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Zeitschrift für die professioneIIe PfIege von Personen mit Demenz Demenz pfIegen Postvertriebsstück Deutsche Post AG 73276 2. Quartal 2008 Bestell-Nr. 2807 7 ZUM THEMA Damit aus Erschrecken kein Erstarren wird PRAXIS Der Schlüssel zum Menschen ist seine Lebensgeschichte“ KONTEXT Demenz und Selbstbestimmung PRAXIS Die alte Schrift weckt Erinnerungen Biografiearbeit – selbstverständlich aber keinesfalls banal!

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Zeitschrift für die professioneIIe PfIege von Personen mit Demenz

DemenzpfIegen Postvertriebsstück

Deutsche Post AG 73276 2. Quartal 2008

Bestell-Nr. 2807 7

ZUM THEMA

Damit aus Erschrecken kein Erstarren wird

PRAXIS

Der Schlüssel zum Menschen ist seine Lebensgeschichte“

KONTEXT

Demenz undSelbstbestimmung

PRAXIS

Die alte Schrift weckt Erinnerungen

Biografiearbeit – selbstverständlich

aber keinesfalls banal!

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In Erinnerungen schwelgen

Erinnerungen können etwas sehr Schönes sein und demenzkranken Menschen

helfen, die eigene Identität aufrechtzuerhalten und sich zufriedener zu fühlen.

Die Kulturwissenschaftlerin und Krankenschwester CHRISTINA KUHN zeigt, wie sich

die Erinnerungspflege praktisch anwenden lässt und was dabei zu beachten ist.

F ür eine gelingende Kommunikation mit demenzkranken Menschen ist es enorm hilfreich, sich der Lebens- und

Erlebenswelt der Betroffenen anzunähern. Aus den Informa-tionen zur Lebensgeschichte kann oft die „innere Logik“ ei-ner Verhaltensweise erschlossen werden. Dadurch lässt sich der Blick auf den alten, gebrechlichen, hilfsbedürftigen und oftmals stark in seinen geistigen Fähigkeiten beeinträchtig-ten Menschen verändern. Im Mittelpunkt stehen dann seine Fähigkeiten, Leistungen und Ressourcen. Biografisches Wis-sen erweitert das Repertoire von Pflegenden im Bereich der Kommunikation, der Alltags- und Umgebungsgestaltung und bei Beschäftigungsangeboten. Ein wichtiges Mittel dazu ist die Erinnerungspflege.

Sich zu erinnern, ist für ältere Menschen eine Mög-lichkeit, auf ihr Leben zurückzublicken, dadurch Identität aufrechtzuerhalten, Freude zu erleben und sozial- und alltags-geschichtliches Wissen fortzu-schreiben. In der Betreuung von Menschen mit Demenz dient die Erinnerungspflege der Förderung sozialer Teilnahme und der Unterstützung kommunikativer Fähigkeiten. Dabei geht es nicht zuletzt auch um den Erhalt von Identität und die Förderung positiver Emotionen wie Freude oder melancho-lisches Schwelgen.

Erinnerungspflege kann als zeitlich begrenzte Aktivie-rung – maximal 90 Minuten – in einer Gruppe umgesetzt oder als Einzelintervention angeboten werden. Erinnerungs-pflege ist aber auch Teil des alltäglichen Interaktionsgesche-hens in der Betreuung von Menschen mit Demenz.

Grundlage der Erinnerungspflege ist die Biografiearbeit. Das ist ein strukturiertes Verfahren, um bewohnerbezogene Informationen zu sammeln, auszuwerten und für die Betreu-

Erinnerungspflege – ein personenzentrierter Ansatz in der Betreuung demenzkranker Menschen

Erinnerungspflege ist auch alltägliches Geschehen

ung umzusetzen. Hierbei werden sowohl Informationen zur Familien- und Lebensgeschichte als auch zur Lebenswelt jedes Bewohners zusammengetragen. Besonders bedeut-sam sind die Vorlieben, Gewohnheiten und Abneigungen der Bewohner. Ansprechpartner sind die Betroffenen und ihre Angehörigen. Für die Erhebung einer Biografie gilt der Grundsatz, dass Bewohner immer aktiv eingebunden wer-den, mit ihren Erinnerungen setzen sie die Prioritäten.

Bei eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten sind die Beobachtungen der Pflegenden im Betreuungs-alltag besonders wichtig. Im Rahmen einer Fallbespre-chung werden alle Informationen zusammengetragen, um gemeinsam im Team individuelle Interventionsmöglich-keiten, Anpassungen der Umgebung und Lösungsstrate-gien für herausfordernde Verhaltensweisen zu erarbeiten

(Kerkhoff, Halbach 2002; Kuhn, Radzey 2005). Hierbei werden Lebensthemen identifiziert, die positive Stimmungen und Gefühle erzeugen, um diese für die Erin-

nerungspflege zu nutzen. Gleichzeitig können sich auch Lebensthemen herauskristallisieren, die mit negativen Ge-fühlen verbunden sind. Sie sollten in der professionellen Erinnerungspflege bewusst vermieden werden.

„Wir sind Erinnerung.“

Unter dem Titel „Wir sind Erinnerung“ hat Daniel Schach-ter (2001), Psychologieprofessor an der Harvard University, USA, über die Bedeutung des Gedächtnisses für das Seelen-leben geschrieben. Unsere gesamte Identität beruht ganz wesentlich auf unseren Erinnerungen, sagt Schachter.

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Im Langzeitgedächtnis werden Wissen und Erlebnisse dau-erhaft gespeichert. Dadurch ist es uns möglich, über die Ge-dächtnisinhalte zu berichten. Das Gehirn bedient sich dabei zwei großer Speichersysteme, dem semantischen und dem episodischen Langzeitgedächtnis. Das semantische Lang-zeitgedächtnis umfasst das gesamte, lebenslang gesam-melte Faktenwissen. Dazu gehören sowohl das Allgemein-wissen als auch Einzelheiten zur Biografie. Das episodische Langzeitgedächtnis speichert Erinnerungen an konkrete Erlebnisse wie etwa unseren ersten Schultag. Wird ein Teil des episodischen Gedächtnisses aktiviert, so kommt es ge-wissermaßen zur Wiederbelebung eines Lebensereignisses, es wird in unseren Gedanken noch einmal inszeniert. Dieses episodische Langzeitgedächtnis und auch Teile des seman-tischen Langzeitgedächtnisses bilden das autobiografische Gedächtnis. Auf diesem autobiografischen Gedächtnis ba-siert im Wesentlichen unsere Identität. In personenzentrier-ten Ansätzen der Psychologie, Pädagogik und Pflegewissen-schaft wird diese auch als das Selbst bezeichnet.

Einer der Väter der humanistischen Psychologie und Begründer des personenzentrierten Ansatzes in der Psy-chologie ist Carl Rogers (1902–1987). Er vertritt die Über-zeugung, dass das Individuum über große Möglichkeiten verfügt, sich selbst zu begreifen und seine Einstellungen und Verhaltensweisen zu verändern. Voraussetzung ist die Herstellung eines positiven Rahmens, innerhalb dessen der Mensch sich entfalten kann. Die aktuellen Erkenntnisse der Neurowissenschaft scheinen den von Carl Rogers entwickel-ten Ansatz zu stützen (Lux 2007). Für die Begleitung von Menschen mit Demenz ist der personenzentrierte Ansatz durch den Psychologen Tom Kitwood (2000) weiterentwi-ckelt worden. Im Verlauf einer Demenzerkrankung erhalten die Menschen aus dem sozialen Umfeld zunehmend die Aufgabe, Situationen zu gestalten, die angenehme Erinne-rungen ermöglichen und fördern. Das Erinnern lebensge-schichtlicher Ereignisse und gelebter Beziehungen hat eine besondere Bedeutung für die Stärkung der Identität und das soziale Zugehörigkeitsgefühl. Menschen mit Demenz benötigen diese „Erinnerungshilfen“, um sich ihrer Identität zu vergewissern, ihr Selbstbild zu bewahren sowie Bindung und Zugehörigkeit zu erleben.

Die Inhalte für die Erinnerungspflege (BMG 2007) nähren sich aus zwei Wissensbeständen: Dem Hintergrundwissen zur Zeit-, Sozial- und Alltagsgeschichte einer Generation und dem Spezialwissen zur individuellen Lebensgeschichte.

Zeit-, Sozial- und Alltagsgeschichte

Jeder Mensch steht unter dem Einfluss seiner Zeitgeschich-te. Die überwiegende Mehrheit der Pflegeheimbewohner hat die Zeit des Nationalsozialismus durchlebt, war mit exis-tenziell bedrohlichen Erfahrungen konfrontiert und hat un-terschiedlich am Verlust von Menschen, Heimat, Besitz und Integrität gelitten. Normen und Werte wie Pflichterfüllung, Selbstdisziplin, Pünktlichkeit, Ordentlichkeit, aber auch Rol-

WISSEN

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lenbilder, wurden durch die vorherrschenden Denkmuster ihrer Zeit geprägt. Für jüngere Pflegende sind Verhaltens-weisen von älteren Menschen mit Demenz leichter nach-vollziehbar, wenn sie zeitgeschichtliches Hintergrundwissen haben: Wer die Sorge ums Überleben nicht kennt, für den ist das Horten von Brot in einer Überflussgesellschaft un-verständlich. Ein Feuerwerk zum Jahreswechsel ist für eine Generation, die nur Frieden kennt, eine lautstarke Freuden-explosion, während bei einem Menschen mit Demenz eine Katastrophenreaktion ausgelöst werden kann.

Dies ist bei der Erinnerungspflege zu beachten:

u Einige Menschen erinnern sich nicht gerne und haben kein Interesse

an der Vergangenheit – dieses gilt es zu respektieren.

u Menschen erzählen von Erinnerungen, um sich bestätigt zu

sehen oder um bedauert zu werden – „admire me“ oder „pity me“

(Van der Kooij 2006).

u Erinnerungsthemen sollten nicht konfliktreich sein. Ihre Auswahl

orientiert sich an den Teilnehmern und an dem Ziel, positive Gefühle

zu erzeugen.

u Erinnerungen können über sinnlich wahrnehmbare Dinge gefördert

werden: Gegenstände, Fotos, Film, Musik, Bücher, Naturmaterialien

wie Gras, Schnee, Laub oder Stoffe und Ähnliches.

u Bei Erinnerungsaktivitäten kann die Gestaltung der räumlichen

Umgebung unterstützend sein. Denkbar ist die Einrichtung eines

Erinnerungszimmers.

u Die Umsetzung von Erinnerungsaktivitäten erfolgt durch Mitarbeiter,

die sich sowohl ein entsprechendes Wissen zur Prozessgestaltung

erworben haben als auch psychologische Kenntnisse einbringen

können.

u Beobachtungen, die bei der Aktivierung von Erinnerungen gemacht

werden, brauchen eine Form der Dokumentation und eine Schnitt-

stelle, die den Informationstransfer gewährleistet. Dadurch stehen

die Informationen auch für weitere Beteiligte zur Verfügung.

u Es ist möglich, dass bei Erinnerungsaktivierungen unbeabsichtigt

negative Emotionen ausgelöst werden, die eine Depression oder

Verzweiflung einleiten.

u Pflegende benötigen Handlungssicherheit und Hilfestellung, wenn

die Erinnerungspflege bei Menschen mit Demenz eine Krise auslöst.

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Wissen zur Sozial- und Alltagsgeschichte gibt Einblick in die Wohn-, Arbeits- und Lebensverhältnisse sozialer Schichten und in die Unterschiedlichkeit von Stadt- und Landleben. Dieses Wissen ermöglicht es, die Bedeutung und Ausge-staltung des religiösen Lebens und ihrer konfessionellen Unterschiede besser zu verstehen. Und schließlich können wir dabei etwas über regionale Besonderheiten, wie etwa Brauchtum, Speisen, Essgewohnheiten, spezielle Gesten und Redensarten, erfahren (Becker 1999). Ältere Menschen verfügen über ein umfangreiches, im Langzeitgedächtnis verankertes Wissen zu Redewendungen und Sprichwörtern. In Günter Jauchs TV-Wissensquiz „Wer wird Millionär“ etwa scheitern jüngere Kandidaten immer wieder an diesem Fragenkomplex.

Errungenschaften der Wirtschafts- und Technikentwick-lung im 20. Jahrhundert haben das Arbeits- und Privatle-ben modernisiert. Einige Berufe wie etwa Bürstenbinder, Wagner, Scherenschleifer, Weißnähe-rin, Stickerin, Küfer sind fast ausge-storben. Viele manuelle Tätigkeiten im Haushalt wurden durch technische Geräte ersetzt. Die Devise „sich nicht schmutzig zu machen“ bekommt im Zusammenhang mit der Mühsal eines Waschtags eine andere Dimension: Die Unterwäsche im Waschbecken beispielsweise muss nicht als lästige Eigen-heit abgetan, sondern kann als „kleine Wäsche“ verstanden werden.

Aber auch die Körperpflege erlangt mit dem Blick auf die notwendigen Vorarbeiten wie Holzhacken und Wasser-kessel einheizen einen anderen Bedeutungszusammenhang und macht das einmalige Baden in der Woche verständlich. Heutige Selbstverständlichkeiten bedeuteten im Lebenszu-sammenhang der Bewohnergeneration harte Arbeit.

Das prozeduale Gedächtnis ermöglicht die Speicherung von Gewohnheiten sowie automatisierten Denk- und Hand-lungsroutinen. Die Kaffeemühle zum Mahlen der Kaffee-bohnen gehörte früher ebenso dazu wie ein Schneerad zum Eiweißschlagen. Solche altbekannten Gegenstände können hauswirtschaftliche Aktivierungen beleben. Ob Filmpalast oder Kaffeekränzchen mit Damengetränk, aus einem all-tagsgeschichtlichen Wissensfundus können sich Pflegende Anregungen für die Gestaltung eines Wohnbereichs holen und Gruppenangebote mit neuen Ideen anreichern (Osborn et al. 1993; Orlewski 2003). Ein entsprechendes Hinter-grundwissen ist für Menschen mit Demenz und Migrations-hintergrund gleichermaßen wichtig und unter dem Begriff kultursensible Pflege bekannt.

Gemeinsam in Erinnerungen schwelgen

„Gemeinsame Erinnerungen sind manchmal die besten Friedensstifter“ hat der bekannte französische Schriftstel-ler Marcel Proust (1871–1922) einmal gesagt. In der Grup-penaktivierung werden Lebensthemen angesprochen, die

zum Erfahrungsbereich aller Teilnehmenden gehören und die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit mit positiven Emo-tionen verbunden sind. Dazu gehören etwa die Themen Kindheit, Kleidung, Spiele, Schule, Ernährung, Sonntag, Feiertage, Arbeit, Heirat, Familie und Ähnliches (Bell et al. 2007).

Der Psychogerontologe Peter G. Coleman von der Uni-versität Southampton stellte fest, dass die am häufigsten erinnerten Erinnerungen den Zeitraum zwischen dem 15. und 30. Lebensjahr betreffen (1986). Als Gesprächsauslöser, sogenannte Trigger, wird ein Repertoire themenrelevanter Gegenstände, Materialien, Lieder, Gerüche Musik, Filme, Bewegungen und Ähnliches verwendet, um alle Sinne an-zuregen. Damit werden unterschiedliche Zugänge zu den Erinnerungsinhalten des Langzeitgedächtnisses genutzt (Trilling et al., 2001).

Der Austausch unter den Teilnehmenden wird durch eine Person moderiert, die sowohl fach-liches Wissen als auch Kompetenzen im Umgang mit Gruppen mitbringt. Faith Gibson, emeritierte Professorin für So-ziale Arbeit an der Universität Ulster in Nordirland, konnte in einer Studie feststellen, dass in Erinnerungsgrup-

pen, in die ausschließlich demenzerkrankte Teilnehmerin-nen einbezogen sind, die Kommunikation sehr stark an die Gruppenleitung gebunden ist (Gibson 1994).

Als wichtigste Qualifikationsanforderungen für die Umsetzung erinnerungsbezogener Aktivierungen werden unterschiedliche intra- und interpersonelle Fähigkeiten der Mitarbeiterinnen aufgeführt (Woodrow 1998) Eine unab-dingbare Grundhaltung ist, Menschen mit Demenz prin-zipiell als individuelle Persönlichkeiten wahrzunehmen. Wichtig darüber hinaus sind humanistische Grundprinzi-pien, kommunikative Fähigkeiten, Bewusstsein über die potenziellen Gefahren, Handlungssicherheit bei Konflikten, Zeit und Gelassenheit, Begeisterungsfähigkeit, Flexibilität und Sensibilität für die individuellen Bedürfnisse der Be-troffenen. Treten bei der Durchführung von Erinnerungs-pflege schmerzvolle Erinnerungen auf, ist möglicherweise die Unterstützung durch Therapeuten/Therapeutinnen oder Seelsorger/Sellsorgerinnen erforderlich. Hierzu gilt es im Vorfeld ebenfalls Strukturen zu erarbeiten

Unter vier Augen – Erinnerungen teilen

Mit fundiertem biografischem Hintergrundwissen kann die Erinnerungspflege auch als Einzelaktivierung umgesetzt werden. Eine Vertrauensbasis zwischen Mitarbeitern und Bewohnern ist die Voraussetzung für einen Austausch. Mit-unter können biografische Ereignisse „auftauchen“, die nur aus dieser Vertrauensbasis heraus besprochen werden und nicht für die Ohren aller gedacht sind, sondern ganz speziell dieser einen Person anvertraut werden. Sowohl Diskretion

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Jüngere passen oft bei Fragen zu Sprichwörtern

und Redewendungen

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als auch Klarheit darüber, welche Informationen geschützt bleiben können oder welche im Team bekannt sein müssen, erfordern eine Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Im Mittelpunkt einer Einzelaktivierung stehen individuell bedeutsame Lebensereignisse und Lebenserfahrungen, auf die Bezug genommen wird und die eine angenehme Stimmung fördern. Auch hierbei werden Gesprächsauslö-ser, also individuell bedeutsame Objekte, verwendet: z. B. Medaillen, berufliches Handwerkszeug, Gegenstände der Freizeitbeschäftigung, Bilder, Meisterbriefe, Urkunden, Familien-, Hochzeits-, Kinderfotos und Ähnliches. Sind Le-bensthemen bekannt, die mit schmerzlichen Erinnerungen verbunden sind, werden diese bewusst vermieden. Ange-hörige sind in diesem Zusammenhang wichtige Partner in der Betreuung. Im Rahmen der Biografiearbeit können sie wertvolle Hinweise geben, welche Themen Ängste oder Verzweiflung auslösen.

Alltägliche „Erinnerungs-Pflege“

Die Erinnerungspflege ist Teil der alltäglichen, pflegeri-schen und betreuerischen Interaktion zwischen Pflegenden und Menschen mit Demenz. Der Ansatz der Erinnerungs-pflege, an Lebenserfahrungen anzuknüpfen – wie etwa die Körperpflege mit Kernseife vorzunehmen – ist Teil einer wertschätzenden Grundhaltung. Damit können Ressourcen gefördert und Verhaltensweisen in den richtigen Rahmen gesetzt werden. Das kann ganz einfach bedeuten, jeman-dem ein Wischtuch zur Verfügung zu stellen, wenn er mit der Hand über die Tischfläche wischt. Das bedeutet auch, durch spezielle Gesprächsthemen den Bezug zur individu-ellen Lebensgeschichte herzustellen, Gewohnheiten wahr- und ernstzunehmen und die Pflegehandlungen so gut wie möglich daran auszurichten. Diese Grundhaltung entwi-ckelt durch die Auseinandersetzung mit der Person auch die Kenntnis von dessen individueller Lebensgeschichte. Wenn einzelne oder mehrere demenzerkrankte Bewohner oder Bewohnerinnen in alltagsnahe Betätigungen aktiv oder passiv eingebunden sind, dann werden etwa über den Einsatz bekannter Küchengeräte oder über die Entfaltung bestimmter Düfte Erinnerungen aktiviert: Dazu gehören Gartentätigkeiten, hauswirtschaftliche Tätigkeiten wie Kuchenbacken, Weihnachtsgebäck herstellen, Obst ein-machen und dergleichen mehr. Die Pflege der Erinnerun-gen kann bestenfalls ständiger Bestandteil des alltäglichen Interaktions- und Pflegegeschehen sein und liegt in den Händen der Pflegeteams.

Die so gestaltete Erinnerungspflege bietet Pflegenden eine Möglichkeit, demenzerkrankte Menschen in ihrem individuellen Personsein zu unterstützen. Lebenserinne-rungen von Menschen mit Demenz zu hören und Zusam-menhänge verstehen zu lernen, erhöht das Verständnis für andere Verhaltens- und Denkweisen und fördert das Ein-fühlungsvermögen.

WISSEN

pflegen: Demenz 7 | 2008

Organisatorische Rahmenbedingungenfür die Erinnerungspflege

u Die Ziele für die Betreuung von Menschen mit Demenz sind

in einem Konzept festzuhalten.

u Ein am Konzept orientierter Biografieerfassungsbogen sollte

vorliegen.

u Eine Informationsmappe für Angehörige beinhaltet den Biografie-

erfassungsbogen und eine Angehörigeninformation zur Gestaltung

des Zimmers mit möglichen wichtigen Gegenständen.

u Beim Aufnahmegespräch werden Angehörige und Betreuer über die

Bedeutung biografischen Hintergrundwissens für die Pflegenden

informiert und um Mitarbeit gebeten.

u Beim Heimeinzug liegt der ausgefüllte Biografieerfassungsbogen vor.

u Die Bezugspflegeperson sammelt im Gespräch mit dem Bewohner

Informationen, die für die Erinnerungspflege wichtig sein können.

Dabei sollte auch auf nicht-sprachliche Signale geachtet werden.

u Die Bezugsperson tauscht sich mit Angehörigen oder Betreuer über

die biografischen Informationen und Beobachtungen aus.

u In einer Fallbesprechung wird der Bewohner dem Pflegeteam vor-

gestellt und ein Interventionsplan erarbeitet. Darin sollten enthalten

sein: Gesprächsthemen, Beschäftigungsangebote, Berücksichtigung

von Ritualen und Ähnliches. Darüber hinaus sollten Dinge erfasst

sein, die dem Bewohner ein besseres Sich-Zuhause-Fühlen ermög-

lichen.

u Informationen, die für die Erarbeitung der Pflegeplanung wichtig

sind, werden übernommen.

u Eine begrenzte Auswahl an Interventionsmöglichkeiten wird

umgesetzt, dokumentiert und reflektiert.

u Mit den Angehörigen wird ein Erinnerungsbuch gestaltet.

Hierbei werden meistens weitere wichtige Informationen weiter-

gegeben (pflegen: Demenz 4, 2007).

u Das Erinnerungsbuch ist in der Einzelaktivierung einsetzbar und

Bestandteil des Einarbeitungskonzepts neuer Mitarbeiter.

u Der Interventionsplan erfordert eine Überarbeitung, wenn der

Krankheitsprozess Anpassungen einfordert.

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Erinnerungspflege ist keine Wahrheitssuche

Eine gute Zusammenarbeit mit Angehörigen bedeutet, die Informationen wertzuschätzen, die an Pflegende weiterge-geben werden. In der Biografiearbeit ist in jedem Fall zu vermeiden, dass Angehörige unter Stress geraten, weil sie bestimmte Fragen nicht beantworten können. Informatio-nen können nicht eingefordert werden und Angehörigen ist zuzubilligen, nichts zu wissen. Schließlich liegt das ge-meinsam gestaltete Leben oft Jahrzehnte zurück, große Distanzen zwischen den Wohnorten haben die Besuche auf die Festtage beschränkt und Alltagsgewohnheiten sind daher nicht bekannt. Das Wissen Angehöriger zur Lebens-

geschichte der Person ist durch die jeweilige Perspektive oder Rolle eingeschränkt und be-stimmte Informationen wurden an Kinder nicht weitergegeben, weil es sich um Tabuthemen handelte. So können Diskre-

panzen auftreten, wenn etwa eine Bewohnerin von sieben Kindern berichtet und ihre Tochter nur von fünf Kindern weiß. Biografiearbeit sucht nicht nach der Wahrheit, sondern nach Hinweisen, die für die Erinnerungspflege zu nutzen sind. Weiterhin ist zu bedenken, dass Familienzugehörig-keit nicht immer positive emotionale Nähe bedeutet. Die Biografiearbeit ermöglicht Pflegenden auszuloten, in wel-cher Weise Angehörige in die Betreuung eingebunden sein möchten.

Außerdem ist eine selektive Informationsweitergabe auch ein Schutz für Pflegende. Das Wissen um positive Le-bensleistungen hinterlässt bei Pflegenden ein anderes Bild als Informationen zu Lebenshandlungen, die in der Familie bekannt aber verschwiegen wurden oder strafrechtliche Konsequenzen zur Folge hatten. Im Zusammenhang mit Traumaerfahrungen kann unkontrollierter Stress auftreten, der vor allem durch Sinneseindrücke wie etwa Gerüche oder Geräusche ausgelöst wird. Das kann zu unangemesse-nen Verhaltensweisen führen. In diesem Grenzbereich sind biografische Informationen für die Sicherheit der anderen Bewohner und der Pflegenden wichtig.

Die Erinnerungspflege stößt in weit fortgeschrittenen Stadien der Demenz an ihre Grenzen, zumal die Rückmel-dung durch die Betroffenen stark eingeschränkt ist. Doch auch hier kann lebensgeschichtliches Hintergrundwissen durch spezielle Maßnahmen, etwa dem Einsatz der Lieb-lingsmusik des Betroffenen, in z. B. das Konzept der Basalen Stimulation® integriert werden. ■

u KontaktCHRISTINA KUHN

E-Mail: [email protected]

WISSEN

BECKER, JUTTA (1999)

„Gell, heut geht’s wieder auf die Rennbahn“.Die Handlungslogik dementer Menschen wahrnehmen und verstehen.Darmstadt: afw-Arbeitshilfe Demenz

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So bleiben Menschen mit Demenz aktiv. 147 Anregungen nach dem Best-Friends-Modell.München: Reinhardts Gerontologische Reihe Bd. 41

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Aeging and Reminiscence Processes.Chichester: John Wiley and Sons

GIBSON, F. (1994)

What can reminiscence contribute to people with dementia? In: Bornat, J. (Hrsg.) Reminiscence Reviewed: Evaluations, Achievements, Perspectives. Open University Press, Buckingham, England, S. 46 – 60

KERKHOFF, B.; HALBACH, A. (2002)

Biografisches Arbeiten. Beispiele für die praktische Umsetzung. Hannover: Vincentz Verlag

KITWOOD, T. (2000)

Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen.Bern: Verlag Hans Huber

KUHN, CHR.; RADZEY, B. (2005)

Demenzwohngruppen einführen. Ein Praxisleitfaden für die Konzeption, Planung und Umsetzung.Stuttgart: Demenz Support Stuttgart gGmbH

VAN DER KOOIJ, K. (2007)

Ein Lächeln im Vorübergehen. Erlebnisorientierte Altenpflege mit Hilfe der Mäeutik.Zürich: Huber

LUX, M. (2007)

Der Personenzentrierte Ansatz und die Neurowissenschaften. München: Reinhardt

ORLEWSKI, J. (2003)

Kollektive Prägungsgeschichte in der Altenpflege. Itzig: Service RBS

OSBORN, C.; SCHWEITZER, P.; TRILLING, A. (1993)

Erinnern. Eine Anleitung zur Biografiearbeit mit alten Menschen. Freiburg: Lambertus

BUNDESMINISTERIUM FÜR GESUNDHEIT (HRSG.) (2007)

Rahmenempfehlungen zum Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz in der stationären Altenhilfe.Berlin: BMG

SCHACHTER, D. (2001)

Wir sind Erinnerung.Reinbek: Rowohlt

TRILLING, A. ET AL. (2001)

Erinnerungen pflegen. Hannover: Vincentz Verlag

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LITERATUR

pflegen: Demenz 7 | 2008

Biografisches Wissen kann auch

schützen