorderIdentifika-

tiondesGens–sinddurchGenetiker,Neuro-

logen und Selbsthilfegruppe Empfehlungen

zumUmgangmitderprädiktivengenetischen

DiagnostikbeidieserKrankheitvorgelegtwor-

den.31Dazugehörennebeneinergenetischen

BeratungeinpsychotherapeutischesGespräch

sowieeinzeitlicherMindestabstandzwischen

der Entscheidung zur prädiktivenDiagnostik

und ihrer Durchführung. Die Empfehlungen

werdenseit langemauch imKontextanderer

spätmanifesterneurodegenerativerKrankhei-

tenangewandt.

31 WentL(1990).

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 19

Abhängig davon, ob eine Krankheit be-

handelbar ist oder nicht, wird nach adäqua-

ter Beratung von der Möglichkeit einer prä-

diktiven Diagnostik unterschiedlich häufig

Gebrauchgemacht.

Vorgeburtliche Diagnostik

Manche Krankheiten und Entwicklungsstö-

rungen konnten auch schon vor der Genom-

Ära vorgeburtlich erkannt werden, entweder

unter Verwendung von Methoden zur Chro-

mosomenanalyse (Zytogenetik), mit bioche-

mischen Methoden oder auf der Ebene des

Phänotyps mit bildgebenden Verfahren. Ein

schwerwiegender Nachteil phänotypischer

Untersuchungsmethoden wie Ultraschall ist

deroftmalssehrspäteZeitpunkt,zudemeine

Fehlbildung eindeutig diagnostiziert bzw.

beurteilt werden kann. Die meisten Frau-

en empfinden eine Entscheidung über einen

Schwangerschaftsabbruchimzweitenodergar

drittenSchwangerschaftsdrittel als hochpro-

blematisch oder halten einen derartig späten

Abbruch für vollkommen unzumutbar. Gen-

testssindjedochimmerdannschondurchführ-

bar, wenn überhaupt embryonale bzw. fetale

DNA gewonnenwerden kann, also technisch

abMittedeserstenSchwangerschaftsdrittels.

Allerdings wird die Chorionzottenbiopsie zur

Vermeidung einer eingriffsbedingten Schädi-

gungdesEmbryoserstabder11.Schwanger-

schaftswochevorgenommen.Damitsindheute

alle Erkrankungen und Entwicklungsstörun-

gen, fürdieeindirekteroder indirekterGen-

test zur Verfügung steht, grundsätzlich auch

vorgeburtlichdiagnostizierbar.

UnterdiesenErkrankungensindauchsol-

che, die in der Regel erst in einem sehr viel

späteren Entwicklungsstadium des Individu-

ums (Erwachsenenalter, Senium)32 manifest

werdenwiefamiliäreKrebserkrankungenund

32 ZubeachtensindhieraberdieRegelungenvon§15Abs.2GenDG(sieheKapitel9).

neurodegenerative Krankheiten. Es ist fer-

ner technischmöglich, genetische Störungen

mit geringem Krankheitswert und genetisch

bedingte oder beeinflusste Normalmerkma-

levorgeburtlichzuerfassen.DiesePotenziale

erwecken vielfach die Befürchtung, dass die

Pränataldiagnostik in rechtlich und ethisch

unvertretbarerWeise ausgeweitetwird.Nach

35-jähriger Erfahrung mit diesem invasiven

Verfahren gibt es inDeutschland jedoch kei-

nerleiempirischeBelegefüreinedurchdieGe-

nomforschung induzierte ausuferndeAnwen-

dung der Pränataldiagnostik. Die Belastung

durch einen Schwangerschaftsabbruch hat

zurFolge,dassSchwangereeinePränataldia-

gnostiknurbeiRisikoerhöhungenfürschwere

gesundheitliche Störungen des Kindes nach-

fragen.

Eine invasive Pränataldiagnostik (Frucht-

wasserpunktion, Chorionzottenbiopsie, Fetal-

blutpunktion) wird in Deutschland bei etwa

10 % der Schwangerschaften durchgeführt,

undzwarimWesentlichenaufGrundvonvier

Indikationen:

1. Der weitaus größte Anteil der Unter-

suchungen dient dem Ausschluss einer

zahlenmäßigen Chromosomenstörung auf

GrunddeserhöhtenAltersderSchwange-

ren.

2. WenneinUltraschallbefundeineChromo-

somenstörung möglich erscheinen lässt,

wirddemVerdachtdurcheinevorgeburt-

licheChromosomenuntersuchungnachge-

gangen.

3. EinvorhergehendesKinddesElternpaars

istvoneinerschwerengenetischenKrank-

heitbetroffen.DieElternwünschen inei-

nerweiterenSchwangerschafteinegeziel-

te vorgeburtliche Untersuchung auf die

genetischeStörung.

4. In der Verwandtschaft, z. B. dem Ge-

schwistereinesElternteils,isteineautoso-

maloderX-chromosomalrezessiverbliche

Krankheit aufgetreten. Zur Einschätzung

eines Erkrankungsrisikos ihres potenti-

20 3 | Medizinischer Kontext genetischer Diagnostik

ellen Kindes wünschen die prospektiven

ElterneinegezielteUntersuchungaufHe-

terozygotie für die betreffendeKrankheit.

Sollte sichbeidemPaar eineRisikokons-

tellationergeben,würdensieentwederauf

eigene Kinder verzichten oder eine Prä-

nataldiagnostikanstreben.

Die Untersuchungen im Rahmen der ge-

nannten Indikationen erfolgen nach umfas-

senderAufklärungundsolltenineinegeneti-

scheBeratungeingebettetsein.

UnterVerwendungvonGentestslassensich

KrankheitenundEntwicklungsstörungenauch

schondiagnostizieren,bevoreineSchwanger-

schaft eingetreten ist, d. h. präkonzeptionell

(Polkörper-Diagnostik) oder präimplantativ

anBlastomeren.DieseVerfahrensindnurim

ZusammenhangmiteinerextrakorporalenBe-

fruchtung (in-vitro-Fertilisation) anwendbar.

Die Präimplantationsdiagnostik (PID, engl.:

„prenatal genetic diagnostics“, PGD) wird

in zahlreichen Ländern angewandt, auch in

Nachbarländern Deutschlands. Die Zulässig-

keit des Verfahrens war in Deutschland auf

Grund des Embryonenschutzgesetzes um-

stritten;nachverbreiteterAuffassunggaltdie

PID als vom Embryonenschutzgesetz verbo-

ten. Viele Paare, die ein erhöhtes Risiko für

die Geburt eines Kindes mit einer schweren

erblichenKrankheithabenundessichleisten

können,lassendieUntersuchungenaufeigene

KostenaußerhalbDeutschlandsdurchführen.

DerBundesgerichtshofhatam6.Juli2010in

einem Grundsatzurteil entschieden, dass die

PID durch Untersuchung einer nicht totipo-

tentenZelle zurErmittlung einer schwerwie-

genden genetischen Schädigung nicht gegen

das Embryonenschutzgesetz verstößt.33 Das

Gerichthatbetont,dassdamitnichtderWeg

zu einer unbegrenzten Selektion von Embry-

onenanhandgenetischerMerkmale,etwadie

AuswahlvonEmbryonen,umdieGeburteiner

33 Bundesgerichtshof,Pressestelle:http://juris.bundes-gerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&pm_nummer=0137/10

„Wunschtochter“oder eines „Wunschsohnes“

herbeizuführen, geöffnet sei. Wo die Gren-

zenderZulässigkeiteinerPIDkonkretliegen,

bleibtallerdingsweiterhinoffen.

Auf Grund ihrer hohen Empfindlichkeit

sindgenetischeTestverfahrenprinzipiellauch

geeignet, Untersuchungen an den aus dem

mütterlichen Blutkreislauf in geringen Men-

genisolierbarenfetalenZellendurchzuführen.

DerVorteildiesesbislangnochinderEntwick-

lungbefindlichenVorgehenswäredieUmge-

hungdesrisikobehafteteninvasivenEingriffs.

Eine der vielen ungelösten Schwierigkeiten

bestehtdarin,dass immütterlichenKreislauf

zirkulierendefetaleZellenmöglicherweisevon

einerfrüherenSchwangerschaftstammen.

ElternkennenaufGrundderGeburteines

Kindes, das von einer schweren und unbe-

handelbaren genetischenKrankheit betroffen

ist, dasWiederholungsrisiko bei ihrenweite-

renKindern. Sie sind geradezu zu einerEnt-

scheidung verurteilt: Hinnahme des Risikos,

Verzicht auf weitere Kinder, Adoption eines

fremdenKindes,InseminationdurchSpender-

samenbeieinerautosomalrezessivenKrank-

heit.EineMöglichkeit,dieGeburteinesweite-

renbetroffenenKindeszuverhindern, istdie

pränataleDiagnostik.InihrerNotentscheidet

sicheinTeilderElternfürdiesenWeg.

Esmusshierdaraufhingewiesenwerden,

dass die Anwendung des Präventionsbegriffs

imZusammenhangmitpränatalerDiagnostik

missverständlichseinkann.Bevölkerungsme-

dizinischwirkenzwaralleMaßnahmenprimär

präventiv, die die Prävalenz einer Krankheit

verringern. Wenn eine pränatale Diagnostik

jedoch zu einem Schwangerschaftsabbruch

führt, dann wird nicht eine Erkrankung ver-

hindert, sondern die Geburt einesMenschen

mitderKrankheit.DerPräventionsbegriffhat

hiervölliganderemedizinische,ethischeund

psychosoziale Implikationen als in anderen

medizinischenZusammenhängen.

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 21

Genetische Reihenuntersuchungen

Reihenuntersuchungen auf genetisch beding-

teKrankheiten erfolgenweltweit imRahmen

desNeugeborenenscreenings.InDeutschland

erstreckt sich das Neugeborenenscreening

gegenwärtigauf12überwiegendgenetischbe-

dingte Stoffwechselstörungen, die unbehan-

delt zu schwerenKrankheiten führen.Hierzu

zählendiePhenylketonurieunddieangebore-

neUnterfunktionderSchilddrüse(Hypothyre-

ose).DasinDeutschlandpraktizierteNeugebo-

renenscreeningdienthingegen ausschließlich

der Krankheitsvermeidung. Bei rechtzeitiger

ErkennungundsofortigerBehandlungentwi-

ckelnsichdieKindernormal,siehabenauch

einenormaleLebenserwartung.Wäresieeine

ErkrankungdesKindesalters,sowürdesicher

auch die Hämochromatose dazugehören. Da

sichdieseStörungdesEisenstoffwechsels (es

kommtzueinerkrankhaftenEinlagerungvon

Eisen in zahlreichen Organen mit der Folge

schwerwiegender Funktionsausfälle) jedoch

erst im Erwachsenenalter manifestiert, exis-

tiertkeinetablierterRahmenfüreinentspre-

chendes Screening. In mehreren Ländern

(darunter USA, Australien und Deutschland)

kommtesjetztzuPilotprojekten,indenendie

geeignetenBedingungen für solcheProgram-

meerforschtwerden.

Eine besondereFormder prädiktivenDi-

agnostik stellt das Heterozygotenscreening

dar.HiergehtesnichtumdasErkrankungs-

risikodergetestetenPerson,sondernumdas

Risiko für Erkrankungen, die erst bei ihren

Nachkommen entstehen können. Dies lässt

sichbeieinigenKrankheitenbereitsseitJahr-

zehnten nachweisen. Diese Form prädiktiver

genetischer Tests wird in zahlreichen Län-

dernderWeltimRahmenbevölkerungsweiter

„Vorsorgeprogramme“ praktiziert, so in den

Mittelmeerländern zur Suche nach der Anla-

ge für die Beta-Thalassämie (eine Form der

erblichenBlutarmut)oderinderAshkenasim-

jüdischenBevölkerungzurIdentifizierungvon

Anlageträgern für einige hier häufige Stoff-

wechselerkrankungen, u. a. die Tay-Sachs-

Krankheit. Erst durch die Genomforschung

wurdeeinAnlageträgerscreening fürdieZys-

tische Fibrose (CF, Mukoviszidose) möglich.

AngesichtseinerLebenserwartungvonbiszu

50Jahrenistdasnichtunproblematisch,weil

dadurchPatientenstigmatisiertunddiskrimi-

niertwerdenkönnenundihnenderEindruck

vermitteltwird,dasssienichterwünschtsind

(sieheKapitel6).Seit2001istjederamerika-

nischeFrauenarztaufGrundderEmpfehlung

seinesBerufsverbandesdarangebunden,jeder

Frau bei einer geplanten oder eingetretenen

Schwangerschaft einen CF-Anlageträgertest

anzubieten.34 Die dem Arzt entstehenden

schadensrechtlichenFolgen,dieeineNichtbe-

folgung dieser Empfehlung auslösen können,

unddieTatsache,dasswährendderSchwan-

gerschaftergehendeTestangeboteregelmäßig

mit hohen Raten der Inanspruchnahme ein-

hergehen,dürftendazuführen,dassdieZysti-

scheFibroseindenUSAalsKrankheitdeutlich

seltenerwird–ähnlichwiedieBeta-Thalass-

ämie inSardinien,wodasAnlageträgerscree-

ningbesonderskonsequenterfolgt.

HintermanchenimAuslandpraktizierten

Screeningprogrammen sind auch eugenische

Motivezuerkennen,wennmandarunteralle

diejenigen Maßnahmen versteht, mit denen

zur Erreichung des Ziels einer gesünderen

Bevölkerung Einfluss auf die reproduktiven

EntscheidungenEinzelnergenommenwerden

soll.35 InDeutschland,wodieSensibilitätge-

genüber eugenischen Tendenzen besonders

großist,sindderartigeProgrammenachdem

Zweiten Weltkrieg immer abgelehnt worden

(sieheMemorandum„GenetischesScreening“

derBundesärztekammer,1992).36

TrotzallerRegelungenbestehtdieGefahr,

34 GrodyWWetal.(2001).

35 HoltzmanNA(1989).

36 Bundesärztekammer(1992)Memorandumzumgene-tischenScreening(1992).

22 3 | Medizinischer Kontext genetischer Diagnostik

dass sich eine Screeningsituation mit euge-

nischen Motiven auch ohne ein organisier-

tesProgrammschleichend einstellt,weil sich

übereinesoziale,individuellmotiviertePraxis

Normen etablieren könnten, dieElternunter

Drucksetzen.DasdeutscheGendiagnostikge-

setz schließt ein formales Anlageträgerscree-

ningaufbreiterBasisaus,individuellnachge-

fragteUntersuchungendieserArtjedochnicht

(sieheKapitel9).

Informationsquellen

Zur raschen Orientierung über genetisch

(mit-)bedingte Krankheiten und deren Ma-

nagement steht eine Reihe internetbasierter

Informationsquellen zurVerfügung,diedank

rigider Qualitätssicherungen den aktuellen

Stand derWissenschaft präzisewiedergeben.

Zu nennen sind hier insbesondere OMIM37

(Online Mendelian Inheritance in Man), ein

Katalog von Krankheiten, die durch Mutati-

onen einzelner Gene hervorgerufen werden,

einschließlich einer Kurzbeschreibung der

klinischenBilder.Orphanet38istdieweltweit

größte und am häufigsten nachgefragte Da-

tenplattform für seltene (weit überwiegend

genetischbedingte)Krankheiten,mitAngaben

zuForschungsprojekten,Behandlungseinrich-

tungen, diagnostischen Labors und Patiente-

norganisationen. Die Datenbank GeneTests39

ist eine lehrbuchartige Datenbank der US-

amerikanischenNational Institutes ofHealth

mit umfassenden Informationen zur Klinik,

Genetik, Diagnostik und Therapie monogen

erblicherKrankheiten.

37 OMIM(OnlineMendelianInheritanceinMan).http://www.ncbi.nlm.nih.gov/sites/entrez?db=omim&TabCmd=Limits.

38 Orphanet.http://www.orpha.net.

39 GeneTest:http://www.ncbi.nlm.nih.gov/sites/GeneTests/?db=GeneTests.

Das Problem der prädiktiven genetischen Diagnostik bei multifaktoriellen Krankheiten

InletzterZeitwerdenvonPatientenundihren

Angehörigen häufiger genetische Tests auch

im Hinblick auf genetisch komplexe (multi-

faktoriell erbliche) Krankheiten nachgefragt,

Störungenalso,beidenenmehreregenetische

Faktoren gleichzeitig und insbesondere auch

UmweltbedingungeneinewichtigeRollespie-

len(sieheKapitel2).Hierzugehörenz.B.der

Diabetes mellitus, die koronare Herzerkran-

kung,Allergien,rheumatischeErkrankungen,

KrebserkrankungenundPsychosen.Genetisch

komplexe Erkrankungen lassen sich von den

monogenenKrankheitennurunscharfabtren-

nen,da auch letzterenur seltenwirklichden

klassischen deterministischen Mendelschen

Regeln folgen. Die genetischen Faktoren, die

zur Manifestation komplexer Erkrankungen

beitragen, lassen sichalsSuszeptibilitätsgene

auffassen. Bisher sind bereits viele hundert

derartiger Gene identifiziert worden.40,41 Bei

gegebenem Genotyp lässt sich die Erkran-

kungswahrscheinlichkeit z. B. in Form eines

positiv prädiktiven Wertes angeben (siehe

Kapitel4).MeistensistderBeitrageinesein-

zelnen Genotyps zur Krankheitsentstehung

nurgering,sodasserfüreineRisikoabschät-

zungbeieinereinzelnenPersonnichtgeeignet

ist.Es ist auchnicht verwunderlich, dass ein

Teil der publizierten genetischen Assoziati-

onsbefunde von anderen Untersuchern nicht

bestätigt werden konnten. Dies kann z. B.

daraufberuhen,dassdieUntersuchungenan

zukleinenund/odernichtwirklichvergleich-

baren Bevölkerungsstichproben durchgeführt

worden sind. Auch wenn Assoziationsbefun-

deunabhängig bestätigtwerdenkonnten, er-

wiessichderBeitrag,deninderBevölkerung

40 ESHGBackgroundDocument:https://www.eshg.org/fileadmin/eshg/documents/20090519DraftBackgroundDocumentGeneticTestingandCommonDisor.df.pdf.

41 KuCSetal.(2010).

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 23

häufige genetische Varianten zur Erklärung

eines Phänotyps bzw. einerKrankheit liefern

können, nahezu immer als gering („missing

heritability“)42. Die wissenschaftliche Arbeit

dazuistnochganzimFluss(sieheKapitel5).

HeutenochschwerabschätzbaristdieBe-

deutung,dievonderUntersuchungsmöglich-

keitaufprotektiveAnlagenausgehenkönnte.

BestimmteGenvarianten schützen ihrenTrä-

ger vordemAusbruchbestimmterKrankhei-

tenoderzögernihnhinaus.Ein„Null-Allel“des

CCR5-Gens (welches für ein Zelloberflächen-

proteinkodiert) verleihtResistenz gegenüber

AIDS,unddasAPOE2-Allelschützt ingewis-

semUmfang vor der AlzheimerschenKrank-

heit.EinigeGenvariantensindmitbesonderer

körperlicherFitnessodermitLanglebigkeitas-

soziiert. Derartige Zusammenhänge sind bis-

langkauminsöffentlicheBewusstseingelangt.

Allerdings istderBeitrageineseinzelnenGe-

notyps zur Manifestation des Merkmals wie

beidenSuszeptibilitätsgenenbegrenzt.

Die Besonderheiten genetischer Information im medizinischen Kontext

Neben der molekulargenetischen Analyse

der Erbsubstanz existieren zahlreiche andere

Zugangswege zur Erfassung der genetischen

Konstitution einer Person (siehe Kapitel 2).

Die Ermittlung der Beschaffenheit der Chro-

mosomennachZahlundStruktur(Karyotyp)

erfolgt mit zytogenetischen und molekular-

zytogenetischenMethoden. Rückschlüsse auf

die genetische Konstitution lassen sich auch

überdieErfassungdesPhänotypstreffen,also

über klinische Untersuchungen des äußeren

Erscheinungsbildes, sowie bildgebende und

biochemische (Proteine, Stoffwechselproduk-

te)Verfahren,undalleindieBetrachtungder

Familienvorgeschichtekannzueinerpräzisen

42 MaherB(2008).

genetischen Diagnose führen. Ein Beispiel

hierfür: Wer erfährt, dass sein eigenes Kind

ebensowie ein gemeinsamer Vorfahre an ei-

ner autosomal dominanten Störung erkrankt

ist(z.B.HuntingtonscheKrankheit),weißmit

Gewissheit,dassaucherdieAnlagehierfürin

sichträgt.

Das vorgenannte Beispiel zeigt, dass ge-

netische Information über das Individuum

hinaus immer auch für verwandte Personen

Bedeutunghabenkann.DiegenetischenVer-

knüpfungen zwischen den Mitgliedern einer

Familie sind oft auch Verknüpfungen eines

Krankheitsschicksals. Konflikte können u. a.

entstehen, wenn die Inanspruchnahme eines

prädiktiven Gentests das Recht anderer auf

Nicht-Wissenverletzt.ÜberdieFamiliehinaus

birgt das gemeinsame genetische Erbe z. B.

ethnischer Minderheiten die Gefahr kollek-

tiverDiskriminierung.

Genetische Information hat Konsequen-

zenüberlangeZeiträumehinweg.Beidensich

spät manifestierenden Krankheiten können

JahrzehntezwischenderDurchführungeines

Gentests,alsoderKenntnisdesGenotyps,und

dessen phänotypischer Manifestation liegen.

Manche Merkmale manifestieren sich nicht

bei dem Getesteten selbst, sondern erst bei

dessen Nachkommen – in Abhängigkeit von

derPenetranzeinesGenotyps,eventuellauch

vomGenotyp des Partners und von sich än-

derndenUmweltbedingungen.

Genetische Tests können höchst unter-

schiedliche Folgen haben. Im Falle eines

„negativen“(alsogünstigen)Ergebnisseskön-

nen ansonsten indizierte weitere Maßnah-

men eingestellt werden – was insbesondere

dann eine große Entlastung bedeutet, wenn

diese Maßnahmen ihrerseits belastend oder

garrisikobehaftetwären(z.B.häufigeUnter-

suchungen in Vollnarkose bei genetisch be-

dingtemRisiko für einRetinoblastom,einem

bösartigen Tumor des Kindesalters, der sich

inderNetzhautdesAugesentwickelt).ImFal-

le eines positiven Testergebnisses kann eine

24 3 | Medizinischer Kontext genetischer Diagnostik

undunvollständigerfasst.Dazugehörenz.B.

erblicheFormenvonDarmkrebs,Brustkrebs,

EierstockkrebsundSchilddrüsenkrebs,diedo-

minanterblicheHypercholesterinämieunddie

rezessiverblicheHämochromatose.Wenndie

genetischeDiagnosenichtgestelltist,können

die Patienten nicht die angemessene Betreu-

ung erhalten. Die Versorgung der Patienten

mussinterdisziplinärundinsbesonderesekto-

rübergreifendsein.AufGrundderbegrenzten

genetischen Kenntnisse vieler Ärzte werden

dieRisikopersonenunterdenVerwandtenei-

ner betroffenenPersonnur unvollständig er-

kannt.Esistnotwendig,dassmehrFachärzte

fürHumangenetikweitergebildet, die geneti-

scheKompetenzvonFachärztender relevan-

tenklinischenGebiete verbessertund fürdie

beispielhaft genannten und ähnliche Krank-

heiteneineadäquateAnzahlinterdisziplinärer

undüberregionalerKompetenzzentreneinge-

richtetwerden.

Die Entwicklung der genetischen Metho-

den rückt für einigebehandelbare genetische

Krankheiten auch Reihenuntersuchungen in

den Bereich des Möglichen. Entsprechende

ErfahrungenliegenzumTeilausdemAusland

vor,z.B.fürHypercholesterinämieindenNie-

derlanden.Mithilfe von Forschungsprojekten

sollten die fachlichen Voraussetzungen und

Kriterien erarbeitet werden, um in Deutsch-

land Reihenuntersuchungen auf derartige

Krankheitenanzubieten.

Notwendigkeit der ärztlichen Fortbildung

Das wachsende Wissen über die Rolle der

genetischen Variabilität an der Krankheits-

entstehungbekommtauchinderpraktischen

Medizin immer mehr Bedeutung. Die Ärzte

in Deutschland sind mit der Bedeutung der

Genetik in der Medizin größtenteils nicht

vertraut.Humangenetikhaterstvorwenigen

Jahren in der Studierendenausbildung eine

Indikation für weitergehende diagnostische

Maßnahmengestelltwerden,umdenrichtigen

Zeitpunkt für präventive oder therapeutische

Maßnahmenbestimmenzukönnen.Auchauf

zunächst paradox erscheinende Reaktionen

istindiesemZusammenhanghinzuweisen.So

kannetwaeinRatsuchendernachdemzuver-

lässigen Ausschluss des genetischen Risikos

füreineschwereKrankheitDepressionenent-

wickeln,etwaweilerSchuldgefühlegegenüber

betroffenen Familienangehörigen empfin-

det.UmgekehrtkannderNachweis einer zur

Krankheit führenden Mutation auch erleich-

tertaufgenommenwerden,weilderbetroffene

MenschjetztGewissheithat,mitdererbesser

zurechtkommtalsmitdemDamoklesschwert

einesunbekanntenRisikos.Abernichtimmer

sinddieTestfolgennurmedizinischerArt.Die

ErgebnissevonGentestskönnenweitreichen-

deFolgenfürdiegesamteLebens-undFami-

lienplanungeineruntersuchtenPersonhaben.

Interdisziplinäre und überregionale Kompetenzzentren für behandelbare genetische Krankheiten

Viele monogene Krankheiten betreffen meh-

rere Organe (sogenannte syndromale Krank-

heiten). Beispiele sind die Zystische Fibrose,

erbliche Erkrankungen des Bindegewebes,

ektodermale Dysplasien, erbliche Muskel-

krankheiten. Die isolierte fachärztliche Be-

handlung einzelnerOrganmanifestationen ist

nichtsinnvoll.Vielmehrsolltegeradebeichro-

nischverlaufendenKrankheitendieBetreuung

derPatientenkoordiniert erfolgen.Nurdann

isteineadäquateBetreuungderPatientenge-

währleistet. Hierfür sollten interdisziplinäre

undüberregionaleKompetenzzentrenfürspe-

zielleKrankheitsgruppeneingerichtetwerden.

BehandelbaremonogeneKrankheiten,die

sich erst imLaufe des Lebensmanifestieren,

werden in Deutschland nur unsystematisch

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 25

Akzentuierung erfahren. Auf seinem Fach-

gebiet sollte jeder Arzt bei seinen Patienten

familiäre Erkrankungsrisiken erkennen kön-

nen, insbesondere Hochrisikopersonen für

behandelbare erbliche Krankheiten. Der Arzt

solltewissen,wanner einenPatienten an ei-

nenSpezialistenzurgenetischenBeratungund

Diagnostik sowie zur Betreuung überweisen

muss.JederArztsollteaucheineVorstellung

davon haben, was eine prädiktive genetische

DiagnostikbedeutetundwannsieinBetracht

kommenkann.MitdiesemZiel solltenspezi-

elleFortbildungsmaßnahmenfürÄrzteentwi-

ckeltwerden.

26

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 27

4 Quantifizierung von Risiken

Die prädiktive genetische Diagnostik soll ei-

ner Rat suchenden Person Informationen

über genetischeRisikofaktoren liefern, die in

der Zukunft zu Krankheiten führen können.

Eine Reihe genetisch bedingter und grund-

sätzlich behandelbarer Krankheiten wie die

erblichenKrebserkrankungenoderdiefamili-

äreHypercholesterinämiezeichnensichdurch

eine hohe Penetranz aus: Bei vollständiger,

d.h.100%igerPenetranzerkrankenimLaufe

ihres Lebens alle Mutationsträger. In einem

solchenFall kann fürdieuntersuchtePerson

beimNachweisdesgenetischenRisikofaktors

die definitive Aussage gemacht werden, dass

dieKrankheit imLaufe des Lebens auftreten

wird, allerdings keine Aussage über den ge-

nauen Zeitpunkt des Krankheitsausbruchs.

SowohlfürdenFalldervollständigenalsauch

der unvollständigen Penetranz ist es wich-

tig, die altersabhängige Erkrankungswahr-

scheinlichkeit zu berechnen. Für derartige

Berechnungen sind Daten aus prospektiven

UntersuchungenangroßenPersonengruppen

erforderlich,umdiemodulierendenEinfluss-

faktoren zu ermitteln, welche die altersab-

hängigen Erkrankungswahrscheinlichkeiten

reduzieren oder steigern können. Derartige

Einflussfaktorenkönnenz.B.ausUmweltbe-

dingungen, Lebensstilen, Präventionsmaß-

nahmenoderunabhängigengenetischenMo-

dulationsbedingungenbestehen.Fernersollte

maninderRisikobewertungdenVergleichmit

den Erkrankungsrisiken in der Allgemeinbe-

völkerung im Auge haben. Der Risikobewer-

tungprädiktivergenetischerUntersuchungen

liegen statistische Betrachtungen zu Grunde,

dieimFolgendendargestelltwerden.

Risikobewertung anhand des Beispiels Erblicher Darmkrebs

AnhandeinererblichenFormdesDarmkrebs

(Hereditary Nonpolyposis Colorectal Cancer,

HNPCC,Lynch-Syndrom)wird imFolgenden

beispielhaftgezeigt,wieeineprädiktiveAussa-

geschrittweiseverbessertwerdenkann.Diese

Erkrankung ist autosomal dominant erblich

und in Europa für 2-3% allerDarmkrebser-

krankungenverantwortlich.Außerdemistdas

Risiko für verschiedene andere Krebsformen

erhöht.DieKrankheitwirddurcheineKeim-

bahn-MutationineinemvonvierDNA-Repa-

raturgenen („DNA-Mismatch-Repair“-Gene,

MMR-Gene) verursacht. Unter allen Darm-

krebspatienten ist der Anteil von Patienten

mitMutationen indenDNA-Reparaturgenen

jedoch gering. Der überwiegende Teil der

Darmkrebserkrankungen wird als sporadisch

bezeichnet,weilinderFamilieeinesPatienten

keineBelastungdurcheineMutationineinem

MMR-Gen vorliegt.Es ist von großerBedeu-

tung, Träger von Genmutationen unter den

Darmkrebspatientenzuerkennen,denndiese

PatientenhabeneindeutlicherhöhtesRisiko,

anweiterenKarzinomen(nichtnurimDarm)

zuerkranken.DarüberhinaushabenVerwand-

tedesPatienteneinehoheWahrscheinlichkeit,

dieverantwortlicheMutationgeerbtzuhaben.

WennmandieVerwandten,gestuftnachdem

Grad der Verwandtschaft (Kaskadenuntersu-

chung, sieheKapitel 3) einer prädiktiven ge-

netischenUntersuchungunterzieht,sindzwei

Ergebnisse möglich. Wenn ein Verwandter

diefamiliäreMutationnichtgeerbthat,dann

hat er kein Risiko für erblichen Darmkrebs.

28 4 | Quantifizierung von Risiken

HatderVerwandtediefamiliäreMutationje-

dochgeerbt,dannhatereinhohesRisiko,im

Laufe seinesLebensanDarmkrebsund/oder

anderenTumorenzuerkranken.DasErkran-

kungsrisiko ist altersabhängig. Bis zum 20.

Lebensjahr ist es sehr gering und steigt mit

demAlterdeutlichan,sodassca.50%derAn-

lageträgereinKarzinomentwickeln.Umdiese

Karzinome frühzeitig zu erkennen, sollte ein

AnlageträgersichineinspeziellesFrüherken-

nungsprogrammaufnehmenlassen.

Ein wesentliches Problem besteht darin,

unter allen Patienten mit Darmkrebs dieje-

nigen herauszufinden, die von der erblichen

Form der Erkrankung betroffen sind. Die

UrsachedererblichenFormdesDarmkrebses

ist der Ausfall eines der MMR-Genprodukte

in der Darmschleimhautzelle. Dieser Ausfall

führt in der betroffenen Zelle dazu, dass bei

derVerdopplungderDNAwährendderZell-

teilungindenDarmzellengenetischeVerände-

rungen (sogenannte somatische Mutationen)

entstehen, die im Tumorgewebe molekular-

pathologisch nachgewiesen werden können.

DiesesPhänomenwirdalsMikrosatellitenIn-

stabilität(MSI)bezeichnet.AlleTochterzellen

einerderartigenTumorzellezeigendieMikro-

satelliteninstabilität. Der Nachweis von MSI

ineinerTumorgewebsprobewirdalsHinweis

genutzt, um den Träger einer erblichenMu-

tation ineinemMMR-Genmiteinerhöheren

Wahrscheinlichkeitzuidentifizieren.Beinahe-

zuallenPatientenmiteinerMutationineinem

MMR-Gen kann MSI nachgewiesen werden.

Aber auch unter den Patienten, die sporadi-

schenDarmkrebshaben,gibtessolche,diein

ihrenTumorzellendasMSI-Phänomenzeigen.

DieWahrscheinlichkeitfürdieAuffindung

einer erblichen Form des Darmkrebses wird

nicht nur durch einenMSI-Nachweis imTu-

morgewebe erhöht, sondern auch durch Er-

krankunginjüngeremLebensalterunddurch

dieFamiliaritätdesAuftretens.

Für die Quantifizierung der Wahrschein-

lichkeit für das Vorliegen einer genetischen

Anlage als eine Form der absoluten Risiko-

angabe sind einerseitsGütekriterien des dia-

gnostischen Testverfahrens und andererseits

AngabenzurHäufigkeit(Prävalenz) inderzu

betrachtendenBezugspopulationrelevant.

Sensitivität und Spezifität als Maße der Testgüte

Sensitivitätgibtan,welcherAnteil(inProzent)

derMerkmalsträgerdurcheinenTesterkannt

wird.InunseremBeispielistdieSensitivitätdie

Fähigkeit des diagnostischen Tests (hier des

MSI-Tests),dieTrägereinerKeimbahnmutati-

on(Mutationsträger)richtigzuidentifizieren,

(siehe Tabelle 4.1 imAnhang):DieKrebszel-

len eines Patienten mit einer MMR-Genmu-

tation zeigen fast immer eine Mikrosatelli-

teninstabilität.DieSensitivität istüber99%.

Spezifität gibt an, welcher Anteil (in Pro-

zent) der Nicht-Merkmalsträger durch einen

Testnichterkanntwird.HieristdieSpezifität

desdiagnostischenTests(hierdesMSI-Tests)

dieFähigkeit, unterdenDarmkrebspatienten

diejenigen richtig zu identifizieren, die nicht

Mutationsträger sind, d. h. in keinem der

MMR-Gene eine Keimbahnmutation tragen

undderenTumordamitalssporadischaufzu-

fassen ist (siehe Tabelle 4.1 imAnhang). Bei

demMSI-TestbeträgtdieSpezifitätetwa86%,

d.h. eine Mikrosatelliteninstabilität ist auch

beieinemTeilderPatienten(14%)nachzuwei-

sen,diekeineKeimbahnmutationineinemder

MMR-Geneaufweisen(falschpositiv).

Man kann schließen: In dem Patienten-

kollektiv mit Mikrosatelliteninstabilität sind

tatsächlich nahezu alle Mutationsträger der

MMR-Geneenthalten,dieeszuerkennengilt,

aberaucheingroßerAnteilvonPatienten,die

keineKeimbahnmutationentragen.

SensitivitätundSpezifitätcharakterisieren

alleinedieGütediagnostischerTestverfahren.

Diese Werte sind unabhängig von der Häu-

figkeitderErkrankung.Sie gebenauchkeine

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 29

direkteAuskunftüberdieWahrscheinlichkeit

desVorliegensoderdenAusschlusseinerMu-

tation.Hierfürwerdendie folgenden statisti-

schenGrößenherangezogen.

Positiv und negativ prädiktiver Wert

DerpositivprädiktiveWerteinesTests(engl.:

„positive predictive value“, PPV) ist einMaß

fürseinediagnostischeKraft.Ersagtaus,bei

welchem Anteil (in Prozent) unter den Per-

sonen mit einem positiven Testergebnis das

gesuchteMerkmal tatsächlich vorhanden ist.

Idealerweise beträgt dieserWert 100%, was

aberinderRealitätnurinAusnahmefällenzu-

trifft.IndenTabellen4.2und4.3imAnhang

wird am Beispiel „Erblicher Darmkrebs“ er-

läutert,dassderpositivprädiktiveWertinAb-

hängigkeitvonderHäufigkeitderErkrankung

im untersuchten Kollektiv (Prävalenz) stark

variiert, obwohl Sensitivität und Spezifität

konstant bleiben.43 In dem Beispiel wurden

bei einer Gruppe von Darmkrebspatienten

Tumorgewebsproben auf das Vorliegen einer

MikrosatelliteninstabilitätundMutationen in

denMMR-Genenuntersucht.

In derGesamtgruppe vonnicht selektier-

ten Darmkrebspatienten haben 1,7 % eine

Keimbahnmutation in einemderMMR-Gene

(siehe Tabelle 4.1 im Anhang). Es liegt also

eine geringe Prävalenz vor. Von allenDarm-

krebspatienten zeigen etwa 15% eineMikro-

satelliteninstabilität in ihrem Tumorgewebe

(positivesMSI-Phänomen).FürdenPPVwird

derQuotientgebildetausderAnzahlderMu-

tationsträger mit MSI und der Summe aller

MSI-positivenPatienten(sieheTabelle4.2im

Anhang).Somitbeträgtderpositivprädiktive

Wert11%(=170/(1330+170)x100).Folglich

ist nur ein Teil dieser MSI-positiven Darm-

krebserkrankungenwirklichaufeineMutation

43 ZahlenangabendesDeutschenHNPCC-Konsortiums:http://www.hnpcc.de

ineinemderMMR-Genezurückzuführenund

es ist erforderlich, ca. 10Patienten genetisch

zu testen, um einenAnlageträger zu identifi-

zieren.

Der negativ prädiktive Wert eines Tests

(engl.: „negative predictive value“, NPV) ist

einMaßderAusschlusssicherheit.Ergibtan,

beiwelchemAnteil(inProzent)unterdenPer-

sonenmit einem negativen Testergebnis das

gesuchte Merkmal tatsächlich nicht vorhan-

denist.InunseremBeispielgibtderNPVdie

Wahrscheinlichkeitan,mitdereineuntersuch-

tePersonkeinMutationsträgerist,wennkeine

MSIvorliegtimAnhang.DerNPVistbeidem

Beispiel fast 100% (=8499/(8499+1)x 100).

DurchdieMSI-AnalysekannderAnteilan

Patienten mit Keimbahnmutation von 1,7 %

(dasistdiePrävalenzderMutationsträgerbei

unselektionierten Darmkrebspatienten) also

auf11%erhöhtwerden.DieserWertkannals

die Prävalenz der Mutationsträger bei MSI-

positiven Darmkrebspatienten angesehen

werden. Angesichts der hohen Sensitivität –

nahezualleTrägervonKeimbahnmutationen

werdendurchdenMSI-Testherausgefiltert–

ist dieWahrscheinlichkeit gering, dass echte

Mutationsträger durchdiesesVorgehen „ver-

lorengehen“.

Unter Einbezug weiterer Risikofaktoren

fürdasVorhandenseineinerKeimbahnmuta-

tion kann der PPV weiter gesteigert werden.

Mankannz.B.dieAnalyseaufsolcheDarm-

krebspatienten beschränken, die vor dem

50. Lebensjahr erkrankt sind oder in deren

Familie weitere Patienten mit dieser Krank-

heit vorkommen.Dafürwerdenentwederdie

sogenannten Bethesda-Kriterien44 oder die

noch stringenteren sogenanntenAmsterdam-

Kriterien45 herangezogen (siehe Tabellen

4.2und4.3 imAnhang).BeiAnwendungder

Bethesda-Kriterien steigt die Prävalenz auf

13%undderPPVauf52%.BeiVorselektion

44 Rodriguez-BigasMAetal.(1997).

45 VasenHFetal.(1991).

30 4 | Quantifizierung von Risiken

mitdenAmsterdam-Kriterienwirdsogareine

Prävalenzvon50,5%undeinPPVvon88%

erreicht. In diesen Fällen ist also durch die

EinbeziehungvonweiterenInformationendie

Wahrscheinlichkeit für einen krankheitsrele-

vantenGenotypstarkangestiegen.

Altersabhängige Erkrankungswahrscheinlichkeit

NichtallePatientenmiteinerAnlagefürerbli-

chenDarmkrebs erkranken tatsächlich.Nach

aktuellen Daten beträgt das Lebenszeitrisiko

etwa 50 %. Das Erkrankungsrisiko ist unter

einem Alter von 20 Jahren sehr gering. Es

steigt altersabhängig an. Die altersabhängi-

ge Erkrankungswahrscheinlichkeit kann von

verschiedenen modulierenden Faktoren ab-

hängen. So unterscheiden sie sich zwischen

den verschiedenenMMR-Genen. Ferner sind

unabhängigemodulierendeGeneundLebens-

stilfaktoren relevant. Die Berechnung der al-

tersabhängigen Erkrankungswahrscheinlich-

keiten fürAnlageträgererforderteinegenaue

Kenntnis dieser Einflussfaktoren, adäquat

definierteundvalidierteBerechnungsmodelle.

DieseFolgerunggiltfürjedeFormderprä-

diktivengenetischenDiagnostik.Derpositivprä-

diktiveWertsowiediealtersabhängigeErkran-

kungswahrscheinlichkeit sind die Parameter,

dienacheinerpositivenprädiktivengenetischen

DiagnostikindergenetischenBeratungverwen-

detwerden.MankannderRatsuchendenPer-

sonalsodieWahrscheinlichkeit desAuftretens

derbetreffendenKrankheitineinemgegebenen

Alter nennen. Die anknüpfende Strategie der

Krebsfrüherkennung muss der Höhe des Er-

krankungsrisikosRechnungtragen.

Relative Risikomaße

BishersindmitPPV,NPVundaltersabhängi-

ger Erkrankungswahrscheinlichkeit absolute

Risikomaßegenanntworden.IneinerVielzahl

vonSituationen sindauch relativeRisikoma-

ßevonBedeutung.SiegebeneineVergleichs-

information darüber, wie stark sich absolute

Risiken zwischen verschiedenen Vergleichs-

gruppenunterscheiden.Oftmalswerdendabei

QuotientenvonRisikenoderdarausabgeleite-

teGrößen betrachtet (RelativeRisiken,Odds

Ratios). Diese Maße sind sinnvoll, um den

Beitrag einzelner Risikofaktoren am Zustan-

dekommeneinerKrankheitzubeschreiben.

RelativeRisikomaßespielenaucheineRol-

lebeiderErmittlungvongenetischenBeiträ-

gen bei komplexenErkrankungen. Bei vielen

Erkrankungenwird angenommen, dass nicht

dieVeränderungeineseinzelnenGenskrank-

heitsverursachend ist, sondern dass mehrere

genetische Sequenzveränderungen und Um-

weltfaktoren gemeinsam zum Ausbruch der

Krankheit führen (sieheKapitel 3).Diese am

Ausbruch der Erkrankung beteiligtenGenva-

riantenwerdenSuszeptibilitäts-Genegenannt.

In wissenschaftlichen Untersuchungen

wird als Maß für die Beteiligung von Gen-

varianten an multifaktoriellen Krankheiten

das sogenannte Odds Ratio verwendet. Es

handelt sichumeineMessgröße,mit der die

Wirkungsstärke eines sogenannten Suszepti-

bilitätsgens auf die Krankheitsmanifestation

beschriebenwird(sieheKapitel3).

DierelativenRisikomaßeliefernfürsichal-

leinegenommenkeineEinschätzungderabso-

lutenRisikeneinerRatsuchendenPerson.Sie

können allerdings in derBerechnungsmodel-

lenfürabsoluteRisikeneinenBeitragliefern.

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 31

5 Die Zukunft der Humangenomforschung: Bedeutung für die prädiktive Diagnostik

Zwei technische Entwicklungen, mit deren

Hilfe der Zusammenhang zwischen derVari-

abilität immenschlichenGenomundKrank-

heiten immer effizienter untersucht werden

kann,habenzueinemneuenSchubinderHu-

mangenomforschunggeführt:DieEinführung

hochauflösender DNA-Chips (DNA-Arrays),

welche die gleichzeitige Typisierung von bis

zueinerMillionverschiedener„SingleNucleo-

tidePolymorphisms“(SNPs)erlauben,unddie

derzeitigeEntwicklunghocheffizienterMetho-

denzurDNA-Sequenzierung(„nextgeneration

sequencing“).

Genomweite Assoziationsuntersuchungen (GWAS)

Hochauflösende DNA-Chips finden eine An-

wendung an DNA-Proben großer Kollektive

von Patienten mit multifaktoriellen Krank-

heiten,diemitgesundenPersonenverglichen

werden. Dadurch können auf systematische

Weise (engl.: „genome-wide association stu-

dies“, GWAS) chromosomale Regionen oder

sogar spezifische Genvarianten benannt wer-

den, die zurEntstehung einermultifaktoriel-

lenKrankheitbeitragen.IndenletztenJahren

sindinmehrals450GWASüber2.000gene-

tischeVarianten identifiziertworden, diemit

KrankheitenoderanderenMerkmalenassozi-

iertsind.Allerdingskonntennichtalledieser

Befundebisherrepliziertwerden(sieheKapi-

tel3).46DieBeiträgedereinzelnengenetischen

46 KuCSetal.(2010).

Variantenbzw.Genotypen anderManifesta-

tionderjeweiligenKrankheitenoderanderen

Merkmalenwarenunterschiedlich,aberabge-

sehenvonwenigenAusnahmen(z.B.altersab-

hängigeMakuladegeneration,Krankheitendes

atopischen Formenkreises, einigeMikrodele-

tionen bei Autismus und anderen Krankhei-

ten desGehirns)meistens sehr gering (siehe

Kapitel3).

Wenn Varianten in verschiedenen Genen

zu der Entwicklung einer multifaktoriell be-

dingten Krankheit beitragen, hat man die

Vorstellung, dass in diesem Patienten meh-

rere gleichsinnigwirkende Faktoren zu einer

erhöhten „Dispositions-Dosis“ zusammenge-

kommensind.DasGWAS-Konzeptbasiertauf

derHypothese,dassdergenetischeBeitragzu

einermultifaktoriellenKrankheitdurchDNA-

Variantenzustandekommt,dieinderBevölke-

rung häufig sind („common disease-common

variant“-Hypothese). Die bisher verwendeten

DNA-ChipsweisendahernurVariantennach,

dieinderBevölkerungeinegewisseMindest-

häufigkeit haben. Die vorliegenden Befunde

machen es wahrscheinlich, dass der Beitrag

einer einzelnen, in der Bevölkerung häufigen

VarianteanderEntstehungeinermultifakto-

riellenKrankheitmeistgeringist.Diesistun-

terevolutionärenAspektenauchverständlich.

Wenn eine Variante ein Genprodukt kodiert,

das krankheitsbedingt zu einer geringeren

Reproduktionsrate führt, dann können sich

nur solche Varianten in der Population hal-

ten,diesehrkleineEffektehaben.Umgekehrt

würdeeineVariante,dieaufGrundeinesVor-

teils zu einer erhöhtenKinderzahl führt, sich

durchsetzen. Die gleichzeitige Betrachtung

32 5 | Die Zukunft der Humangenomforschung

zahlreicherVarianten,vondenen jedeeinzel-

ne nur einen kleinen Beitrag zum Phänotyp

liefert,ermöglichtesjedoch,großeAnteilean

der Variabilität des Phänotyps zu erklären.

DiesistkürzlichfürdieKörpergröße47gezeigt

worden („hidden heritability“)48. Ob dies für

multifaktorielle Krankheiten allgemein gilt

undobsichdiesinverbessertenMöglichkeiten

der Krankheitsprädiktion niederschlägt, lässt

sichmomentannochnichtsagen.

Außerdemmuss es wohl eine große Zahl

seltenerVariantengeben,dieinKombination

dieErkrankungswahrscheinlichkeitfürmulti-

faktorielle Krankheiten erhöhen („common

disease-rare variant“-Hypothese). Die selte-

nenVariantenwerdenvielfachFolgevonNeu-

mutationenodervonMutationenvorwenigen

Generationen sein. In jedem Fall muss man

miteinerWechselwirkungzwischenverschie-

denendisponierendenGenotypen(sogenann-

te Epistase) und mit einer Wechselwirkung

mit Umweltfaktoren rechnen. Dazu kommt

dieMöglichkeitepigenetischerModifikationen

(sieheKapitel2).Zusammenfassendlässtsich

sagen, dass für alle multifaktoriellen Krank-

heiten bisher nur jeweils ein kleiner Teil der

Heritabilitäterklärtwerdenkann.

Das wissenschaftliche Interesse auf die-

semGebiet ist jedenfalls enorm,weildieZu-

sammenschauvielerSuszeptibilitätsgeneneue

Einblicke in das Ursachengefüge (Pathophy-

siologie)multifaktoriellerKrankheitenermög-

lichen dürfte. Es ist wahrscheinlich, dass die

wissenschaftliche Forschung entsprechende

Kombinationen von Parametern herausar-

beitenwird. Dabei handelt es sich um unge-

wöhnlichaufwändigeUntersuchungen, indie

genetische und klinische Befunde, weitere

Parameter diverser Herkunft sowie Verlauf-

scharakteristikaeingehen.Mithilfebiomathe-

matischer Methoden sind spezielle Algorith-

menzuerarbeiten,derenErgebnisseAussagen

47 YangJetal.(2010).

48 GibsonG(2010).

über Krankheitsdispositionen erlauben. Die

Entwicklung einer derartigenDiagnostik, die

auf große Patientenkohorten angewiesen ist,

wirdnochfürlangeZeitGegenstandderFor-

schungsein.Es istdamitzurechnen,dass in

Forschungsprogrammen selbst hochauflösen-

de DNA-Chips in absehbarer Zukunft durch

dieMöglichkeiten einer preiswerten Genom-

sequenzierungabgelöstwerden.

Hochdurchsatzsequenzierung („next generation sequencing“)

In den letzten Jahren sind neue Sequenzier-

systeme entwickelt worden, die wesentlich

leistungsfähiger sind und geringere Ver-

brauchsmittelkosten verursachen. Mit der

raschen Weiterentwicklung existierender

SequenziersystemederzweitenGeneration(z.

B.HiSeq, Illumina), der anstehendenMarkt-

einführungvonSequenziersystemenderdrit-

tenGeneration (SMRTR, Pacific Biosciences;

Ion Torrent; Starlights, Life Technologies)

sowie den immer günstigeren Sequenzierta-

rifenkommerziellerAnbieter (z.B.Complete

Genomics, USA) dürften die Kosten für die

Genomsequenzierung weiter sinken, wenn

auch nicht ganz so schnell wie früher ange-

nommen. Nach Einschätzung von Experten

wird es in drei bis fünf Jahrenmöglich sein,

die Sequenzierung ganzer menschlicher Ge-

nome einschließlich Probenvorbereitung für

wenigerals1000US$anzubieten,undeswird

damit gerechnet,dassdieKostenkontinuier-

lichweitersinkenwerden,u.a.durchdieEnt-

wicklungnoch leistungsfähigererSequenzier-

techniken.WasdieInterpretationderSequenz

anbelangt, ist zwischen den exprimierten Se-

quenzen (Transkriptom, Exom) und der Ge-

samtsequenz zu unterscheiden. Es wird sehr

viel längerdauern,bisdieBedeutungderge-

samtenVariabilitätdesmenschlichenGenoms

im Hinblick auf die phänotypischen Auswir-

kungen,unterBerücksichtigungvonEpistase,

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 33

Genotyp-Umwelt-Wechselwirkung und Epi-

genetik(sieheKapitel2),interpretiertwerden

kann, insbesonderewenn es umdie Sequenz

desgesamtenGenomsgeht,auchwenndieIn-

dustriehieroptimistischerist.49

Für die Diagnostikmonogener Krankhei-

ten könnte die Genomsequenzierung schon

bald eine einfachere und kostengünstige

Alternative zu der Vielzahl spezifischer Tests

darstellen,dieheute zurDiagnostikherange-

zogen werden. Wenn die Hochdurchsatzse-

quenzierunginderDiagnostikeingesetztwird,

istzunächsteineKontrollederSequenzierqua-

litätunverzichtbar.Sehrvielproblematischer

istdieInterpretationderSequenzierdaten.Im

HinblickaufdenZusammenhangmitKrank-

heiten müssen bioinformatische Instrumen-

tealsFilterentwickeltwerden.Dabeiwirdes

z. B. darum gehen, die Sequenzinformation

fürbestimmteFragen,z.B.definierteKrank-

heiten, zu interpretierenundHypothesen für

dieInterpretationabzuwägen.DadasWissen

überGenotyp-Phänotyp-Beziehungen ständig

wächst bzw. sich verändert, werden die bio-

informatischenFiltersystemefortlaufendwei-

terentwickeltwerdenmüssen.

DasExomumfasstalleDNA-Segmente,die

diegenetischeInformationfürProteineinsich

tragen.MithilfederExomsequenzierungkann

z.B.einegroßeAnzahlvonfunktionellenVari-

antenuntersuchtwerden,diezurgenetischen

Disposition für multifaktorielle Krankheiten

beitragen, darunter Krebserkrankungen und

dieAlzheimerscheKrankheit.DasExomum-

fasstwenigerals2%desGenoms.Veränderun-

gen in vielen regulierendenDNA-Sequenzen,

dieindenübrigen98%desGenomsvorkom-

men, werden durch die Sequenzierung des

Exomsnichterfasst.FürbestimmteGruppen

definierterKrankheitenhatdieExomsequen-

zierung bereits Eingang in die diagnostische

49 sieheInterviewmitJayFlatley,Illumina,http://www.xconomy.com/san-diego/2010/04/06/.

Praxis gefunden.50Mittlerweile gibt esAnge-

bote ausdemAusland fürdieSequenzierung

desgesamtenGenomsoderseinerkodierenden

Abschnitte.51,52InDeutschlandwirddiekom-

plette Sequenzierung des Transkriptoms und

desExomseinesIndividuumsangeboten.53Im

HinblickaufdasnachwievorgeringeWissen

umdiekomplexenBedingungenderGenregu-

lation, die die zelltypspezifischenMuster der

Genexpression bewirken, ist davon auszuge-

hen,dassdieSequenzierungdesgesamtenGe-

nomseinesIndividuumzueinerwesentlichen

Ausweitung an (noch)nicht interpretierbarer

genetischerÜberschussinformationführt.

DieRegelungendesGendiagnostikgesetzes

gehen von der Vorstellung der gezielten Un-

tersuchungdefinierterGeneaus.FürdenFall,

dassgenetischeÜberschussinformationgene-

riertwird, ist inderBegründung zu §9 aus-

geführt,dassdieuntersuchtePersondarüber

vollständigaufgeklärtwerdenundentscheiden

muss,obdieÜberschussinformationvernich-

tetoderindieInterpretationeinbezogenwer-

densoll.DasGendiagnostikgesetzregeltnicht

speziell,wieverfahrenwerdensoll,wenndas

Genom eines Menschen systematisch unter-

sucht bzw. komplett sequenziert werden soll

(sieheKapitel9).

50 CenterforGenomicsandTranscriptomics,CeGaT:http://www.cegat.de/.

51 DieFirmaKnome(http://www.knome.com/)bietetdieGenomsequenzierungzuPreisenvonca.70.000bzw.25.000US$an(Stand:Dezember2009).

52 DieFirmaCompleteGenomics:(http://www.com-pletegenomics.com/)bietetdieGenomsequenzierungseitJanuar2010für20.000US$an,allerdingsohneAnalyseundklinischeInterpretationdererhobenenSequenzdaten.

53 NebenderAnalysesogenannterdiagnostischerPanelsbietetdieFirmaCeGaTdieSequenzierungdesExomsan.InAbhängigkeitvonderAnzahlgleichzeitigbear-beiteterProbenbetragendieKosten5.600bis8.900Euro,jedochohneInterpretationderDaten(http://www.cegat.de/).

34 5 | Die Zukunft der Humangenomforschung

Bedeutung der modernen genetischen Analysemethoden für die Krankheitsforschung

Krankheitsforschung mithilfe von Sequenzi-

ermethoden und DNA-Chip-Technologie ist

nurerfolgversprechend,wennsieangutcha-

rakterisierten Patienten bzw. Familien ange-

wandtwird.Bishersindmehrals2.000Gene

bekannt, deren Mutationen beim Menschen

3.500verschiedenemonogenbedingteKrank-

heitenverursachen.DiesistabernurdieSpit-

ze des Eisbergs (siehe Kapitel 3). Die neuen

MethodenderDNA-Sequenzierungwerdenin

den nächsten Jahren gerade auf diesem Ge-

biet sehr wahrscheinlich einen wesentlichen

Erkenntnisgewinnliefern.54 Inderwestlichen

Welt sind die Familien häufig klein. Vielfach

wird der von einer monogenen Krankheit

Betroffenedereinzige inderFamilie sein. In

dieserSituationistesallerdingsnichteinfach,

beieinemEinzelfallüberhaupteinegenetische

KrankheitinBetrachtzuziehen.Einewesentli-

chezusätzlicheHilfekönntesichausdenneu-

enDNA-Technologienergeben.

Obgleich die Herausforderung sehr viel

größeristalsbeidenmonogenerblichenMerk-

malen, dürfte die Analyse multifaktorieller

Krankheiten durch die neuenMethoden vor-

aussichtlichebenfallseinenqualitativenSchub

erfahren.DienächsteAufgabewirddarinbe-

stehen,diebetreffendenGene in funktionelle

Zusammenhänge einzuordnen. Diese Kennt-

nissewerdenderForschungneueEinblickein

diepathophysiologischenZusammenhängeer-

möglichen.ParallelwirddieWechselwirkung

zwischenGenotypundUmweltbeiderAuslö-

sung multifaktorieller Krankheiten sowie die

Rolle der Epigenetik in der Genfunktion ge-

zielter analysiert werden können. Genetische

undfunktionelleMethoden,d.h.ätiologische

und pathophysiologische Forschung werden

zusammenfließen. Die Analyse wird sich so-

54 CheckHaydenE.(2009).

wohlaufderEbenederZellebzw.desGewebes

alsauchaufderEbenedesGesamtorganismus

abspielen. Da multifaktorielle Erkrankungen

nicht nur auf genetischen Faktoren beruhen,

kann eine Erklärung ihrer Entstehung und

ihresVerlaufsvondergenetischenForschung

alleinnichterwartetwerden.DazuistdieEr-

forschung der wechselseitigen Beziehungen

genetischer, epigenetischer und biochemi-

scherNetzwerkeund ihrer Interaktionenmit

Umwelteinflüssennotwendig.

In demMaße, in dem die skizzierte Ent-

wicklung vorankommt, könnten sich ver-

besserte Möglichkeiten der Erkennung von

Krankheitsdispositionen ergeben. Wenn eine

Reihe von genetischenVarianten identifiziert

ist,diezurManifestationeinermultifaktoriel-

lenKrankheitbeitragen,wäreesdenkbar,die-

se Varianten gemeinsam mit epigenetischen

Informationen, biochemischen Parametern

und exogenenFaktoren zuRisikoprofilen zu-

sammenfassen, um für eine gegebenePerson

gewisse prädiktive Aussagen zu machen. In

welchemUmfangfüreinzelnemultifaktorielle

Erkrankungen eine prädiktive genetische

Diagnostik zuAussagen führen kann, die für

dieKrankheitspräventionbeieinzelnen,getes-

tetenPersonwirklichrelevantsindundgege-

benenfallswanndiesderFallseinwird,kann

momentan nicht vorhergesagtwerden. Bevor

manderartigeInformationenjedochimklini-

schen Alltag prädiktiv verwenden darf, müs-

senzurValidierungumfangreicheempirische

Untersuchungendurchgeführtwerden.

DievergleichendeSequenzierungdesgan-

zen menschlichen Genoms bei Risiko- und

Kontrollkollektiven bietet das Maximum an

möglicher genetischer Information. Es ist zu

hoffen, dass Forschungsprogramme bald Re-

alitätwerden,mitdenendievermutlichzahl-

reichen,anderRisikodispositionfürbestimm-

te multifaktorielle Erkrankungen beteiligten

AlleleanverschiedenenGenortenerfasstwer-

den können. Die Frage der angemessenen

Interpretation von technisch einwandfreien,

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 35

genomweitenSequenzbefundenisteingewal-

tiges Problem. Denn bei derartigen genom-

weiten Vergleichen fallen Datenmengen an,

die noch nicht gelöste Anforderungen an die

bioinformatischeAnalyse stellen.Da die ein-

zelnenAllele fürsichgenommenzumeistnur

einenkleinenBeitragzudemPhänotypleisten

dürften,sindverfrühteAngeboteeinerprädik-

tiven genetischen Diagnostik problematisch,

solange diese nur einen kleinen Teil aller zu

einer bestimmten multifaktoriellen Krank-

heit disponierenden Allele erfassen. Sobald

genomweite Sequenzanalysen für bestimmte

multifaktorielleKrankheiteneinenfürdieEin-

zelperson aussagekräftigen Teil dieser Allele

erfassthaben,kanndieSequenzierungaufdie-

senTeildesGenomsbeschränktwerden.Auch

bei monogenen Krankheiten können genom-

weiteUntersuchungenwichtigwerden.Denn

bei nicht wenigen monogenen Krankheiten

können die Symptome selbst bei Verwand-

ten, die eine identischeMutation in dem für

die betreffende Krankheit verantwortlichen

Hauptgenhaben,extremschwanken.Beisol-

chenErkrankungenistesfürdiePrognoseund

neue Therapieansätze wichtig, zusätzlich zu

demHauptgenweiteregenetischeFaktorenzu

erfassen,diedasklinischeBildunddenVer-

laufderErkrankungbeeinflussen.

Translation genetischer Tests in eine bessere Patientenversorgung

Die klinische Umsetzung von Erkenntnissen

ausderForschungindiemedizinischeVersor-

gungwirdalsTranslationbezeichnet.ImKon-

textgenetischkomplexerKrankheitengibtes

erheblichen Handlungsbedarf, insbesondere

infolgenderHinsicht:55

1. EntwicklungautomatisierterVerfahrenzur

CharakterisierungvonMutationen;

55 SamaniNJetal.(2010).

2. IdentifikationgenetischerBefunde,diefür

dieklinischeArbeit relevantundgeeignet

sind;

3. EntwicklungderpersonellenKapazitätzur

Einbindung der genetischen Information

indieVersorgungspraxis;

4. NachweisdesklinischenNutzensdergene-

tischenInformation;

5. Nachweis der Wirtschaftlichkeit der Ver-

sorgung unter Einbezug der genetischen

Information.

DenSchritten2bis4entsprichtauchdasMo-

dellder„GenomischenTranslation“(„Analytic

validity; Clinical validity; Clinical utility; and

Ethical,legal,andsocialimplications“,ACCE),

dasdieAbteilungPublicHealthGenomicsder

amerikanischen Centers of Disease Control

entwickelthat.56DieseSchrittederTranslation

zeigen,welcherBedarfanpatientenbezogener

Forschungnotwendig ist,umdieVersorgung

derPatientenzuverbessern.

EinenBlickaufdieHerausforderungenin

derklinischenPraxisbietetdasBeispieleiner

kompletten Genomsequenzierung eines Pati-

enten.57 Kommentatoren weisen darauf hin,

dass im Zuge einer vollständigen Sequenzie-

rung insbesondere ein sehr hoher Informati-

onsbedarfsentsteht:

1. beimPatientenvorderTestung;

2. bei der Interpretation der Testergebnisse

bezüglichderTestmethodenundderKor-

relationmiteinerKrankheit;

3. bezüglich der Unsicherheit bei Varianten

unbekannterBedeutung;

4. bezüglich der Aktualität der Interpretati-

on58.

Für eine Verbesserung der gesundheitli-

chenVersorgungdurchprädiktive genetische

Diagnostik müssen somit Erkenntnisse der

Grundlagenforschung, der Translation und

die indieserStellungnahmeangesprochenen,

56 CentersofDiseaseControl:http://www.cdc.gov/genomics/gtesting/ACCE/index.htm.

57 AshleyEAetal.(2010).

58 OrmondKEetal.(2010).

36 5 | Die Zukunft der Humangenomforschung

nichtmedizinischen Aspekte wie rechtliche

undethischeRahmenbedingungenindiePra-

xiseingebrachtwerden.Dazukommt,dassdas

sektorale Gesundheitssystem Deutschlands

dieUmsetzungindieVersorgungunddiedazu

gehörigeForschungerschwert.

Internet-basierte „Direct-to-Consumer“ (DTC)-Angebote zur genetischen Diagnostik

Die verfügbaren Hochdurchsatz-Technologien

habendurchDiagnostikangebotesehrrascheine

kommerzielle Verwertung nach sich gezogen.

Seit dem Jahre 2006 wurden insbesondere in

denUSAinschnellerFolgesogenannte„Direct-

to-Consumer“ (DTC)-Firmen gegründet, die

über das Internet eine Typisierung selektierter

DNA-Markeranbieten,umAussagenzumper-

sönlichen genetischen Profil und insbesondere

zu Krankheitsrisiken zu machen. Die Gesamt-

zahlderweltweitaufdiesemMarktoperierenden

Firmenbeläuftsichzurzeitaufmindestens40.59

DieaneinemTest interessiertePersonschließt

mit dem Anbieter per Internet einen Vertrag,

wähltdieMerkmalebzw.Krankheitenaus, auf

diesiesichuntersuchenlassenwillundschickt

an die Firma eine Speichelprobe. Wenn die

Laboruntersuchung fertig ist, erhältderKunde

elektronischeinPasswort,mitdemerdieTest-

ergebnisseonlineabrufenkann.

Einige derDTC-Firmen beschränken sich

auf die Erstellung des Risikoprofils für eine

oderwenige,meistgenetischkomplexeKrank-

heiten, während die bekannteren Anbieter

wie Navigenics, DeCode und 23andme Aus-

sagen zumRisiko für bis zu 50 verschiedene

Merkmalebzw.Krankheitenversprechen.Die

Untersuchungsangebote beziehen sich größ-

tenteilsaufDispositionenzumultifaktoriellen

Krankheiten,aberauchaufmonogenbedingte

59 sieheAuflistungdesGeneticsandPublicPolicyCenters,JohnsHopkinsUniversity,http://www.dnapolicy.orgvom28.05.2010.

Tumorkrankheiten,Anlageträgerschaftfürau-

tosomalrezessiveKrankheiten,genetischver-

mittelteMedikamentenreaktionenundMerk-

male ohne medizinische Relevanz. Ein guter

TeilderangebotenenUntersuchungenhateine

ungesicherte wissenschaftliche Grundlage.60

InDeutschlandsindDTC-AngeboteaufGrund

desArzt-bzw.Facharztvorbehaltesdurch§7

desGendiagnostikgesetzesuntersagt.

ZurAussagekraftundBewertungdergene-

tischenDTC-Angebotegibtesinzwischeneine

VielzahlvonganzüberwiegendkritischenStel-

lungnahmen,u.a.vonderAmericanSocietyof

Human Genetics61, vom American College of

Medical Genetics62 und der European Socie-

tyofHumanGenetics63.Außerdem liegt eine

StellungnahmedurchdieBioethikkommission

beimösterreichischenBundeskanzleramtvor.64IndenUSAistdieFoodandDrugAdminist-

ration(FDA)aufgefordertworden,genetische

Tests nur durch Spezialisten durchführen zu

lassen.65,66

In den Stellungnahmen wird eine Reihe

vonKritikpunktenaufgeführt:

1. Die Risikoangaben für die allermeisten

häufigen Krankheiten sind unsicher, weil

sie auf schwachen oder unbestätigten

Befundenberuhen;

2. es fehlenAngaben zur Sensitivität, Spezi-

fitätundzumprädiktivenWertdereinge-

setztenTests;

60 ZudenTestangebotengehörenz.B.diefolgendenPhä-notypen:DiabetesmellitusTyp1+2,altersabhängigeMakuladegeneration,Parkinson-Krankheit,Schlagan-fall,rheumatoideArthritits,erblicherBrustkrebs(nureinzelneMutationen),Lungenkrebs,Lebenserwartung,Augenfarbe,Heroinabhängigkeit,Nikotinabhängigkeit,Ohrschmalz-Typ.

61 AmericanSocietyofHumanGenetics:AmJHumGenet81:635-637,2007.HudsonKetal.(2007).HudsonKetal.(2007).

62 AmericanCollegeofMedicalGenetics:http://www.acmg.net/StaticContent/StaticPages/DTC_Statement.pdf,7.April2008.

63 EuropeanSocietyofHumanGenetics:https://www.eshg.org/fileadmin/www.eshg.org/documents/PPPC-ESHG-DTC-06122009.pdf.

64 BioethikkommissionÖsterreich:http://www.bundes-kanzleramt.at/DocView.axd?CobId=39456.

65 BeaudetAL(2010).

66 JavittG(2010).

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 37

3. indeminteressierendenGenwirdoftnur

ein begrenztesMutationsspektrum unter-

sucht;

4. esgibtkeineunabhängigenKontrollender

technischenQualitätundderInterpretati-

onderBefunde;

5. dieResultatederTestssindnurimKontext

einer medizinischen Evaluation sinnvoll

interpretierbar;

6. dieTestresultatemüsstenderuntersuchten

Person von einem Humangenetiker bzw.

genetischen Berater vermittelt werden,

auchimHinblickaufdieBedeutungderar-

tiger Informationen fürdie eigenePrivat-

sphäreundfürFamilienangehörige67;

7. dasLaborkannnichtkontrollieren,obdie

eingesandteProbetatsächlichvonderPer-

sonstammt,diemitderFirmadenVertrag

geschlossenhat,undnichtetwadieProbe

eines Kindes, des Ehepartners oder einer

anderenPersoneingesandtwurde.

DieMedienhabendieSchwächenundUnzu-

länglichkeiten von DTC-Labors vorgeführt:

BeikonkurrierendenUnternehmeninAuftrag

gegebeneRisikoabschätzungenhabenwieder-

holt zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen

geführt,offenbarweilzurBestimmungspezifi-

scher genetischerKrankheitsrisiken verschie-

dene Marker herangezogen werden.68 Auch

die vorsätzliche Einsendung der Probe einer

anderenPersonkonntedasLaborerwartungs-

gemäßnichtaufdecken.

Es istoffensichtlich,dasseinGroßteilder

gegenwärtigen DTC-Angebote über das In-

ternet eine ungesicherte wissenschaftliche

Grundlage hat und die Interpretation eines

Testergebnisses unter Ausschluss einer fach-

gerechten genetischen Beratung zu Fehlern

führenkann.

67 InsbesonderedasFehlenderartiger,fürdenLaienverständlicherInformationenzurBedeutungindivi-duellerTestergebnissewarenausschlaggebendfürdieEntscheidungeinerganzenReiheamerikanischerBundesstaaten,genetischeDTC-Testsnurunterbe-stimmtenAuflagenzuerlaubenoderganzzuverbieten.

68 sieheAldhouseP,ReillyM(2009);NgPCetal.(2009);PinkerS(2009).

DTC-Firmen werben zum Teil um Kon-

sumenten auch in der Weise, dass sie diese

auffordern,fürdiegewünschteUntersuchung

selbsteinenArzteinzuschalten.Derbetreffen-

deArztmussjedochnichtüberdieFachkunde

verfügen,diefürdieIndikationzueinergene-

tischenUntersuchung und die Interpretation

genetischer Daten erforderlich ist. Dadurch

könntenderuntersuchtenPersongesundheit-

liche Nachteile erwachsen. In Analogie zum

Werbeverbot für verschreibungspflichtige

Medikamente sollte Werbung für prädiktive

genetische Untersuchungen gesetzlich unter-

sagtwerden.

IndenUSAwerdengenetischeTestsneu-

erdings sogar über „Drug Stores“ angeboten

(„overthecountergenetic tests“).DieAmeri-

canSocietyofHumanGeneticshatdaranhef-

tigeKritikgeübt.69

Heterozygotentestung

EinebaldigediagnostischeAnwendungkönn-

tendieHochdurchsatztechnologienfürdieEr-

kennungvonHeterozygotienfürautosomalre-

zessiveKrankheitenbekommen,insbesondere

solcher, die sich im frühen Kindesalter ma-

nifestieren. Unter der Annahme, dass rezes-

sive Krankheiten in unserer Bevölkerung bei

0,25-0,5% aller Neugeborenen vorkommen,

mussmandavonausgehen,dassbei1-2%aller

EhepaarebeidePartnerheterozygotfürMuta-

tionenimgleichenGensind.JedesKindeines

solchen Paares hat dann nach den Mendel-

schenRegelneinErkrankungsrisikovon25%.

Eine Firma70 bietet seit Februar 2010 in

den USA einen DTC-Heterozygotentest auf

458spezifischeMutationenin105Krankheits-

genenan.DamitwirdzwarnureinkleinerTeil

69 ASHG»PolicyandAdvocacy»ResponsetoRecentlyAnnouncedAvailabilityofOver-the-Counter(OTC)GeneticTests:http://www.ashg.org/pages/state-ment_5_13_10.shtml

70 Counsyl,RedwoodCity,CA:https://www.counsyl.com/;sieheauchLevensonD(2010).

38 5 | Die Zukunft der Humangenomforschung

der klinisch relevanten Mutationen erfasst71,

jedochsindbereitsMethodeninderEntwick-

lung, die die Untersuchung auf nahezu alle

bekannten relevanten Mutationen möglich

machen sollen. Das amerikanische „National

CenterforGenomeResources“(NCGR,Santa

Fe) hat einen universellenHeterozygotentest

entwickelt, der auf die Option zur Verhinde-

rung von ernsten genetischen Erkrankungen

desKindesaltersdurchSequenzierungkodie-

renderAbschnitte von448bekanntenGenen

zielt.72SeitMärz2010wird indenUSAauch

ein ähnlicher DTC-Test zum Ausschluss von

MutationenindenmeistenbekanntenGenen

für X-chromosomal vererbte geistige Behin-

derungangeboten.73Mithilfedesuniversellen

TestszurErkennungvonÜberträgern für re-

zessiveKrankheitenkönntemanvorderersten

Konzeption praktisch alle elterlichen Risiko-

konstellationenerkennenunddenbetroffenen

PaarendamitdieMöglichkeiteineraufdiesem

Wissenbasierenden, reproduktivenEntschei-

dungandieHandgeben.Ohnediepräkonzep-

tionelleUntersuchungweißeinElternpaarerst

nachderGeburteinesbetroffenenKindesum

seineRisikokonstellation.

DasGendiagnostikgesetzschließteinvom

Einzelnen nachgefragtes Anlageträgerscree-

ningnichtaus.Diesystematischepräkonzep-

tionelleHeterozygotenuntersuchungstellt für

unsereGesellschaftjedocheineneueSituation

mit weitreichenden ethischen und sozialen

Implikationen dar. Derartige Untersuchun-

gen sollten vorerst nur imRahmen von For-

schungsprojekten durchgeführt werden. Sie

sollten eingebettet sein in einemedizinische,

ethischeundsozialeBegleitforschung,umEr-

71 NuretwajederDrittedermitdiesemTestuntersuch-tengesundenProbandenistfüreinedieserMutationenheterozygot(Srinivasanetal).Dasbedeutet,dassmitdiesemTestnur2bis2,5%allerklinischrelevantenrezessivenMutationenusgeschlossenwerdenkönnen,daimGenomGesunderungefähr10bis20solcherrezessivenMutationengefundenwerden(u.a.sieheWheelerDAetal.2008).

72 sieheNationalCenterforGenomeResearchNCGR:http://www.ncgr.org/.

73 sieheAmbryGenetics:http://www.ambrygen.com/.

fahrungen über die persönlichen und gesell-

schaftlichenAuswirkungenzugewinnen.

DerAnsatzentsprichtdemseitvielenJah-

ren praktizierten präkonzeptionellen Hetero-

zygotenscreening auf Beta-Thalassämie auf

SardinienundZypernundaufdieTay-Sachs-

Krankheit in Israel bzw. bei Ashkenasim-Ju-

denweltweit(sieheKapitel3).Diegenannten

Krankheiten sind in den entsprechendenBe-

völkerungengutbekannt.ImUnterschieddazu

wirdbeieinemuniversellenHeterozygotentest

aufdasRisikofürKrankheitenuntersucht,die

in der Bevölkerung weitgehend unbekannt

sind. Außerdem ist die „Indikation“ dadurch

vorgegeben, dass ein bestimmtes Gen über-

hauptindenuniversellenTesteinbezogenist.

Bedürfnisse in Forschung und allgemeiner Fortbildung

Die sich entwickelnden Möglichkeiten der

genomischen Hochdurchsatztechnologien er-

öffnen weitreichende Möglichkeiten für die

Erforschungmonogenerundmultifaktorieller

Krankheiten.Dies istnichtnur indenklassi-

schenWissenschaftsländernerkannt,sondern

z.B.auchindenaufstrebendenStaatenAsiens

und Lateinamerikas. Das bessere Verstehen

vonKrankheitsursachenwirdauchderErfor-

schungdernormalenFunktionenundFunkti-

onsstörungen(Pathophysiologie)neuenRaum

geben.Dies alleswird auchdieOptionen für

FrüherkennungundPräventionvonKrankhei-

tenerweitern.

DieForschunginDeutschlandaufdemge-

samtenGebietdergenetischenMedizinsollte

verstärkt werden. Dabei wird es insbesonde-

re darauf ankommen, die Molekulargenetik

mitderklinischenMedizinzuverbinden.Da-

für sind große und systematisch gesammelte

Untersuchungskollektive notwendig. Im An-

schluss an die Grundlagenforschung sollten

auchdieForschungsdimensionenvon„Public

Health“, Versorgungsforschung bis hin zur

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 39

Gesundheitsökonomieberücksichtigtwerden.

Die umfassenden Möglichkeiten einer

systematischen prädiktiven genetischen Dia-

gnostikmüssenAnlasssein,sichmitdenethi-

schen, rechtlichenundsozialenAspektender

AnwendungdergenomischenHochdurchsatz-

technologien auseinanderzusetzen, bevor der

technische Fortschritt Fakten geschaffen hat.

Außerdem sollte derWissensstand der Ärzte

aufdemGesamtgebietdergenetischenMedi-

zinverbessertwerden.DieBevölkerungsollte

überdieMöglichkeitenundGrenzendergene-

tischenMedizineinschließlichderprädiktiven

genetischen Diagnostik fortlaufend sachlich

informiertwerden.InsbesondereinderSchule

sollten die neuen Erkenntnisse der Verer-

bungsforschungvermitteltwerden.

40

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 41

6 Die EuroGentest-Erhebung genetischer Reihenuntersuchungen in Europa

Genetische Reihenuntersuchungen dienen

der Erkennung bzw. dem Ausschluss einer

genetisch bedingten Krankheit, Prädispositi-

on oder Krankheitsresistenz, oder der Fest-

stellung von genetischenMerkmalen, die bei

den Nachkommen der untersuchten Person

Krankheitenhervorrufenkönnten.Genetische

Reihenuntersuchungen sind im Zusammen-

hangmiteinerVielzahlvonStörungenzuneh-

mendmöglich.74

Der Begriff „genetische Reihenuntersu-

chungen“ sollte nur für die systematische

Durchführung genetischer Untersuchungen

verwendet werden, die entweder bei einer

gesamten Population (sogenannte Reihen-

untersuchung einer Bevölkerung) oder bei

bestimmten Personengruppen innerhalb der

Gesamtbevölkerung, wie zum Beispiel bei

schwangerenFrauen(vorgeburtlicheUntersu-

chungen) oder bei Neugeborenen (neonatale

Untersuchungen), durchgeführt werden. Ein

weiteres wichtiges Merkmal der genetischen

Reihenuntersuchungen ist, dass sie üblicher-

weise von Vertretern des Gesundheitswesens

an die Bevölkerung herangetragen werden.75

Bei genetischenReihenuntersuchungenmuss

der erwartete Nutzen gegenüber demmögli-

chen Schaden abgewogen werden – nämlich

einerseitsdieFrüherkennungundPrävention

sowie reproduktive Entscheidungshilfen und

anderseits die Erzeugung von Sorge, sozialer

Stigmatisierung,Informationsmissbrauchund

Diskriminierung.

74 GodardBetal.(2003).

75 StewartAetal.(2007).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO)

hatRichtlinien76 erlassen,dievorderDurch-

führung einer Untersuchungsreihe bedacht

werdensollten,wobeieinedergrundlegenden

Bedingungen lautet, dassderVerlauf der be-

treffendenKrankheitbeeinflusstwerdenkann,

unddassdieKrankheitdurchFrüherkennung

undfrühesEingreifenbehandelbarseinmuss.

DaherstelltdieDurchführungeinesUntersu-

chungsprogrammsauf derEbeneder gesam-

tenBevölkerunggroßeHerausforderungenan

GesundheitswesenundPolitik.

Die EuroGentest-Erhebung zeigt den

gegenwärtigenStatus(Stand:2006-2008)von

genetischenReihenuntersuchungen in ausge-

wählten europäischen Ländern auf.77 Sie er-

fasst Untersuchungsziele und Organisations-

formenunddientalsGrundlagefürzukünftige

Versuche, Standards und Vorgehensweisen

europaweitzuharmonisieren.

In der EuroGentest-Erhebung wird der

Begriff„Programm“ineinemweitenSinnver-

standen.ErbeinhaltetalleUntersuchungsan-

gebote,diedaraufgerichtetsind,einemöffent-

lichen Bedarf nachzukommen, unabhängig

davon, ob vom Gesundheitswesen her syste-

matischorganisiertoderfallbezogen,aberauf

breiterBasisangeboten.78

Neugeborenenscreening

Das Neugeborenenscreening auf geneti-

sche Krankheiten wird mit chemischen

76 WilsonJMG(1968).

77 JavaherPetal.(2010).

78 RogowskiW,LangerA(2007).

42 6 | Die EuroGentest-Erhebung

Nachweisverfahren durchgeführt, z. B.

Tandem-Massenspektrometrie (siehe Ta-

belle 6.1 im Anhang). In fast allen Ländern

existieren nationale Programme für PKU

(Phenylketonurie) (inFinnlandnur regionale

Programme für Immigranten) und CH (kon-

genitaler Hypothyreoidismus). In Estland,

Finnland, Lettland, Litauen, Norwegen und

SlowenienistdasNeugeborenenscreeningauf

PKUundCHbeschränkt.IndenübrigenLän-

dernwirdaufweitereKrankheitengescreent,

jedoch besteht kein inhaltlicher Konsens da-

rüber,umwelcheKrankheitenessichhierbei

sinnvollerweisehandelnsollte.

AlleLänderbetrachtendasNeugeborenen-

screeningals im InteressedesNeugeborenen

selbst liegend. Screeningprogramme, die in

erster Linie das Ziel haben, genetische Wie-

derholungsrisiken fürweitereGeschwister zu

erfassen, z.B. fürMuskeldystrophieTypDu-

chenneundBecker,wurdeninkeinemeuropä-

ischenLandaufDaueretabliert.

DasNeugeborenenscreeningwirdeuropa-

weitalseinegesundheitlichwichtigeundkos-

teneffektiveMaßnahmebetrachtet.DasScree-

ningwird inallen25Ländernsoorganisiert,

dass zumindest theoretisch eine vollständige

Erfassung erreichbar wäre. Dieses Ziel wird

in denmeisten Ländern in der Tat vollstän-

dig oder nahezu vollständig erfüllt. Je nach

GesundheitssystemwerdendieScreeningpro-

gramme entweder unter direkter staatlicher

AufsichtoderdurchdiejeweiligenSozialversi-

cherungssystemeausgeführtundgesetzlichre-

guliert(sieheTabellen6.2bis6.9imAnhang).

Vorgeburtliches Screening auf Chromosomenstörungen und Neuralrohrdefekte

Tabelle 6.10 im Anhang listet vorgeburtliche

Untersuchungsprogrammeauf:Ultraschallun-

tersuchungen auf fetale Entwicklungsstörun-

gen,Messung der fetalenNackentransparenz

und mütterliche Serummarker als Hinweise

auf eine Chromosomenstörung des Feten,

mütterliche Serummarker als Hinweise auf

eineNeuralrohrverschlussstörungsowiefetale

Chromosomenuntersuchung und biochemi-

scheUntersuchungaufNeuralrohrverschluss-

störungausFruchtwasser,wenndievorgeburt-

licheDiagnostikprimärausanderenGründen

erfolgte.Untersuchungsangebote, die sich an

FrauenmitapriorierhöhtenRisikenfürfetale

Chromosomenanomalienwenden(z.B.Alters-

risiko),wurdennichterfasst.

Eine Zusammenfassung aller vorgeburt-

lichen Screeningaktivitäten in Europa mit

Stand 2004 gibt die EUROCAT-Studie.79,80

Nach dem Erscheinen dieser Studie gab es

vergleichbareBerichtenurauseinzelnenLän-

dern,nämlichDänemark81,Niederlande82und

Großbritannien83:Ultraschalluntersuchungen,

Messungen der fetalen Nackentransparenz

undmütterlicherSerummarkerwerdennahe-

zuüberallangeboten.IngeringeremMaßegilt

diesfürdiefetaleChromosomenuntersuchung

und die biochemische Untersuchung auf

Neuralrohrverschlussstörung aus Fruchtwas-

ser,wenneineinvasiveDiagnostikauseinem

anderen Grund erfolgte. In Großbritannien

wird seit 2008 ein vorgeburtliches Screening

aufHämoglobinopathienangeboten.

AusderEUROCAT-Studieunddengenann-

ten Berichten aus einzelnen Ländern ergibt

sicheinsehruneinheitlichesBildüberdieOr-

ganisation pränataler Screeningprogramme.

Finnland84 und Frankreich85,86 scheinen die

einzigenLändermitlandesweitgültigenEmp-

fehlungen über Inhalte und Abläufe zu sein.

79 EUROCAT:http://www.pubmedcentral.nih.gov/artic-lerender.fcgi?tool=pubmed&pubmedid=18410651.

80 BoydPAetal.(1998).

81 EkelundCKetal.(2008).

82 WortelboerEJetal.(2008).

83 LoeberJG(2007).

84 GovernmentDecree1339(2006).

85 Décrets,arrêtés,circulairesdeMinisteredelasanteetdessports(2009a).

86 Décrets,arrêtés,circulairesdeMinisteredelasanteetdessports(2009b).

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 43

In Tabelle 6.11 im Anhang werden die

Krankheiten erfasst, die im Jahr 2006 in 23

europäischenLändernGegenstandvonÜber-

trägerscreenings waren. In etwa der Hälfte

dieserLänderwerden solcheProgrammean-

geboten, insbesondere in Bezug auf Hämo-

globinopathien (9Nennungen)undZystische

Fibrose(7Nennungen).

Kaskadenscreening

Unter Kaskadenscreening versteht man die

systematischeUntersuchung derVerwandten

eines Indexfalles auf die betreffende geneti-

sche Veränderung, wobei jeder identifizierte

Merkmalsträger zum neuen Indexfall wird.

Wie in Tabelle 6.12 im Anhang aufgeführt,

sindinden25LändernfolgendeKrankheiten

am häufigsten Gegenstand von Kaskaden-

screeninggewesen:ZystischeFibrose,Muskel-

dystrophie Duchenne, Fragiles-X-Syndrom,

Hereditäre Hämochromatose, Beta-Thalassä-

mie,andereHämoglobinopathienundHyper-

cholesterinämie.

EinKaskadenscreeningunterscheidetsich

vonanderenReihenuntersuchungenvorallem

dadurch, dass Personen erfasst werden, die

vonvornhereineinerheblicherhöhtesgeneti-

schesRisikohaben.Andererseitswirdes,wie

andereReihenuntersuchungenauch,systema-

tisch durchgeführt und nicht vom Patienten

selbstinitiiert.InderPraxisgreifenPatienten/

Familien-InitiativeundaktiveBeratunginein-

ander. Kaskadenscreening für spätmanifeste

Krankheiten lässtsichauchalssystematische

prädiktiveUntersuchungverstehen.DieEuro-

Gentest-ErhebunghatdasKaskadenscreening

auch deswegenmiterfasst, weil noch nie der

Versuchunternommenwurde,hierzueuropa-

weitDatenzusammeln.

44

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 45

7 Gesundheitsökonomische Aspekte

Durch wissenschaftlichen und technischen

Fortschritt nehmen die Möglichkeiten der

medizinischen Versorgung immer weiter zu.

GleichzeitignimmtdasPotenzialzurFinanzie-

rungderLeistungendurchdieSolidargemein-

schaftunterandereminfolgederAlterungder

Bevölkerungab.BeideEntwicklungen führen

dazu,dasssichdieMöglichkeitendermedizini-

schenVersorgungundihrerFinanzierungaus-

einanderentwickeln.Esmussgeprüftwerden,

welcheVersorgungsleistungenimRahmender

sozialenSicherungangebotenwerdenkönnen.

Wichtigstes Entscheidungskriterium ist der

NutzenjederLeistungfürdenPatienten,also

die Effektivität der medizinischen Leistung.

DarüberhinausverlangtdasdeutscheSozial-

gesetzbuch, auch die Wirtschaftlichkeit der

Leistungenzuberücksichtigen.DieBewertung

aller gesellschaftlich relevanten Folgen einer

medizinischen Technologie bezeichnet man

als „Health Technology Assessment“ (HTA).

HTA-Berichte fassen meist die Evidenz zur

medizinischenEffektivitätundzurWirtschaft-

lichkeitausallenverfügbarenStudienzusam-

men.Gerade bei der prädiktiven genetischen

DiagnostikspielennebenderEffektivitätund

der Wirtschaftlichkeit noch rechtliche, ethi-

scheundpsychologischeAspektealsEntschei-

dungskriterieneineRolle.

Wann ist Diagnostik wirtschaftlich?

WennVersorgungsentscheidungenaufderBa-

siswissenschaftlicherErkenntnisse(dersoge-

nanntenEvidenz) gefälltwerden sollen,wer-

den Studien zummedizinischen Nutzen und

zurWirtschaftlichkeitbenötigt.Diesgiltauch

für die prädiktive genetische Diagnostik auf

Krankheiten bzw. Krankheitsdispositionen.87

Hier lautet die Kernfrage derWirtschaftlich-

keit:WievielgesundheitlichenNutzenerzielt

eineDiagnostikproeingesetztemEuroimVer-

gleich zum Verzicht auf diese diagnostische

Strategie?FührteineStrategiedazu,dassmehr

GesundheiterreichtwirdunddieKostensogar

sinken,istsieaufjedenFallwirtschaftlich.In

vielen Fällen muss aber eine Verbesserung

derGesundheitmiteinemZuwachsanKosten

erkauftwerden.DannkommtesaufdieZah-

lungsbereitschaft der Krankenversicherung

(oderderPatienten)an,obdieMehrkostender

Diagnostikalsakzeptabelangesehenwerden.88

Komponenten der Wirtschaftlichkeit

Bei der Untersuchung der Wirtschaftlichkeit

einerprädiktivengenetischenDiagnostiksind

die Versorgungskosten und die gesundheit-

lichen Effekte zu beachten. Zu den Kosten

gehörennebendenTestkostendieFolgekosten

derweiterenAbklärungundderBehandlung,

wobei auch Einsparungen von Behandlungs-

kosten durch eine frühzeitige wirksame The-

rapiezuberücksichtigensind.Gesundheitliche

EffekteumfasseninersterLinieVerbesserun-

genbeiderLebenserwartungundbeiderge-

sundheitsbezogenenLebensqualität.

87 KhouryMJetal.(2009).

88 LeidlR(2007).

46 7 | Gesundheitsökonomische Aspekte

Daneben kann eine prädiktive genetische

Diagnostik–etwa imFalleinernichtbehan-

delbaren genetischen Krankheit – Wissen

vermitteln,dasfüreineReihevonLebensent-

scheidungen von hoher Bedeutung ist, ohne

dass unmittelbare Auswirkungen auf die Ge-

sundheiterkennbarsind.SolcheNutzenaspek-

tekönnennichtimRahmenvonmedizinischen

Wirksamkeitsstudien untersucht werden,

sondernmüssendurchandereAnsätze–wie

die Ermittlung der individuellen Zahlungs-

bereitschaft für diesesWissen– eingeschätzt

werden.89

Wirtschaftlichkeit eines diagnostischen Tests

BeieinemdiagnostischenTestfallenzunächst

die Testkosten an.Dabei sind inAnalogie zu

denMaßendermedizinischenTestgüte(siehe

Kapitel4)vierFällezuunterscheiden:

1. Bei einer richtig zutreffenden Diagnostik

kann eine frühzeitige oder besser gezielte

Behandlung gesundheitliche Vorteile er-

möglichen,wobeiTherapiekostenanfallen;

2. Folgen aus einem unzutreffenden Testre-

sultat für einen Patienten falsche Be-

handlungen(etwaeinunnötigerEingriff),

bleibendiegesundheitlichenVorteileaus,

während unnötige Kosten entstehen und

weitereunnötigeFolgekostenundgesund-

heitliche Verschlechterungen auftreten

können;

3. Bei zutreffender Einordnung von Gesun-

denfallenkeineweiterenKostenan;

4. BeiInterventionsbedürftigen,diederTest

nicht erkennt, fallen Kosten und Effekte

derbesserenTherapieweg.

DieWirtschaftlichkeit eines Tests ergibt sich

aus der Gesamtheit der Kosten und gesund-

heitlichen Effekte über alle vier Fälle, ge-

wichtet mit der Häufigkeit ihres Auftretens.

89 GrosseSDetal.(2008).

Methodisch lässt sichdies besonders gutmit

entscheidungstheoretischen Modellen un-

tersuchen. So waren etwa alle Wirtschaft-

lichkeitsuntersuchungen, die in einer aktuel-

len Übersicht zum Neugeborenenscreening

zusammengestelltsind,solcheModellierungs-

studien90. Mit einer mathematischen Model-

lierung kann auch dieWirtschaftlichkeit von

Teststrategien verglichen werden (siehe Bei-

spiel7.1imAnhang).

Wirtschaftlichkeit von Screeningprogrammen

Screeningprogramme (Reihenuntersuchun-

gen) richten sich auf systematisch ausge-

wählteZielgruppen, z.B. allePersonen eines

bestimmten Alters und Geschlechts, die an

einem Stichtag in einer definierten Region

wohnen. IhreWirtschaftlichkeit hängt neben

den erwähnten Testeigenschaften und Test-

kosten insbesondere von der Prävalenz (also

der Auftretenshäufigkeit) der Krankheit und

des anzuwendenden genetischen Markers in

der Zielgruppe, dem Schweregrad und den

TherapiemöglichkeitenderErkrankungsowie

vomAlterderProbandenab.BisherigeStudi-

enzumgenetischenScreeningaufDNA-Basis

zeigten, dass sowohl wirtschaftliche als auch

unwirtschaftlicheResultatemöglichsind,und

dassdieErgebnissedurcheineVerbesserung

derDatenlagebeeinflusstwerdenkönnen91(zu

KostenvergleichenvonScreeningansätzensie-

heBeispiel7.2imAnhang).

BesondersschwierigwirdeineBeurteilung

von Patientennutzen und Wirtschaftlichkeit,

wenn simultan mehrere Krankheitsdispositi-

onendiagnostiziertwerdensollen.EineAddi-

tionderResultateeinzelnerDiagnostikstrate-

gienistnurdannmöglichundsinnvoll,wenn

KostenundGesundheitseffekteinmethodisch

90 LangerA,JohnJ(2009).

91 RogowskiW(2006).

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 47

vergleichbarerWeise erfasst werden und die

Resultate statistischvoneinanderunabhängig

sind. Dies sind aber sehr restriktive Annah-

men, da Krankheiten sich über unterschied-

liche Zeiträume erstrecken, unterschiedliche

Kenntnisse über den Verlauf und die Thera-

piefolgen bestehen, höchst unterschiedliche

DatenzurModellierungzurVerfügungstehen

könnenundwichtigeKrankheiten–z.B.Dia-

betesmellitus und koronareHerzerkrankung

–nichtvoneinanderunabhängigsind.Beider

BewertungumfassenderTeststrategienistmit

hohermethodischerHeterogenitätzurechnen,

was eine evidenzbasierte Gesamtbeurteilung

von Nutzen und Wirtschaftlichkeit sehr er-

schwert.

Gute modelltheoretische Untersuchungen

zur Effektivität und Wirtschaftlichkeit von

Screeningstrategien verwenden die besten

verfügbaren Daten zur epidemiologischen

Situation, zu den Testeigenschaften sowie zu

denKostenundgesundheitlichenErgebnissen.

FüreinerealitätsnaheEinschätzungderSitua-

tioninDeutschlandsindhochwertigeVersor-

gungsdaten für die Zielgruppen in Deutsch-

landerforderlich.UmdierealeEffektivitätund

Wirtschaftlichkeit der Screeningprogramme

zuerfassen,solltendieseDatenmitdenDaten

anderer europäischerLänder verglichenwer-

den. Ferner müssen die Modelluntersuchun-

gen durch Evaluation der Programmpraxis

ergänzt werden. Nehmen etwa in der Praxis

Risikoträger von sich aus eher am Screening

teil, verbessert dies die Wirtschaftlichkeit,

währendsiesichverringert,wennTeilnehmer

versehentlichmehrfachzumTestengehen.Bei

einer praxisrelevanten Evaluation von Scree-

ningprogrammenmüssen auch die Kranken-

kassen einbezogen und beteiligt werden (zur

Bedeutung der praxisnahen Evaluation von

ScreeningansätzensieheBeispiel7.3).

Aufgaben der Forschungs- und Gesundheitspolitik

Die Beurteilung des Patientennutzens und

der Wirtschaftlichkeit von multiplen prädik-

tiven diagnostischen Teststrategien stellt viel

höhere Anforderungen an die wissenschaftli-

che Informationsbasis als dies einzelneTests

oderScreeningmaßnahmenbislanggetanha-

ben.UmmitprädiktivergenetischerDiagnos-

tik Gesundheit auf effektive und wirtschaft-

licheWeise zu verbessern,müssen daher die

Evidenzgrundlagen entscheidend verbessert

werden. Dies bedeutet einen erheblichen

Forschungsbedarf. Insbesondere sind die

wissenschaftliche Beurteilung multipler prä-

ventiver Diagnostikstrategien hinsichtlich

ihrer medizinischen Effektivität und Wirt-

schaftlichkeitweiterzuentwickelnunddieEnt-

scheidungsfindung über die Nutzung solcher

Strategien im Rahmen der Krankenversiche-

rung,aberauchimRahmenderdirektenNut-

zungdurchdenKonsumentenaufihregesund-

heitlichenundfinanziellenAuswirkungenhin

zu untersuchen. Erste internationale Verglei-

che zum evidenzbasierten Management von

genetischenScreeningansätzenzeigenbislang

eine beträchtliche Vielfalt an Evidenzgrund-

lagen und Entscheidungen92 (zu Unterschie-

den im Neugeborenenscreening auf zwei ge-

netischbedingteKrankheiteninNordamerika

undEuropasieheBeispiel7.4imAnhang).

Ferner kann die Umsetzung prädiktiven

Wissens in bessere Gesundheit eine Verhal-

tensänderungderBetroffenenerfordern,wenn

prädiktive genetische Diagnostik verhaltens-

bezogenesWissenergänzt.93WenndieVerbes-

serung des Wissens über genetische Risiken

nicht ausreicht, das Verhalten zu modifizie-

ren, müssen bessere Präventionsstrategien

entwickelt werden, um das gesundheitliche

PotenzialdesbesserengenetischenWissenszu

92 GrosseSDetal.(2010).

93 HumphriesSEetal.(2007).

48 7 | Gesundheitsökonomische Aspekte

realisieren94 (zu Zusammenhängen zwischen

genetischem Testen und Gesundheitsverhal-

tensieheBeispiel7.5imAnhang).

Bei Entscheidungen über die Bezahlung

von Arzneimitteln durch die Krankenversi-

cherung wird heute in vielen Ländern regel-

mäßig auch die ökonomischeEvidenz heran-

gezogen.EffizienteVersorgungerfordertaber

dieBerücksichtigungderWirtschaftlichkeitin

allenBereichen,natürlichauchinderPräven-

tion.95UmEffizienzschoninderTechnologie-

entwicklung und später bei ihremEinsatz zu

fördern, muss in einem neuen, stark expan-

sivenundvondenFolgekostenhernochnicht

gut absehbaren Bereich wie der prädiktiven

genetischenDiagnostikdaherdieWirtschaft-

lichkeit frühzeitig berücksichtigt werden.

Dies gilt besonders dann, wenn Leistungen

der gesetzlichenKrankenversicherung inAn-

spruch genommen werden. Aber auch „aus

eigenerTasche“bezahlteprädiktivegenetische

DiagnostikkannzuVersorgungsleistungender

Krankenversicherung führen – insbesondere

durch die Folgen unzutreffend abgesicherter

Testresultate.96 Das evidenzbasierteManage-

ment der prädiktiven genetischenDiagnostik

stellt insofernaucheineneuegesundheitspo-

litischeAufgabedar.97

94 HeshkaJTetal.(2008).

95 LeidlR(2008).

96 McGuireAL,BurkeW(2008).

97 RogowskiWHetal.(2009).

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 49

8 Medizinethische Aspekte

Bei jeder genetischenDiagnostikmüssen die

grundlegenden, weithin akzeptierten und

vielfach festgeschriebenen ethischen Prinzi-

pien der Medizin beachtet werden. Dies gilt

auch fürdieUntersuchungvonphänotypisch

gesundenMenschen.Auchhier gilt, dassder

zu Untersuchende derMaßnahme nach Auf-

klärung freiwillig zustimmen muss und dass

medizinischeMaßnahmenderGesundheitdes

Betroffenendienenmüssen.Allerdingsgelten

beiderAnwendungdieserPrinzipienbeiprä-

diktivenUntersuchungenBesonderheiten,die

zuberücksichtigensind.

Wahrung der Selbstbestimmung

Bei jeder Nutzung von prädiktiver Medizin

mussgrundsätzlichdieSelbstbestimmungdes

zu Untersuchenden respektiert werden. Da-

raus folgen zahlreiche Konsequenzen. Jeder

Mensch besitzt ein Recht, seine genetische

Ausstattungzuermitteln,wieaucheinRecht,

aufentsprechendeUntersuchungenzuverzich-

ten.Mit demRespekt der Selbstbestimmung

istabernichtnureinnegatives Abwehrrecht,

sondern auch ein positives Recht auf Unter-

stützung verbunden, um eine angemessene

und fundierte Entscheidung treffen zu kön-

nen. Die Selbstbestimmung des zu Untersu-

chendenmussdurcheinedenStanddesmedi-

zinischenWissens angemessen reflektierende

undverständlicheBeratunggefördertwerden.

GuteBeratungmussnichtnurdasvorhandene

Wissen,sondernauchdieGrenzenobjektiven

Wissens deutlich machen. Ein Angebot zur

prädiktiven genetischen Untersuchung sollte

nur unterbreitet werden, wenn dies gewähr-

leistet ist. Der zu Untersuchende muss sein

freiwilliges und informiertes Einverständnis

geben.

Grundsätzlich sollte prädiktive genetische

Diagnostik nurmit entsprechender Beratung

erfolgen. Da bei prädiktiver genetischer Di-

agnostik Wissen ermittelt werden kann, das

schwerzuinterpretierenistundwichtigebio-

graphische Konsequenzen nach sich ziehen

kann, müssen die Beratenden angemessen

qualifiziert sein. Die Beratung sollte nicht-

direktiverfolgen,umdemzuUntersuchenden

eine jeweils individuell tragfähige Entschei-

dung zu ermöglichen. Das Unterstützungs-

angebot darf nichtmit derÜbermittlung der

Ergebnisseenden.AuchfürdieweiterenKon-

sequenzen aus einer prädiktiven genetischen

UntersuchungbedarfesdesinformiertenEin-

verständnisses.

Genetisches Wissen und Familienangehörige

Da anhand genetischer Informationen even-

tuell auch relevante Aussagen über Angehö-

rige gemacht werden können, ist die Selbst-

bestimmung mehrerer Personen betroffen.

DieungefragteKonfrontationmitgenetischen

BefundenkannfürVerwandtebedeuten,dass

ihr Recht auf Nichtwissen verletzt wird und

sieunwiderruflichihre„genetischeUnschuld“

verlieren.Diesgiltz.B.dann,wennsicheine

Person, deren Großvater von einer Hunting-

tonschen Krankheit betroffen war, prädiktiv

aufdieseKrankheituntersuchenlassenmöchte.

50 8 | Medizinethische Aspekte

Wenn sich die zwischen dem Großvater und

dem untersuchungswilligen Enkel stehende

gesunde Tochter des Großvaters keiner prä-

diktiven genetischen Untersuchung unter-

ziehen will, der Enkel sich aber als Träger

einer Mutation erweist, die zur Huntington-

schenKrankheit führt, dann ist seineMutter

mit Sicherheit auch Trägerin der Mutation.

DieUntersuchungdesEnkelsliefertindiesem

FallauchInformationenzurDispositionseiner

Mutter.Grundsätzlichistzwardasinformierte

Einverständnisvon jedemBetroffeneneinzu-

holen,bevorgenetischeInformationenaneine

Person herangetragen werden. Falls jedoch

diesesEinverständnis von einerPersonnicht

gegeben wird, für den zu Untersuchenden

abermöglicherweise einNutzen aus derUn-

tersuchungerwachsenkann,liegteinKonflikt

zwischen der Autonomie verschiedener Per-

sonenvor.IneinemsolchenFallhat letztlich

dieAutonomiederPerson,diedenArztkon-

sultiertundihreeigenegenetischeDisposition

kennenmöchte,Vorrang.98

Schweigepflicht

AusdemRespektvorderSelbstbestimmungdes

Untersuchten folgt, dass der Betroffene selbst

überdieVerwendungderErgebnisse entschei-

den kann. Auch hieraus können sich Konse-

quenzen für die Familienangehörigen ergeben.

SämtlicheErgebnisseunterliegenderärztlichen

Schweigepflicht, es sei denn der Untersuch-

te entbindet denArzt von der Schweigepflicht.

Darüber hinaus kann eine Durchbrechung der

Schweigepflicht zu Gunsten eines höherrangi-

genRechtsguteserlaubtodersogargebotensein,

wenn zumBeispiel nurdadurch einer anderen

PersondieMöglichkeitderPräventionoderder

Behandlung gegeben werden kann. In diesem

PunktkanneinKonfliktmit § 11desGendiag-

nostikgesetzes aufkommen (siehe Kapitel 9.8).

98 ChadwickRetal.(1998).

Nutzen und nicht schaden

ÄrztlicheMaßnahmenunterliegenderAnfor-

derung, dass sie die Gesundheit des Betrof-

fenen fördern,nicht schadenoder zumindest

ein akzeptables Nutzen-Schaden-Verhältnis

besitzen. Ob dies der Fall ist, lässt sich bei

prädiktivergenetischerDiagnostikjedochkei-

neswegsstetsauf trivialeWeisebeantworten.

Geht es doch umWissen, das auf Krankhei-

ten verweist, die sich eventuell erst in ferner

Zukunftmanifestieren.DasprädiktiveWissen

ist häufig probabilistisch, d. h. das Auftreten

einerKrankheitkannnuralsWahrscheinlich-

keitsangabevorhergesagtwerden.Esgibtaber

unter den Menschen ganz unterschiedliche

Einstellungen dazu, inwieweit sie die Unge-

wissheitihrerZukunftdurchUntersuchungen

verringernwollen.

AusprädiktivengenetischenUntersuchun-

genresultierenmöglicherweiseKonsequenzen,

derenwissenschaftlicheAbsicherunggeringist

undüberderenNutzenmanimVergleichzum

Aufwand geteilter Meinung sein kann. Nicht

jede präventive Maßnahme gegen eine mög-

liche zukünftige Krankheit wird von einem

Untersuchtenalsakzeptabelangesehen,insbe-

sonderewenn anhandunklarerGewissheiten

über einschneidende präventiveMaßnahmen

entschiedenwerdenmuss.EineUntersuchung

kannhilfreichsein,indemsieeinePrävention

oderbewusstebiographischeEntscheidungen

ermöglicht;siekannschaden,wennsieÄngste

weckt, das Selbstbild vonMenschen inuner-

wünschterWeiseverändertunddenWegbe-

reitetfürgenetischeDiskriminierung.Beider

Ermittlung des medizinischen Nutzens sind

deshalbauchdiePräferenzenundLebensein-

stellungendeszuUntersuchendenzuberück-

sichtigen,undzwarvoreinerTestung.Welche

Aussagen mit welchen Wahrscheinlichkeiten

lassen sich ermitteln, welche Möglichkeiten

einer Prävention und welche sonstigen Kon-

sequenzen ergeben sich – und wie bewertet

sie der zu Untersuchende? All das muss vor

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 51

einer Untersuchung besprochen werden, um

bei Durchführung derMaßnahmemit einem

NutzenfürdenBetroffenenrechnenzudürfen.

Unterschiedliche Ebenen der Verantwortung

ZuunterscheidensinddieVerantwortlichkei-

ten,diesichaufdenunterschiedlichenEbenen

desGesundheitssystemsergeben.DieVerant-

wortungfürdieImplementierungeinergeneti-

schenReihenuntersuchungunterscheidetsich

vonder einesArztes, der einen individuellen

Patienten vor einer prädiktiven genetischen

Untersuchung berät. Während sich der Arzt

im Einzelfall am Willen und am Wohl des

Patienten orientieren muss, haben die Ver-

antwortlichen für die Implementierung eines

Programms überdies möglichen gesellschaft-

lichenNutzenundSchadenbeiDurchführung

wieauchbeiUnterbleibeneinesScreeningszu

berücksichtigen.

Gerechtigkeitserwägungen

AlleMaßnahmenhabennachdemGleichheits-

grundsatz zu erfolgen. Ein gleicher Zugang

muss gewährleistet sein. Entscheidungen so-

wohlfüreineindividuelleprädiktiveUntersu-

chungwieauchfüreineReihenuntersuchung

solltenwissenschaftlichhinsichtlichihrerWirk-

samkeit und Wirtschaftlichkeit fundiert sein

und dürfen keine diskriminierenden Aspekte

enthalten.Esmussmitnachvollziehbarenund

ethischakzeptablenArgumentenuntermauert

werden,warumeineReihenuntersuchungauf

einebestimmteErkrankungdurchgeführtwer-

densoll.EinKrankheitsbezugunddieHoffnung

auf hilfreiche Intervention müssen gegeben

sein.Es obliegt denVerantwortlichen für die

Konzeption von Reihenuntersuchungen, auch

ungewollte Konsequenzen in Form vonmögli-

cherDiskriminierungvorabzuberücksichtigen.

52

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 53

9 Das deutsche Gendiagnostikgesetz

Am01.02.2010tratdasGesetzübergenetische

Untersuchungen beiMenschen (Gendiagnos-

tikgesetz-GenDG)99inKraft,um„diestaatli-

cheVerpflichtungzurAchtungundzumSchutz

derWürdedesMenschenunddesRechtsauf

informationelle Selbstbestimmung zu wah-

ren“(§1GenDG100).DasGendiagnostikgesetz

gliedert sich in acht Abschnitte, wobei das

HauptaugenmerkimFolgendenaufdemzwei-

tenAbschnitt(GenetischeUntersuchungenzu

medizinischenZwecken)liegensoll.

Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich

Das Gendiagnostikgesetz regelt genetische

UntersuchungenundimRahmengenetischer

Untersuchungen durchgeführte genetische

AnalysenbeimMenschen.

In den persönlichen Schutzbereich einbe-

zogensinddabeinurlebendeMenschensowie

lebende Embryonen und Feten während der

Schwangerschaft(§2Abs.1).GenetischeUn-

tersuchungenbeiVerstorbenensowiebeitoten

FetenundEmbryoneneinschließlichdesUm-

gangsmitentsprechendengenetischenProben

und genetischen Daten werden vom Gesetz

nicht erfasst.101 Ebenso sind die Problembe-

reiche der Präimplantationsdiagnostik (PID)

sowie der (präkonzeptionellen) Polkörper-

diagnostik vomRegelungsbereich ausgenom-

men; denn die PID findet nicht am Embryo

99 TaupitzJ,PölzelbauerC(2010).

100§§ohneBezeichnungsindimFolgendendiejenigendesGenDG.

101 BT-Drs.16/10532,S.19f.

während der Schwangerschaft statt und die

PolkörperdiagnostikwirdbereitsvorderEnt-

stehungeinesEmbryosdurchgeführt.102

Sachlich beschränkt sich der Geltungs-

bereich des Gendiagnostikgesetzes auf die

enumerativ und damit abschließend aufge-

zähltenBereichegenetischerUntersuchungen

zu medizinischen Zwecken, zur Klärung der

Abstammung sowie im Versicherungsbereich

und im Arbeitsleben. Ausdrücklich werden

(imHinblickaufdieursprünglichenGesetzes-

entwürfe und Diskussionen überraschend)103

genetische Untersuchungen und Analysen

undderUmgangmitgenetischenProbenund

Daten zu Forschungszwecken von den Rege-

lungendesGendiagnostikgesetzesnichterfasst

(§2Abs.2Nr.1).SoferngenetischeDatenzu

Forschungszwecken erhoben und verarbeitet

werden,sinddieforschendenStellennichtan

die strengen Aufklärungserfordernisse nach

den § 7 ff. gebunden. Ebenso ausgenommen

sindgemäߧ2Abs.2Nr.2Untersuchungen

auf Grund der Vorschriften des Strafverfah-

rensunddesInfektionsschutzgesetzes.

Die zahlreichen Legaldefinitionen in § 3

unterstreichendievomGesetzgeberangenom-

meneSonderstellunggenetischerInformation.

Das Gesetz erfasst als genetische Untersu-

chungen alle Untersuchungen, die der siche-

renFeststellungmenschlichergenetischerEi-

102 Vgl.auchBT-Drs.16/10532,S.20.

103 Deram03.11.2006vonderFraktionBÜNDNIS90/DIEGRÜNENvorgelegteEntwurf(BT-Drs.16/3233)enthieltnocheineneigenenAbschnittfür„GenetischeUntersuchungenzuZweckenwissenschaftlicherFor-schung“(§§26-33GenDG-E).Indemam13.10.2008vonderBundesregierungvorgelegtenEntwurf(BT-Drs.16/10532)desam31.07.2009verkündetenGendi-agnostikgesetzeswurdedieserAbschnittgestrichen.

54 9 | Das deutsche Gendiagnostikgesetz

genschaften mittels genetischer Analyse (§ 3

Nr.1a])odereinervorgeburtlichenRisikoauf-

klärungdienen(§3Nr.1b])104.Beinachgeburt-

lichenUntersuchungensindalleinverschiede-

ne labortechnische Untersuchungsmethoden

vomSchutzbereichumfasst (vgl. §3Nr.2 a]

bis c], nämlich zytogenetischeAnalysen,mo-

lekulargenetische Analysen und Genproduk-

tanalysen), während bei der vorgeburtlichen

Risikoabklärung auch (etwa mittels bildge-

bender Verfahren durchgeführte) Phänotyp-

untersuchungendemAnwendungsbereichun-

terstelltsind.105Hervorzuhebenist,dassnach

§3Nr.2c)auchdieAnalysederGenprodukte

vonDNAundRNA, also beispielsweise auch

die Tandem-Massenspektrometrie, vomGen-

diagnostikgesetz erfasst ist, sofern durch die

GenproduktanalyseunmittelbareineFeststel-

lungdergenetischenEigenschaftenermöglicht

ist.106VordemHintergrunddes vomGesetz-

geberbetontengenetischenExzeptionalismus

ist auch das in § 4 Abs. 1 GenDG statuierte

Diskriminierungsverbot zu lesen,welches für

den Arbeitsbereich nochmals in § 21 GenDG

konkretisiert wird.107 Im Unterschied zu den

Regelungen des allgemeinen Gleichbehand-

lungsgesetzes ist jegliche Form der Benach-

teiligungaufGrundgenetischerMerkmaleals

ungerechtfertigtanzusehen,sodassauchsach-

licheGründeeineEinschränkungnichtrecht-

fertigenkönnen.108

Genetische Untersuchungen zu medizinischen Zwecken (§§ 7 - 14)

Das Gesetz definiert als genetische Untersu-

chung zumedizinischen Zwecken sowohl die

104 BT-Drs.16/10532,S.17.

105 BT-Drs.16/10532,S.17.

106 BT-Drs.16/10532,S.21.

107 Vgl.nurBT-Drs.16/10532,S.16:„DasGesetzgehtvonderBesonderheitgenetischerDatenaus.“

108 kritischhierzu:KiehntopfM,PagelC(2008);TaupitzJ(2007).

diagnostische als auch die prädiktive Unter-

suchung(§3Nr.6).EinrichtungenundPerso-

nen,diegenetischeAnalysenzumedizinischen

Zwecken im Rahmen genetischer Untersu-

chungenvornehmen,müssenzwarbestimmte

Qualitätsstandards und Qualitätssicherungs-

maßnahmeneinhalten,sindaber–andersals

Einrichtungen, die genetische Analysen zur

Klärung der Abstammung vornehmen – von

einer allgemeinen Akkreditierungspflicht be-

freit(§5Abs.2i.V.m.Abs.1S.2Nr.1bis4)109.

KernelementdesGesetzesimHinblickauf

genetischeUntersuchungenzumedizinischen

Zwecken istdiedetaillierteRegelungderAn-

forderungenaneineAufklärungderbetroffe-

nenPersonsowieandiegenetischeBeratung.

Fürvorgeburtlichesowieprädiktivegenetische

UntersuchungenlegtdasGendiagnostikgesetz

besondereVoraussetzungenfest.

DasGendiagnostikgesetz sieht in§7einen

umfassendenArztvorbehaltvor,derfürallege-

netischen Untersuchungen zu medizinischen

Zweckengilt.FürprädiktivegenetischeUnter-

suchungenbedarfderverantwortlicheArztzu-

sätzlicheinerbesonderenQualifikation.Neben

FachärztenfürHumangenetikdürfennach§7

Abs. 1 allein Ärzte, zu deren Ausbildungsin-

haltennachder jeweils für sie geltendenWei-

terbildungsordnung Kenntnisse über erbliche

Krankheiten gehören, prädiktive genetische

UntersuchungeninihremjeweiligenFachgebiet

vornehmen.110 Neben Humangenetikern sind

damitauchz.B.Pädiater,Gynäkologen,Inter-

nistenundNeurologenvondemGesetzbetrof-

fen.Nach§7Abs.2kanndiegenetischeAnalyse

alleinvonderverantwortlichenärztlichenPer-

sonselbstoderdurchvonihrbeauftragtePerso-

nenoderEinrichtungenvorgenommenwerden.

109 DerGesetzentwurfderBundesregierungsaheinesolcheAkkreditierungspflichtnochfüralleEinrich-tungen,diegenetischeUntersuchungenvornehmen,vor(vgl.§5GenDG-E,BT-Drs.16/10532,S.9).Zum01.01.2010hatdieBundesrepublikDeutschland,ver-tretendurchdasBMWi,inUmsetzungderEU-Verord-nungNr.765/20082010einenationaleAkkreditie-rungsstelle,dieDeutscheAkkreditierungsstelleGmbH(DAkkS),eingerichtet(www.dakks.de).

110 BT-Drs.16/10532,S.25.

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 55

Im Folgenden regelt das Gendiagnostik-

gesetz detailliert die Voraussetzungen an die

informierteEinwilligungderbetroffenenPer-

son (§§ 8, 9). Gemäß § 9 ist allein der Arzt,

der die genetische Untersuchung veranlasst

(undnichtderjenige,derdiegenetischeAna-

lyse im Auftrag durchführt) verpflichtet, den

Patienten aufzuklären und eine schriftliche

Einverständniserklärung zur Untersuchung

undProbengewinnungeinzuholen.Gemäߧ8

Abs. 1 S. 2 umfasst die Einwilligung sowohl

dieEntscheidungüberdenUmfangdergene-

tischen Untersuchung als auch die Entschei-

dung, ob und inwieweit das Untersuchungs-

ergebnisbekanntzugebenoderzuvernichten

ist.Hervorzuhebenist,dassalsonurdieWahl

zwischen der Kenntnisnahme der Ergebnisse

oderderVernichtungderErgebnisse(bzw.von

bestimmtenTeilen)besteht.Esistalsofürden

Betroffenen nicht möglich, die Befunde erst

zurKenntniszunehmenunddannvernichten

zulassenmitderFolge,dasssienichtBestand-

teil der Behandlungsunterlagen wären.111 Die

einmal erteilte Einwilligung kann jederzeit

schriftlichodermündlichmitWirkungfürdie

Zukunftwiderrufenwerden,wobeieinmündli-

cherWiderrufunverzüglichzudokumentieren

ist(§8Abs.2).FallsdiegenetischeAnalysean

einLabordelegiertwurde, ist diesem sowohl

dieEinwilligungalsaucheinetwaigerWider-

rufdurchdieverantwortlicheärztlichePerson

nachzuweisen(§8Abs.1S.3,Abs.2S.3).

VoraussetzungfüreinewirksameEinwilli-

gungderbetroffenenPerson ist einedende-

taillierten Anforderungen des § 9 genügende

Aufklärung durch den verantwortlichenArzt.

Die Aufklärung, die nach § 9 Abs. 3 schrift-

lich zu dokumentieren ist, umfasst nach § 9

Abs.2Nr.1bis6insbesondereeineInforma-

tion über Zweck, Art, Umfang, Aussagekraft

undKonsequenzenderUntersuchung–auch

bezüglich möglicher gesundheitlicher Risi-

ken durch die Befundmitteilung. Gleichzeitig

111 BT-Drs.16/10532,S.26.

muss eine Information über die Probenauf-

bewahrung und die Verwendung der Proben

und der Untersuchungsergebnisse, über die

Widerrufsmöglichkeit sowie über das Recht

aufNichtwisseneinschließlichdesRechts,das

Untersuchungsergebnis vernichten zu lassen,

erfolgen.DarüberhinausverlangtderGesetz-

geber ausweislich der Gesetzesbegründung,

dassinbestimmtenSituationenauchüberdie

Möglichkeit eines unerwartbaren Untersu-

chungsergebnisseszuinformierenist,nämlich

dann, wenn „es nach dem allgemein aner-

kanntenStandderWissenschaftundTechnik

möglich ist, dass bei dermit der vorgesehen

genetischen Untersuchung abzuklärenden

genetischen Eigenschaften bestimmte uner-

wartete genetische Eigenschaften festgestellt

werden, die nicht vom Untersuchungszweck

umfasst sind“.112 Nach erfolgter Aufklärung

istderbetroffenenPersoneine„angemessene

Bedenkzeit“einzuräumen(§9Abs.1S.2).Die

Angemessenheit der Bedenkzeit hängt „von

derArtundBedeutungderunterUmständen

zuerwartendenDiagnoseunddenAuswirkun-

genaufdievonderUntersuchungbetroffenen

PersonundderenFamilieab“.113DasGendiag-

nostikgesetzenthältzwarkeineausdrückliche

RegelungüberdieMöglichkeiteinesVerzichts

aufdieWartezeitoderdieEinwilligungselbst.

Der Gesetzgeber hält aber die Möglichkeit

eines Verzichts auf die Aufklärung oder auf

Teiledavonentsprechend„demallgemeinan-

erkanntenRechtaufAufklärungsverzicht“für

möglich.114

§ 10 regelt die Anforderungen an die ge-

netischeBeratung,dieabdem01.02.2012nur

noch von für genetische Beratungen qualifi-

ziertenÄrztenvorgenommenwerdendarf(§§

7Abs.3,§27Abs.4)unddiegemäߧ10Abs.4

wiederumschriftlichzudokumentierenist.Die

genetischeBeratungmussnichtzwingendvon

112 BT-Drs.16/10532,S.27.

113 BT-Drs.16/10532,S.27.

114 BT-Drs.16/10532,S.27.Kritischhierzu:GenengerA(2010).

56 9 | Das deutsche Gendiagnostikgesetz

derverantwortlichenärztlichenPerson selbst

durchgeführt werden, sondern kann auch

durch eine andere für eine genetische Bera-

tungqualifizierte ärztlichePerson erfolgen.115

DerInhaltdergenetischenBeratunggehtda-

beiüberdiefürdieimRahmenderAufklärung

mitgeteiltenInformationenüberdieUntersu-

chungsmethode undUntersuchungsergebnis-

seund ihremedizinischeundpsychischeBe-

deutung hinaus.116 Hervorgehoben wird vom

Gesetzgeberin§10Abs.3S.1zunächstneben

derAllgemeinverständlichkeitundWertneut-

ralitätderBeratungdasPostulat einernicht-

direktiven Beratung.117 Mit der betroffenen

Person sind ergebnisoffen insbesondere die

psychischen und sozialen Folgen im Zusam-

menhang mit einer (Nicht-)Vornahme der

genetischen Untersuchung und ihrer (mögli-

chen)ErgebnissesowiedieMöglichkeitender

Unterstützung zur Bewältigung der körperli-

chen wie seelischen Belastungen zu erörtern

(§10Abs.3S.2).UnterUmständen istauch

an die betroffene Person die Empfehlung zu

richten, genetischen Verwandten eine gene-

tische Untersuchung anzuraten (§ 10 Abs. 3

S.4).§10siehteineAbstufungderBeratungs-

pflichtenentsprechenddenunterschiedlichen

Beratungsanforderungen bei diagnostischen

undprädiktivengenetischenUntersuchungen

vor.Währendgemäߧ10Abs.1beieinerdi-

agnostischen genetischen Untersuchung im

Einzelfall(etwawennimHinblickaufdasDi-

agnoseergebnis keineweiteren Implikationen

beiderbetroffenenPerson zu erwarten sind)

aufeineBeratungnachVorliegendesUntersu-

chungsergebnisses verzichtetwerden kann118,

115 BT-Drs.16/10532,S.26.DerUmfangundInhaltdernotwendigenQualifikationderdiegenetischeBeratungdurchführendenärztlichenPersonistgemäߧ23Abs.2Nr.2a)vonderbeimRobert-Koch-InstitutangesiedeltenGendiagnostik-Kommissionnäherzubestimmen.

116 BT-Drs.16/10532,S.28.

117 BT-Drs.16/10532,S.28.

118 BeieinerdiagnostischenUntersuchungaufeinegene-tischeEigenschaft,diedasBestehenoderNichtbeste-heneinernichtbehandelbarenKrankheitabklärensoll,isteinegenetischeBeratungindeszwingend.

ist bei prädiktiven genetischen Untersuchun-

gen(undvorgeburtlichenUntersuchungen,§15

Abs.3)dasAngeboteinergenetischenBeratung

sowohl vor der Durchführung der jeweiligen

UntersuchungalsauchnachVorliegendesUn-

tersuchungsergebnissesgemäߧ10Abs.2obli-

gatorisch.Nach§10Abs.2stehtdemBetroffe-

nen(ebensowiebeiderAufklärung)allerdings

dieMöglichkeiteinesschriftlichenVerzichtsauf

diegenetischeBeratungoffen.

Wichtige Regelungen zur Mitteilung der

Ergebnisse sowie zur Aufbewahrung und Ver-

nichtungderErgebnisseundProbenenthalten

die§ 11bis 13.DieErgebnissedergenetischen

Untersuchung dürfen nach § 11 allein durch

den verantwortlichen Arzt nach ausdrückli-

cher, schriftlicher Einwilligung der betroffenen

Personmitgeteiltwerden.Dies gilt auch dann,

wenndiegenetischeAnalyseaneinebeauftragte

PersonoderEinrichtungdelegiertwurde.119 Im

Falle einesWiderrufs oder einer Aufforderung

zurVernichtungderErgebnissehateineMittei-

lungderErgebnissezuunterbleiben,§11Abs.4.

In Anlehnung an das ärztliche Berufsrecht

(vgl.§10Abs.3MBO-Ä)bestimmt§12Abs.1

S. 1 eine zehnjährigeAufbewahrungspflicht für

die Ergebnisse genetischer Untersuchungen

undAnalysenindendiejeweiligePersonbetref-

fenden Behandlungsunterlagen. Nach Ablauf

dieser Frist und dann,wenn sich derEinzelne

anstelle einer Kenntnisnahme für die Vernich-

tungentschiedenodereineursprünglicherteilte

Einwilligungrechtzeitigwiderrufenhat,sinddie

ErgebnissevondemverantwortlichenArztbzw.

derbeauftragtenStelleunverzüglichzulöschen

(§12Abs.1S.2,4,Abs.2).Sofernschutzwürdige

Interessen des Patienten entgegenstehen oder

diesereineüberdiesenZeitraumhinausgehen-

deSpeicherungschriftlichverlangt,sinddieDa-

tenweiterhinaufzubewahrenundzusperren.120

119 Nach§11Abs.2darfdiebeauftragtePersonoderEinrichtungalleindenverantwortlichenArztüberdieErgebnisseunterrichten.

120 Nach§7Abs.2istdiebeauftragteStelle(nichtaberderPatient)überdieSperrungderDatenzuunterrich-ten.Kritischhierzu:GenengerA(2010).

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 57

InwelchenFälleneinesolcheSperrungimPa-

tienteninteresseangezeigtist,wirdinderGe-

setzesbegründungnichtkonkretisiert.121

Eine gesetzliche Aufbewahrungspflicht

hinsichtlichdergenetischenProbeenthältdas

Gendiagnostikgesetz nicht. Nach § 13 Abs. 1

istdiesevielmehrgrundsätzlich,sofernsiein-

nerhalbihresVerwendungszwecksnichtmehr

benötigt oder die betroffene Person ihre ur-

sprünglicheEinwilligungwiderrufen hat, un-

verzüglichzuvernichten.EineVerwendungzu

anderen als den ursprünglich beabsichtigten

Zweckenistnach§13Abs.2nurdannmöglich,

soweit dies nach anderen gesetzlichen Vor-

schriften (etwa zur Verfolgung einer Straftat

oderOrdnungswidrigkeitnach§§25und26)

zulässigistoderdiebetroffenePersonüberdie

weitere Verwendung ausdrücklich aufgeklärt

wurdeunddieserschriftlichzugestimmthat.122

EinegenetischeUntersuchungeinerPerson,

derdieEinsichts-undEinwilligungsfähigkeitin

die konkret beabsichtigte genetischeUntersu-

chung fehlt, istnach§14Abs.1grundsätzlich

nurdannzulässig,wenndiegenetischeUnter-

suchung der betroffenenPerson einen unmit-

telbarenNutzenbringtunddieUntersuchung

mitmöglichstwenigRisikenundBelastungen

verbundenist.NebendemgesetzlichenVertre-

teristauchdienichteinwilligungsfähigePerson

„soweit wiemöglich“ aufzuklären. Die betrof-

fene Person hat das Recht, die Untersuchung

oder die Gewinnung der dafür erforderlichen

genetischenProbeabzulehnen,wobeiihrnatür-

licherWillemaßgeblichist.123VomErfordernis

eines unmittelbarenNutzensmacht § 14Abs.

2dann eineAusnahme,wenn eine genetische

Erkrankung oder gesundheitliche Störung in

derFamilienurdurchdiegenetischeMitunter-

suchungdernichteinwilligungsfähigenPerson

diagnostiziertwerdenkann.

121 BT-Drs.16/10532,S.29.

122 BT-Drs.16/10532,S.30.

123 BT-Drs.16/10532,S.30.

Vorgeburtliche Untersuchungen und genetische Reihenuntersuchungen (§§ 15 - 16)

Für vorgeburtliche Risikoabklärungen gilt zu-

nächstdieBesonderheit,dassnichtalleinChro-

mosomenanalysen oder molekulargenetischen

Analysen, sondern auch nichtinvasive Such-

tests,wiedieMessungderNackenfaltentrans-

parenzmittelsUltraschalloderderTriple-Test

sowiedievorgeburtlichephänotypischeMerk-

malsfindung eines genetisch (mit-)bedingten

SyndromsdemAnwendungsbereichunterstellt

ist(§2Abs.1,§3Nr.1b,Nr.3,Nr.4).124Nach

§15Abs.1,Abs.3mussnichtnureinedenoben

aufgezeigten Kriterien genügende Aufklärung,

sondernaucheinegenetischeBeratungvorund

nach der Untersuchung durch entsprechend

qualifiziertes Personal erfolgen.125 Ergänzend

muss der verantwortliche Arzt auf den An-

spruch der Schwangeren auf eine vertiefende

psychosoziale Beratung nach § 2 Schwanger-

schaftskonfliktgesetz hinweisen.126 Nach § 15

Abs.1S.1istdievorgeburtlicheUntersuchung

aufmedizinischeZweckebeschränkt.Inletzter

Minuteeingefügtwurde§15Abs.2,wonachdie

vorgeburtliche Diagnose sich spät manifestie-

render Erkrankungen, die erst im Erwachse-

nenalterauftreten,verbotenist.127

Genetische Reihenuntersuchungen im

Sinne des § 3Nr. 9 sind nach § 16Abs. 1 al-

lein zulässig, wenn der Ausbruch dermit der

Untersuchung zu diagnostizierenden Erkran-

kung bei den untersuchtenPersonen, falls sie

die betreffenden genetischen Eigenschaften

haben, vermeidbar oder die Erkrankung zu-

124 KronesTetal.(2009);BT-Drs.16/10532,S.17.

125 Zweifelnd,obderdadurchentstehendeBedarfangenetischerBeratunginnerhalbderzweijährigenÜbergangszeitdurchausreichendeKapazitätengedecktwerdenkann:KronesTetal.(2009);Richter-KuhlmannE(2010).

126 ZumöglichenImplikationenimHinblickaufdieunterschiedlichenZielederBeratungnachGenDGundSchKG:s.KronesTetal.(2009).

127 Kritischhierzu:s.KronesTetal.(2009).

58 9 | Das deutsche Gendiagnostikgesetz

mindest behandelbar ist.128 Ausgeschlossen

sind damit Heterozygotenscreenings, also ge-

netischeUntersuchungenimHinblickaufeine

AnlageträgerschaftfürrezessiveErkrankungen

(z.B.Beta-Thalassämie,ZystischeFibrose),die

allein als genetischeUntersuchung zumedizi-

nischenZwecken,nichtaberimRahmeneines

Screeningprogramms zulässig sind.129 Nach

§ 16Abs. 2 bedürfen genetischeReihenunter-

suchungen,dienachInkrafttretendesGesetzes

eingeführt werden, darüber hinaus einer Be-

wertung durch die beimRobert Koch-Institut

angesiedelte Gendiagnostik-Kommission, de-

ren Votum allerdings rechtlich nicht bindend

ist,sondernnurempfehlendenCharakterhat.130

Genetische Untersuchungen im Arbeits- und Versicherungsbereich (§§ 18 - 22)

Die§§18-22beschränkendieRechtevonVer-

sicherungsunternehmen und Arbeitgebern,

die Ergebnisse genetischer Untersuchungen

im Zusammenhang mit dem Abschluss des

Versicherungsvertrags bzw. im Rahmen des

Arbeitsverhältnisseszuermittelnoderzuver-

wenden.§18Abs.1enthältdasausdrückliche

Verbot an Versicherungsunternehmen, die

Vornahme genetischer Untersuchungen oder

Analysen vor oder nach Abschluss des Ver-

sicherungsvertrags zu verlangen (§ 18 Abs. 1

Nr.1)oderdieErgebnisseausbereitsdurchge-

führten genetischen Untersuchungen zu ver-

langen oder entgegenzunehmen (§ 18 Abs. 1

Nr.2).Ausnahmensindnach§18Abs.1S.2

in verschiedenen Versicherungszweigen vor-

gesehen, sofern die Leistung 300.000 Euro

übersteigtodermehrals30.000EuroJahres-

rentevereinbartwurden.Nach§18Abs.2sind

allerdingsVorerkrankungen,auchwenndiese

mittels eines diagnostischen Gentests festge-

128 BT-Drs.16/10532,S.33.

129 BT-Drs.16/10532,S.33.

130 BT-Drs.16/10532,S.33.

stellt wurden, entsprechend der allgemeinen

Auskunftspflichtanzeigepflichtig.

Entsprechend den Regelungen im Versi-

cherungsbereich gilt auch im Arbeitsbereich

ein umfassendes Erhebungs- und Verwer-

tungsverbot genetischer Informationen (§§

19,20).Nach§20Abs.2sindalleindiagnosti-

schegenetischeUntersuchungenaufGenpro-

duktebene im Rahmen arbeitsmedizinischer

Vorsorgeuntersuchungen unter bestimmten

Voraussetzungen, allerdings nur nachrangig

gegenüber anderenMaßnahmen desArbeits-

schutzes, zulässig. Diagnostische genetische

Untersuchungen durch zytogenetische und

molekulargenetische Analysen können bei

gesundheitsgefährdenden Tätigkeiten un-

ter engenVoraussetzungennach § 20Abs. 3

durch Rechtsverordnung der Bundesregie-

rungzugelassenwerden.Nach§22geltendie

arbeitsrechtlichen Vorschriften entsprechend

für öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse

desBundes.

Richtlinienkompetenz der Gendiagnostik-Kommission (§ 23)

In § 23 wird der beim Robert Koch-Institut

angesiedeltenGendiagnostik-Kommissiondie

Aufgabe übertragen, in Bezug auf den allge-

meinenStandderWissenschaftundTechnik,

der in zahlreichen Vorschriften des Gendia-

gnostikgesetzes für maßgeblich erklärt wird,

Richtlinienzuerstellen.DamitwirddieInter-

pretation der gesetzlichen Bestimmung zum

Großteil an ein unabhängiges Gremium aus-

gegliedert. Die Gendiagnostik-Kommission

hat Richtlinien unter Anderem in Bezug auf

die grundlegende Beurteilung der Bedeutung

genetischer Eigenschaften für Erkrankungen

odergesundheitlicheStörungensowie fürdie

WirkungeinesArzneimittels(Nr.1a]undb]),

fürdieQualifikationzurDurchführungderge-

netischenBeratungsowieaufdemGebietder

Abstammungsbegutachtungen (Nr. 2 a] und

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 59

b]),bezüglichderInhaltederAufklärungund

dergenetischenBeratung(Nr.3),bezüglichder

verschieden Analysemethoden einschließlich

der Maßnahmen zur Qualitätssicherung (Nr.

4)sowiezudenAnforderungenandieDurch-

führungvonvorgeburtlichenUntersuchungen

undReihenuntersuchungen (Nr. 5 und 6) zu

beschließenundzuveröffentlichen.Diein§23

Abs.2Nr.1bis6aufgeführten Bereichesind

nach der Gesetzesbegründung allerdings als

nichtabschließendanzusehen.131

Rechtsfolgen (§§ 25, 26 GenDG)

Außerhalb des arbeitsrechtlichen Benach-

teiligungsgebot,welchesin§21Abs.2GenDG

unter Anderem der betroffenen Person die

Schadensersatz- und Entschädigungsansprü-

cheaus§15Abs.1,Abs.2AGG(Allgemeines

Gleichbehandlungsgesetz)zusichert,normiert

das Gendiagnostikgesetz in den §§ 25, 26

zahlreicheStraf-undBußgeldvorschriftenbei

Verstößen gegen bestimmte Vorschriften des

Gesetzes.In§25sindfürdiedortgenannten

VerstößeFreiheitsstrafenvonbiszuzweiJah-

ren vorgesehen; die maximale Geldbuße be-

trägtnach§26Abs.2300.000Euro.DesWei-

terenkönnenVerstößegegendieVorschriften

desGendiagnostikgesetzdieRechtsfolgenauf

GrundallgemeinerBestimmungen(z.B.§134

BGB,NichtigkeitwegeneinesVerstoßesgegen

einVerbotsgesetz)nachsichziehen.132

Regelwerke berufsständischer Organisationen

Das vom parlamentarischen Gesetzgeber ge-

schaffeneRechtwirdinvielfältigerFormdurch

Regelwerke ergänzt, die mit unterschiedli-

cher Verbindlichkeit von berufsständischen

131 BT-Drs.16/10532,S.39.

132 GenengerA(2010).

Organisationen geschaffen werden. Zur prä-

diktiven genetischenDiagnostik hat derVor-

stand der Bundesärztekammer verschiedene

Richtlinien verabschiedet, die den Anspruch

erheben,aufdembetreffendenGebietdieStan-

desauffassungderÄrzteschaftwiederzugeben.

Verwiesenseiaufdie„RichtlinienzurDiagnos-

tik der genetischen Disposition für Krebser-

krankungen“vomMai1998133,die„Richtlini-

enzurpränatalenDiagnostikvonKrankheiten

undKrankheitsdispositionen“vomDezember

1998134sowiedie„Richtlinienzurprädiktiven

genetischenDiagnostik“vomFebruar2003135.

IndiesenRichtlinienwerdenHandlungsanlei-

tungen für die humangenetische Diagnostik

unddiedazugehörendeBeratungfestgeschrie-

ben.SoweitdieRichtlinienvonÄrztekammern

inihreigenes(Satzungs-)Rechtüberführtwor-

densind,sindsiefürdiederjeweiligenÄrzte-

kammer angehörenden Ärzte berufsrechtlich

verbindlich.

HinzutretenzahlreicheLeitlinienwissen-

schaftlicher Fachgesellschaften, insbesonde-

re jener, die in der Arbeitsgemeinschaft der

WissenschaftlichenMedizinischenFachgesell-

schaften e.V. zusammengeschlossen sind.136

Sie erheben den Anspruch, den jeweiligen

Stand des medizinischen Wissens zum Aus-

druckzubringen.

Novellierungsbedarf des Gendiagnostikgesetz

Das Gendiagnostikgesetz verfolgt Ziele, die

einen breiten Konsens in unserer Gesell-

schaftfindenundeinergesetzlichenRegelung

133 Bundesärztekammer,RichtlinienzurDiagnostikdergenetischenDispositionfürKrebserkrankungen(1998).

134 Bundesärztekammer,RichtlinienzurpränatalenDia-gnostikvonKrankheitenundKrankheitsdispositionen(1998).

135 Bundesärztekammer,Richtlinienzurprädiktivengene-tischenDiagnostik(2003).

136 LeitlinienzurHumangenetiksindabrufbarunterhttp://www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/ll_078.htm.

60 9 | Das deutsche Gendiagnostikgesetz

bedürfen.HierzuzählenderSchutzderWürde

desMenschen,dasRecht auf informationelle

Selbstbestimmung,dasRechtaufNichtwissen

im Zusammenhangmit genetischerDiagnos-

tik, das Diskriminierungsverbot bei Gentests

undderArztvorbehaltfürgenetischeUntersu-

chungen

AllerdingsergebensichbeiderUmsetzung

desGendiagnostikgesetzes zahlreiche Proble-

me undWidersprüchlichkeiten, die auch die

prädiktive genetische Diagnostik betreffen.

WesentlicheTeiledesGesetzessinddringend

novellierungsbedürftig(§§8,9,11,12,14,15).

§ 9: Umgang mit genetischer Überschussin-formationImGendiagnostikgesetzistnichtgeregelt,wie

umfangreich eine zu untersuchende Person

aufgeklärt werden muss, wenn das Genom

systematisch untersucht werden soll, z. B.

durch die jetzt schon mögliche vollständige

Exomsequenzierung (siehe Kapitel 5). In der

Begründung zu § 9 Abs. 2 Nr. 1 ist lediglich

der Umgang mit genetischer Überschussin-

formation angesprochen, die als Nebenbe-

fund generiert wird. Insoweit wird verlangt,

dassdieuntersuchtePersondarübervollstän-

dig aufgeklärt wird und entscheidet, ob die

Überschussinformationvernichtetoderindie

Interpretation einbezogen werden soll. Das

Gendiagnostikgesetz regelt jedoch nicht, wie

verfahrenwerdensoll,wenndasGenomeines

Menschensystematischuntersuchtbzw.kom-

plettsequenziertwerdensoll.

§ 11 Abs. 3: Mitteilung der Ergebnisse gene-tischer Untersuchungen und Analysen WennbeieinemPatientenmiteinerbehandel-

baren genetischen Krankheit, die autosomal

dominantvererbtwird,z.B.erblichemBrust-/

Eierstockkrebs oder erblichem Darmkrebs,

die ursächliche Mutation nachgewiesen ist,

dannwirddemPatienteneinspeziellesFrüh-

erkennungsprogramm empfohlen. Gesunde

Verwandte des Patienten, z. B. Kinder und

Geschwister,habeneinhohesRisiko,dieglei-

che Mutation zu besitzen und infolgedessen

diebetreffendeKrebskrankheitzuentwickeln.

Dem Patienten wird aufgetragen, seine Ver-

wandten auf das besondere Risiko hinzuwei-

senundansiedieEmpfehlungzueinergene-

tischenBeratungweiterzugeben. ImRahmen

dergenetischenBeratungwerdenalleAspekte

einer prädiktiven genetischen Untersuchung

besprochen.

Die Ärzte, die den Patienten betreut und

genetisch beraten haben, haben keine Mög-

lichkeit zu überprüfen, ob der Patient die

InformationanseineVerwandtenweitergege-

benhat.Eskommtauchvor,dasseinPatient

die Information bewusst nicht innerhalb der

Familieweitergibt.Nach § 11Abs. 3 darf die

verantwortlicheärztlichePersondasErgebnis

einergenetischenUntersuchungoderAnalyse

anderennurmitausdrücklicherundschriftli-

cherEinwilligungderbetroffenenPersonmit-

teilen.DasGesetzstuftdieSchweigepflichtge-

genüberdemPatientenohneAusnahmehöher

einalsdieärztlicheFürsorgepflichtgegenüber

denVerwandten,dieeinhohesRisikofüreine

beifrühzeitigerDiagnoseeffektivbehandelba-

reKrankheithaben.

BeieinerbehandelbarenerblichenKrank-

heitsolltedieFürsorgepflichtdesArztesnicht

grundsätzlich nachrangig gegenüber der

Schweigepflicht rangieren.DerArzt sollte im

Einzelfall abwägen, welches Rechtsgut höher

einzustufenist.Dassolltejedenfallsdanngel-

ten,wenndieRisikopersonenunterdenVer-

wandtenebenfallsPatientendesbetreffenden

Arztes sind, so dass er ihnen gegenüber eine

rechtliche Garantenpflicht hat. Aber auch

in den Fällen, in denen die Mitglieder einer

Familie von verschiedenen Ärzten behandelt

werden, sollte der Arzt in konkreten Fällen

und bei klarem medizinischem Nutzen die

Möglichkeit haben, die Risikopersonen unter

denVerwandteneinesPatientenmiteinerbe-

handelbarenerblichenKrankheitinangemes-

sener Weise auf ihr Risiko hinzuweisen und

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 61

ihneneinegenetischeBeratungzuempfehlen,

z.B.durchZusendungeinesInformationsblat-

tes.§11Abs.3GenDGsollteindiesemSinne

modifiziertwerden.

§ 12 Abs. 1: Pflicht zur Zerstörung von Un-tersuchungsergebnissen In § 12 Abs. 1 Nr. 1 schreibt das Gesetz vor,

dass die verantwortliche ärztliche Person die

Ergebnisse genetischer Untersuchungen und

Analysen zehn Jahre aufzubewahren hat.

DanachhatdieverantwortlicheärztlichePer-

sondieseDatenzuvernichten.Diegenetischen

Datenkönnenbzw.müssenjedochaufbewahrt

werden,wennGrundzuderAnnahmebesteht,

dass durch eine Vernichtung schutzwürdige

InteressenderbetroffenenPersonbeeinträch-

tigtwürdenoderwenndiebetroffenePerson

schriftlich eine längere Aufbewahrung ver-

langt.UmgekehrtkanndiebetroffenePerson

zu jedem Zeitpunkt die Vernichtung ihrer

Untersuchungsergebnisse verlangen. In der

GesetzesbegründungsinddarüberhinausRe-

gelungenformuliert,wiemitderVernichtung

zu verfahren ist, wenn genetisch Verwandte

der betroffenen Person ebenfalls untersucht

worden sind, diese ihre eigenen Daten aber

nichtzurKenntnisnehmenwollen.

Die gesetzlichen Regelungen sind nicht

sachgerechtundimmedizinischenAlltagnicht

praktikabel. Vor Ablauf der 10-Jahres-Frist

kann nicht immer beurteilt werden, welche

BedeutungeinbestimmtergenetischerBefund

für die betroffene Person zu einem späteren

Zeitpunkt haben wird. Es ist möglich, dass

genetische Daten auf Grund des Erkenntnis-

fortschritts noch Jahre nach der Analyse an-

ders interpretiert werden können. Dies kann

für eine seinerzeit untersuchte Person ge-

sundheitliche Bedeutung haben. Anders als

bei medizinischen Analysen, bei denen der

momentane (Gesundheits)-Zustand erfasst

wird, werden bei der genetischen Diagnostik

unabänderlicheMerkmaleuntersucht.Diebe-

troffenePersonkannaußerdemzumZeitpunkt

derUntersuchungselbstnichteinschätzen,ob

sieeineüber10JahrehinausgehendeAufbe-

wahrung der Untersuchungsergebnisse ver-

langensoll.DieForderungdesGesetzes,dass

die verantwortliche ärztliche Person nach 10

Jahren die Vernichtung der Untersuchungs-

ergebnisse gegebenenfalls unterlassen soll,

läuft darauf hinaus, dass alle Daten vor der

VernichtungvomArztnocheinmal immedi-

zinischen Kontext bewertet werden müssen.

Diesistnichtpraktikabel.

Unabhängig von der Praktikabilität ist es

nicht sinnvoll, die Untersuchungsergebnis-

se nach zehn Jahren vernichten zu müssen.

GenetischeAnalyseergebnissesindoftauchfür

Familienangehörige relevant. Siewären, falls

einbereits verstorbenerPatientder Indexfall

einer Familie war, sogar unwiederbringlich

verloren.

Dazu kommt ein weiterer Gesichtspunkt.

Auch wenn der Arzt der Vorschrift der Ver-

nichtungnachkommt, isteinUntersuchungs-

ergebnis damit keineswegs zuverlässig

gelöscht worden. Wie andere medizinische

Befundeauch,sinddieErgebnissegenetischer

UntersuchungenmitZustimmungdesPatien-

teninderRegelinBefundberichte/Arztbriefe

ananderebehandelndeÄrzteeingegangen.Im

ArztbrieffindetsichinderRegeleineAussage

zur InterpretationdesErgebnisses.Dies liegt

im Interesse der Behandlung des Patienten,

etwawenndergenetischeBefundtherapeuti-

scheoderpräventiveKonsequenzenhat.

Esistwedermöglichnochwünschenswert,

dieinverschiedenenKrankenunterlagenabge-

legten Befunde nachträglich zu identifizieren

und zu vernichten. Insofern läuft die gesetz-

liche Vorschrift leer. Es liegt deshalb sowohl

imInteresseeineruntersuchtenPersonselbst

als auch der Familienangehörigen, dass die

Ergebnisse der genetischen Diagnostik wie

bisher ohne eine konkrete Frist aufbewahrt

werden dürfen. Nur so kann gewährleistet

werden,dassspätereForschungserkenntnisse

im InteressederuntersuchtenPerson fürdie

62 9 | Das deutsche Gendiagnostikgesetz

Interpretation der einmal erhobenen (unab-

änderlichen) DNA-Sequenz nutzbar sind. Es

istimÜbrigeneinewiederkehrendeErfahrung

derhumangenetischenPraxis,dassfrüherun-

tersuchtePersonenoderihreFamilienangehö-

rigenjenseitsvon10Jahrenihrenerhobenen

genetischen Befund erfragen, weil sich neue

Gesichtspunkteergebenhaben.137

Im Rahmen der genetischen Diagnostik

wird in Zukunft häufiger genetische Über-

schussinformation generiert werden – sei es

nebenbefundlich oder bewusst systematisch

erhoben – aus der sich potentiell prädiktive

Aussagen herleiten lassen. Es muss dann ge-

meinsam mit der zu untersuchenden Person

entschieden werden, ob diese Information a)

unmittelbargezieltgenutzt(primäreInforma-

tion), b) vernichtet oder c) vorerstungenutzt

gespeichertwerdensoll.

DenverschiedenenOptionenmussdieAuf-

klärung der betroffenen Person adäquat Rech-

nung tragen. Eine breite Aufklärung, wie sie

dieGesetzesbegründungzu§9fordert,wirdin

derPraxiswohl unmöglich sein.EineSpeiche-

rungdergenetischenInformationkannsinnvoll

sein,weil sie fürdieuntersuchtePerson inder

Zukunft gesundheitliche Bedeutung bekom-

men kann. Genetische Information unterliegt

der Verfügungsgewalt des Spenders. Um neue

Erkenntnisse der Genomforschung nutzen zu

können, sollte der Spender zu einem späteren

ZeitpunktdieMöglichkeit zu einer sekundären

Analyse der gespeicherten Sequenzinformation

haben,z.B.imHinblickaufdefinierteKrankhei-

tenbzw.Krankheitsdispositionen(sieheKapitel

5).DieArtderSpeicherunghatsowohl techni-

schealsauchrechtlicheAspekte.DenGesichts-

punktenderSpeicherungundderkommenden

genetischen Analysemöglichkeiten sollte das

GesetzRechnungtragen.

137 Inden„RichtlinienzurprädiktivengenetischenDiagnostik“derBundesärztekammer(DtschÄrztebl2003)wirdempfohlen,dieimRahmenderprädiktivengenetischenDiagnostikvorliegendeDokumentationgenerationsübergreifend,mindestensaber30Jahrezuverwahren.

§14: Systematische genetische Unter-suchung von nicht einwilligungsfähigen Personen In§14undseinerBegründung legtdasGen-

diagnostikgesetz fest, dass einediagnostische

oder prädiktive genetische Untersuchung bei

einer nicht einwilligungsfähigen Person nur

zulässig ist, wenn sie im Hinblick auf eine

Erkrankung oder gesundheitliche Störung

Präventionsmöglichkeiten oder therapeuti-

scheInterventionsmöglichkeiteneröffnet.

In Zukunft kann es im Rahmen einer ge-

netischen Diagnostik im gesundheitlichen

Interesse der nicht einwilligungsfähigen Per-

son erforderlich werden, eine systematische

genetischeUntersuchungdurchzuführen,etwa

eineExomsequenzierung,umeinebestehende

genetischeKrankheitexaktzudiagnostizieren.

DabeikanneineerheblicheMengegenetischer

Überschussinformation generiert werden.

Nachdem das diagnostische Ziel erreicht ist,

sollte die entstandene genetischeÜberschuss-

informationbei einemKindodereinemvorü-

bergehendnichteinwilligungsfähigenErwach-

senenjedochnichtinterpretiertwerdendürfen,

weil der untersuchten Person dieMöglichkeit

des Nichtwissens genommen wäre. Die gene-

tische Überschussinformation sollte jedoch in

gesperrterFormgespeichertwerden,umdiesen

Personenkreis gegenüber einer erwachsenen,

einwilligungsfähigen Person nicht zu benach-

teiligen. Sobald die Einwilligungsfähigkeit ge-

geben ist, im Fall eines untersuchten Kindes

nach Erreichen des 18. Lebensjahres, sollte

diebetroffenePersonaufeigenenWunschund

nach einer genetischen Beratung entscheiden

können,obdieInformationa)unmittelbarge-

zieltgenutzt(primäreInformation),b)vernich-

tetoderc)vorerstungenutztweiterhingespei-

chertwerdensoll.

WenneinePersonaufGrundeinerschwe-

ren und nicht-reversiblen Beeinträchtigung

ihrer intellektuellen Fähigkeiten dauerhaft

nicht einwilligungsfähig ist, sollte ihr gesetz-

licherVertreterentsprechendobdieInforma-

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 63

tion unmittelbar gezielt genutzt (primäre In-

formation),vernichtetodervorerstungenutzt

gespeichertwerdensoll.

§§ 14,16: NeugeborenenscreeningDas Gesetz rechnet das seit Jahrzehnten er-

folgreiche Neugeborenenscreening zu einer

genetischen Reihenuntersuchung (Begrün-

dungzu§16).DieshatzurFolge,dassvorder

Blutabnahme eine genetische Beratung der

Eltern zu erfolgen hat. Säuglingsschwestern

undHebammen,diebisherdieBlutabnahme

vorgenommenhaben,dürfendiesnichtmehr

in eigener Zuständigkeit tun. Es gibt bereits

Hinweise darauf, dass seit Inkrafttreten des

Gendiagnostikgesetzes, etwa bei Hausgebur-

ten oder bei Eltern, die nicht hinreichend

deutsch sprechen, das Neugeborenenscree-

ning unterbleibt, obwohl dies keineswegs

demWunschderElternentspricht.Dieswird

bei einer Reihe Betroffener zur Manifestati-

on lebenslanger Behinderungen führen, die

bei frühzeitiger Diagnose und entsprechen-

der Therapie hätten verhindert werden kön-

nen. Deshalb sollte das Gendiagnostikgesetz

dahin geändert werden, dass die Person, die

im Rahmen des Neugeborenenscreenings

die Blutprobe entnimmt, z. B. die Säuglings-

schwesteroderdieHebamme,dieElternüber

dasUntersuchungszielaufklärendarf.DieUn-

tersuchungsolltesodannvonderschriftlichen

EinverständniserklärungderElternabhängen.

Wenneinunauffälliger Befunderhobenwird,

erübrigt sich eine erneute Kontaktierung der

Eltern.WennderBefunddagegenauffälligist,

sollten die Eltern von dem verantwortlichen

Arztausführlichaufgeklärtundgenetischbe-

ratenwerden.

§ 15 Abs. 2: Vorgeburtliche genetische Untersuchungen auf spät manifeste Krank-heiten In§15Abs.2istgeregelt,dassaufeineErkran-

kung, die „nach dem allgemein anerkannten

Stand der medizinischen Wissenschaft und

TechnikerstnachVollendungdes18.Lebens-

jahres ausbricht“, vorgeburtlich nicht unter-

suchtwerdendarf.

DieFormulierungdesGesetzes ist unver-

ständlich.Es istnichtsinnvoll,denAusbruch

einerKrankheitmit „dem allgemeinen Stand

dermedizinischenWissenschaftundTechnik“

inZusammenhang zubringen.Spätmanifes-

te erbliche Krankheiten folgen meist einem

autosomaldominantenErbgang.Diemeisten

dieserKrankheitenzeigenbeiklinischerMani-

festationeinebreiteVerteilungdesAlters.Es

gibtklinischeManifestationen,z.B.vonHun-

tingtonscher Krankheit, Zystennieren oder

familiärer adenomatöser Polyposis, vor dem

18.Lebensjahr.Dabeilassensichoftdiskrete,

klinisch noch nicht relevante Symptome der

späterenKrankheitauchschonfrüherfeststel-

len.DerGesetzgeber nennt nicht dieKriteri-

en,diefürdieDefinitiondesAusbruchseiner

Krankheit erfüllt seinmüssen.DieFormulie-

rung von § 15 Abs. 2 erweckt den Eindruck,

derGesetzgeberwollteeinevorgeburtlichege-

netischeUntersuchungeiner spät manifesten

Krankheit nicht mehr untersagen, sobald

es mit feineren Analysemethoden gelungen

ist, dasAuftretenderKrankheit sehr früh zu

objektivieren.

Es isteineErfahrungausdergenetischen

Beratung,dasswegendeserhöhtenRisikosfür

eine spätmanifesteKrankheit vorgeburtliche

genetischeUntersuchungenvonSchwangeren

ohnehinnurseltengewünschtwerden.Esgibt

auchkeineHinweisedafür,dasssichdaranin

jüngerer Zeit etwas geändert hat.Wegen der

unscharfen Definition des Erkrankungsalters

einer spät manifesten erblichen Krankheit,

sollte § 15 Abs. 2 gestrichen werden. Außer-

demtangiertdasGendiagnostikgesetzandie-

serStelleauchdieRegelungder§§218ffStGB.

§ 18: Genetische Untersuchungen im Zusam-menhang mit dem Abschluss eines Versiche-rungsvertrages Es ist denkbar, dass die Antragsteller zum

64 9 | Das deutsche Gendiagnostikgesetz

ZeitpunktdesAbschlusseseinerVersicherung

inZukunftübereinzunehmendesprädiktives

Wissen verfügen, weil systematische geneti-

sche Untersuchungen häufiger durchgeführt

werden. Weil § 18 GenDG die Berücksichti-

gungvorliegenderErgebnisseoderDatenaus

genetischen Untersuchungen unterhalb be-

stimmterBeträgeuntersagt,könntenvermehrt

Antragsteller mit überdurchschnittlichem

Gesundheitsrisiko Versicherungsverträge ab-

schließen, etwa in der zusätzlichen privaten

Krankenversicherung, der Risikolebensversi-

cherung, der Berufsunfähigkeitsversicherung,

der Erwerbsunfähigkeitsversicherung oder

der Pflegerentenversicherung. Eine derartige

adverse Selektion kann die Funktionsfähig-

keit des betreffenden Versicherungsmarktes

substanziell einschränken. Gegenwärtig wird

zwarnochkeinHandlungsbedarfgesehen.Die

Entwicklungsolltejedochbeobachtetwerden.

§§ 8, 9: Analysen von Proben aus dem Ausland DasGesetz lässtandere, inderPraxiswichti-

ge Aspekte unerwähnt.Dies gilt z. B. für die

Frage, ob bzw. inwiefern der erforderlichen

Einwilligung eine Aufklärung nach Maßgabe

der§§8,9GenDGvorangegangenseinmuss,

wenn ein deutsches Labor eine genetische

Analyse an Proben durchführen soll, die im

AuslandgewonnenundvoneinemimAusland

praktizierenden Arzt an das Labor gesandt

wurden. AusdrücklicheRegelungen zu dieser

Frage finden sich im Gesetz nicht. Demnach

könntemandavonausgehen,dassdasGesetz

auchhierstriktanzuwendenist,wasdannal-

lerdingsdazuführenwürde,dassdasGenDG

de factoauch imAuslandAnwendungfinden

würde. Ob der Gesetzgeber eine solche Aus-

landserstreckung des deutschen GenDG bei

internationalenBezügengewollthat,istweder

ausdemGesetznochausderGesetzesbegrün-

dungzuentnehmen.

Reinpraktischbetrachtet,erweistsicheine

strikteAnwendungderVorgabendesGenDG

bei internationalen Bezügen als sehr proble-

matisch.SowirdeineumfassendeAufklärung

des Patienten nach den detaillierten Vorga-

ben des § 9 durch einen ausländischen Arzt

im Ausland gegenüber einem ausländischen

Patienten häufig kaum durchgeführt werden.

Umgekehrt kann nicht angenommen wer-

den, dass der deutscheGesetzgeber ein etwa

bestehendes höheres Aufklärungsniveau des

ausländischenRechtsaufdeutschesRechthe-

rabstufenwollte,wenndieProben im Inland

analysiertwerdensollen.

InsgesamtsollteimGesetzklargestelltwer-

den, dass eine Aufklärung und Einwilligung

„vor Ort“ gemäß dem ausländischen Recht

ausreicht.DiesentsprichtderAuffassung,wo-

nach Tatbestandsmerkmale des inländischen

RechtsdurchausimAuslandgemäßdemdort

geltendenRechtverwirklichtwerdenkönnen,

sofernfunktionaleÄquivalenzbesteht.Diege-

netischeAnalyse einer imAusland gewonne-

nenProbedurcheininländischesLaborsollte

somitzulässigsein,wenndereinsendendeArzt

bestätigt, dass die betroffene Person gemäß

den rechtlichen Vorgaben im Ursprungs-

land der Probe über Wesen, Tragweite und

Aussagekraft der genetischen Untersuchung

aufgeklärt wurde und die betroffene Person

daraufhin ihreEinwilligungerteilthat.Wenn

das inländische Labor Zweifel an der Zuord-

nung der Probe zu der betroffenen Person

oderbegründetenVerdacht aufungenügende

AufklärungodergarMissbrauchhat,dannist

dieUntersuchungeinereingesandtenProbezu

verweigern.

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Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 69

11 Abkürzungsverzeichnis

ADPKD autosomal dominant erbliche Zystennieren (von engl.: autosomal

dominant polycystic kidney disease)

ARPKD autosomal rezessiv erbliche Zystennieren (von engl.: autosomal

recessive polycystic kidney disease)

CNV Copy number variants

DNA Desoxyribonukleinsäure (engl.: desoxyribonucleic acid)

DTC Direct-to-Consumer

GenDG Gendiagnostikgesetz

GWAS Genomweite Assoziationsstudie

HTA Health Technology Assessment (Bewertung aller gesellschaftlich

relevanten Folgen einer medizinischen Technologie)

MMR (DNA-)Mismatch-Repair-Gen (d.h. ein DNA-Reparatur-Gen)

MSI Mikrosatelliteninstabilität

NPV Negativ prädiktiver Wert (von engl.: negative predictive value)

PPV Positiv prädiktiver Wert (von engl.: positive predictive value)

RNA Ribonukleinsäure (engl.: ribonucleic acid)

SNP single nucleotide polymorphism (s. Glossar)

70 12 | Glossar

12 Glossar

Allel eine von verschiedenen oder gleichen Kopien eines definierten DNA- Abschnitts, dabei kann es sich um ein Gen oder eine funktionell irrelevante Variante handeln. Wegen der Diploidie des menschlichen Chromosomensatzes liegen an jedem autosomalen Lokus zwei Allele vor.

Aminosäuren Klasse von chemischen Verbindungen, die Bausteine der Proteine (Eiweißkörper) sind

Assoziation in der Genetik statistische Verknüpfung einer genetischen Variante mit einem multifaktoriell kontrollierten Merkmal

Autosom eines der 22 Nicht-Geschlechts-Chromosomen Blastomere Einzelzelle eines frühen Embryonalstadiums Chromosom in den Zellkernen vorliegende und lichtmikroskopisch untersuchbare Träger

der Erbinformation, die aus DNA und Proteinen bestehen Diabetes mellitus Gruppe von multifaktoriell, autosomal dominant oder mitochondrial

bedingten Stoffwechselkrankheiten mit erhöhtem Blutzuckerspiegel Diploidie zweifacher Chromosomensatz (2 x 23 = 46 Chromosomen), normaler

genetischer Zustand der Körperzellen DNS, DNA Desoxyribonukleinsäure (DNS), engl.: desoxyribonucleic acid (DNA): Träger

der Erbinformation dominant phänotypische Ausprägung eines (mutierten) Allels; d. h. der Phänotyp ist

bei Heterozygotie erkennbar Epigenetik Wissenschaftsgebiet, das die Mechanismen der phänotypischen

Umsetzung von Zelleigenschaften, die nicht in der DNA-Sequenz festgelegt sind, auf die Tochterzellen untersucht. Infolge erworbener Veränderungen wird die genetische Aktivität von DNA-Abschnitten beeinflusst (epigenetische Veränderung)

Exom Gesamtheit der exprimierten Abschnitte der DNA in einer Zelle Expression Art oder Grad der Ausprägung eines GensGen Abschnitt der DNA, der ein funktionell wirksames Produkt kodiert oder sich

regulatorisch funktionell auswirkt genetischer Marker Polymorphismus, dessen genaue chromosomale Position bekannt ist und

dessen unterschiedliche Allele so häufig vorkommen, dass sie sich für Populationsuntersuchungen eignen

Genom Gesamtheit aller Erbanlagen eines Individuums Genotyp Kombination der beiden Allele an einem Genort Gonosom Geschlechts-Chromosomen X und Y Hämochromatose Eisenspeicherkrankheit Haploidie einfacher Chromosomensatz (23 Chromosomen), normaler genetischer

Zustand der Keimzellen Heritabilität genetischer Anteil in Prozent an der in einer Population beobachteten

Gesamtvariabilität eines kontinuierlich verteilten Merkmals, z. B. Körpergröße

Heterozygotie sogenannte Mischerbigkeit. Vorkommen zweier verschiedener Allele an einem Genort (z.B. Mutation/ Normalallel (Wildtyp)

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 71

Histone stark basische Proteine, die in den Chromosomen eng mit der DNA assoziiert sind

homologe Chromosomen die zu einem Chromosomenpaar gehörigen Chromosomen Homozygotie sogenannte Reinerbigkeit. Vorkommen zweier identischer Allele an

einem Genort (z.B. Mutation/Mutation oder Wildtyp/Wildtyp)Huntingtonsche Krankheit Chorea Huntington; autosomal dominante neurodegenerative

Krankheit, die sich meist zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr manifestiert

Hypercholesterinämie erhöhter Cholesterinspiegel im Blut, meist multifaktoriell bedingt, eine autosomal dominante Form führt zu starker Erhöhung der Cholesterinkonzentation

Hypertonie Bluthochdruck, meist multifaktoriell bedingt Indexpatient der Betroffene, durch den in einer Familie eine genetische Krankheit

identifiziert wirdKaryotyp formalisierte Beschreibung der Chromosomenkonstitution (Zahl und

Struktur) einer Zelle Kaskadenscreening systematische Untersuchung der Verwandten eines von einer

monogenen Krankheit betroffenen Patienten (Indexfall) auf die betreffende genetische Veränderung.

Kodon Aufeinanderfolge von drei Nukleotiden, die die Information für eine Aminosäure oder ein Translationssignal (Start/Stop) enthalten

Kohorte in der medizinisch-epidemiologischen Forschung Kollektiv von Personen, die in wiederkehrenden Abständen im Hinblick auf bestimmte Merkmale, z. B. Krankheiten untersucht werden

Mendelsche Regeln die nach ihrem Entdecker Gregor Mendel benannten Regeln beschreiben die Vererbung von Merkmalen, die jeweils durch Mutation in einem Gen verursacht sind

Methylierung Übertragung von Methylgruppen; in der Genetik meist bezogen auf die Methylierung des DNA-Bausteins Cytosin oder von einzelnen Aminosäuren von Histonen im Rahmen der epigenetischen Inaktivierung eines Gens

microRNA kurze nicht-kodierende RNAs, die eine wichtige Rolle im Netzwerk der Genregulation spielen

monogen durch Mutation eines einzelnen Gens determiniertes Merkmal Multifaktorielle Vererbung durch ein Zusammenwirken von genetischen Faktoren und

Umwelteinflüssen hervorgerufener PhänotypMuskeldystrophie Typ Duchenne X-chromosomal bedingte Muskelkrankheit Mutation Erbliche Veränderung der DNA in einer Zelle bzw. in allen Zellen

eines Individuums. Der Begriff kann für Sequenzveränderungen unabhängig von ihrer phänotypischen Auswirkung gebraucht werden. In der medizinischen Genetik wird er meistens für Sequenzänderungen mit phänotypischen Konsequenzen verwendet

Nephrektomie operative Entfernung einer Niere Nukleotid Grundbaustein der Nukleinsäuren DNA und RNA, in der Erbsubstanz

DNA bestehend aus einer Base (Adenin, Guanin, Cytosin oder Thymin), dem Zucker Desoxyribose und einem Phospat

Penetranz Anteil der Mutationsträger in Prozent, bei dem sich die Mutation phänotypisch auswirkt

Phänotyp Erkennbare Ausprägung eines Genotyps im Unterschied zur Ausprägung eines anderen Genotyps

Pharmakogenetik Wissenschaftsgebiet, das den Einfluss der genetischen Ausstattung auf die Wirkung von Arzneimitteln untersucht

Phenylketonurie autosomal rezessive Stoffwechselstörung, die unbehandelt im Kindesalter zu einer schweren Entwicklungsverzögerung führt

Polymorphismus Sequenzvariation. Position in der DNA-Sequenz, an der zwei oder mehr Allele existieren; meist für solche Varianten verwendet, die keine funktionelle Bedeutung haben

72 12 | Glossar

Präimplantationsdiagnostik genetische Untersuchung der Einzelzelle eines Embryo im 8-Zellstadium nach extrakorporaler Befruchtung auf eine monogene Krankheit oder eine Chromosomenstörung

präkonzeptionell Zeitpunkt vor der Befruchtung einer Eizelle durch eine Samenzelle Prävention Vorbeugende Maßnahmen zur Krankheitsvermeidung Vorbeugung vor

einem Krankheitsausbruch rezessiv phänotypische Ausprägung beider (mutierter) Allele eines autosomalen

Genortes, d. h. der Phänotyp ist nur bei Homozygotie erkennbar. Bei einem X-chromosomal kodierten Allel ist der Phänotyp nur im männlichen Geschlecht typisch ausgeprägt

RNS, RNA Ribonukleinsäure (RNS), engl.: ribonucleic acid (RNA): Moleküle verschiedener Art, die bei der Umsetzung der genetischen Information von DNA in Proteine von Bedeutung sind (mRNA = Boten-RNA) oder selber unterschiedliche Funktionen haben (z.B. microRNA)

Screening (engl. Durchsiebung) systematische Reihenuntersuchung aller Personen eines bestimmten Alters/Geschlechts auf eine Krankheit oder ein Erkrankungsrisiko

Sektorales Gesundheitssystem durch Organisation und Finanzierung getrennte Bereiche der Patientenversorgung, z. B. ambulante und stationäre Behandlung

Sequenzierung Darstellung der Basenfolge der DNA oder RNASNP Einzelnukleotidpolymorphismus (engl. single nucleotide polymorphism).

Variation eines einzelnen Basenpaars in einem DNA-Strang Spinale Muskelatrophie autosomal rezessive Krankheit, die zum Muskelabbau führt, aber auf einer

Störung von Nervenzellen des Rückenmarks beruht Suszeptibilitätsgen Erbanlage, die die Anfälligkeit für eine bestimmte Krankheit erhöht oder

erniedrigtTranskription Synthese von RNA anhand einer DNA-Vorlage, so dass die genetische

Information umgeschrieben wird Transkriptom Summe der in einer Zelle hergestellten RNA-Moleküle Translation Synthese der Proteine in den Zellen anhand der auf mRNA-Moleküle

kopierten genetischen Information Tumorsupressorgene Gene, die Proteine kodieren, welche die Signalübertragung in Zellen bzw.

den Zellzyklus negativ kontrollieren und damit z.B. einer überschießenden Zellteilung als einer Ursache der Tumorbildung vorbeugen

Zystische Fibrose (engl.: Cystic Fibrosis, CF), Mukoviszidose. Autosomal rezessiv bedingte Störung eines in der Zellmembran verankerten Chloridkanals, die u. a. zur Bildung eines zähflüssigen Schleims in Lunge, Bauchspeicheldrüse und Darm führt

Zytogenetik Teilgebiet der Genetik, das lichtmikroskopisch die Chromosomen und ihre Störungen untersucht

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 73

13 Anhang

Anhang zu Kapitel 4

Die empirisch gefundenen Zahlen sind im folgenden Beispiel aus Gründen der Verständlichkeit in Form von

10.000 untersuchten Personen dargestellt.

Tabelle 4.1: MSI-Analysen und Mutationsanalysen in MMR-Genen bei nicht selektierten Darmkrebspati-

enten

negativ (keine Mutation in MMR-Gen)

positiv(Mutation in MMR-Gen)

negativ (keine MSI)richtig negativkeine Mutation-keine MSI8499

falsch negativMutation-kein MSI1

positiv (MSI vorhanden)falsch positivkeine Mutation-MSI1330

richtig positivMutation-MSI170

Sensitivität: 170 / (170+1) x 100 = 99,4 %

Spezifität: 8499 / (8499+1330) x 100 = 86,5 %

Positiv prädiktiver Wert: 170 / (1330+170) x 100 = 11,3 %

Negativ prädiktiver Wert: 8499 / (8499+1) x 100 = 99,9 %

Tabelle 4.2: Häufigkeitsverteilung bei der MSI-Analyse bei Darmkrebspatienten, die die Bethesda-Krite-

rien* erfüllen

negativ (keine Mutation) positiv (Mutation vorhanden)

negativ (keine MSI)richtig negativ7500

falsch negativ10

positiv (MSI vorhanden)falsch positiv1200

richtig positiv1290

Sensitivität: 1290 / (1290+10) x 100 = 99,2 %

Spezifität: 7500 / (7500+1200) x 100 = 86,2 %

Positiv prädiktiver Wert: 1290 / (1200+1290) x 100 = 51,8 %

Negativ prädiktiver Wert: 7500 / (7500+10) x 100 = 99,9 %

Anmerkung:

* Rodriguez-Bigas MA et al. (1997).

74 13 | Anhang

Tabelle 4.3: Häufigkeitsverteilung bei der MSI-Analyse bei Darmkrebspatienten, die die Amsterdam-Kriterien* erfüllen

negativ (keine Mutation) positiv (Mutation vorhanden)

negativ (keine MSI)richtig negativ4250

falsch negativ50

positiv (MSI vorhanden)falsch positiv700

richtig positiv5000

Sensitivität: 5000 / (5000+50) x 100 = 99,0 %

Spezifität: 4250 / (4250+700) x 100 = 85,9 %

Positiv prädiktiver Wert: 5000 / (700+5000) x 100 = 87,7 %

Negativ prädiktiver Wert: 4250 / (4250+50) x 100 = 98,8 %

Anmerkung:

* Vasen et al. (1991).

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 75

Anhang zu Kapitel 6

Tabelle 6.1: Anhand Tandem-Massenspektrometrie untersuchte Krankheiten in den Programmen des Neugeborenen-

screening in 10 EU Mitgliedsländern (Daten aus 2006)

Mitgliedsländer Krankheiten

Belgien PKU, MSUD, TyrI, MCADD, LCHADD, VLCADD, CPT ID CPT IID/CACT, CTD, KTD, HMG-CoA LD, MMA, PA, IVA, GA I, 3-MCCD

Dänemark PKU, MSUD, Cit, ASLD, Arginase D, MCADD, LCHADD, VLCADD, CPT ID CPT IID/CACT, CTD, KTD, HMG-CoA LD, MMA, PA, IVA, GA I, 3-MCCD (Pilotstudie, nicht 100 % bevölkerungsdeckend)

Deutschland PKU, MSUD, MCADD, LCHADD,VLCADD, CPT ID, CPT IID/CACT, IVA, GA I

Griechenland (Eltern entscheiden für oder gegen Tests) MSUD, Tyrl, Cit, ASLD, Homocyst, MCADD, LCHADD, VLCADD, CPT ID, CPT IID/CACT, HMG-CoA LD, PA, IVA, GA I, 3-MCCD, Malonazidurie und einige andere

Großbritannien (außer Schottland) PKU, MCADD (wird momentan national eingeführt)

Niederlande MCADD (regionales Pilotprogramm)

Österreich PKU, MSUD, TyrI, Cit, ASLD, Homocyst, MCADD, LCHADD, VLCADD, CPT ID, CPT IID/CACT, CTD, KTD, HMG-CoA LD, MMA, PA, IVA, GA I, 3-MCCD

Polen PKU, MSUD, Cit, MCADD, LCHADD, VLCADD, CPT ID, CPT IID/CACT, CTD, IVA, GA I (Pilotstudie, 30 % der Bevölke-rung deckend)

Portugal PKU, MSUD, Tyrl, Cit, ASLD, Homocyst, MCADD, LCHADD, VLCADD, CPT ID, CPT IID/CACT, CTD, KTD, HMG-CoA LD, MMA, PA, IVA, GA I, 3-MCCD, Tyrosinä-mie Typ II, Hyperargininämie, Malonazidurie, MADD

Spanien PKU, MSUD, MCADD, LCHADD, VLCADD, CPT ID, CPT IID/CACT, IVA, GA I

Quelle: Javaher P et al. (2010).

Legende:

PKU = Phenylketonurie

MSUD = Ahornsirupkrankheit

TyrI = Tyrosinämie Typ I

Cit = Citrullinämie Typ I (II)

ASLD = Argininosuccinat Lyase Defekt

Homocyst = Homozystinurie (CBS-Defekt)

MADD = Multiple Acyl-CoA-Dehydrogenase Mangel

MCADD = Mittellangkettiger Acyl-CoA Dehydrogenase Mangel

LCHADD = Langkettige 3-Hydroxyacyl-CoA Dehydrogenase Mangel

VLCADD = Überlangkettige Acyl-CoA Dehydrogenase Mangel

CPT ID = Carnitin-Palmitoyl-Transferase I Defekt

CPT IID/CACT = Carnitin-Palmitoyl-Transferase II Defekt

CTD = Carnitin Transporter Defekt

KTD = ß-Ketothiolase Mangel

HMG-CoA LD = 3-Hydroxy-3-Methylglutaryl-CoA-Lyase-Mangel

MMA = Methylmalonazidurie

PA = Propionazidurie

IVA = Isovalerylazidurie

GA I = Glutarazidurie Typ I

3-MCCD = 3-Methylcrotonyl-CoA-Carboxylase Mangel

76 13 | Anhang

Tabelle 6.2: Neugeborenenscreening in Europa (2004)

Land Einwohnerin Millionen

Anzahl untersuchterKinder

Anteil untersuchterKinder in %*

Belgien 10,35 95.318 87

Dänemark 5,41 67.169 107

Deutschland 82,42 726.973 104

Estland 1,34 13.886 106

Finnland 5,21 53.000 96

Frankreich 60,42 817.388 110

Griechenland 10,65 106.655 103

Großbritannien(2005-2006)EnglandNordirlandWales

52,20

544.17922.56832.917

98,699,9Keine Angaben

Irland 3,97 62.000 108

Italien 58,06 577.351 110

Lettland 2,35 20.340 98

Litauen 3,60 29.153 99

Luxemburg 0,46 5.652 101

Malta 0,40 3.887 97

Niederlande 16,31 194.781 105

Österreich 8,17 79.022 109

Polen 38,58 354.973 99

Portugal 10,52 108.564 99,3

Schweden 8,99 101.450 104

Slowakei 5,43 52.293 91

Slowenien 2,01 18.249 102

Spanien 40,28 452.125 111

Tschechien 10,25 97.664 105

Ungarn 10,03 100.000 (Schätzung) 100 (Schätzung)

Zypern 0,77 8.421 86

Gesamt 432,70 4.645.928 92,7

Quelle: Loeber JG et al. (2007), aus Javaher et al. (2010)

* über 100 %: in der Regel durch Doppelzählung oder doppelte Dateneingabe verursacht

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 77

Tabelle 6.3: Neugeborenenscreening: Anzahl von Kindern mit Phenylketonorie (PKU) (2004)

Land Anzahl untersuchterKinder

Anzahl von Kindernmit PKU

Prävalenz

Belgien - Flandern 65.466 2 1 : 32.733

Belgien - Wallonien 61.994 4 1 : 15.499

Dänemark 67.169 5 1 : 13.434

Deutschland 726.973 85 1 : 8.553

Estland 13.886 1 1 : 13.886

Frankreich 817.388 46 1 : 17.769

Griechenland 106.655 3 1 : 35.552

Großbritannien(2005-2006)EnglandNordirlandWales

544.17922.56832.917

6773

1 : 8.1221 : 3.2241 : 10.972

Irland 62.000 10 1 : 6.200

Italien 577.351 158 1 : 3.654

Lettland 20.340 3 1 : 6.780

Litauen 29.153 3 1 : 9.718

Luxemburg 5.652 Keine Angaben Keine Angaben

Niederlande 194.781 15 1 : 12.985

Österreich 79.022 10 1 : 7.902

Polen 354.973 44 1 : 8.068

Portugal 108.564 11 1 : 7.714

Schweden 101.450 8 1 : 12.681

Slowakei 52.293 10 1 : 5.229

Slowenien 18.249 6 1 : 3042

Spanien 450.125 8 1 : 18.000,Hyperphenylalaninämie≈ 1 : 10.000

Tschechien 97.664 7 1 : 13.952

Ungarn 50.756 4 1 : 12.689

Zypern 8.421 Keine Angaben Keine Angaben

Gesamt 4.669.989 581 1 : 8.076

Quelle: Loeber JG et al. (2007), aus Javaher et al. (2010).

78 13 | Anhang

Tabelle 6.4: Neugeborenenscreening: Anzahl von Kindern mit kongenitalem Hypothyreodismus (CH) (2004)

Land Anzahl untersuchterKinder

Anzahl von Kindernmit CH

Prävalenz

Belgien - Flandern 65.466 16 1 : 4.092

Belgien - Wallonien 61.994 14 1 : 4.428

Dänemark 67.169 21 1 : 3.199

Deutschland 726.973 246 1 : 2.955

Estland 13.886 1 1 : 13.886

Frankreich 817.388 287 1 : 2.848

Griechenland 106.655 80 1 : 1.333

Großbritannien(2005-2006)EnglandNordirlandWales

544.17922.56832.917

3091512

1 : 1.7611 : 1.5041 : 2.743

Irland 62.000 23 1 : 2.696

Italien 577.351 328 1 : 1.748

Lettland 20.340 6 1 : 3.390

Litauen 29.153 3 1 : 9.718

Luxemburg 5.652 4 1 : 1.413

Malta 3.887 1 1 : 3.887

Niederlande 194.781 66 1 : 2.951

Österreich 79.022 27 1 : 2.927

Polen 354.973 115 1 : 3.087

Portugal 108.564 43 1 : 2.525

Schweden 101.450 32 1 : 3.170

Slowakei 52.293 15 1 : 3.486

Slowenien 18.249 6 1 : 3042

Spanien 452.125 235 (akzeptierte Schät-zung kumulierter Daten -≈ 1 : 2.500 - 1 : 2.700)

Tschechien 97.664 33 1 : 2.960

Zypern 8.421 5 1 : 1.684

Gesamt 4.625.120 1.943 1 : 2.504

Quelle: Loeber JG et al. (2007), aus Javaher et al. (2010).

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 79

Tabelle 6.5: Neugeborenenscreening: Anzahl von Kindern mit Adrenogenitalem Syndrom (AGS) (2004)

Land Anzahl untersuchterKinder

Anzahl von Kindernmit AGS

Prävalenz

Belgien - Flandern 65.466 6 1 : 10.911

Belgien - Wallonien 22.736 2 1 : 11.368

Deutschland 726.973 70 1 : 10.385

Frankreich 817.388 45 1 : 18.164

Italien 129.206 11 1 : 11.746

Luxemburg 5.652 1 1 : 5.623

Niederlande 194.781 10 1 : 19.478

Österreich 79.022 3 1 : 26.341

Schweden 101.450 1 1 : 101.450

Slowakei 52.293 10 1 : 5.229

Spanien 112.914 7 1 : 16.131

Gesamt 2.420.795 166 1 : 14.583

Quelle: Loeber JG et al. (2007), aus Javaher et al. (2010).

Tabelle 6.6: Neugeborenenscreening: Anzahl von Kindern mit Zystischer Fibrose (CF) (2004)

Land Anzahl untersuchterKinder

Anzahl von Kindernmit CF

Prävalenz

Belgien - Wallonien 30.036 4 1 : 7.509

Deutschland 45.822 20 1 : 2.291

Frankreich 784.663 179 1 : 4.384

Italien 434.101 94 1 : 4.618

Österreich 79.022 23 1 : 3.436

Spanien 136.298 48 (akzeptierteSchätzung≈ 1 : 4.000)

Gesamt 1.509.942 368 1 : 4.103

Quelle: Loeber JG et al. (2007), aus Javaher et al. (2010).

80 13 | Anhang

Tabelle 6.7: Neugeborenenscreening: Anzahl von Kindern mit Galaktosämie (angepasst nach Loeber) (2004)

Land Anzahl untersuchterKinder

Anzahl von Kindernmit Galaktosämie

Prävalenz

Belgien - Wallonien 61.994 4 1 : 15.499

Deutschland 726.973 17 1 : 42.763

Irland 62.000 2 1 : 31.000

Italien 176.360 6 1 : 29.393

Österreich 79.022 20 1 : 3.951

Schweden 101.450 0 1 : 100.000

Spanien 38.348 2 1 : 19.174

Gesamt 1.246.147 51 1 : 24.434

Quelle: Loeber JG et al. (2007), aus Javaher et al. (2010)

Tabelle 6.8: Neugeborenenscreening: Anzahl von Kindern mit Biotinidase-Mangel (2004)

Land Anzahl untersuchterKinder

Anzahl DiagnosenBiotinidase-Mangel

Prävalenz

Belgien - Flandern 33.324 1 1 : 33.324

Belgien - Wallonien 44.651 keine Angaben keine Angaben

Deutschland 726.973 16 1 : 45.436

Italien 105.471 1 1 : 105.471

Luxemburg 5.652 1 1 : 5.623

Österreich 79.022 2 1 : 39.511

Schweden 101.450 3 1 : 33.817

Spanien 20.420 1 1 : 20.420

Gesamt 1.111.311 24 1 : 46.305

Quelle: Loeber JG et al. (2007), aus Javaher et al. (2010).

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 81

Tabelle 6.9: Neugeborenenscreening: Anzahl von Kindern mit Medium-Chain Acyl-Coenzym A Dehydrogenase

Mangel (MCAD-Mangel) (2004)

Land Anzahl untersuchterKinder

Anzahl von Kindernmit MCAD-Mangel

Prävalenz

Belgien - Flandern 33.324 3 1 : 11.108

Belgien - Wallonien 46.108 3 1 : 15.369

Deutschland 726.973 69 1 : 10.210

Italien 16.519 keine Angaben keine Angaben

Österreich 79.022 6 1 : 13.170

Spanien 20.420 2 1 : 10.210

Gesamt 922.366 83 1 : 11.113

Quelle : Loeber JG et al. (2007), aus Javaher et al. (2010).

82 13 | Anhang

Tabelle 6.10: Pränatale Screeningprogramme in 25 EU Mitgliedsländern (Daten aus 2006)

Mitglieds-länder

Ultraschall-untersu-chungen auf fetale Ent-wicklungs-störungen

Nacken-transpa-renz

Mütter-liche Serum-Marker

Mütter-liches Serum-Alpha-Fetopro-tein

fetaleKaryo-typisie-rung 1

ACE/AFPUnter-suchun-gen ausFrucht-wasser2

andere

Belgien N N N N N N

Dänemark N R R R N N

Deutschland N N N N N N

Estland N R N N N

Finnland R R R R R R

Frankreich N N N N R* R*

Griechen-land

N N N N R R

Groß-britannien(außerSchottlandund Wales)

N N Nnichtempfohlen

Nnichtempfohlen

Irland R R R R R R

Allesauf dieNachfra-ge der Frauenlimitiert

Italien N N N N N

Lettland N selten selten selten

Litauen N

Selekti-vesScree-ningauf Risiko-schwan-ger-schaften

SelektivesScreeningauf Risiko-schwanger-schaften

SelektivesScreeningauf Risiko-schwanger-schaften

Luxemburg R R

50 ProzentderSchwange-ren

50 ProzentderSchwange-ren

R

Malta N N N N

Niederlande R R R R N N

Österreich N N N N N N

Polen N N N N

Portugal N N R R N R

Schweden N R R R

SlowakischeRepublik

N N N N R

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 83

Mitglieds-länder

Ultraschall-untersu-chungen auf fetale Ent-wicklungs-störungen

Nacken-transpa-renz

Mütter-liche Serum-Marker

Mütter-liches Serum-Alpha-Fetopro-tein

fetaleKaryo-typisie-rung 1

ACE/AFPUnter-suchun-gen ausFrucht-wasser2

andere

Slowenien N NRisiko-schwanger-schaften

Risiko-schwanger-schaften

Spanien N N R R R R

Tschechien N N N N N R

Erst-trimes-ter-scree-ning

Ungarn N N R N R R

Zypern N N Nnichtroutinemä-ßig

nichtroutinemä-ßig

nichtroutinemä-ßig

Quelle: Javaher P et al. (2010).

Legende:

R = regional

N = national

ACE = Acetylcholinesterase

AFP = Alpha-Fetoprotein

Leere Felder bedeuten „keine Programme“1 wenn die vorgeburtliche Diagnostik primär aus anderen Gründen als Detektion einer fetalen Aneuploidie erfolgte (z. B.

monogene Krankheit) 2 wenn die vorgeburtliche Diagnostik primär auf das Vorliegen einer chromosomalen Störung oder einer monogenen

Krankheit erfolgte

* In Frankreich bedeutet “R” diverse Annäherungen ohne klar definierte nationale Politik für diese Maßnahmen

Tabelle 6.10 (Fortsetzung): Pränatale Screeningprogramme in 25 EU Mitgliedsländern (Daten aus 2006)

84 13 | Anhang

Tabelle 6.11: In bevölkerungsbasierten Programmen für Überträgerscreening untersuchte Krankheiten in 23 EU

Mitgliedsländern (Daten aus 2006)

Mitglieds-länder

bevölkerungsbasiertes Überträgerscreening Kommentare

Belgien Lokales Screening auf Hämoglobinopathien, CF, FXS und Spinale Muskelatrophie

Dänemark Keine

Deutschland Hämoglobinopathien in der Schwangerschaft, abhän-gig von der Herkunft

Estland Keine

Finnland Kein Überträgerscreening auf Hämoglobinopathie und CF in der Schwangerschaft oder präkonzeptionell, kongenitale Nephrose regional

Frankreich Regionales Screening auf Hämoglobinopathie und CF

Griechenland Hämoglobinopathien in der Schwangerschaft und präkonzeptionell und auf Nachfrage CF

Großbritanien Nationales Screeningprogramm Sichelzellanämie und Beta-Thalassämie basiert auf Routineblutuntersu-chungen, verschiedene Tests nach Fragebogen über Familiengeschichte

Irland Keine

Italien Hämoglobinopathien, CF und FXS in der Schwanger-schaft, Schwerhörigkeit (Connexin 26)

Lettland Keine

Litauen Screening auf CF - Selektives Screening bei Hochrisiko-schwangerschaften

Luxemburg Keine

Malta Keine

Niederlande Selten Hämoglobinopathien in der Schwangerschaft oder präkonzeptionell

Österreich Keine

Polen Keine

Portugal Screening auf Hämoglobinopathien Hämatologische Tests

Schweden Keine

Spanien Keine

Tschechien Screening auf CF in der Schwangerschaft unsystematisch

Ungarn Keine

Zypern Screening auf Hämoglobinopathien – nur dann angeboten, wenn kein präkonzeptionelles Screening durchgeführt wurde Beta-Thalassämie Screening wird allen Paaren vor der Heirat angeboten, national

angeboten von Thalassä-mie-Zentren, hohe Inan-spruchnahme

Quelle: Loeber et al. (2007), zitiert in Javaher P et al. (2010).

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 85

Tabelle 6.12: In Kaskadenscreening untersuchte Krankheiten in 25 EU Mitgliedsländern (Daten aus 2008)

Mitgliedsländer Kaskadenscreening Kommentare Initiative

Belgien Fallbezogen, nicht organisiert oder obligatorisch, Screening auf CF, DMD; FXS, HH, Beta-Thalassämie und andere Hämoglobinopathien

3

Dänemark Screening auf Hypercholesterinämie (A)HNPCC (B)FXS (C)CF (D)

A3B2C1D1

Deutschland Prinzipiell alle erblichen Krankheiten 1

Estland unsystematisch, nur fallbezogen oder bei Famili-enanamnese mit CF, DMD/BDM, FXS, nichtsyndro-maler Taubheit, Thrombophilie (Leiden Mutation, Factor II), andere genetische Krankheiten mit hoher Penetranz und einem Indexfall mit krank-heitsverursachender Mutation

1

Finnland Auf der Basis der Initiative der Familie oder der Professionellen Screening auf jede rezessiv vererb-te Erkrankung mit bekannter Foundermutation, HNPCC, BRCA1 und andere Krankheiten wie DMD, FXS, HH, Factor V-Leiden und familiäre Hypercho-lesterinämie

1,gelegentlich 3

Frankreich Kaskaden-Screening rechtsverbindlich, wenn notwendig

seit 2004 Gesetz zur Durchführung von Kaskaden-Screening, wenn notwendig, Pflicht des Beraters den Patien-ten zu überzeugen, die Familie zu kontaktieren.Bei Ablehnung eine Erklärung des Patienten zum Schutz des Beraters

1rechtsverbindlich

Griechenland National auf Hämoglobinopathien, regional auf CF; DMD und FXS

1

Großbritannien CF, Familienangehörige bei Nachfrage 3

Irland National auf CF, DMD, FXS, Beta-Thalassämie, andere Hämoglobinopathien und viele andere

1

Italien Fallbezogen, nicht organisiert oder obligatorisch Screening auf CF, DMD, FXS, HH, Beta-Thalassä-mie, andere Hämoglobinopathien und nichtsyn-dromale Taubheit (Connexin 26)

3

Lettland Keine Antwort Keine Antwort Keine Antwort

Litauen Screening auf CF - Selektives Screening bei Hochri-sikoschwangerschaften

Zentrum für Humange-netik , Vilnius Uni-versitätskrankenhaus Santariškių klinikosMD PhD Algirdas Utkus

E-Mail: [email protected]

Keine Daten

Luxemburg Keine Antwort Keine Antwort Keine Antwort

Malta Keine Antwort Keine Antwort Keine Antwort

Niederlande Nationales Kaskaden-Screeningprogramm familiä-re Hypercholesterinämie, Indexpatienten werden darauf hingewiesen, ihre Familie zu informierenSystematisch Basis erbliche Krebserkrankungen und fallbezogen andere Krankheiten

3 familiäre Hypercho-lesterinämie

1 bei erblichen Krebs-erkrankungen etc.

86 13 | Anhang

Mitgliedsländer Kaskadenscreening Kommentare Initiative

Österreich Hypercholesterinämie, Fabry Syndrom, DMD, FXS und andere dominant vererbte Krankheiten

1

Polen Molekulargenetisches Screening empfohlen und angeboten bei relevanten metabolischen Erkran-kungen inklusive CF, Galaktosämie, DMD, SLO, NBS , LCHAD, SCO2 Genmutation, SURF1 Genmutation, mtDNA Muta-tionen und familiäre Hypercholesterinämie

Hämochromatose-Häufigkeit in der polnischen Bevölkerung nicht ermittelt, Beta-Thalassämie und andere Hämoglobinopathien für polnische Bevölkerung irrelevant

1, durchgeführt in 12 regionalen geneti-schen Kliniken und nationalen Kliniken für metabolische Erkrankungen

Portugal Bei richtiger Überweisung nationales Screening auf CF, DMD, FXS, HH, Beta-Thalassämie, andere Hämoglobinopathien und andere spät manifeste neurologische Krankheiten wie: SCAs, Chorea Huntington, familiäre Amyloidose etc.

Kontakt: [email protected]@[email protected]

1

Slowakische Republik

Screening auf CF auf Nachfrage der Familie 3

Slowenien Keine Antwort Keine Antwort Keine Antwort

Spanien Nationales Screening auf CF, DMD und HH Keine Daten

Schweden Nationales Screening auf CF, DMD, FXS, HH, Hä-moglobinopathie, Beta-Thalassämie und fallbezo-gen jede genetisch bedingte Krankheit mit hoher Penetranz, wenn die Mutation bei der Indexper-son bekannt ist

Tschechien Prinzipiell alle erblichen Krankheiten http://www.uhkt.cz/nrl/db/index_html?lang=en

1, ausnahmsweise 2

Ungarn Nationales Screening auf CF, regionales Screening auf FXS und CAH

Keine Daten

Zypern Angebot an die gesamte Population durch spezia-lisierte Kliniken, Screening auf CF, DMD; FXS, HH, Beta-Thalassämie und andere Hämoglobinopa-thien

Molekulargenetische Tests werden meist an dem Institut für Neurologie und Genetik Zypern durchgeführt, genetische Beratung angeboten von geneti-schen Kliniken und/oder Thalassämie-Zentren

Keine Daten

Quelle: Javaher P et al. (2010).

Legende:

1. Durch Probanden initiierter Kontakt zu den Risikoverwandten, 2. Direkter Kontakt über Professionelle zu den Risikoverwandten, 3. Kombination

von beidem mit direktem Kontakt über Professionelle nach Probandeninitiative

CF = Zystische Fibrose

DMD = Duchenne-Muskeldystrophie

FXS = Fragiles-X-Syndrom

HH = hereditäre Hämochromatose

CAH = kongenitale adrenale Hyperplasie

HNPCC = hereditäres kolorektales Karzinom ohne Polyposis

BRCA1 = Brustkrebs 1

SLO = Smith-Lemli-Opitz Syndrom

NBS = Nijmegen Breakage Syndrom

SCO2 = Synthesis cytochrom c Oxidase 2 Gen

SURF 1 = Surfeit locus protein 1 Gen

SCA = Spinozerebelläre Ataxie

Tabelle 6.12 (Fortsetzung): In Kaskadenscreening untersuchte Krankheiten in 25 EU Mitgliedsländern (Daten aus 2008)

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 87

Anhang zu Kapitel 7

Beispiel 7.1: Eine Modellierungsstudie zur autosomal rezessiv erblichen Hämochromatose

zeigte,dasseinbevölkerungsweitesScreeningauseinerKombinationphänotypisierenderund

genetischerDiagnostikdreimalundeinreingenetischesScreeningetwaviermalsovielproge-

wonnenemLebensjahrkostetewiedieStrategie,mitdemkombiniertenAnsatznurmännliche

NachkommenvonbekanntenHämochromatosepatientenzutesten.DieStudiezeigteauch,dass

einEinsatzdesgenetischenTestsdirektnachderBestimmungderTransferrin-Sättigungkosten-

effektiveristalsdieVorgabedeutscherLeitlinien,dieeinenzweitenEinsatzletzterervorsehen138.

Beispiel 7.2:Die2006erschieneneÜbersicht139fand21EvaluationenvongenetischenScree-

ningprogrammen.Dabeiwarenz.B.genetischeTestskostengünstigeralsLeberbiopsien,umdie

hereditäreHämochromatosezubestätigen.AuchumAngehörigeerstenGradesvonPatienten

mitfamiliäreradenomatöserPolyposiszuscreenen,wareskostengünstiger,denerstenundwei-

tereMutationsträgerperDNA-TestszuidentifizierenalsbeialleneineintensivierteKoloskopie

durchzuführen.DieKostenvorteileentstandendurchdieVerringerungderDarmspiegelungen

beimutationsnegativenVerwandten.BeiderfamiliärenHypercholesterinämiezeigtensichhin-

gegen in einer ökonomischenModellierung verschiedener Screeningstrategien phänotypische

TestsalseffektiverundgünstigeralsderDNA-Test.AktuelleÜbersichtsarbeitenfehlenjedoch.

Beispiel 7.3:DieWirksamkeitundWirtschaftlichkeiteinesScreeningaufAmblyopiebeiKin-

dernwurdeanhandeinerliteraturbasiertenModellierungundderEvaluationeinesPraxispro-

grammsuntersucht (Amblyopie ist einenicht unmittelbar genetischbedingte Sehstörung.Es

handeltsichumeinefunktionelleAusschaltungeinesAugesoderbeiderAugeninsbesonderein

derKindheitbishinzurBlindheit.DiverseUrsachenkommeninBetracht,z.B.Schielen,Her-

abhängendesOberlids=Ptosis,TrübungderHornhaut,waszumangelhafterErregungderNer-

venzellen inderSehrindedesGehirns führt).RelevanteAbweichungen zwischenModell und

PraxiszeigtensichdurchUnterschiedeinderHäufigkeitdesAuftretensderErkrankung,inder

Programm-MitwirkungdurchPatientenundÄrztesowieindenOrganisationskosten140.

Beispiel 7.4:DiegenannteÜbersicht141 zeigte,dassbeimgenetischenScreeningvonNeuge-

borenenaufdie autosomal rezessiv erblichenKrankheitenMukoviszidose (ZystischeFibrose)

oderAdrenogenitalesSyndrom(UnfähigkeitzurChortisolsynthese)inNordamerikameistbeide

Erkrankungengetestetwerden.InEuropawarendreiLändergruppenzufinden:Indenersten

beidenGruppenwurdeentwedernuraufMukoviszidoseodernuraufdasAdrenogenitaleSyn-

dromgetestet,inLändernderdrittenGruppewurdeaufbeideErkrankungengetestet.Umdie

EffektivitätderScreeningstrategienpräziseeinschätzenzukönnen,sinddetailliertereStudien

zurHäufigkeitdesAuftretensderErkrankungenundzurFrühmortalitäterforderlich.

138 RogowskiWH(2009).

139 RogowskiW(2006).

140 KönigHHetal.(2002).

141 GrosseSDetal.(2010).

88 13 | Anhang

Beispiel 7.5:IneinerÜbersichtvonHeshkaetal.2008142zu16Studien,dieVerhaltensaspekte

einbezogen,fandensichinsgesamtbeiPersonenmitDispositionfürDarmkrebs(HNPCC)höhe-

reTeilnahmeratenamKrebs-Screening,währenddiesbeiTrägerinneneinerPrädispositionfür

Brustkrebs(BRCA1/2)–beiallgemeinhoherScreening-Teilnahme–nichtsoklarausgeprägt

war.DieÜbersichtzeigteferner,dassPersonenmiteinerDispositionfürBrust-undEierstock-

Krebs (BRCA1/2) ihreLebensweisen in etwa gleichemMaßdurch gesundeErnährung,mehr

BewegungundNichtrauchenverbessertenwiePersonenohnedieseDisposition.Trägereiner

DispositionfürdieAlzheimerscheKrankheit(APOEε4)ändertenhingegenvergleichsweisehäu-

figerihrErnährungs-undBewegungsverhaltenineinerWeise,vondersiesicheineRisikomin-

derungerhofften.NeuegenetischeInformationkannsichunterschiedlichaufgesundheitliches

Verhaltenauswirken.UnabhängigdavonbleibtnochderEffektvonVerhaltensänderungenauf

dieGesundheitzuklären.

142 HeshkaJTetal.(2008).

Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention 89

Textgenese

DieAkademiengruppe„PrädiktivegenetischeDiagnostikalsInstrumentderKrankheitspräven-

tion“wurdeimSeptember2009durchdenStändigenAusschussderNationalenAkademieder

Wissenschaften, das sogenannte Koordinierungsgremium, eingesetzt. Zur Vorbereitung der

AkademiengruppewarseitMärz2009eininhaltlichesKonzepterarbeitetworden.

DieStellungnahmewurdevondenMitwirkendeninderAkademiengruppeininsgesamt9

SitzungenzwischenSeptember2009undJuli2010erarbeitet.UmallewichtigenGesichtspunk-

teundinsbesondereErfahrungenausdemAuslandzuberücksichtigen,fandam7.und8.Febru-

ar2010eininternationalesAkademien-SymposiuminBonnstatt,sowieeineAnhörungam20.

März2010inFrankfurt(Main).

Programm des Internationalen Akademien-Symposiums „Predictive genetic diagnostics as an instru-

ment for disease prevention“ am 7. und 8. Februar 2010 in Bonn

Sunday, 07 February 2010

Welcome address Heinz Schott, Bonn, Member of the Leopoldina Presidium

A. Scientific background

Why this symposium? Peter Propping, Bonn, Germany

Genetic screening criteria in the age of genomics Martina C. Cornel, Amsterdam, NL

Epidemiological prerequisites for screening Thomas F. Wienker, Bonn, Germany

Evaluation of genetic susceptibility testing Caroline Wright, Cambridge, UK

Epigenomics for risk prediction? Winston Timp, Baltimore, USA

B. Established screening procedures

Newborn screening in Germany and Europe Georg Hoffmann, Heidelberg, Germany

Carrier screening for haemoglobinopathies Antonio Caro, Cagliari, Italy

Cascade screening for hypercholesterolemia in the Netherlands

Peter Lansberg, Amsterdam, NL

Cascade screening for hereditary disorders in France

Ségolène Aymé, Paris, France

C. Experimental/controversial screening procedures

Comprehensive carrier screening Hans-Hilger Ropers, Berlin, Germany

Hereditary breast and colon cancer: predictive testing and genetic screening

John Burn, Newcastle, UK

90 13 | Anhang

Monday, 08 February 2010

C. Experimental/controversial screening procedures (continued)

Pharmacogenetic screening and personalised medicine.

Matthias Schwab, Stuttgart, Germany

Screening for thrombophilia Saskia Middeldorp, Leiden, NL

Genetic and biochemical screening formetabolic diseases

Joachim Thiery, Leipzig, Germany

D. Questions of value

Health economic analysis of screening for haemochromatosis

Wolf Rogowski, München, Germany

Captious certainties: makings, meanings, and misreadings of consumer oriented genetic testing

Norbert Paul, Mainz, Germany

Health risk communication Ulrich Hoffrage, Lausanne, Switzerland

Concluding remarks Peter Propping, Bonn, Germany

ISBN: 978-3-8047-2852-3

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