postmetaphysisches denken

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Postmetaphysisches Denken? Überlegungen zum Metaphysikbegriff der Metaphysikkritik Author(s): Matthias Lutz-Bachmann Source: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 56, H. 3 (Jul. - Sep., 2002), pp. 414-425 Published by: Vittorio Klostermann GmbH Stable URL: http://www.jstor.org/stable/20485099 Accessed: 26/05/2010 07:52 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of JSTOR's Terms and Conditions of Use, available at http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp. JSTOR's Terms and Conditions of Use provides, in part, that unless you have obtained prior permission, you may not download an entire issue of a journal or multiple copies of articles, and you may use content in the JSTOR archive only for your personal, non-commercial use. Please contact the publisher regarding any further use of this work. Publisher contact information may be obtained at http://www.jstor.org/action/showPublisher?publisherCode=vittklos. Each copy of any part of a JSTOR transmission must contain the same copyright notice that appears on the screen or printed page of such transmission. JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. Vittorio Klostermann GmbH is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Zeitschrift für philosophische Forschung. http://www.jstor.org

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Postmetaphysisches Denken? Überlegungen zum Metaphysikbegriff der MetaphysikkritikAuthor(s): Matthias Lutz-BachmannSource: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 56, H. 3 (Jul. - Sep., 2002), pp. 414-425

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Page 1: Postmetaphysisches Denken

Postmetaphysisches Denken? Überlegungen zum Metaphysikbegriff der MetaphysikkritikAuthor(s): Matthias Lutz-BachmannSource: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 56, H. 3 (Jul. - Sep., 2002), pp. 414-425Published by: Vittorio Klostermann GmbHStable URL: http://www.jstor.org/stable/20485099Accessed: 26/05/2010 07:52

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Page 2: Postmetaphysisches Denken

DISKUSSIONEN

Matthias Lutz-Bachmann, Frank/furtiM.

Postmetaphysisches Denken?

Uberlegungen zum Metaphysikbegriff der Metaphysikkritik

Im zeitgenossischen Diskurs der Philosophie begegnet der Begriff der ,,Metaphy sik" zumeist in der Verbindung mit einer ,,Kritik der Metaphysik". Ich werde in

meinem Beitrag an zwei prominenten Beispielen, namlich der Metaphysikkritik von Jiirgen Habermas (i.) und Martin Heidegger (2.), aufzeigen, was diese je weils unter ,,Metaphysik" verstehen, welche Argumente sie gegen ,,die Metaphy sik" und zugunsten des von ihnen vertretenen ,,postmetaphysischen Denkens" anfiihren. Hierbei treten erhebliche Unterschiede im Begriff der ,,Metaphysik kritik" zutage, den Habermas und Heidegger ihren Ausfuihrungen zugrunde le gen. Diese Differenzen bieten Anlass, die vielfach zu wenig reflektierte Rede von einem nachmetaphysischen Konsens in der philosophischen Diskussion der Ge genwart kritisch zu iiberpriifen. Diesem Anliegen dienen die abschliefenden Uberlegungen. (3.)

In seinem I988 vorgelegten Buch ,,Nachmetaphysisches Denken" setzt sich Ha bermas zu Beginn mit Dieter Henrich auseinander, bei dem er einen Rekurs auf ,,Metaphysik nach Kant" konstatiert. Zur Prazisierung des mit dem Begriff der

Metaphysik Gemeinten legt Habermas eine Bestimmung von, wie er es vorsich tig nennt, ,,Aspekten metaphysischen Denkens" vor. Zu diesen zahlt Habermas vor allem drei Motive, die die metaphysische Tradition bestimmen, und zwar das ,,Identitatsdenken", die ,,Ideenlehre" und das Verwenden eines ,,starken Theo riebegriffs". Unter ,,Identitatsdenken" versteht Habermas das von Adorno einst ,,Ursprungsphilosophie" genannte Prinzip einer ,,Gleichsetzung von Sein und

Denken"1I, wie es erstmals von Parmenides explizit formuliert worden war und in dem sich fur Habermas das Erbe des Mythos in der antiken Philosophie zeigt.

Doch ,,im Mythos stellte sich die Einheit der Welt anders her: als durchlaufen der Kontakt des Besonderen mit dem Besonderen, als Korrespondenz des Ahnli chen und des Unahnlichen, als Spiegelungen von Schein und Widerschein, als

i Vgl. J?rgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufs?tze,

Frankfurt am Main 1988, S. 36.

Zeitschrift fir philosophische Forschung, Band 56 (2002), 3

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Postmetaphysisches Denken? 4I5

konkrete Verkettung, Uberlappung und Verflechtung."2 Doch genau damit bricht fur Habermas das mit Parmenides einsetzende metaphysische Denken, das er auch ,,idealistisches Einheitsdenken" nennt und somit bereits auf Platon und den Platonismus projiziert: ,,Das Eine und das Viele, abstrakt gefaf3t als die Beziehung von Identitat und Differenz, ist die Grundrelation, die das metaphy sische Denken zugleich als eine logische und ontologische versteht: das Eine ist beides - Grundsatz und Wesensgrund, Prinzip und Ursprung. Daraus leitet sich das Viele her - im Sinne der Begriindung und der Entstehung; und dank dieses Ursprungs reproduziert es sich als eine geordnete Mannigfaltigkeit."3 Diese Ein heit wird bei Platon in dem Entwurf einer am Vorbild der Geometrie skizzierten Ideenlehre begrifflich gedacht: ,,Die Arten und Gattungen", nach denen die pla tonische Philosophie die Phanomene der Erscheinungswelt ordnet, ,,folgen der idealen Ordnung der Dinge selbst. Die platonische Idee ist freilich weder reiner

Begriff noch reines Bild, sondern das aus der anschaulichen Mannigfaltigkeit herausgehobene Typische, Formgebende. Die ins Stoffliche eingebildeten Ideen fuihren das Versprechen der All-Einheit mit sich, weil sie auf die Spitze der hier archisch geordneten Begriffspyramide zulaufen und intern auf diese verweisen: auf die Idee des Guten".4 Diese Einsicht in die ,,ideale Verfassung des Seins ist fur die antike Metaphysik, so Habermas, nur iuber die Propagierung eines ,,star ken Theoriebegriffs" zu erreichen, namlich die ,,bios theoretikos" genannte ex emplarische Lebensform der Kontemplation: ,,Die Theorie selbst wird von die ser ihrer Einbettung in eine exemplarische Lebensform affiziert. Sie 6ffnet den

Wenigen einen privilegierten Zugang zur Wahrheit, wiihrend den Vielen der Weg zu theoretischer Erkenntnis verschlossen bleibt."5

Die mit den Forschungsertragen von Werner Beierwaltes positiv belegte anti ke Ausgangskonstellation von Grundannahmen der Metaphysik verfolgt Haber mas in kritischer Absicht unter Ruickgriffauf einschlagige Analysen bei Theodor

W Adorno und Karl-Heinz Haag in ihrer inneren Entwicklungsdynamik bis hin

zur neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie und zur Logik Hegels. Diese beiden philosophischen Positionen fallen fur ihn somit noch in die Geschichte der Me taphysik. Die in der Ideenlehre bei Platon angelegte Spannung zwischen einer ,,auf Empirie gestiitzten" Form diskursiver Erkenntnis einerseits und einer anamnetisch verfahrenden, rein intellektualen und das heigt fur ihn zugleich in tuitiven Anschauung andererseits reflektiert die, wie Habermas es nennt, ,,para doxe Entgegensetzung von Idee und Erscheinung, Form und Materie".6 Der ,,Irrtum" des Idealismus besteht Habermas zufolge in der Annahme, die Ideen,

die er auch ,,formae rerum" nennt, enthielten ,,den materiellen Gehalt" der em pirischen Einzeldinge immer schon in sich, wahrend sie ,,doch in vergleichender

2 Ebd., S. 37

3 Ebd. 4

Ebd., S. 37 f.

5 Ebd., S. 4o. 6

Ebd., S. 38.

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4I6 Matthias Lutz-Bachmann

Abstraktion" an diesen erst abgelesen werden mussten. Aus seiner eigenen, deut lich nominalistisch motivierten Erkenntniskritik leitet Habermas einen grundle genden Einwand gegen den Platonismus ab. Er nennt ihn das ,,ungel6ste Pro blem" der platonischen Ideenlehre. Aus ihm resultiere bereits in der Geschichte der Philosophie eine philosophische Kritik, die uiber die Positionen des mittelal terlichen Nominalismus und neuzeitlichen Empirismus bei Hume zu einer Fort setzung der Metaphysik auf dem Boden der Subjektphilosophie gefiihrt hat: ,,Das Selbstbewug3tsein wird entweder (wie von Descartes uiber Kant, Fichte bis

Husserl) als spontane Quelle transzendentaler Leistungen in eine fundamentale Stellung gebracht oder (wie bei Hegel und Schelling) als Geist selbst zum Abso luten erhoben."7

In beiden philosophischen Konzepten setzt sich fiir Habermas das Erbe der Metaphysik fort, da hier nach wie vor der Vorrang der Identitat vor der Diffe

renz, der Idee vor der Materie und ein Primat von Theorie iiber Praxis behauptet werde. ,,Noch die Hegelsche Logik", schreibt Habermas, ,,die das Eine mit dem Vielen, das Unendliche mit dem Endlichen, das Allgemeine mit dem Zeitlichen, das Notwendige mit dem Zufalligen symmetrisch vermitteln soll, kann nicht umhin, die idealistische Vorherrschaft des Einen, Allgemeinen und Notwendi gen zu besiegeln, weil sich im Begriff der Vermittlung selbst die zugleich totali sierenden und selbstbeziiglichen Operationen durchsetzen."8 Erst im I9. Jahr hundert wird Habermas zufolge ,,das metaphysische Denken, das bis Hegel in Kraft geblieben ist"9, problematisch. Fur diesen Vorgang fiihrt Habermas eine Reihe ,,historischer, [...] letztlich gesellschaftlich bedingter Entwicklungen" an, die sich in der Theoriedebatte umsetzen als das Aufkommen eines neuen Typus von Verfahrensrationalitat, die sich am Paradigma der neuzeitlichen Erfahrungs wissenschaften und der formalen Prozesse des Rechts orientiert. Die im I9. Jahr hundert auftretenden historisch-hermeneutischen Wissenschaften relativieren schlieglich dauerhaft die menschlichen Erkenntnisanspriiche und fiihren so schlieflich zu einer historisch-gesellschaftlichen Situierung der Grundbegriffe der Philosophie. Dies bereite eine nachhaltige Transformation im Selbstver standnis der Philosophie den Boden, namlich den von Habermas zusammen mit

Karl-Otto Apel ,,Paradigmenwechsel" genannten Wandel von der Bewusstseins zur Sprachphilosophie im Zusammenhang des sog. ,,linguistic turn". Dies fiihrt in Habermas eigener Theorie zu einem neuen Verstandnis von Vernunft durch

Verstandigung, die in Sprachhandlungen eingelassen ist. Diese zu rekonstruieren ist nach Jiirgen Habermas Aufgabe einer performativen Theorie der Sprach handlungen, die von der Diskurstheorie eingelost werde. So skizziert er auf dem

Weg einer Bestimmung und Kritik von Metaphysik schlieglich das Programm seines eigenen Beitrags zur Philosophie als das des ,,nachmetaphysischen Den kens".

7 Ebd., S. 39 s Ebd. 9 Ebd., S. 4i.

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Postmetaphysisches Denken? 4I7

2.

Auch Martin Heidegger, von dessen Verstaindnis der Philosophie sich Jiirgen Habermas mit guten Griinden weit entfernt weig, bezeichnet als ,,Metaphysik" diejenige Gestalt von Philosophie, von der er sich systematisch abzusetzen ver sucht. So nennt Heidegger die gesamte abendlandische Tradition der Philoso phie vor ihm ,,metaphysisch". Selbst der anti-idealistisch auftretende Materialis mus und der am Modell technischer Rationalitat orientierte Positivismus, auch die Philosophie des Antiplatonikers und Metaphysikverachters Friedrich Nietz sche werden als Positionen der metaphysischen Tradition identifiziert und kriti siert. ,,Metaphysik" ist fur Heidegger nicht nur eine philosophische Lehre oder gar nur eine Disziplin neben anderen Disziplinen, sondern ein geschichtliches ,,Schicksal". Das heigt fur ihn, die Metaphysik bezeichnet gleichsam die Grund verfassung der Welt des Okzidents seit den Tagen des Parmenides und Platon bis in unsere Gegenwart. Kennzeichnend fur diese Epoche ist fur Heidegger die ,,Seinsvergessenheit" der Menschen. Einen philosophischen Ausdruck findet diese Seinsvergessenheit in dem Programm des Denkens, das ,,die Metaphysik" bestimmt. Die ,,Metaphysik denkt das Seiende als das Seiende".10 Und: ,,Weil die Metaphysik das Seiende als das Seiende befragt, bleibt sie beim Seienden und kehrt sich nicht an das Sein als Sein."I' I

Die Metaphysik ist fur Heidegger somit im Kern als Ontologie bestimmt, die entsprechend der Auskunft von Aristoteles im vierten Buch seiner ,,Metaphy sik"12 das Seiende behandelt, insofern es ein Seiendes ist, sowie das, was dem Sei

enden an sich selbst zukommt. Heidegger behauptet nun, die Metaphysik ,,stel le" nur das Seiende als das Seiende ,,vor" und, indem sie sich hierauf beschranke,

,,denke" sie nicht ,,an" das Sein selbst.13 Genau damit aber verfehle die Philoso

phie ihren eigenen ,,Grund". Sofern die Philosophie als Metaphysik konzipiert ist, ,,versammelt (sie) sich nicht auf ihrem Grund. Sie verlaf3t ihn stets, und zwar durch die Metaphysik".14 Aus dieser Rekonstruktion von Metaphysik resultiert auch bei Heidegger das Profil eines ,,nachmetaphysischen Denkens"; denn ist ,,Metaphysik" erst einmal bestimmt als eine Gestalt von Philosophie, die ,,das Sein" vergisst und so zugleich auch ihren eigenen ,,Grund" verfehlt, ist bereits der Weg eines ,,Denkens" umrissen, dessen Aufgabe es ist, ,,an die Wahrheit des

Seins selbst zu denken, statt nur das Seiende als das Seiende vorzustellen."15 Diese

i? Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, Frankfurt 1969, vierzehnte Auflage 1992, S. 7. - Ich folge in meiner Heidegger-Interpretation

vor allem dem Text der ?Einleitung", die Heidegger seiner Vorlesung

aus dem Jahr 1929 seit der f?nften Auflage im Jahr

1949 vorangestellt hatte. 11

Ebd.,S.8. 12

Vgl. Aristoteles, Metaphysik IV, 11003 a 21-31. 13 Martin Heidegger, ebd. 14

Ebd.,S.9. 15 Ebd.

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418 Matthias Lutz-Bachmann

Darstellung des Begriffs der Metaphysik ist auch bei Heidegger in einem deut lich an Hegels Dialektik erinnernden Verfahren zugleich deren Kritik und kon zeptionelle Oberwindung. ,,Dieses Denken geht, und zwar noch von der Meta physik her gesehen, in den Grund der Metaphysik zuriick. Allein das, was so noch als Grund erscheint, ist vermutlich, wenn es aus ihm selbst erfahren wird, ein Anderes und noch Ungesagtes, demgemaB auch das Wesen der Metaphysik etwas anderes ist als die Metaphysik. "16 Die von Heideggers Philosophie vorge fiuhrte ,,Oberwindung der Metaphysik" will nicht gegen die Metaphysik denken, sondern intendiert, blof; deren ,,Hinfalligkeit" vorzufuihren. Dieses Motiv ahnelt in gewisser Hinsicht dem bekannten Diktum Adornos, namlich einer ,,Solida ritat" seines ,,Denkens" mit der ,,Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes"17, den Adorno weniger durch innerphilosophische Kritik, als durch die Situation des Denkens ,,nach Auschwitz" 18 gekommen sieht. Heidegger geht anders als

Adorno'9 gemaf der Rede Kants von der ,,Metaphysik als Naturanlage" davon aus, dass der Mensch, solange er kritisch fragt, ein ,,metaphysisch" veranlagtes Lebewesen ist. Doch ist Heidegger zugleich von der Vermutung geleitet, dass die bisherige ,,Natur des Menschen" infolge der neuen, von ihm propagierten Art des postmetaphysischen Denkens auch iiberwunden werden kann; denn, so Heidegger, ,,wohl konnte dagegen das Denken, wenn ihm gliickt, in den Grund der Metaphysik zuriickzugehen, einen Wandel des Wesens des Menschen mit veranlassen, mit welchem Wandel eine Verwandlung der Metaphysik einhergin ge. "20

Bereits Nietzsches ,,Zarathustra" hatte das Programm einer ,,Uberwindung" von Metaphysik mit der Rede vom Menschen als ,,etwas, das uiberwunden wer den soll"21 , also der Lehre vom ,,Ubermenschen" verbunden. Fur Heidegger reicht jedoch die Geschichte der Metaphysik ,,von Anaximander bis zu Nietz sche"22, schliegt somit auch dessen Metaphysikkritik noch mit ein. Die von Hei degger der Metaphysik vorgehaltene Seinsvergessenheit beinhaltet nicht, dass die

Metaphysik nicht vom ,,Sein" spreche; sie denkt es Heidegger zufolge nicht, weil sie, gefangen von der ,,Vorstellung" des Seienden als Seienden, entweder vom Sein als dem ,,Seienden als solchem im Ganzen"23 spricht, und damit seine all

16 Ebd. 17 Theodor W Adorno, Negative Dialektik, III. Meditationen zur

Metaphysik, Frank

furt am Main 1966, S. 398. 18 Ebd., S. 352. 19 Zu Adornos Metaphysikbegriff vgl. meinen Beitrag: ?Negative Dialektik" und Meta

physik. Theodor W Adornos Interpretation der Tradition metaphysischen Denkens,

in: E. Coreth (Hrsg.), Metaphysik in unmetaphysischer Zeit, D?sseldorf 1989, S. 69

84. 20

Heidegger, ebd., S. 9. 2i

Nietzsche, Also sprach Zarathustra, ed. Karl. Friedrich Schlechta, Werke II, M?nchen

1969, S. 279. 22

Heidegger, ebd., S.19. 23 Ebd.

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Postmetaphysisches Denken? 4I9

gemeinsten Eigenschaften thematisiert, oder vom ,,Ganzen des Seienden als sol chen im Sinne des h6chsten und darum g6ttlichen Seienden".24 In dieser ,,onto theologischen" Verfassung der Metaphysik ist es nach Heidegger grundgelegt, dass sie ,,Seiendes" im Ganzen mit dem ,,Sein" durchgangig verwechselt. Hierin wurzeln die ,,Seinsvergessenheit" und ,,Seinsverlassenheit" des Menschen. Das von Heidegger seinerseits in die Debatte eingebrachte ,,Andenken an das Sein selbst" soll aber durch die Reflexion auf die Differenz von ,,Seienden" und ,,Sein", durch die Kritik der ,,Metaphysik" und durch die Beschreibung der ,,Seinsvergessenheit" nur vorbereitet werden. Heidegger sucht ein ,,Denken", das durch das ,,Sein" selbst ,,ereignet" ist, ein ,,Denken", das ,,sich aus dem Bezug des Seins zu ihm vollzieht"25 und daher auch von Heidegger als ein ,,dem Sein h6ri ges Denken"26 bezeichnet wird. Das Bedenken der ,,Wahrheit des Seins", das Heidegger aus seiner Metaphysikkritik hervorgehen lassen will, folgt nicht der korrespondenztheoretischen Idee der ,,Richtigkeit des Vernehmens und Aussa gens"27, sondern seiner Vorstellung einer vorbegrifflichen ,,Unverborgenheit des Seins", von der Heidegger mutmagt, dass zu ihr sogar noch der ,,Bezug des Seins" zum Denken des Menschen gehort. Die Metaphysikkritik Heideggers steht infolgedessen im Dienst einer grundlegenden Entscheidung, die er der Phi losophie seiner Zeit abverlangt: ,,Zur Entscheidung steht, ob das Sein selber aus seiner ihm eigenen Wahrheit", die zu denken dem vom Denken des Menschen ausgehenden, vorstellenden Urteil verwehrt ist, ,,seinen Bezug zum Wesen des

Menschen ereignen kann oder ob die Metaphysik in ihrer Abkehr von ihrem Grunde", namlich dem ,,Sein", fernerhin verwehrt, dass der Bezug des Seins zum Menschen aus dem Wesen dieses Bezuges selber zu einem Leuchten kommt, das

den Menschen zum Geh6ren in das Sein bringt."28 Den gesuchten ,,Ubergang von der Metaphysik in das Denken an die Wahrheit des Seins"29 sieht Heidegger in der Frage eroffnet, was sich im ,,Seienden", das die Metaphysik nur vorstel lend denkt, als dessen Grund ,,verbirgt". Die klassische Grundfrage der Meta physik, wie sie fur Heidegger Leibniz gestellt hatte, warum iiberhaupt Seiendes ist und nicht vielmehr Nichts,30 erhalt fur Heidegger erst durch diese Transfor

mation die dem Gewicht der Frage angemessene Fassung und nichtontologische Ausrichtung.

24 Ebd. 25 Ebd., S. 13. 26 Ebd. 27 Ders., Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1954, S. 42. 28 Ders., Was ist Metaphysik?, ebd., S. 10.

29 Ebd., S. 21.

30 Heidegger zitiert hier die Frage

von Leibniz ?Pourquoi il y a plut?t quelque chose que

rien", ebd., S. 22, vgl. Leibniz, Opera, ed. Gerh. torn VI, S. 602, n. 7.

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420 Matthias Lutz-Bachmann

3.

Der vermeintliche Konsens in der zeitgenossischen Philosophie, ,,Metaphysik" als Gestalt eines vormodernen Denkens zu verstehen, von der allenfalls noch in

historischer Absicht gesprochen werden kann, hilt einer genaueren Betrachtung nicht stand. Bei einer Oberpriifung der Konsistenz des hier verwendeten Meta physikbegriffs zeigt es sich, dass der Konsens nur oberflachlich die Ablehnung des Terminus ,,Metaphysik" einschlieL3t, jedoch ein tiefergreifender Dissens in der Beantwortung der Frage besteht, wie ,,Metaphysik" prazise bestimmt, wes halb sie kritisiert und wovon sie abgelost werden soll. Insofern das Konzept der

,,Metaphysik" vor allem die Aufgabe erfiillt, gleichsam als Kontrastfolie fur die eigenen Aussagen zu fungieren, erscheint die Wahl des jeweiligen Metaphysik

begriffs von den eigenen systematischen Pramissen abhangig. So ist es offenkun

dig, dass Habermas unter ,,Metaphysik" inhaltlich die von ihm bereits im Blick auf Hegel idealistisch gedeutete Philosophie Platons bzw. genauerhin die Schul philosophie des Neuplatonismus versteht, Heidegger dagegen als ,,Metaphysik" die aufAristoteles zuruickgehende Tradition der Ontologie bestimmt. Aus dieser Fassung des Metaphysikbegriffs ergibt sich fur Jiirgen Habermas jedoch zunachst die Schwierigkeit, dass begriffsgeschichtlich betrachtet das Konzept von ,,Metaphysik" mit der ,,gesuchten Wissenschaft"31 in dem Text der ,,vierzehn Biicher" des Aristoteles in Verbindung steht, die seit Andronikos von Rhodos als die Biicher der aristotelischen ,,Metaphysik" bezeichnet werden. Nur wenn auf

gezeigt werden konnte, dass das, was im Werk des Aristoteles als die ,,gesuchte" oberste theoretische Wissenschaft oder ,,Erste Philosophie" bezeichnet wird, nichts anderes beinhaltet als die, wie von Habermas beansprucht, in ihren ent scheidenden Motiven rekonstruierte Lehre Platons, kann die Bestimmung des Begriffs der ,,Metaphysik" durch Habermas begriffsgeschichtlich gerechtfertigt werden. Genau hier liegt aber das Problem: Gerade in den Biichern seiner ,,Me taphysik" verwirft Aristoteles diejenigen Lehrstiicke Platons, die Habermas als die zentralen Momente seiner Definition von ,,Metaphysik" auffiihrt. Hierzu zahlen erstens die (iibrigens schon im Blick auf Platons Dialoge in der Forschung umstrittene) Annahme von ,,Ideen" als rein geistiger und jenseitig vorgestellter

Wesensbestimmungen, zweitens die Supposition einer bei Platon von Par menides iibernommenen Identitat von Denken und Sein sowie drittens die ein

deutige Verordnung der Theorie vor der Praxis, die Aristoteles in seinen ethisch politischen Schriften in Frage stellt. So drangt sich die von Habermas bislang noch nicht beantwortete Frage auf, weshalb er genau das zum Definiens von

,,Metaphysik" erklart, was der ,,Metaphysiker" Aristoteles an Platon kritisiert. Gemessen an der aristotelischen Vorlage erscheint aber auch die Begriffsbe

stimmung der ,,Metaphysik" bei Martin Heidegger fragwiirdig. Da seine Aus fiihrungen zum Metaphysikproblem Heideggers gesamtes Werk durchziehen und dabei einem bestandigen Wandel unterliegen, ist es hier weder beabsichtigt

3i Aristoteles, Metaphysik A i, 982 a 4 ff.

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noch moglich, mit nur wenigen Hinweisen den Beitrag Heideggers zum Meta physikbegriff insgesamt abzuweisen. Zumindest im Blick auf den von mir hier behandelten Text Martin Heideggers aus dem Jahr I949 fallt es jedoch auf, dass auch seine Ausfiihrungen der begriffsgeschichtlichen Differenzierung nicht ge recht werden, in der das Konzept von ,,Metaphysik" in der Geschichte der Phi losophie explizit begegnet. Ich ziele mit meiner Bemerkung insbesondere auf die sachlich nicht unerhebliche Differenz, die die bei Aristoteles noch ,,gesuchte

Wissenschaft" der Metaphysik von der rationalistischen ,,Schulmetaphysik" im Anschluss an Descartes, Leibniz und Wolff unterscheidet. Anders als in dieser bewusstseinstheoretisch grundgelegten Metaphysiktradition zielt die aristoteli sche Konzeption einer ,,Ersten Philosophie" namlich gerade nicht auf ein aprio risches Wissen, das von einer introspektiv gewonnenen Selbstevidenz der ,,den kenden Substanz" seinen Ausgang nimmt und aus der Ordnung des Erkennens die Ordnung des Seins abzuleiten versucht. Das Verstandnis von Metaphysik, wie es uns aber insbesondere in Heideggers Einleitung zu seiner Vorlesung ,,Was ist Metaphysik?" begegnet war, verdankt sich einer am Konzept der rationalisti schen Metaphysik orientierten Lesart der aristotelischen Ontologie. Sie blendet den naheren Kontext der wissenschaftstheoretischen und substanzontologischen Reflexionen des Aristoteles in dessen ,,Metaphysik" ebenso aus wie die Debatten iiber ein richtiges Verstandnis des Aristoteles anlasslich des von der zeitgenossi schen Forschung zurecht so genannten ,,zweiten Beginns der Metaphysik" im 13. Jahrhundert.32 Erst vor dem Hintergrund seiner bewusstseinstheoretischen Aus legung der Grundbegriffe der aristotelischen Metaphysik, insbesondere des Be griffs des ,,Seienden", lIsst sich Heideggers stets wiederkehrende Behauptung verstehen, metaphysisches Denken sei ,,vorstellendes Denken", es verwechsele daher ,,Sein" und ,,Seiendes" und unterwerfe den Seinsbegriff schlieglich der Herrschaft des subjektiven Begriffs.

Es stellen sich jedoch auch unabhaingig von solchen begriffsgeschichtlichen Er wagungen, die im Kern auf die Frage der Angemessenheit des von der referierten Metaphysikkritik unterstellten Metaphysikbegriffs hinauslaufen, systematisch weiterfiihrende Fragen. Sie betreffen den sachlichen Zusammenhang, der zwi schen dem vom jeweiligen Metaphysikkritiker im Einzelfall ausgewaihlten Meta physikbegriff, dessen Kritik und der intendierten ,,Uberwindung der Metaphysik" durch einen eigenstandigen und weiterfiihrenden Beitrag zur Philosophie besteht. Hier ist zum einen auf die uniibersehbar argumentationsstrategische Funktion zu

verweisen, die der so gewahlte Metaphysikbegriff spielt, namlich eine gegnerische Position zu identifizieren, die so gefasst wird, dass sie leicht zu widerlegen ist. Die se Rolle scheint der Metaphysikbegriffbeispielsweise fur Habermas zu spielen. Fur die Entfaltung seiner eigenen systematischen Position ist er jedoch von eher unter

32 Vgl. Ludger Honnefelder, Der zweite Anfang der Metaphysik. Voraussetzungen, An

s?tze und Folgen der Wiederbegr?ndung der Metaphysik im 13./14. Jahrhundert, in:

J.P. Beckmann/L. Honnefelder u.a., Philosophie im Mittelalter, Hamburg 1987,

S. 165-186.

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geordneter Bedeutung. Er gestattet es ihm wenigstens, im Anschluss an Max Weber, Adorno und den ,linguistic turn' sein eigenes Denken ,,nachmetaphy sisch" zu nennen. Ob dieses Urteil jedoch auch bei einer anderen Begriffsbestim

mung von Metaphysik noch so eindeutig ware, darf mit Recht bezweifelt werden. Ich verweise an dieser Stelle lediglich auf meine Schlussbemerkung.

Zum anderen ist auf Martin Heidegger zu verweisen, fur den der von ihm kon zipierte Metaphysikbegriff nicht nur von strategischer Bedeutung, sondern von einem in nahezu jeder Hinsicht unverzichtbaren sachlichen Gewicht ist. Er kann namlich ohne einen bestandigen Rekurs auf das vermeintlich begrenzte Recht und das notwendige Scheitern der ,,Metaphysik" seinen eigenen Beitrag zur Phi losophie nicht einfiihren. Erst vermittels der Beantwortung der Frage: ,,Was ist

Metaphysik?" ist fur ihn nicht nur dessen Zuriickweisung, sondern vor allem die Skizze eines neuen Programms von Philosophie durch Heidegger seit den Tagen des Anaximander, des Platon und des Aristoteles moglich. Doch genau hier set zen meine systematischen Zweifel gegeniiber Heideggers Argumentation an. Sei ne Rede von einer ,,Wahrheit des Seins", die durch die Metaphysik nicht zuletzt dadurch subjektiviert worden sei, dass bereits Platon den urspriinglichen Begriff der Wahrheit als ,,Unverborgenheit" ersetzt habe durch den der ,,Richtigkeit" un serer Aussagen mit der Folge, dass fortan ,,das urteilende Aussagen des Verstandes [...] die Statte der Wahrheit und Falschheit und ihres Unterschieds"33 wurde und

die ,,Wahrheit des Seins" dem Denken seither ,,verborgen" ist, setzt bereits die Realitat dieses ,,Seins" in einem nicht naher explizierten Sinne voraus. Gleich wohl kann es vom Menschen nicht gedacht werden, es sei denn, ,,das Sein selber (kann) aus seiner ihm eigenen Wahrheit seinen Bezug zum Menschen ereig nen. "34 Die innere Ambivalenz dieser Aussagen Heideggers ist uniibersehbar, und Heidegger verdient Respekt dafiir, dass er sie selbst empfindet, sie nicht eliminie ren kann und gleichwohl stehen lIsst. So entziehen sich ihm zufolge die Realitat und die Wahrheit des Seins dem vorstellenden Denken und der Aussagestruktur der Sprache, und doch sollen sie zugleich ,,an-gedacht"35 und durch ,,Verstehen" erfasst werden. Heidegger stellt sich dieses ,,Verstehen"36 jedoch nach Art einer Umkehr des ausgreifenden begrifflichen Denkens vor, namlich als ein Verhaltnis, das nicht vom Menschen her, sondern das umgekehrt durch einen ,,Bezug der

Wahrheit des Seins zum Menschenwesen" begruindet ist und ,,aus der Unverbor genheit des Seins her gedacht ist."37 Bei allem Respekt fallt es schwer, in dieser Auskunft von Heidegger etwas anderes zu sehen als die Behauptung eines ,,h6he ren Wissens", das den zuvor gemachten Aussagen zufolge weder begruindet noch ausgewiesen werden kann. Das lasst die Rede Heideggers von einer ursprungli cheren ,,Wahrheit des Sein" in radikalem Unterschied von der ,,Wahrheitsfahig

33 Martin Heidegger, Platon Lehre von der Wahrheit, ebd., S. 44. 34 Ders., Was ist Metaphysik?, Einleitung, S. 10.

35 Ebd., 21 ff. 36

Ebd., S. 18.

37 Ebd.

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keit" unserer Aussagen als schlecht begriindet, ja Heideggers eigenen Stellung nahmen zufolge sogar als argumentativ prinzipiell unbegrundbar erscheinen. Da mit wird jedoch nicht nur Heideggers Metaphysikbegrifffragwiirdig, sondern vor allem auch seine Metaphysikkritik unplausibel.

Was folgt aus diesen Uberlegungen zu Habermas und Heidegger allgemein fur die zeitgen6ssische Rede in der Philosophie von einem ,,Ende der Metaphy sik" und der Unverzichtbarkeit eines ,,postmetaphysischen Denkens"? Ich be nenne einige Besonderheiten, die in der philosophischen Diskussion uiber die

Metaphysik beachtet werden soliten. Zundchst kann festgehalten werden, dass es in der Geschichte der Philosophie nicht ,,die" Metaphysik gibt, genauso wenig

wie ,,das" metaphysische Denken. ,,Metaphysik" begegnet hier nicht nur aus kontingent historischen, sondern auch aus guten sachlich-systematischen Grun den nicht anders als ,,die Philosophie": in der Vielheit der Konzepte und im Streit der miteinander teils vereinbaren, teils aber auch inkompatiblen Positio nen, die sich nicht in ,,die" groge Synthese bringen oder als Stufen eines dialek tischen Fortschritts des Geistes miteinander vermittein lassen. Infolgedessen ist auch die Rede von ,,dem" nachmetaphysischen Denken oder ,,der" Uberwin dung der Metaphysik unangebracht. Es muss im Einzelnen dargelegt und be griindet werden, was als ,,Metaphysik" bezeichnet und mit welchen Grunden sie abgelehnt werden soll. Auch die Redeweise von den noch immer irgendwie als Fortschritt ausgelegten ,,Paradigmenwechseln" der ,,Ersten Philosophie" muss unter den kritischen Vorbehalt gestellt werden, dass mit ihr nicht zugleich die Tendenz zu einer allzu grofen Abstraktion von den mit ihr beschriebenen Posi tionen begiinstigt wird und dass vor allem nicht doch insgeheim die Geschicht steleologie Hegels in die Debatten der Philosophie dogmatisch zuruckkehrt.

Ferner muss die naive Vorstellung abgewiesen werden, dass sich ,,Metaphy sik" und ,,Metaphysikkritik" einander gegenuiberstehen wie die Vertreter zweier Sportmannschaften, die es darauf angelegt haben, einander zu besiegen, zumin dest aber ein Unentschieden zu erreichen. Dem Selbstverstandnis der Philoso phie zufolge ist die Kritik an der Metaphysik, wie sie uns in der Geschichte der Philosophie seit ihren Anfangen immer wieder begegnet, Bestandteil einer De batte, die weithin dem Entwurf neuer und alternativer Konzepte der Metaphy sik dient. Dies gilt mit Sicherheit noch bis Kant, dessen Kritik der Metaphysik im Rahmen seiner theoretischen Philosophie auf eine Kritik an den Grundan nahmen einer ganz bestimmten metaphysischen Doktrin, namlich der rationali stischen Schulmetaphysik seiner Zeit, abhebt. Seine Ausfuihrungen miissen auch fur den Bereich der theoretischen und nicht nur fur die praktische Philosophie als ein Beitrag zur rationalen Begriindung von ,,Metaphysik" verstanden werden

oder, wie er selbst schreibt, als ,,Prolegomena zu einer jeden kunftigen Metaphy sik, die als Wissenschaft wird auftreten kdnnen".38 Die Rede von Kant als einem

38 Vgl. Immanuel Kant, Prolegomena

zu einer jeden k?nftigen Metaphysik, die als Wis

senschaft wird auftreten k?nnen, erschienen Riga 1783, also zwei Jahre nach der ersten

Auflage der Kritik der reinen Vernunft.

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,,Zerstorer" der Metaphysik auf dem Gebiet der theoretischen Philosophie ist so mit nichts anderes als eine dem Zeitgeist des I9. Jahrhunderts geschuldete Pro jektion, die gleichwohl, wie andere wissenschaftspolitische Erfindungen auch,

Karriere gemacht hat. Erst in der Philosophie nach Kant begegnet die Rede von der ,,Metaphysik" als einer ,,vergangenen" Figur des Denkens. Dieses Axiom tei len die hinlanglich bekannten Versuche zur ,,dialektischen Aufhebung" der Me taphysik bzw. der Philosophie mit solchen einer schlichten Zuruckweisung im

Namen der Wissenschaft und des Fortschritts, der Rationalitat oder des ,,Anti humanismus". Hier erst begegnet in der Diskussion der Philosophie das Projekt des eingangs beschriebenen ,,postmetaphysischen Denkens", das fur manche Vertreter der zeitgenossischen Philosophie so selbstverstindlich zu sein scheint, wie auch das von Ludwig Wittgenstein treffend ins Bild gesetzte therapeutische Programm von Philosophie, namlich der ,,Fliege den Ausweg aus dem Fliegen glas (zu) zeigen."39 Doch gerade auch gegeniiber dem unbefragt ,,postmetaphy sischen" Selbstverstandnis der zeitgenossischen Philosophie kann geltend ge

macht werden, dass die Stringenz der Metaphysikkritik, wie gezeigt, davon abhangig ist, dass der vorausgesetzte Metaphysikbegriff prazise begruindet und die weiterfiihrenden systematischen Argumente plausibel sind; umgekehrt ist aber ebenso festzuhalten, dass auch ein mit systematischen Griinden eingefuihr tes Konzept von Metaphysik im Raum der theoretischen oder der praktischen Philosophie nicht anders denn als Kritik von Metaphysik auftreten kann. Damit zeigt sich, dass die Beschreibung der Metaphysik bei Aristoteles mit dem Begriff einer noch ,,gesuchten" theoretischen Wissenschaft noch immer einige Plausibi litat fur sich geltend machen kann.

SchlieJllich mochte ich abschlief3en darauf hinweisen, dass diese Bestimmung der Metaphysik bei Aristoteles im Vorschlag von Michael Theunissen aufgenom men worden ist. Theunissen spricht selbst von der Metaphysik nicht als der ,,Er sten Philosophie", sondern als der ,,letzten Philosophie".40 Dabei geht er zurecht davon aus, dass ,,Metaphysik", verstanden in der Tradition der Metaphysikausle gung des Aristoteles, keine primare Deutung der Welt im Ganzen ist, vergleichbar dem Mythos oder auch anderen holistischen Weltdeutungen, die einen weltan schaulichen Charakter haben. ,,Metaphysik", wie sie in dieser Auslegungstradition verstanden wird, enthalt keinen direkten Objektbezug wie die Einzelwissenschaf ten, die auf ihren Gegenstandsbereich methodisch bezogen sind. Daher verfehlt auch die Metaphysikkritik nach dem Muster von Auguste Comte ein solches Kon zept von Metaphysik. ,,Metaphysik" wird hier vielmehr verstanden als eine philo sophische Reflexion auf die rationale M6glichkeit oder Unmoglichkeit von primaren Weltdeutungen, von praktischen Selbstauslegungen des Menschen und der Aussagen der Wissenschaften. In diesem Konzept von Metaphysik reflektieren

39 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main, 1967,

S.131. 40 Michael Theunissen, M?glichkeiten des Philosophierens heute, in: Ders., Negative

Theologie der Zeit, Frankfurt am Main 1991, S. 26 ff.

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sich daher auch die Krisen der primaren Weltdeutungen und der Wissenschaften, deren Scheitern ebenso wie neue Entwurfe. Daher kann diese Metaphysik auch als Reflexionsgestalt einer sekundaren Vergewisserung4l oder als reflexiv vollzoge ne Kritik primarer Weltdeutungen und wissenschaftlicher Weltauslegungen ver standen werden. Als eine solche Reflexion ist eine solche Metaphysik konstitutiver Bestandteil auch der zeitgenossischen Philosophie. Hierzu ist es aber nicht not wendig, dass sie unter dem Traditionsnamen der ,,Metaphysik" gefiihrt wird. Weil und insofern die Metaphysik dabei auch auf andere Erkenntnisleistungen und

Wissenschaften bezogen ist, artikuliert sie sich als Metawissenschaft. Doch als sol che will sie zugleich mehr leisten als eine deskriptiv verfahrende Wissenschafts theorie; denn als die ,,letzte Wissenschaft" sucht sie zugleich nach Grunden fur die rationale Rechtfertigung primarer Theorien, reflektiert sie die von diesen gemach ten Voraussetzungen, iiberpriift den Gehalt und die Konsistenz der von diesen verwendeten Termini, Beweisprinzipien, Methoden und elementaren Realitats mafnahmen. So sucht sie, und das ist ihre rationale Aufgabenbestimmung im Ganzen der Philosophie, nach M6glichkeiten von abschlieg3enden Begrundungen fur primare Theorien. Dabei stellt diese Metaphysik selbst Hypothesen uber die

Griinde fur die Giiltigkeit primarer Theorien auf, die ebenso wie diese selbst not wendigerweise unter dem Vorbehalt des Fallibilismus stehen. Im Lichte dieser Fas sung eines Begriffs von ,,Metaphysik" betrachtet konnte vermutlich selbst die von Jiirgen Habermas vertretene Diskurstheorie ,,metaphysisch" genannt werden,

wenn auch in einem anderen Sinn als dem von ihm gepragten Begriff des meta

physischen Denkens, nicht aber Heideggers Rede von einem ,,Andenken des Seins".

41 Vgl. Ludger Honnefelder, ?ber die M?glichkeit einer kritisch gewendeten Metaphy

sik, in: M. Lutz-Bachmann (Hrsg.), Metaphysikkritik, Ethik, Religion, W?rzburg

1995, S. 9-14.