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Page 1: Neurobiologische Aspekte der Nervenregeneration

Arch Otorhinolaryngol 231, 71-88 (Kongregbericht 1981) Archives of Oto-Rhino-Laryngology �9 Springer-Verlag 1981

Neurobiologische Aspekte der Nervenregeneration*

G. W. Kreutzberg

Max-Planck-Institut ffir Psychiatrie, Kraepelinstrage 2, D-8000 Mfinchen 40, Bundesrepublik Deutschland

Neurobiologic Aspects of Nerve Regeneration

Summary. This review is focusing on the cell biology of regenerat ion in neurons of the peripheral nervous system, mainly the motoneuron. The re t rograde or axonal reaction in these cells is characterized by an increase in the R N A and protein metabol ism and is associated with morphological and cytochemical changes. The neuronal events are accompanied by changes in the microenvi ronment of the complete motor nucleus. Presynaptic terminal, glial cells and the capillaries participate in this process.

Axonal sprouting occurs in the proximal stump of regenerating nerve. This event has been studied by scanning electron microscopy as well as with histochemical methods. Wallerian degeneration in the distal stump is viewed on as an important prerequisite for regeneration. Some aspects of current research in the field are briefly discussed, for instance: signal for chromatolysis, search for regenerat ion factors, role of axonal t ransport and intercellular communication.

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2. Die Vorgfinge in der Nervenzelle nach Durchschneidung des Axons . . . . . . . . . . . . . 72 3, Die Mikroumgebung der regenerierenden Motorneurone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4. Ver~nderungen im proximalen Stumpf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 5. Verfinderungen im distalen Stumpf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 6. Aspekte der gegenwfirtigen Forschung zum Problem der Nervenregeneration . . . . . . 87 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

* Meinem verehrten Lehrer Prof. Dr. Gerd Peters zum 75. Geburtstag gewidmet

0302-9530/81/0231/0071/$ 03.60

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1. Einleitung

G. W. Kreutzberg

Der Bauplan peripherer Neurone weist diese als Zellen von extremer Asymmetrie aus. Von einem Zellk6rper, dessen Durchmesser zwischen 20 und 100 ~tm mil3t, entspringt ein Axon, das je nach Spezies mehrere Meter lang werden kann. Da dieses Axon selber keine biosynthetische Kapazitfit besitzt, mug der gesamte Fortsatz vom Perikaryon metabolisch mitversorgt werden. Die Kontinuitfitsunterbrechung des Axons, wie wir sie bei der Verletzung peripherer Nerven sehen, ffihrt auf Grund dieser einzigartigen Konstruktion zu charak- teristischen Vorgfingen, die allerdings in den verschiedenen Abschnitten des verletzten Neurons sehr verschieden sind. Im distalen Stumpf degenerieren die nun nicht mehr mit ihrem nutritiven Zentrum in Verbindung stehenden Teile des Axons, ein Vorgang, den wir Wallersche Degeneration nennen. Im proximalen Stumpf finden wir regenerative Vorgfinge charakterisiert durch das Aussprossen neuer Axone. Im Bereich der Nervenzellperikarya linden wit schliel31ich die sogenannten chromatolytischen Verfinderungen, die man als eine Hypertrophie mit verstfirkter Syntheseleistung auffassen kann.

2. Die Vorg/mge in der Nervenzelle nach Durchschneidung des Axons

Im Jahre 1890 fand Franz Nissl bei der Erprobung seines neuen Ffirbeverfahrens an ,,durch Ausreil3ung der Nerven vorbereiteten Facialiskernen" eine Nerven- zellverfinderung, f/Jr die er die Bezeichnung ,,primfire Reizung" vorschlug. Er sah einen Zerfall der Chromatink6rper, eine Schwellung der Nervenzellen, eine Verlagerung des Zellkerns und eine Verfinderung der Konturen des Zellkerns. Von elektronenmikroskopischen und zytochemischen Untersuchungen wissen wir heute, dab die Chromatolyse eine Hypertrophie der Nervenzelle ist. Man findet eine erstaunliche Vermehrung der Ribonukleinsguren besonders der freien Polysomen; dem entspricht auch eine vermehrte Proteinsynthese und Verfinderungen in der Aktivitfit vieler neuronaler Enzyme. Die Vermehrung des granulfiren endoplasmatischen Retikulums, der freien Ribosomen und anderer Organellen wie z. B der Mitochondrien, ist sehr augenfNlig im elektronenmi- kroskopischen Bild (Abb. 1). Untersuchungen, die in den letzten Jahren fiber die Zusammensetzung der Ribonukleinsfiuren (RNA) im regenerierenden Neuron gemacht worden sind, lassen darauf schliegen, dab in den chromato- lytischen Neuronen ein genetisch festgetegtes Regenerationsprogramm in Gang gesetzt wird (Austin und Langford 1980). Man findet z.B. eine vermehrte Inkorporation von Uridin in die Boten-RNA. Auch ein Anstieg der ribosomalen RNA und der Transfer-RNA ist gefunden worden. Im Zusammenhang mit der vermehrten RNA-Synthese steht m6glicherweise auch ein charakteristischer enzymatischer Befund, nfimlich die Aktivitfitsvermehrung von Enzymen, die am Pentose-Phosphat-Shunt beteiligt sind (Abb. 2). Glukose-6-Phosphatdehydro- genase und auch NADPH-Diaphorase sind deutlich vermehrt (Kreutzberg 1963). Dieser Nebenweg des Zuckerstoffwechsels liefert vor allem Ribose, die zur Synthese der RNA unbedingt notwendig ist. Das in diesem Stoffwechselweg gleichfalls anfallende NADPH liefert mfglicherweise Reduktionsfiquivalente

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Abb. 1. Elektronenmikroskopisches Bild eines chromatolytischen Motorneurons im Nucl. VII 2 Wochen nach Axotomie. Die Organisation des granul/iren endoplasmatischen Retikulums in Nissl-Schollen ist kaum noch zu erkennen. Der exzentrisch gelegene Zellkern zeigt eine Eindellung mit einer dar/iber gelagerten Kernkappe aus r-ER. Ratte, Vergr. 1:5700

ffir die Lipidbiosynthese. Damit k6nnte ein Beitrag zur vermehr ten Produkt ion von Membranmater ia l geliefert werden. In regenerierenden Neuronen des Nucleus facialis und des Nucleus hypoglossus konnten wir kfirzlich demon- strieren, dab auch die Glukoseutilisation vermehr t ist (Kreutzberg und E m m e r t 1980). Der Nachweis erfolgte mit Hilfe der Deoxyglukosemethode. Bereits

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Abb. 2. Histochemischer Nachweis der Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase im Nucl. facialis (----~) vom Meerschweinchen. Starke Aktivit~itsvermehrung dieses Enzyms des Pentose-Phosphat-Shunts in den Neuronen des rechten N. VII. 18 Tage p.op.

einen Tag nach Unterbrechung des Nerven sieht man in den dazugeh6rigen Kerngebieten der Medulla oblongata einen deutlichen Anstieg radioaktiven Deoxyglukosephosphats als Indikator fiir den vermehrten Glukosestoffwechsel dieser Zellen (Abb. 3). Von frtiheren Untersuchungen war bekannt, dal3 die Enzyme des Zitronens~iurezyklus und auch der Glykolyse ebenso wie die Zytochromoxydase w/ihrend der Regeneration keine stfirkeren _Anderungen erfahren. Der bereits erwfihnte deutliche Anstieg der Enzyme des Pento- se-Phosphat-Shunts legt die Interpretation nahe, dab die vermehrte Metabo- lisierung von Glukose in regenerierenden Motorneuronen in erster Linie dem RNA-Stoffwechsel zugute kommt.

Man m6chte annehmen, dab die Verfinderungen im RNA-Stoffwechsel die Voraussetzungen f/Jr eine vermehrte Synthese von Proteinen sind. Es hat jedoch den Anschein, dab es in der Proteinsynthese nicht zu dramatischen Ver~inde- rungen kommt. Von den 300-400 verschiedenen Proteinen, die man durch SDS-Polyacrylamid-Gel-Elektrophorese auftrennen kann, zeigten nur 21 Ver- finderungen in ihrer Syntheserate (Kaye et al. 1977). Mehr Anhaltspunkte gibt es daf/ir, dab sich vor allem die Komposition der Proteine, die in regenerie- renden Motoraxonen vorzufinden sind, verfindert (Bisby 1980). M6glicherweise ist es besonders ein kalziumregulierendes Protein, das Calmodulin, das vermehrt in dieser Situation gebildet und transportiert wird. Enzyme, die in Zusammenhang mit dem Transmitterstoffwechsel stehen, werden in regene-

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Abb. 3. Vermehrter Glukoseverbrauch im Nucl. VII wghrend der Regeneratiqn, hier 7 Tage p. op. (---~). 45 min vor dem Tode erhielt die Ratte 14C-Deoxyglukose. Diese wird yon den Zellen wie Glukose aufgenommen und phosphoryliert, dann jedoch nicht weiter metabolisiert. Die Anhfiufung yon Radioaktivitgt im rechten Fazialiskern ist ein MaB der Glukoseutilisation. [Kreutzberg und Emmert (1980) Exp Neurol]

rierenden Nervenzellen vermindert angetroffen. Beispiele hierffir linden sich sowohl ftir cholinerge wie auch f~r katecholaminerge Enzyme, deren Aktivitfit in regenerierenden Neuronen stark herabgesetzt ist (Heiwall et al. 1979; Karlstr6m und Dahlstr6m 1973).

3. Die Mikroumgebung der regenerierenden Motorneurone

Retrograde Zellreaktionen, wie sie als sogenannte prim/ire Reizung oder Chromatolyse in Nervenzellen beschrieben wurden, bewirkten offensichtlich auch Ver/inderungen in den nichtneuronalen zellul/iren Bestandteilen der betroffenen Motorkerngebiete. Schon fr~hzeitig kommt es zu einer starken Beteiligung der Mikrogliazellen an den Vorg/ingen der retrograden Reaktion. 2 - 4 Tage nach der Durchschneidung yon motorischen Hirnnerven kommt es zu einem dramatischen Anstieg der mitotischen Aktivit/it dieser Satellitenzellen. Sie liegt dann etwa 30mal h6her als auf der Kontrollseite. Die proliferative Aktivitfit fiberwiegt zun/ichst bei den Zellen, die den Neuronen direkt anliegen. Zu einem spfiteren Zeitpunkt sieht man auch mitotische Aktivitfit in den Zellen des Neuropils. Elektronenmikroskopisch 1/igt sich erkennen, dab die Mikro-

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Abb. 4. Die Oberflfiche von zwei chromatolytischen Motorneuronen (N) im Nucl. VII ist 7 Tage nach der Axotomie fast komplett von Mikrogliazellen (G) und ihren Forts~itzen bedeckt. Ratte, Vergr. 1 : 18 000

gliazellen grofSe Areale der Oberflfiche des Nervenzellsomas und auch der Stammdendriten bedecken (Abb. 4). Normalerweise werden diese Stellen von den prfisynaptischen Terminalen der Afferenzen, also der Boutons Terminaux, eingenommen. Mikrogliazellen scheinen mit ihren Forts/itzen in den synapti- schen Spalt einzudringen, wodurch es zu einer Separierung der prfisynaptischen

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Abb. 5. Alkalische Phosphatase findet man vermehrt in GeffiBen des Nucl. facialis 5 Tage nach Axotomie rechts! Links: normale Kontrollseite (Kreutzberg et al. 1971)

Terminale von den Motorneuronen kommt (Blinzinger und Kreutzberg 1968). Nach unseren Ausz~ihlungen rechnen wir mit einem Verlust von 60-80% aller synaptischen Kontakte an der Oberflfiche der Somata. Elektrophysiologische Untersuchungen haben gezeigt, dab die Abtrennung der synaptischen Termi- nale von den betroffenen Nervenzellen zu einer Anderung des elektrischen Verhaltens dieser Neurone ftihrt. Sie zeigen eine deutliche Abnahme der spontanen Miniatur EPSPs vom schnellen Typ. EPSPs in der Form langsamer Wellen sind dagegen zahlreich vorhanden. Auf Grund dieser Befunde kann angenommen werden, dab vor allem axosomatischer Input vermindert ist, w~ihrend die dendritische Peripherie m6glicherweise unverfindert bleibt (Lux und Schubert 1975). Nach einigen Wochen kommt es zu einer Abwanderung der perineuronalen Mikrogliazellen in das Neuropil und zu den lokalen Gef~iBen. Damit werden auch die synaptischen Kontakte mit den Nervenzellsomata wieder hergestellt. Den nun dort wieder anzutreffenden prasynaptischen Terminalen kann man jedoch im Elektronenmikroskop nicht ansehen, ob sie ihre urspriinglichen Pl~itze wieder eingenommen haben. Es ist denkbar, dab eine vollstfindige Reinnervation der Neurone nicht stattfindet. Das k6nnte erklfiren, warum hfiufig auch nach Reinnervation des Muskels, d. h. also nach gegltickter Regeneration der motorischen Einheit viele Funktionen nicht in ihrer ursprtinglichen Perfektion wiederhergestellt werden. Pathologische Bewegun- gen, Ticks, Massenbewegungen sind bei der Regeneration hfiufig, und m6glicherweise nicht nut Folge einer peripheren Fehlinnervation.

Ver~inderungen sehen wir auch an den GeffiBen eines Nervenzellgebietes w~hrend der Regeneration. Obwohl man gelegentlich Mitosen von Geffif3-

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Abb. 6. Mikrogliazelle (G) bedeckt lamellenffrmig die Oberflache eines chromatolytischen Neurons (N). Das tiefschwarze Reaktionsprodukt zeigt die Anwesenheit von 5'-Nukleotidaseaktivit~it. NB! die vielen Polysomen im Zytoplasma des Neurons. Vergr. 1 : 40 000

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Abb. 7. Mikrogliazelle mit hoher 5'-Nukleotidaseaktivitgt, die an dem tiefschwarzen Reaktions- produkt zu erkennen ist. Damit zeigt die Gliazelle ihre Ffihigkeit an, das vasoaktive Adenosin zu produzieren. Position der Mikrogliazelle zwischen Neuron und Kapillare, L = Lumen. Vergr. 1 : 40 000

Abb. 8. Histochemischer Nachweis der Azetylcholinesteraseaktivit~t beim Meerschweinchen 30 Tage nach rechtsseitiger N. VII-Durchschneidung. Die Aktivitfit im Neuropil rechts ist vermindert

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wandzellen sieht, konnten wir jedoch keine Neubildungen von Kapillaren finden. F/Jr eine gesteigerte funktionelle Aktivit/it der Kapillaren spricht jedoch der Anstieg der alkalischen Phosphatase, z. B. im Nucleus facialis zwischen dem 2. und 7. Tage (Kreutzberg et al. 1974) (Abb. 5).

In den bereits erwfihnten proliferierenden Mikrogliazellen findet man auch eine hohe Aktivit/it von 5'-Nukleotidase in den Plasmamembranen (Abb. 6). Dieses Enzym spaltet unter anderem AMP und bildet damit Adenosin. Vom Adenosin ist bekannt, dab es eine starke vasodilatatorische Wirkung hat (Berne et al. 1974). Die auBerordentlich hohe Aktivitfit von 5'-Nukleotidase in regenerierenden Motorkerngebieten k6nnte m6glicherweise der Produktion dieses vasoaktiven Adenosins dienen (Kreutzberg und Barron 1978). Oft besteht nfimlich eine enge r/iumliche Beziehung zwischen Kapillare, Mikro- gliazellen und Perikaryon der regenerierenden Neurone (Abb. 7).

Es wurde bereits erwfihnt, dab die Acetylcholinesterase in vielen axoto- mierten Neuronen abnimmt. Beim Meerschweinchen jedoch scheint die Produktion yon AChE nicht beeintrfichtigt, wenn z.B. der Faziatisnerv unterbrochen wird (Kreutzberg et al. 1976). Das Enzym zeigt aber bei dieser Spezies unter diesen experimentellen Bedingungen einige charakteristische Verfinderungen seiner Lokalisation im Neuropil (Abb. 8). Normalerweise finden wir das Enzym besonders auf der postsynaptischen Membran der Dendriten lokalisiert. In chromatolytischen Neuronen verlieren die Dendriten die Ffihigkeit, das Enzym auf ihrer Oberfl/iche zu exponieren. Offensichtlich wird das Enzym vermehrt in den Extrazellul/irraum abgegeben und findet sich nach einigen Tagen in den Basalmembranen der lokalen Kapillaren. Der zytochemische Nachweis dieses Enzyms an der Oberflfiche von Zellen, die selber keine synthetische Kapazitfit ffir dieses Enzym haben, zeigt uns, dab offensichtlich ein extrazellulfirer Transportweg besteht, der von den Neuronen zu den lokalen Kapillaren ftihrt. Ein solcher Transport k6nnte bedeutsam sein, um spezielle Anforderungen des regenerierenden Neurons an die Kapillaren zu signalisieren.

Diese Untersuchungen zeigen, daB die tibliche Betrachtung der retrograden Reaktionen als einer nur-neuronalen Antwort auf die Axotomie nicht ausreicht. Es ist sicherlich nicht nur das Neuron, das an diesem ProzeB beteiligt ist, sondern die gesamte Mikroumgebung der Nervenzelle einschlieBlich der Gliazellen, der Geffige und des Extrazellulfirraums.

4. Ver~inderungen im proximalen Stumpf

Nach der Verletzung eines Nerven entsteht zunfichst eine Wundflfiche. Mit dem Rasterelektronenmikroskop erkennen wir in einem solchen Bereich Zelltrfim- mer, Fibrinnetze, Makrophagen, vereinzelt Erythrozythen (Abb. 9). Makro- phagen, erkenntlich an ihren zahlreichen Pseudopodien, spielen als Abrfium- zellen in diesem Wundbereich eine groBe Rolle. Untersucht man einen proximalen Stumpf 2 Tage nach dem Trauma, so erkennt man nun die sogenannten axonalen Endkolben. Sie verdanken ihre Entstehung dem fortgesetzten Nachschub von Axoplasma durch den axonalen Transport.

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Abb. 9. Nach Verletzung eines Nerven wird die Wundfl~iche von einem Maschenwerk aus Fibrin und Makrophagen iiberzogen. 48 Std nach dem Trauma erkennt man diese an ihrer polymorphen, weil instabilen Oberflfiche. Sicbtbar sind auch einzelne Axone sowobl im Zusammenhang mit der Myelinscheide als aueh als Wachstumskolben ( 1' ). N. ischiadic. Ratte, Vergr. 1 : 600

Feinstrukturell erkennt man im Inneren dieser Endkolben eine Anhfiufung von tubulfiren und vesikulfiren endoplasmatischem Retikulum sowie yon zahlreichen Mitochondrien. Entsprechende enzymhistochemische Reaktionen fallen hoch- positiv aus (Abb. 10). Von diesen Endkolben nehmen die Regenerations- vorgfinge an der Nervenfaser ihren Ausgang (Abb. 11). Es kommt zum Aussprossen von feinsten Fasern, die ihren Weg gebfindelt in die Peripherie suchen (Abb. 12). Sie folgen dabei mechanischen Leitstrukturen, die sich mehr oder minder zuffillig in der Nachbarschaft befinden. Diesem Umstand haben wit es zuzurechnen, dab regenerierende Fasern leicht aberrieren k6nnen, obwohl offensichtlich eine gewisse Prfiferenz fiir den distalen Stumpf besteht. Zur Vermeidung dieses in die Irre ffihrenden Regenerationsprozesses wurden von den Chirurgen immer subtilere Methoden eingesetzt, um die Axonsprosse in den

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Abb. 10, Am 4. Tag nach Durchschneidung des N. ischiadic, bei der Ratte zeigen die Axonenden im proximalen Stumpf eine deutliche Auftreibung und vermehrte Aktivit/it der NADH-Tetrazolre- duktase. Vergr. 1 : 400

distalen Stumpf zu leiten. Die Mikrochirurgie, wie sie vor allem von Millesi initiiert wurde, basiert auf diesen Erkenntnissen.

In jiingster Zeit ist das Konzept der konditionierten Nervenl~ision oder der Sekund~rnaht auf Grund von experimentellen Untersuchungen stark diskutiert worden (Forman et al. 1980). McQuarry und Grafstein (1973) stellten fest, dal3 die Regeneration eines Nervus ischiadicus bei der Maus um 27% schneller vor sich ging, wenn man 2 Wochen nach der ersten Untersuchung den Nerv ein zweites Mal an einer etwas proximaler gelegenen Stelle unterbrach. Die Erfolge bei der konditionierten L~sion werden im Zusammenhang mit den Ver~nde- rungen der Chromatolyse in den entsprechenden Neuronen gesehen. Nimmt man an, dal3 die im Perikaryon beschriebenen Synthesevorg~inge f/Jr eine Regeneration der Nervenfaser notwendig sind, dann verffigt der durch eine zweite L~ision konditionierte Nerv sofort fiber alle Voraussetzungen zur Regeneration, w~ihrend ein ,,naiver" Nerv diese Bedingungen nicht erffillt und zun/ichst warten muB bis im Perikaryon das Regenerationsprogramm angelaufen ist. In einer Untersuchung fiber die zeitlichen Parameter, die ffir eine konditionierende L~ision notwendig sind, wurde von Forman et al. (1979) gefunden, da/3 man dieses Ph~nomen zwischen 2 und 28 Tagen nach der Primarl/ision beobachten kann. Es ist dieses auch der Zeitraum, in dem wir eine ver~inderte Zusammensetzung der im Axon transportierten Proteine nachweisen k6nnen (Bisby 1980). Untersucht man die Motorneurone nach konditionie-

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Abb. 11. Wachstumskolben mit Axonsprossen im Raster-EM. Vergr. 1 : 3750

render Lrision, so kann man feststellen, dab die Zellreaktionen gegentiber einer einfachen Lrision verstrirkt sind. Diese, wie auch fr/ihere Untersuchungen z. B. von Holmes und Young (1942) zeigen, dab das Neuron eine kaum ersch6pfliche Kapazitrit zur Regeneration hat. Dies mag auch erklriren, dab Nervenlrisionen selbst nach so langen Zeitrriumen wie 1-2 Jahren noch durch eine sprite Nervennaht erfolgreich behandelt werden k6nnen.

5. Ver~inderungen im distalen Stumpf

Im distalen Stumpf kommt es innerhalb von Stunden nach der Durchschneidung eines Nerven zu den ersten Zeichen der Wallerschen Degeneration. Diese bestehen in einer Aufl6sung des Axons (Axolyse) (Abb. 13) sowie in einem Zerfall der Myelinscheide, deren Lipide von Phagozyten aufgenommen werden, die man als Fettk6rnchenzellen im peripheren Stumpf mikroskopisch erkennen kann (Abb. 14). Die Schwannschen Zellen proliferieren im peripheren Stumpf und bilden sogenannte Bfingnersche Brinder. Dabei handelt es sich um Reihen yon Schwannschen Zellen, die in der Longitudinalachse des Nerven angeordnet

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Abb. 12. B/indel feinster Axonsprosse findet man 6 Tage p. op. im proximalen Stumpf des regenerierenden N. ischiadic, der Ratte. Raster-EM. Vergr. 1 : 6000

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Abb. 13. Frfihes Stadium der Wallerschen Degeneration. Bei noch gut erhaltener Myelinscheide sind im Axon vermehrt vesiculo-tubulfire Elemente und lysosomale K6rperchen zu sehen. Vergr. 1 : 26 000. (l)berlassen yon Dr. A. P. Anzil)

sind. In dieser Weise ffillen sie die frfiheren Endoneuralrohre. Auf ihrer Oberfl~che sind die Bfingnerschen Bfinder bedeckt mit einer Basalmembran, die fiber lange Strecken kontinuierlich ist. Bunge nimmt an, dab diese Basalmem- branen nicht unbedingt neu gebildet werden mfissen, sondern m6glicherweise persistierend yon den Basalmembranen der Schwannschen Zellen des intakten Nerven herstammen. Die Bfingnerschen Bfinder sind yon gr6Bter Wichtigkeit ffir eine erfolgreiche Regeneration. Offensichtlich dienen sie den einwachsen- den axonalen Sprossen als Ftihrungslinien, wobei ihr kollagenes Basalmem- branmaterial besonders nervenfaserfreundlich ist. Es ist anzunehmen, dab hierbei vernetzte SH-Brficken der Glykoproteine des Kollagens eine Rolle spielen (Spiro 1978). Ffir die einwachsenden axonalen Fasern bilden die Einheiten der Endoneuralrohre mit den Bfingnerschen B/indern im degene- rierenden distalen Stumpf einen ExpreBweg zu den Zielgeweben. Ffir die

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Abb. 14. Wallersche Degeneration im Raster-EM. Perlschnurartige Ver~inderung (beading) der Nervenfasern, in denen Phagozyten den Abbau von Myelin und Axon besorgen. Vergr. 1 : 1500

Reifung der einwachsenden Fasern und die Bildung der Myelinscheide sind Schwannsche Zellen nattirlich yon entscheidender Bedeutung. Neuere Unter- suchungen von Bunge und Bunge (1978) haben ergeben, dab auch mesen- chymale Zellen, speziell die Fibroblasten, ffir das Nervenfaserwachstum von groI3er Wichtigkeit sind. Sie stimulieren die Proliferation yon Schwannschen Zellen und auch die Myelinisierung der Axone. Auch in Ffillen, wo Nervenfasern nicht in den Distalstumpf einwachsen, finden sich Bfingnersche Bfinder, und zwar fiber Zeitr~iume von Monaten oder sogar Jahren. Dies ist einer der Grtinde ffir eine erfolgreiche Nervennaht und auch Regeneration nach extrem langen Zeiten. Ahnlich wie bei der Nervenzelle selber ist also auch die regenerative Kapazitfit der Schwannschen Zellen augerordentlich hoch.

Limitiert wird eine Regeneration insbesondere im motorischen Bereich von der Degeneration des Zielgewebes. Nach Denervation kommt es zu einer raschen Atrophie der Muskelfaser. Jedoch bleiben die Kerne des Sarkolemms und der Myotuben sehr lange erhalten. Aber man mug damit rechnen, daft degenerative Vorgfinge im denervierten Muskelgewebe schlieglich zu irrever-

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siblen Verfinderungen ffihren, die zu einer v611igen Fibrose des Muskelgewebes und eventuellem Ersatz des Muskelparenchyms dutch Fettzellen ftihren.

6. Aspekte der gegenw/irtigen Forschung zum Problem der Nervenregeneration

Seit der Formulierung des Wallerschen Gesetzes, wonach eine Nervenfaser nur regeneriert, wenn sie mit dem nutritiven Zentrum, der Nervenzelle also, in Verbindung steht, sind fast 130 Jahre vergangen. In dieser Zeit sind die Vorg~inge der Regeneration und Degeneration yon peripheren Nerven wohl ann~ihernd vollstfindig beschrieben worden. Wir verstehen, was sich im verletzten Nerven abspielt und dieses Verstfindnis ist die Basis der Behandlung

v o n Nervenverletzungen. Dennoch sind ohne Zweifel einige grundsfitzliche Fragen noch unbeantwortet. Wie erf~ihrt die Nervenzelle, dab ihr Axon unterbrochen wurde? Was also ist das Signal ffir die Chromatolyse? Es kann sich um ein molekulares Signal handeln, das yon der verletzten Faser aufgenommen wird. Es kann aber auch eine qualitative und/oder quantitative Ver~inderung der normalerweise retrograd transportierten Substanzen auftreten, die jetzt nicht mehr von der Synapse kommen. Auch eine St6rung der Hom6ostase ist als Ausl6ser des Regenerationsprogramms denkbar. Keine Antwort wissen wir auch auf die Frage, warum im Zentralnervensystem eine Regeneration, vergleichbar der eines Motorneurons, nicht stattfindet. Damit im Zusammen- hang ist auch das Problem zu sehen, warum manche sensorische Neurone wie z.B. die Cochlearisneurone nach Axotomie degenerieren (Spoendlin 1979).

Im sympathischen Nervensystem kennt man einen hochspezifischen Ner- venwachstumsfaktor (NGF), der sowohl die Differenzierung wie auch die Lebensffihigkeit sympathischer Ganglienzellen bestimmt. NGF hat auch einen EinfluB auf die Neuritenproliferation dieser Zellen. Die Suche nach fihnlichen Faktoren, insbesondere ffir die motorischen Nervenzellen, hat bisher zu keinem nennenswerten Erfolg gef/jhrt. Am Modell der NGF-Wirkung kann man sich aber vorstellen, dab solche Faktoren sowohl das verletzte Neuron stabilisieren als auch die Regeneration der Axone bef6rdern k6nnten.

GroBes Interesse finden auch die Transportvorgfinge in der Nervenfaser. Sie sind das Vehikel, mit dem die f/jr die Axonsprossung notwendigen Bausteine herangeschafft werden. Axonaler Transport im wachsenden und regenerieren- den Axon zeigt Anderungen: eine Zunahme der Menge transportierter Proteine (Kreutzberg und Schubert 1971; Griffin et al. 1976), eine ,~nderung der Zusammensetzung (Bisby 1980). Welche Bedeutung haben die jetzt vermehrt in Erscheinung tretenden Proteine f/jr die Axonelongation?

F/Jr die Regeneration sind zweifellos auch interzellulfire Kontakte und interzellulfire molekulare Kommunikation notwendig. Hierfiber haben wir in den letzten Jahren vor allem von Untersuchungen an Zellkulturen gelernt. Hier gelingt es, einzelne Zellarten, zum Teil sogar kloniert und damit genetisch einheitlich, zu ziichten. Zellinteraktionen, wie sie sich zwischen Neuronen, Glia und Schwannschen Zellen und mesenchymalen Zellen ergeben, sind sicher von entscheidender Bedeutung f/jr die Nervenregeneration.

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