mutter-kind-maßnahmen für frauen mit multipler sklerose ... · die multiple sklerose ist die...

37
Evangelische Frauenhilfe Dietrich-Bonhoeffer-Str. 1 Landesverband Braunschweig 38300 Wolfenbüttel Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose (Encephalomyelitis disseminata) und ihre Kinder

Upload: others

Post on 12-Oct-2019

6 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

Evangelische Frauenhilfe Dietrich-Bonhoeffer-Str. 1

Landesverband Braunschweig 38300 Wolfenbüttel

Mutter-Kind-Maßnahmen

für Frauen mit Multipler Sklerose (Encephalomyelitis disseminata)

und ihre Kinder

Page 2: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

1

INHALT

1. ÜBERBLICK 2

2. GRUNDLAGEN 7

3. BEGRÜNDUNG DER MUTTER-KIND-MAßNAHMEN FÜR FRAUEN MIT MULTIPLER SKLEROSE (ENCEPHALOMYELITIS DISSEMINATA) UND IHRE KINDER 8

3.1 SPEZIFISCHE PROBLEME DER MS-ERKRANKUNG VON FRAUEN MIT KINDERN 9

3.1.1 INDIVIDUELLE BELASTUNGEN 9

3.1.2 LEBENSWELTLICHE EINSCHRÄNKUNGEN UND VERLUSTE 10

3.1.3 FAMILIÄRE BELASTUNGEN 11

3.1.4 RESÜMEE 12

3.2 DIE KINDER MS-KRANKER MÜTTER 14

4. THERAPEUTISCHES KONZEPT 17

4.1 THERAPEUTISCHE GRUNDLAGEN 17

4.1.1 DER MOTIVATIONALE PROZESS 18

4.1.2 DER VOLITIONALE PROZESS 19

4.2 MEDIZINISCHE BETREUUNG 21

4.2.1 DIAGNOSTIK 21

4.2.2 BERATUNG, SCHULUNG 22

4.3 SOZIA-/PSYCHOTHERAPEUTISCHE BETREUUNG 22

4.3.1 GESPRÄCHSTHERAPIE 24

4.3.2 BEWEGUNGSTHERAPIE UND ENTSPANNUNG 26

4.3.3 KURLEITUNG UND REKREATIONSTHERAPIE 27

4.4 KINDERLAND 28

4.4.1 MUTTER-KIND-INTERAKTION 29

4.5 PHYSIOTHERAPIE 31

4.5.1 KRANKENGYMNASTIK 32

4.5.2 PHYSIKALISCHE THERAPIE 32

4.6 DIÄTKÜCHE UND ERNÄHRUNGSBERATUNG 33

5. BESCHREIBUNG DER EINRICHTUNG 34

6. VERNETZUNG UND NACHSORGE 36

7. QUALITÄTSMANAGEMENT 36

Stand: 2010

Page 3: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

2

1. Überblick Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr diagnosti-ziert. Mit der Bewältigung der Krankheitsfolgen sind die Frauen vielfach über-fordert. Die betroffenen Frauen sehen sich einer tiefgehenden Störung ihres Selbstbil-des, ihrer familiären und sozialen Beziehungen sowie ihrer Lebensgestaltung und Lebensperspektive ausgesetzt. Die nachhaltige Beeinträchtigung ihres Lebensgefühls bedeutet für lange Zeiträume einen kaum überwindbaren Ein-schnitt. So ist die Diagnose „Multiple Sklerose“ bei den betroffenen Frauen immer begleitet von Angst und Niedergeschlagenheit, löst vielfach Trauer, Schuldgefühle und Selbstwertprobleme aus und mündet oftmals in den sozia-len Rückzug.

(Konzeption 3.1 SPEZIFISCHE PROBLEME DER MS-ERKRANKUNG VON FRAUEN MIT KINDERN)

Besonders mit betroffen sind auch ihre Kinder. Verursacht durch krankheitsbe-dingte Erschöpfung, Schwindel und Stimmungsschwankungen, aber auch durch Nebenwirkungen von Medikamenten, kann die Mutter nicht so auf das Kind eingehen, wie dies erforderlich wäre. Kinder können diese Symptome leicht als Ablehnung oder Desinteresse empfinden, Schuldgefühle entwickeln und krank werden. Auch sehen sie sich schnell veranlasst, ein Zuviel an Ver-antwortung zu übernehmen.

(Konzeption 3.2 DIE KINDER MS-KRANKER MÜTTER) Hier wird deutlich, dass die Familie der Betroffenen als Ganzes gesehen wer-den muss. Für alle Mitglieder ist der persönliche und emotionale Umgang mit der Situation sehr schwierig und die Familie bedarf externer Unterstützung, um weitere Folgeerkrankungen zu verhindern. Die Vorsorge-Reha-Klinik Haus Daheim stellt stationäre medizinische Maßnah-men für Frauen mit Kindern bereit, die an Überforderung und Erschöpfung lei-den. Für MS-kranke Frauen, die anhaltend unter seelischen, familiären, part-nerschaftlichen und sozialen Konflikten bis hin zu psychosomatischen Störun-gen leiden, bieten wir einen an dieser speziellen Problematik orientierten frau-enspezifischen Therapieansatz. Die Bedürfnisse der Kinder werden im Haus Daheim besonders beachtet. Lei-den sie unter Störungen oder zeigen Auffälligkeiten, werden sie über gemein-same Aktivitäten mit der Mutter in den Prozess mit eingebunden. Therapeutische Maßnahmen können in einer belastungsarmen, vertrauensvol-len Umgebung und in Begleitung durch ein interdisziplinäres Team wahrge-nommen werden. Durch drei Wochen intensive Therapie kann viel ausgelöst und neue Hand-lungswege gefunden werden. Das familiäre und berufliche Umfeld wird aber nur für kurze Zeit verlassen.

Page 4: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

3

Integrierte Versorgung In der stationären Mutter-Kind-Maßnahme im Haus Daheim kann die Stabilität des individuellen Selbstkonzepts und damit das Verhalten und die Handlungs-kompetenz in wichtigen Lebensbereichen wie Familie, Partnerschaft, Arbeit und die Zukunftsperspektiven wieder gesteigert werden. Geeignete Therapie-formen sind gruppentherapeutische Angebote, Einzelgespräche, Mutter-Kind-Interaktion, Bewegung und Entspannung. Sie unterstützen den (Neu-)Zugang zu erlebtem Verlust und Trauer und führen in neue Handlungsfähigkeit.

(Konzeption 4.1 THERAPEUTISCHE GRUNDLAGEN) Neue Wege in der Auseinandersetzung mit den Krankheitsfolgen und den fa-miliären Beziehungen ermöglichen es, dass die Frauen nach der Rehabilitati-on im Haus Daheim ambulante Maßnahmen gezielter annehmen und die Bewältigung effektiver fortsetzen können. Für die Vorbereitung auf den Auf-enthalt in unserem Haus und auch für die Nachsorge und gezielte Weiterar-beit der Patientinnen pflegen wir eine enge Kooperation mit der Deutschen Multiple Sklerose-Gesellschaft.

(Konzeption 6 VERNETZUNG UND NACHSORGE)

Diagnostik Nach einer schwerwiegenden Erkrankung, wie sie die multiple Sklerose dar-stellt, ist es von großer Bedeutung, die Erlebnisse im Zusammenhang mit der MS-Diagnose aufzuarbeiten. Darüber hinaus müssen Belastungsreaktionen und psychosomatische Folgesymptome einer präzisen diagnostischen Be-stimmung zugeführt werden. Dies geschieht im Rahmen einer interdisziplinären medizinisch, psychologisch und psychosomatisch orientierten Befundaufnah-me und Diagnostik. Bei jeder Patientin wird eine ausführliche biographische Anamnese erhoben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Bedeutung der MS-Erkrankung im sozia-len und familiären Kontext, sowie der Identifikation der bisher gewählten Ve-rarbeitungs- und Bewältigungsstrategien. Zusätzlich ist es für jede Patientin möglich, im ärztlich gelenkten Gespräch die Katamnese der MS-Erkrankung oder Details des subjektiven Krankheitserlebens (Ankündigung von Schüben und Gegenmaßnahmen) nochmals zu vertiefen und zu bearbeiten.

(Konzeption 4.2 MEDIZINISCHE BETREUUNG)

Therapeutische Konzeption In Anlehnung an das „sozial-kognitive Prozessmodell gesundheitlichen Han-delns“ (Schwarzer 1992) gehen wir davon aus, dass verschiedene Interventi-onsformen dazu notwendig sind, von MS betroffenen Frauen neue Handlungs-felder und Kompetenzen zu erschließen.

(Konzeption 4.1 THERAPEUTISCHE GRUNDLAGEN)

Dementsprechend erstellen wir zusammen mit unseren Patientinnen einen individuell angemessenen Therapieplan aus ärztlicher und psycho-/sozialtherapeutischer Betreuung. (Konzeption 4.3 SOZIA-/PSYCHOTHERAPEUTISCHE BETREUUNG und 4.3.2 BEWEGUNGSTHERAPIE UND ENTSPAN-

Page 5: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

4

NUNG) Das interdisziplinäre therapeutische Team arbeitet auf der Grundlage eines integrativen Therapieverständnisses und berücksichtigt den Kenntnisstand der Frauen und Familiengesundheitsforschung. Therapie Medizinische und physikalische Therapie

• Ärztliche Beratung • Patientenschulung • Krankengymnastik und balneo-physikalische Anwendungen bei bestehen-

den Indikationen • Wassergymnastik bei Bedarf

(Konzeption 4.2 MEDIZINISCHE BETREUUNG und 4.5.1 KRANKENGYMNASTIK)

Psychosoziale Therapie • Sozial- und psychotherapeutische Einzelgespräche • problemorientierte und themenzentrierte Gesprächsgruppen • Krisenintervention • Entspannungstechniken • Bewegungs- und Tanztherapie Mutter-Kind-Interaktion Neue Sichtweisen in der Mutter-Kind-Beziehung

• Gruppe: Erziehen, aber wie? • Individuelle pädagogische Beratung • Psychomotorik • Turnen, Tanz, Bewegung • Basteln und gestalten • Singen und musizieren • Mutter-Kind-Andacht

(Konzeption 4.4.1 MUTTER-KIND-INTERAKTION)

Ernährungsberatung • Vollwertkost (weitgehend naturbelassene Kost mit hohem pflanzlichen An-

teil) • Bei Bedarf Reduktionskost

(Konzeption 4.6 DIÄTKÜCHE UND ERNÄHRUNGSBERATUNG)

Die Therapie unterstützende Maßnahmen • Kreativtherapie • Rekreationstherapie

(Konzeption 4.3.3 KURLEITUNG UND REKREATIONSTHERAPIE)

Qualitätsstandards und Therapiekontrolle Hochqualifizierte Fachkräfte stehen als persönliche Bezugstherapeuten/-innen jeder Patientin zur Verfügung. Wöchentliche interdisziplinäre Fallkonferenzen dienen der Wirksamkeit und Kontrolle des Therapieplans. Die Wirksamkeit un-serer Therapien ist durch Untersuchungen belegt, die gute und sehr gute lang-

Page 6: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

5

fristige Erfolge bestätigen. Unterbringung Moderne Appartements mit Dusche, Balkon und Telefon sowie gastronomi-scher Service bieten die besten Voraussetzungen für einen behaglichen Auf-enthalt. Dafür sorgen auch gemütliche Aufenthaltsräume mit Kamin und Fern-seher, helle Räume für Gesprächsgruppen und ein Andachts-/Meditationsraum. In den Gästeetagen gibt es Spielzimmer mit Küchenzeile.

(Konzeption 5 BESCHREIBUNG DER EINRICHTUNG)

Hier stehen Ihnen zur Verfügung Medizinischer Dienst Internistin (verantwortl. Ärztin)

Gynäkologe Neurologe (konsiliarische Kooperation) Kinderarzt

Psychosozialer Bereich Psychologischer Psychotherapeut

(Verhaltenstherapeut) Dipl. Sozialpädagogin und Psy-

chodramaleiterin Dipl. Sozialpädagogin –

Gestaltberaterin Dipl. Sozialpädagogin – Kunst- und

Gestaltungstherapie Erzieherin Exam. Krankenschwestern für den

Tag- und Nachtdienst (24 Std.)

Physiotherapie Krankengymnastin Gymnastiklehrerin Masseurin

Kinderbereich Erzieherinnen Kinderpflegerinnen Kinderkrankenschwester

Tanztherapeutin Übungsleiterin Fitness und Wirbelsäu-

lengymnastik Heilpädagogin

Hauswirtschaft Hauswirtschaftsleiterin Oecotrophologin Köchin Hauswirtschafterinnen Haus- und Küchenhilfen Hausmeister

Die Klinik ... ist eine nach §§ 24, 41 und 111a SGB V anerkannte Vorsorge- und Rehabili-

tationsklinik. ... ist als Sanatorium im Sinne des § 30 GewO anerkannt, und ist damit beihilfe-

fähig.

Page 7: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

6

... ist eine anerkannte Einrichtung des Deutschen Müttergenesungswerkes Elly-Heuss-Knapp-Stiftung.

Fragen zur Antragstellung? Unter der Telefonnummer 05331 802 532 (Ev. Frauenhilfe Braunschweig) erhal-ten Sie Informationen und Beratung um eine Präventions- und Rehabilitati-onsmaßnahme im Haus Daheim zu beantragen. Sie erreichen uns Träger: Ev. Frauenhilfe LV Braunschweig e.V. Dietrich-Bonhoeffer-Str. 1 38300 Wolfenbüttel Telefon: 05331 802 532 Telefax: 05331 802 533

Vorsorge-Reha-Klinik Haus Daheim: Burgstraße 35 38667 Bad Harzburg Telefon: 05322 955 0 Telefax: 05322 955 199

E-Mail: [email protected] Homepage: www.haus-daheim-kur.de oder www.frauenhilfe-bs.de

Page 8: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

7

2. Grundlagen Die Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen der Mutter-Kind-Maßnahmen im Haus Daheim basieren auf der Grundlage eines psychosomatischen Krank-heitsverständnisses, das sich an Forschung und Wissenschaft orientiert. Wir ge-hen davon aus, dass Krankheiten durch psychosoziale Problemlagen mit ver-ursacht und begünstigt werden und ihrerseits psychosoziale Problemlagen verursachen können. Seit 20 Jahren bieten wir Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen, dir durch Überforderung und Erschöpfung unter Gesundheitsstörun-gen leiden. Unser Ansatz besteht in einer Stärkung der Persönlichkeit, um den täglichen Anforderungen besser gegenüberzutreten. Dies bezieht sich sowohl auf all-gemeine Überforderungssituationen (Ansatz des Müttergenesungswerkes), als auch im Hinblick auf den Umgang mit Beeinträchtigungen und Krankheit. Chronische Krankheiten können so verhindert und bekämpft werden. Außer-dem können Krankheitsfolgen, Behinderungen und Pflegebedürftigkeit auf diese Weise reduziert werden. Zusätzlich zur Behandlung eines allgemeinen Überforderungssyndroms von Frauen mit Kindern haben wir es uns zum Ziel gesetzt, dem remittierenden oder progredienten Verlauf der Encephalomyelitis disseminata bei Frauen entgegen zu wirken, Den Patientinnen soll eine möglichst selbständige und unabhängige Lebensführung ermöglicht werden. Dabei verfolgen wir einen frauenspezifischen Ansatz. Die vielfältigen Rollenbe-lastungen, denen besonders Frauen mit kleinen Kindern in unserer Gesell-schaft ausgesetzt sind, die „Allzuständigkeit“ von Frauen für Familie, Haushalt, Partner, Kinder und Erwerbstätigkeit bedeuten ohnehin schwierige gesell-schaftliche Bedingungen für ein Frauenleben. Eine Erkrankung an Multipler Sklerose schafft hier eine übersteigerte Problemlage. In diesem Zusammenhang fördern wir auch die entwicklungsspezifischen Be-dürfnisse von angehörigen Kindern und Jugendlichen, um eine Gefährdung ihrer gesundheitlichen Entwicklung durch die Folgen der mütterlichen Erkran-kung abzuwehren oder zu reduzieren. Die Wirksamkeit unserer Maßnahmen wird gesichert durch den Einsatz geeig-neter Strukturen und qualifizierten Personals, durch geplante und geleitete therapeutische Prozesse und durch eine fortlaufende Kontrolle der Rehabilita-tionsergebnisse. Unsere Bemühungen werden gestützt durch eine effektive Kooperation und Koordination mit stationärer und ambulanter kurativer Be-handlung sowie mit Selbsthilfe- und Beratungseinrichtungen. Humanität und Qualität der medizinischen Versorgung sind die Leitideen un-serer modernen und bedarfsgerechten Gesundheitsleistungen. Die Einsicht in ihre Notwendigkeit begründet unseren Auftrag.

Page 9: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

8

3. Begründung der Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multip-ler Sklerose (Encephalomyelitis disseminata) und ihre Kinder

Die Multiple Sklerose ist eine der häufigsten neuroimmunologischen Erkran-kungen junger Erwachsener: Weltweit sind ca. 2,5 Million Menschen davon betroffen; in der Bundesrepublik Deutschland sind es über 120.000; jährlich kommen 3.000 bis 4.000 Neuerkrankungen hinzu. Frauen sind doppelt so häu-fig betroffen wie Männer. Besonders häufig bricht die Krankheit zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr aus. Jedoch sind auch Kinder und alte Menschen betroffen. Aus der Tatsache, dass sowohl das weibliche Geschlecht als auch das Alter, in dem typischer Weise Familien gegründet werden, ein potentielles Erkrankungsrisiko darstellen, erschließt sich, dass in der Gruppe der MS-Kranken viele Mütter kleiner bzw. heranwachsender Kinder zu finden sind. Es gibt derzeit keine Therapie zur Heilung der Encephalomyelitis disseminata.

Exkurs: Die häufigsten Symptome der Encephalomyelitis disseminata

Die multiple Sklerose wird auch die "Krankheit mit den tausend Gesichtern" ge-nannt. Sie kann die unterschiedlichsten Symptombilder zeigen. Bei den meisten Patienten führt die Erkrankung allerdings über kurz oder lang zu mehr oder we-niger ausgeprägten neurologischen Ausfallerscheinungen. Jedoch führt die Er-krankung nur in den allerwenigsten Fällen zur vollkommenen Hilflosigkeit. Die Symptome sind sehr vielgestaltig und treten einzeln auch bei anderen Er-krankungen auf. Es gibt Symptome, die besonders in ihrer Kombination typisch für die multiple Sklerose sind. Je nach Lokalisation der Nerven, die von der De-myelinisierung betroffen sind, treten unterschiedliche Symptombilder auf: Symptome durch Befall des Rückenmarks

Hier sind grundsätzlich zwei verschiedene Störungen zu unterscheiden: Bei Befall afferenter Nerven kommt es zu sensorischen Missempfindun-gen, bei Befall efferenter Nerven zu motorischen Beeinträchtigungen. sensorischen Missempfindungen:

Sensibilitätsstörungen treten oft als Missempfindungen und Krib-beln sowie Schmerzen in den Extremitäten auf. Synonyme, die häufig in diesem Zusammenhang verwendet werden, sind: A-meisenlaufen, Taubheit, Schwere-, Kälte-, Gürtel-, Spannungs- oder Druckgefühle. Im Endstadium kann dies zu vollständigem Verlust des Gefühls führen. (initial sind hiervon 40% der Fälle be-troffen) Störungen im Bereich der Sexualität: Gefühls-, Libido-, Potenzver-lust oder Verlust der Orgasmusfähigkeit.

motorischen Beeinträchtigungen: Schlaffe oder spastische Lähmungen, ein- oder beidseits mit abgeschwächten Muskelreflexen (40% der Fälle) Blasen- und Darmentleerungsstörungen treten häufig auf. Die individuellen Beschwerden reichen vom Harnträufeln (Restharn-bildung) über ständigen Harndrang, Schwierigkeiten beim Was-serlassen ("Es dauert immer Stunden, bis es kommt") bis zum voll-ständigen Verlust der Kontrolle über die Miktion (Inkontinenz).

Page 10: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

9

Viele Betroffene erlernen im Verlauf der Erkrankung, sich selbst zu katheterisieren.

Symptome durch Befall des Sehnervs

Sehstörungen mit Beeinträchtigung des Sehnervs (Opticusneuritis). Dieser Symptomatik der MS wird insbesondere in frühen Phasen der Diagnostik erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt, da hier oftmals sehr früh entzündliche Prozesse ansetzen und nachweisbar sind. Entsprechend tritt als ein häufiges Anfangssysmptom der MS das Schlei-ersehen ("Milchglas") auf; im Verlauf kann dies zur völligen Erblindung (eines oder beider) Augen führen. Farbsehstörungen können der erste Anhalt für eine multiple Sklerose sein. Es kann auch zu Lähmungen der Augenmuskeln kommen (Augen-muskelparesen), dabei sehen die Betroffenen Doppelbilder.

Symptome durch Befall des Hirnstammes

Hierunter fallen die Trigeminusneuralgie (heftige Schmerzattacken des Gesichtes) sowie die Fazialisparese. Außerdem werden häufig Schwin-del und Brechreiz beschrieben. Weiterhin führen Herde im Hirnstamm zu Sprachstörungen (verwaschene Sprache).

Symptome durch Befall des Kleinhirns

In diesem Fall kommt es zu Koordinationsstörungen. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, gezielte Bewegungen auszuführen. Der Tremor kann geplante Bewegungen ganz unmöglich machen, was zu Unsi-cherheiten beim Sitzen, Stehen oder Gehen führen kann (Rumpf-, Stand- oder Gangataxien). Durch Befall dieses Bereiches kann es eben-falls zu Sprechstörungen kommen, die sich darin äußern, dass die Be-troffenen nicht flüssig sprechen können. Die Sprache wirkt abgesetzt (skandierend).

3.1 Spezifische Probleme der MS-Erkrankung von Frauen mit Kindern Frauen und Mütter sehen sich im konkreten Alltag mit ihren Kindern und Fami-lienangehörigen, aber auch in dem weiteren sozialen Umfeld und bei dem Zugang zu Ressourcen erheblichen Rollenanforderungen gegenüber. Diese erfordern einen beträchtlichen Bewältigungsaufwand, der oft bis an die Grenzen geht. Wenn in dieser Situation die MS-Diagnose gestellt wird, bedeu-tet das einen beträchtlichen Bewältigungsbedarf, der leicht in eine Überfor-derung führen kann.

3.1.1 Individuelle Belastungen

Im Verlauf der Erkrankung kommt es bei einem Teil der Betroffenen zu psychi-schen Beeinträchtigungen, die zumindest mittelbar in Zusammenhang mit der Grunderkrankung stehen, und bei der Bedarfsbestimmung zu Beginn eines Kuraufenthaltes erfasst werden sollten. - Schon vor der endgültigen Diagnosestellung, die oft erst nach längerer

Krankheitsdauer gesichert erfolgen kann, leiden die Betroffenen oftmals

Page 11: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

10

unter Symptomen wie Abgeschlagenheit, schneller Ermüdung etc. Die Be-troffenen geraten immer wieder in Erklärungsnotstand, werden z.B. der Hy-pochondrie bezichtigt1 und erleben bereits hier Risse in ihrer sozialen Ein-bettung. So kommt es bereits vor der Diagnosestellung häufig zu Depressi-onen.

- Besonders zu Beginn der Erkrankung kann es zu Depressionen kommen, die

im Verlauf der Erkrankung immer wiederkehren können. Sie sind häufig Fol-ge sozialer Probleme in Familie, Freundeskreis und Beruf, die sich im Zu-sammenhang mit der Diagnose ergeben. Symptome wie Schwindel, Mü-digkeit, Konzentrationsschwäche, werden vom sozialen Umfeld nicht als Er-krankung anerkannt, sondern „auf die Psyche geschoben“, wo sie sich auf der Ebene von reaktiven Depressionen folgerichtig verstärkt wiederfinden.

- Auch können konkrete oder potentielle Behinderungen und die Ungewiss-

heit über den weiteren Krankheitsverlauf Depressionen verursachen (mal-

adaptives Coping). Bei vielen anderen Krankheiten und Behinderungen, etwa Krebs oder Amputationen, hat die Adaptionsforschung herausge-funden, dass mit der Zeit eine gewisse Gewöhnung an den veränderten Zustand eintritt - nicht so bei Multipler Sklerose. MS wird für die Betroffenen zu keinem Zeitpunkt „normal“. Eine Gewöhnung wird offenbar hintertrie-ben, weil in vielen Fällen die Symptome der Krankheit kontinuierlich schlimmer werden.

- Viele Betroffene klagen über rasche Ermüdbarkeit und vorzeitige Erschöp-

fung. Leistungen und Arbeiten, die zuvor noch ohne Schwierigkeiten aus-geführt werden konnten, erfordern nun mehr Kraft und Zeit. Ebenfalls wer-den Konzentrationsstörungen beschrieben. In einer empirischen Studie wurde festgestellt, dass MS-Kranke in einem Vier-Stunden-Fenster bezüglich ihrer Konzentrationsfähigkeit schneller ermüden als Gesunde.

- Im Bereich der intellektuellen Fähigkeiten kann man lediglich vereinzelt Be-

einträchtigungen des Kurzzeitgedächtnisses feststellen. Ansonsten verur-sacht die Encephalomyelitis disseminata keinerlei intellektuelle Störungen.

3.1.2 Lebensweltliche Einschränkungen und Verluste

Die Erkrankung an Multipler Sklerose hat für die Betroffenen über die medizini-schen Sachverhalte hinaus weitreichende Konsequenzen. Dies liegt zunächst in dem Wesen der Erkrankung begründet, das bereits lange vor dem Zeitpunkt einer gesicherten Diagnosestellung über die sich einstellenden Symptome die Mutter, ihre Partnerschaft und ihr familiäres System zunehmenden Belastun-gen ausgesetzt hat. Das heißt, der Zeitpunkt der Diagnosestellung, der bei den meisten anderen Krankheitsbildern erst als Einstieg in die Krankheitsbewäl-tigung zu bewerten ist, trifft bei MS-Erkrankten in aller Regel schon auf ein ge-

1 Obwohl sie eher zum bewussten Verheimlichen der Krankheit (=Dissimulation) neigen.

Page 12: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

11

schwächtes und vorbelastetes individuelles, familiäres und soziales System. Das bedeutet vor allem, dass die zu einem adäquaten Umgang mit der Krankheit benötigten Ressourcen bei MS-Erkrankten bereits im Vorfeld zu ei-nem beträchtlichen Teil gebunden sind. Dies mag als Erklärung für das Loch dienen, das sich Berichten Betroffener zufolge, im Falle der MS-Diagnose zu-nächst besonders tief aufzutun scheint. Die Orientierungsphase ist im Verhält-nis zu anderen chronischen Erkrankungen deutlich verlängert und viele Betrof-fene gelangen erst sehr spät in eine aktive Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit. Zusätzlich belastend wirkt insbesondere bei der MS die Tatsache, dass sich die konkrete Bedeutung und individuelle Tragweite der Krankheit erst allmählich herausstellt. Bedingt durch die Progredienz entstehen über einen langen Zeit-raum Zweifel an der „Normalität“ und Funktionsfähigkeit der betroffenen Frau, und Erkenntnisse einer „Behinderung“ verdichten sich. Die Familien unterliegen gerade in diesem „Entwicklungsprozess“ der Krank-heit vielfältigen widersprüchlichen Einflüssen und Belastungen. Hierbei können bei allen Familienmitgliedern Trauer, Schuldgefühle, Selbstwertprobleme, Ag-gression, zunehmender sozialer Rückzug, Hilflosigkeit, Auflehnung, Ängste, Ent-täuschung, etc. wachgerufen werden. Betroffene wie ihre Familienangehörigen berichten von einer nachhaltigen Veränderung ihres Lebensgefühls. Die Betroffenen haben sich mit einer tief-gehenden Desillusionierung hinsichtlich ihres (bis dahin optimistisch gefärbten-) Selbstbildes, des Bildes von der Struktur sozialer und familiärer Beziehungen sowie ihrer eigenen Lebensgestaltung und Lebensperspektive auseinanderzu-setzen. Von Desillusionierungsprozessen berichtet die Rehabilitationsforschung auch bei Partnern und Kindern. Negativere Bewertungen der Partnerschaft durch den Vater sowie Gefühle der Verärgerung oder der Ablehnung auf Seiten der nicht betroffenen Familienangehörigen gegenüber der Frau können beo-bachtet werden. Hier wird deutlich, dass auch und gerade die Familie der Betroffenen als Gruppe angesehen werden muss, deren persönliche und e-motionale Anpassung gefährdet ist, und die externer Unterstützung bedarf. Dies gilt vor allem auch vor dem Hintergrund des erkrankungsbedingten par-tiellen Ausfalls der Frau in ihrem klassischen Rollensegment der emotional sta-bilisierenden Mutter und Partnerin.

3.1.3 Familiäre Belastungen

Eine Auswirkung der Tatsache, nunmehr ein „behindertes“ Familienmitglied zu haben, äußert sich in einer tiefgreifenden Veränderung des familiären Zeit-budgets sowie in der Aufgabenverteilung. Erkrankungsbedingte Verlangsa-mungen häuslicher und außerhäuslicher Tätigkeiten, Zeitverluste durch häufi-ge Termine bei Medizinern und Physiotherapeuten können empfindliche Stö-rungen der so genannten „Normalität“ in der individuellen und familiären Ta-gesgestaltung mit sich bringen. Dies betrifft sowohl Frauen in partnerschaftli-chen Beziehungen wie auch Alleinerziehende.

Page 13: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

12

Da nur wenige Mütter aufgrund der MS-Erkrankung auf Anhieb bereit sein werden, die für ihr Selbstverständnis in Bezug auf ihre familiäre Rolle radikal umzugestalten, werden häufig zeitliche und materielle Abstriche in der Peri-pherie vorgenommen. Tendenziell gelangen dabei Teilaspekte einer außer-häuslichen Erwerbstätigkeit auf den Prüfstand, erholsame Freizeitaktivitäten werden eingeschränkt, und aufwendig erscheinende soziale Kontakte wer-den reduziert. Im Gegenzug wächst dem Partner im verstärkten Maße die fa-miliär ohnehin bestehende Rolle des Ernährers und nach außen hin Verant-wortlichen zu. Beide Partner verlieren auf Grund der MS-Erkrankung der Frau also an Freiräumen und psychosozial bedeutsamen regenerativen Ressour-cen. Erhöhte Anstrengungen bei der Organisation und Bewältigung des familiären Alltags, zeitliche und gesundheitliche Zusatzbelastungen, verringerte berufli-che Freiräume und Möglichkeiten, sowie (häufig mit letzterem verbunden) finanzielle Schwierigkeiten können sich zu einer erheblichen Dauerbelastung kumulieren, wodurch die regenerative Kraft der Familie beeinträchtigt und sich die psychosoziale sowie gesundheitliche Vulnerabilität jeden einzelnen Mitgliedes deutlich erhöht. Diese erhöhte Belastung kann sich unmittelbar auf das Selbstwertgefühl und die Lebensgestaltung beider Partner auswirken, und beeinträchtigt so in be-trächtlichem Umfang die familiären Beziehungen und ihre emotionale Stabili-tät.

3.1.4 Resümee

Die Multiple Sklerose ist eine unheilbare Nervenkrankheit. Mit einer ganzen Fül-le von schulmedizinischen und anderen Maßnahmen kann versucht werden, den Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen. Die Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit MS und ihre Kinder im Haus Da-heim verfolgen deshalb einen speziellen Absatz, der sich auf die Krankheits-folgen und ganz besonders auf die Bewältigung der sich aus einer Erkrankung an MS ergebenden psychischen, sozialen und gesundheitlichen Störungen konzentriert. Die zu bewältigenden Krankheitsfolgen sind im Überblick bezogen auf die ... Krankheit

- die Tatsache der Diagnose (oder der Verdacht) - die Symptome, die immer in Zusammenhang mit der MS gebracht werden und die Ungewissheit darüber - die Störung des Gleichgewichts und der Koordination - die Spastiken und Muskelkrämpfe - die Sehstörungen, Sprach- und Schluckprobleme, Störung der Blasen-funktion

Page 14: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

13

- Erschöpfung, Müdigkeit, Schwindel - die absehbare fortschreitende Verschlechterung

psychische Beeinträchtigung

- nicht ernst genommen zu werden, nicht als krank akzeptiert zu werden - Trauer, Wut, Neid und Eifersucht - Angst - Depressionen - den eigenen Leistungsansprüchen nicht mehr zu genügen

soziale Probleme - Familie, Beruf, Umfeld - krankheitsspezifischer Entwicklungsprozess der ganzen Familie: Schuld, Trauer, Aggressionen, Rückzug - Vereinsamung (sozial und emotional) - finanzielle Probleme

Ressourcen - wenig oder keine Ausgleichsfunktionen (Freizeit, Erholung) - ein zum Zeitpunkt der Diagnose bereits geschwächtes Bewältigungs-system - es tut sich mit der Gewissheit der Erkrankung ein besonders tiefes Loch auf - MS ist eine Erkrankung, die das Bewältigungssystem „aktiv“ zerstört

Eine Erkrankung an multipler Sklerose trifft überwiegend Frauen, und diese in einem Alter, in dem typischer Weise ein aktives Familienleben stattfindet und Kinder aufgezogen werden. Die hier genannten Krankheitsfolgen und Belas-tungen bürden ganz besonders Frauen eine große Last auf, indem sie ihr Selbstbild und Selbstverständnis zentral gefährden. Diese Gefährdungen sind im Wesentlichen den Bereichen familiäre Bindungen, berufliche Eigenständig-keit und erholsame Freizeitaktivitäten zuzuordnen. Hinsichtlich der familiären Bindungen besteht für viele Frauen die Sorge, nicht mehr richtig auf ihre Kinder und ihren Partner eingehen zu können. Die Unsicherheit über die Entwicklung der Krankheit löst leicht die Angst aus, die Kinder nicht angemessen zu versorgen und sie nicht ins Leben begleiten zu können. Kleine Kinder kosten Kraft, und die MS-kranke Mutter sieht sich leicht in dem Spagat auf der einen Seite Entlastung einzufordern und sich an-dererseits nicht ganz zurückzuziehen zu können. Dabei besteht ein wichtiges Problem im Umgang mit den Gefühlen in Bezug auf die eigene Unzulänglich-keit (Versagens- und Schuldgefühle), sowie Neid und Eifersucht auf den Part-ner. Auch das Eheleben kann leiden, wenn die Frau Rollenanteile an den Mann abgeben muss. Dies kann dazu führen, dass sich die Frau in der Folge nicht mehr als vollwertige Partnerin empfindet. So kann auch die intime Beziehung

Page 15: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

14

zum Partner belastet werden. Andererseits entstehen leicht negativere Bewer-tungen der Partnerschaft durch den (gesunden) Partner, sowie Gefühle der Verärgerung oder Ablehnung auf Seiten aller Familienangehörigen gegen-über der Frau. Dies belastet die Beziehung und kann wiederum zu Schuldge-fühlen bei der Frau führen. Die Partnerbeziehungen in Familien mit MS-Kranken erscheinen häufiger asymmetrisch: Während Frauen MS-kranker Männer eine jahrelange Pflege auf sich nehmen, betreiben Männer MS-kranker Frauen e-her die Scheidung. Frauen müssen nicht nur um eine individuelle Adaption an die durch die Er-krankung veränderte Situation ringen. Eine erfolgreiche Annäherung an die eigene Krankheit setzt gleichzeitig auch eine geglückte familiale Anpassung an die Erkrankung voraus. Die Mutterrolle erfordert hierbei meist eine Doppel-leistung, nämlich die konkrete Gestaltung der familialen Adaption, und, dar-auf aufbauend, die Erarbeitung eines eigenen erfolgreichen Umgangs mit der multiplen Sklerose. Kommen zu den genannten Schuld- und Versagensgefühlen noch häufige Arztbesuche und eine verminderte körperliche Leistungsfähigkeit, machen viele Frauen Abstriche in der eigenen Erwerbstätigkeit oder bei erholsamen Freizeitaktivitäten. Doch gerade diese bräuchten sie dringend für ihre Selbst-behauptung, nicht nur gegenüber der Krankheit. Gleichzeitig müssen sie aber erleben, dass selbst diese „Opfer“ nicht zur nötigen Stabilität in der Familie und ihrer eigenen Person beitragen. Alleinerziehende befinden sich ohnehin in größerer Zahl an der Grenze zur Armut. Sie sind gezwungen, ihre Erwerbssituation stärker zu Lasten der Kinder zu gestalten, was wiederum Schuldgefühle verursacht. Außerdem können sie auf weniger Unterstützung zurückgreifen, wie in einer funktionierenden Part-nerschaft. Sie sehen sich angesichts einer MS-Diagnose durch die Mehrfach-belastungen der zu erbringenden Leistungen vollkommen überfordert.

3.2 Die Kinder MS-kranker Mütter Die enge Verknüpfung von Eltern und Kind unter dem Aspekt einer positiven emotionalen Bindung sowie berechenbarer und möglichst konstanter äußerer Rahmenbedingungen wird vielfach als besonders kindgerecht angesehen. So ist die Qualität der Mutter-Kind-Interaktion das Kriterium, welches die Entwick-lung des Kindes am besten vorhersagt.2 Eine verlässliche und gleichzeitig emotional positiv besetzte Bezugsperson in Kindheit und Jugend korreliert hoch mit seelischer Gesundheit im Erwachse-

2 Esser, G., Laucht, M., Schmidt, M.H. 1994: Die Auswirkungen psychosozialer Risiken für die Kindes-

entwicklung. In: D. Karch (Hrsg.): Risikofaktoren in der kindlichen Entwicklung. Steinkopf, Darmstadt.

Esser, G., Laucht, M., Schmidt, H.G. 1995: The signifcance of biological and psychosocial risks for behavior problems of children at preschool age. In: Brambring, Rauh, Beelmann (Eds.): Early child-

hood intervention: Theory, evaluation and practice. De Gruyter, Berlin-New York

Page 16: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

15

nenalter.3 In der familiären Interaktion werden besonders elterliche Ableh-nung beziehungsweise Überfürsorglichkeit als Prädiktoren für psychosomati-sche Störungen diskutiert. Dies betrifft besonders Familien mit chronischer Dis-harmonie, in denen emotionale Ablehnung, ein ungünstiges oder einge-schränktes Bindungsverhalten oder unzuverlässige Bezugspersonen erlebt wurden. Als wesentlicher Faktor für eine kindliche Fehlentwicklung konnte in Studien die Beziehung zu einer Bezugsperson nachgewiesen werden, die aus der Per-spektive des Kindes durch einen unverständlichen und unvorhersehbaren Verhaltensstil gekennzeichnet ist.4 Dabei kann auch das Kind zu einer nachtei-ligen Eltern-Kind-Beziehung beitragen, wenn es als Reaktion auf ungünstige Umgangs- und Erziehungsweisen Störungen der Emotionalität und des Verhal-tens entwickelt.5 Damit kann eine chronische Belastung in der Familie, wie sie eine MS-Erkrankung der Mutter darstellt, zum Risikofaktor für die kindliche Entwicklung werden. Erfährt das Kind emotionale Zurückweisung und Verluste, dann kann dieses Trauma eine zentrale Finktion bei der Entstehung von Verhaltens-, Ent-wicklungs- und psychogenen Gesundheitsstörungen haben. Die Kinder von MS-Kranken sehen in erster Linie die Verfügbarkeit und Zuver-lässigkeit ihrer Bezugsperson durch die Krankheit eingeschränkt. Die latente Angst in der Familie macht die Eltern emotional „abwesend“ und überträgt sich auf das Kind. Neue Krankheitsschübe, eine Krankenhausbehandlung o-der verstärkte Symptome der Krankheit stören die Bindung immer wieder aufs Neue. Besonders problematisch in Bezug auf das Verhalten der Mutter ihrem Kind gegenüber sind Nebenwirkungen von Medikamenten, aber auch Schwindel, Erschöpfung, Stimmungsschwankungen und depressive Zustände. Kinder und Jugendliche können diese Symptome als Ablehnung oder Desinte-resse empfinden und Schuldgefühle entwickeln. Sie sehen sich leicht veran-lasst, ein Zuviel an Verantwortung zu übernehmen. Auch können sie sich durch das elterliche Verhalten nicht wahr und ernst genommen fühlen und ziehen sich traurig zurück. Typische Folgen sind eine gesteigerte Selbstentwer-tungstendenz und ein starkes Harmonisierungsbedürfnis mit vermeidendem Verhalten in Konfliktsituationen. Damit zusammen hängen geringes Durchset-zungsvermögen und Überanpassung (Aggressionshemmung), sowie eine Un-fähigkeit vor allem unangenehme Gefühle wahrzunehmen (Alexithymie).6 Zurückzuführen sind die wesentlichen Störungen der Mutter-Kind-Interaktion auf Nichtkommunikation. Die Mutter möchte ihr Kind nicht unnötig mit Details ihrer Krankheit belasten und Kinder trauen sich nicht zu fragen. So entsteht eine Atmosphäre der Angst vor dem Austausch von Wissen und Gefühlen. Die

3 Tress, W. 1986: Die positive frühkindliche Bezugsperson – Der Schutz vor psychogenen Erkrankun-

gen. Psychother Med Psychol, 36: 51-57. 4 Davidson, I. S., Faull, C. & Nicol, A. R. 1986: Temperament and behavior in 6-year-olds with recur-

rent abdominal pain – a follow-up. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 27: 539-544. 5 Schlack, H. G. 1995: Lebenswelten von Kindern. In: H.G. Schlack (Hrsg.): Sozialpädiatrie. Gustav Fischer, Stuttgart. 6 Keel, P. 1999: Psychotherapeutische Strategien. Psycho 25: 46-53.

Page 17: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

16

Folge sind irrationale Phantasien und Befürchtungen. Solche Belastungen schaffen eine emotionale Distanz zwischen der Mutter und ihrem Kind. Dabei wäre gerade der offene Austausch der eigenen Befindlichkeit und von krank-heitsbedingten Veränderungen für das Erleben aller Familienmitglieder und für die familiale Bewältigung der Krankheitsfolgen äußerst wichtig. Wenn Kin-der wissen, woran sie sind, sind sie belastbarer, als man denkt. Aus der Ge-wissheit, wie es der Mutter und dem Vater geht, können sie viel Sicherheit zie-hen. Und dies gibt der Mutter und der ganzen Familie bei der Bewältigung der Krankheit ein entscheidendes Stück Kraft.

Page 18: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

17

4. Therapeutisches Konzept

4.1 Therapeutische Grundlagen Um das Bewältigungssystem der MS-Patientinnen in den Mutter-Kind-Maßnahmen im Haus Daheim wieder aufzubauen, stützen wir uns auf wissen-schaftliche Modellvorstellungen. Unsere Unterstützung und therapeutische Hilfestellung wird insbesondere dort benötigt, wo die Betroffenen aufgrund der Komplexität ihrer Problemlage (ei-ne Vielzahl wechselseitiger Teilproblematiken, die durch Folgeprobleme, wie Einschränkungen und Fähigkeitsstörungen, potenziert werden) den Verlust von Übersicht und Prioritäten beklagen. Quasi überrollt von der zeitlichen Ab-folge der Problematik, erleben sich die Betroffenen von multipler Sklerose häu-fig als handlungsunfähig. In dieser Situation benötigen sie Entlastung, Bera-tung, Orientierung – und eine teilweise intensive medizinisch-therapeutische Begleitung und Therapie. Bei der Reflexion des bisherigen Handelns der Patientinnen und beim Aufbau neuer Handlungsstrukturen (=Bewältigungsstrukturen) orientieren sich insbe-sondere unsere sozialtherapeutischen und psychologischen Ansätze an dem sozial-kognitiven Prozessmodell gesundheitlichen Handelns7, das in Gesund-heitsförderung, Prävention und Rehabilitation eine breite Umsetzung findet.

7 Schwarzer, R. 1992: Psychologie des Gesundheitsverhaltens, Göttingen, S. 65 ff.

Bedrohung

Ergebnis- Erwartungen

Kompetenz- Erwartungen

Schweregrad

Verwundbarkeit

Intention

Volitionaler Prozess

Handlungs-planung

Handlungs-kontrolle

Handlung

Situative Barrieren und Ressourcen (z.B. sozialer Rückhalt, finanzielle Situation)

Das sozial-kognitive Prozessmodell gesundheitlichen Handelns

veranschaulicht den systematischen Therapieleitfaden für eine konsequente, am Ergebnis orien-tierte, professionelle Beratung in der Mutter-Kind-Maßnahme.

Page 19: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

18

Dabei sind die wesentlichen Ansatzpunkte unserer Intervention der motivatio-

nale und der volitionale Aspekt. Motivationale Kriterien sind in der Grafik links als Voraussetzungen der Intention dargestellt. Die Intention stellt das zielge-richtete „Wollen“ der Patientin dar. Auf der rechten Seite der Grafik umfasst der volitionale Prozess alle Aspekte und Bedingungen der Handlungsausfüh-rung. Der gesamte Prozess kann von der Patientin im Laufe der Kur möglicherweise wiederholt durchlaufen werden - zunächst gedanklich, theoretisch und im Gespräch, später tatsächlich, in Form von Probehandeln oder konkreten Ver-änderungen. In jedem Fall werden spezifische Erfahrungen gemacht, die den Gesundungsprozess (=Verhaltensänderung) fördern.

4.1.1 Der motivationale Prozess

Um in den Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit MS und ihre Kinder im Haus Daheim ein gesundheitlich förderliches Handeln zu erreichen (=Verhaltensänderung), konzentrieren wir uns zunächst auf die Motivation der Patientin. Dies zielt darauf ab, dass die Frau im Dialog mit dem Arzt, der Psy-chologin / Sozialtherapeutin für sich und ihr Problem eine individuelle Hand-lungsabsicht, d.h. eine eigene Intention entwickelt: Es muss erreicht werden, dass die Patientin sich erlaubt, anders handeln zu wollen. Deshalb werden zu Beginn motivationale Grundelemente in Einzel- und Gruppengesprächen reflektiert. In der Grafik sind diese Elemente als „Schweregrad“, „Verwundbarkeit“ ge-kennzeichnet, aus denen die „Bedrohung“ als Gesamtbelastung resultiert. Dies bedeutet, je schwerwiegender die Folgen der gesundheitlichen Krise von der Betroffenen eingeschätzt werden (Schweregrad), und je geringer die Pa-tientin ihre Möglichkeiten zur Veränderung, Abwehr und Verteidigung gegen die Folgen und Einschränkungen der Krankheit einschätzt (Verwundbarkeit), desto mehr Stress und Leidensdruck (Bedrohung) wird empfunden. Besonders in dieser Phase der Mutter-Kind-Maßnahmen ist es erforderlich, die Bedrohungen behutsam zu bearbeiten. Deshalb werden gleichzeitig flankie-rende Maßnahmen angeboten, die der Frau gut tun und eine stabile thera-peutische Beziehung aufbauen. Dies hilft, schwierige Klärungsprozesse abzu-federn oder überhaupt erst zu ermöglichen. Konkret werden die ärztliche Eingangsuntersuchung und das psychologische Erstgespräch verständnisvoll und explorativ gestaltet, ohne schnell an thera-peutischer Tiefe zu gewinnen. Die Ergebnisse aus beiden werden zeitnah fachlich abgestimmt, um einen individuellen Kurplan für die Patientin aufzu-stellen. Am Beginn der Maßnahme stehen außerdem Leistungen im Vorder-grund, die den Patientinnen das Gefühl vermitteln, willkommen, aufgehoben zu sein und ernst genommen zu werden. Die hauptsächliche Aufgabe der Phase „Maßnahmenbeginn“ ist Sicherheit und Vertrauen zu vermitteln.

Page 20: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

19

Im Kontext der Ergebniserwartung beurteilt die Frau subjektiv die Wirksamkeit denkbarer, auf ihre Lebenssituation bezogener Handlungen. Dies geschieht unter der Perspektive, ob die Handlungen die Krise lösen, teilweise lösen, lin-dern, konstant halten oder verschlimmern. Erarbeitet werden hier insbesonde-re die erreichbaren und empirisch erfahrbaren Ziele von Handlungen der Frau, die sie für wirksam hält. Auch dieses therapeutische Element zielt auf die Stärkung und Förderung der Intentionsbildung der Patientin. Sie soll dazu geleitet werden, Vertrauen in die eigenen Gefühle, Entscheidungen und in die Wirksamkeit ihrer Handlungen zu fassen. Im Verlauf der Mutter-Kind-Maßnahme werden die Frauen in Einzel- und Gruppengesprächen zum Erkennen eigener Bedürfnisse und Ressourcen mo-tiviert. Die Entwicklung neuer Handlungsstrategien wird darüber hinaus durch kreative und meditative Angebote gefördert. Hinsichtlich der Kompetenzerwartung wird mit der Frau daran gearbeitet, dass sie sich die für ihre Ziele notwendigen Fähigkeiten und ein entsprechendes Durchhaltevermögen zutraut. Dies kann auf bisherige Erfahrungen von Erfolg und Misserfolg, sowie auf die Lernbiographie der Frau bezogen werden. In diesem Zusammenhang können der Bedarf und die Zugangsmöglichkeiten zu externen Hilfsangeboten zum Thema werden. Ein wichtiger Punkt für jede Intentionsbildung und Handlungsplanung ist die Klärung der Frage nach mobilisierbaren Ressourcen im sozialen Umfeld der Klientin. Hinzu kommt die Einschätzung sozialer Barrieren, die bewusst zur Kenntnis genommen und bei der Handlungsplanung und Durchführung be-rücksichtigt werden müssen. Hauptthemen sind hier erfahrungsgemäß zunächst die „bedeutsamen Ande-ren“, durch die sich die Klientin einem Erwartungsdruck in Richtung festhalten am bisherigen (kranken) Leben oder Veränderung hin zu mehr Aktivität und Selbstvertrauen erfährt. Eine sorgfältige und, wenn nötig, redundante Bearbeitung der bisher genann-ten vier Elemente des motivationalen Prozesses wirken unterstützend auf die Entwicklung und Äußerung eigener Handlungsabsichten, auf Intentionen zur Problemlösung.

4.1.2 Der volitionale Prozess

Je nach Fortschritt und Erfolg der Motivation (teilweise auch parallel hierzu), werden im Rahmen des MS-Schwerpunktkonzeptes im Haus Daheim Schritte angeboten, die in eine konkrete Handlung führen. Damit wird die so genann-te volitionale Phase eingeleitet. Volition umfasst alle auf die Aktion gerichte-ten Gedanken direkt vor, während und nach einer Handlung. Aspekte dieser Maßnahmen sind:

Page 21: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

20

Die Handlungsplanung unter Berücksichtigung der subjektiven und objekti-ven Ressourcen und Barrieren Die Handlungsdurchfüh rung mit Ausführungskontrolle (im Prozess) Die Handlungsbewer tung (in der Summe)8 Die Durchführung erstmalig beabsichtigter Handlungen stellt den Mut und die Selbstdisziplin der Klientinnen vor große Anforderungen. Deshalb unterstützen wir die Klientin therapeutisch, ihre Intention mit Ausdauer und Anstrengung in eine konkrete Planung umzusetzen. Dabei achten wir darauf, dass die Umset-zungsschritte präzise im voraus geplant und eingeleitet werden. Außerdem helfen wir, die Kriterien der (Teil-) Zielerreichung zu definieren und verbindlich festzulegen. Kontinuierliche Rückmeldung über erreichte Teilziele fördern die-sen Prozess. Entsprechend den Handlungsplanungen werden nun, soweit in den Mutter-Kind-Maßnahmen möglich und sinnvoll, erste Handlungen durch die Frau um-gesetzt. Im Dialog mit der Psychologin/Sozialtherapeutin, oder entsprechend dem Handlungsziel anderen Professionen in der Einrichtung, werden der Frau lau-fende Ausführungskontrollen, im Sinne der Selbstkontrolle, ermöglicht und Feedback gegeben. Entsprechende Handlungen können je nach individuellem Bedarf der Patien-tin bei der Teilnahme an Ausflügen und der regelmäßigen Durchführung von krankengymnastischen Übungen beginnen. Besonders für MS-Patienten ist es wichtig, am öffentlichen Leben teilzunehmen, auf Menschen zu zugehen und außerhäusliche Aktionen, etwa ein Besuch mit den Kindern im Wellenbad o-der ein Konzert in Bad Harzburg, durchzuführen. Eine gute Vorbereitung hierfür sind die gruppenweisen Angebote im Haus Daheim, z.B. in der Mutter-Kind-Andacht und im kreativen Tanz wird aktive Teilnahme geübt. In den Angeboten Entspannung und Stressbewältigung geht es darum, Grenzen zu setzen und Aufgaben abzugeben. Die Gruppen-gespräche zum Thema Partnerschaftskonflikte etwa fördern Selbstbestim-mung und Zufriedenheit. Das therapeutische Team beobachtet hierbei, ob planmäßig an eigenen (Teil-) Zielen gearbeitet wird, oder ob situative oder anhaltende Störungsquel-len wie physische oder psychische Probleme der Patientin selbst oder ihrer Kinder diese Handlungsziele abschwächen oder aus dem Blick geraten las-sen. Die notwendigen „Kurskorrekturen“ oder Verlagerungen therapeutischer Prioritäten werden mit der Frau fortgesetzt abgeglichen, verhandelt und in den Therapieplan übertragen. Sind während der Erarbeitung von Handlungsstrategien und deren Erprobung (=Aufbau des Bewältigungssystems) bereits viele einzelne Bewertungen und

8 Unter gewissen (therapeutischen) Umständen können diese Schritte auch zur Motivation gedanklich durchgespielt werden, um schließlich doch in eine konkrete Handlung zu führen. Manchmal sind meh-

rere Durchgänge dieser motivationsbildenden Schleifen nötig (siehe 4.1.1 Der motivationale Pro-zess), um in die Handlung zu führen.

Page 22: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

21

Ermunterungen vollzogen worden, so steht gegen Ende der gesamten Maß-nahme eine abschließende Bewertung in der ärztlichen Abschlussuntersu-chung und dem psychologischen Abschlussgespräch mit Rückblick auf das Erreichte und Ausblick auf noch bevorstehende Schritte therapeutisch im Vordergrund. In dieser Zeit werden auch Fragen der zielgerichteten Nachbetreuung der Frau und ihrer Kinder nach Ende der Maßnahme ausführlich besprochen und bei Bedarf Kontakte zu ambulanten Stellen, wie den zuweisenden Beratungs-stellen, Fachärzten oder Selbsthilfegruppen, geschaffen.9

4.2 Medizinische Betreuung Der Medizin kommt bei der Versorgung und Betreuung von Patientinnen mit MS aufgrund der spezifischen Probleme und Erfahrungen der Frauen eine be-sondere Rolle zu. Die Mutter-Kind-Einrichtung Haus Daheim arbeitet nach einem psychosomati-schen, frauenspezifischen Konzept und ist besonders auf die Behandlung von psychosozialen Gesundheitsstörungen ausgerichtet. Die Therapie basiert auf einem ganzheitlich integrativen Ansatz.

4.2.1 Diagnostik

Um Patientinnen mit MS in die Maßnahmen des Hauses Daheim aufzuneh-men, müssen die folgenden diagnostischen Kriterien erfüllt sein: - Diagnostik der Erkrankung sollte abgeschlossen sein (incl. Differentialdia-

gnostik) - weitere Erkrankungen, die die Maßnahmen beeinflussen können, sollten

diagnostiziert sein - sich daraus erbebende Störungen hinsichtlich der Belastbarkeit und Leis-

tungsfähigkeit der Patientinnen sollten genau bezeichnet sein Eine Erkrankung an MS bedeutet für die Betroffenen in der Regel ein Höchst-maß an Belastungen, sowohl in körperlicher Hinsicht, als auch in psychischen und sozialen Belangen. In frühen Krankheitsstadien besteht aufgrund der e-normen Belastungen ein relativ hohes Suizidrisiko. Daher ist eine behutsame und verständnisvolle Abklärung über die bisherigen diagnostischen Maßnah-men und den Verlauf der Krankheit eine der wichtigsten Aufgaben des ärztli-chen Dienstes im Haus Daheim. Auf dieser Grundlage und unter Berücksichti-gung von vorab erhaltenen oder von der Patientin mitgebrachten Unterlagen können die Verordnungen für den Verlauf der Mutter-Kind-Maßnahme getrof-

9 Die Handlungsschritte können, so sie bereits im ambulanten Bereich/Beratungsstelle eingeleitet wur-

den, in der Schwerpunktkur vertieft werden. Sie bedürfen nach Ende der Maßnahme sinnvollerweise einer Weiterführung und Unterstützung im Rahmen ambulanter Maßnahmen. Dieses Vorgehen ent-

spricht dem therapeutischen „Dreischritt“ des Müttergenesungskonzeptes.

Page 23: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

22

fen werden. Dabei werden auch Behandlungsfrequenz und Dauer individuell festgelegt. In der fortlaufenden medizinischen Betreuung ist der Arzt “sichtender Ge-sprächspartner”, mit dem Diagnostik und Entwicklung der MS-Erkrankung (und auch von „Bei-Erkrankungen“), hauptsächlich ergänzt durch objektive Infor-mationen über die Krankheit und Einschätzungen der vielfältigen Behand-lungsmöglichkeiten, besprochen werden können. Individuelle Beurteilungen des derzeitigen Gesundheitszustandes und mögliche Entwicklungen können dann mit der Patientin besprochen werden. Aus diesen Gründen sieht die medizinische Betreuung eine Eingangsuntersuchung, wöchentliche Vorstel-lung in der Sprechstunde, wöchentliche Gesprächsgruppen und eine Ab-schlussuntersuchung vor. Auch darüber hinaus steht der Einrichtungsarzt für Gespräche und Kontakte zur Verfügung. Für Notfälle bestehen fachliche Kooperation und Austausch mit einer neuro-logischen und einer pädiatrischen Praxis am Ort, sowie mit den neurologi-schen Kollegen der Klinik im 30 km entfernten Seesen.

4.2.2 Beratung, Schulung

Immer wieder wird berichtet, dass die Mitteilung der Diagnose MS für die Pati-entinnen ein Schockerlebnis darstellt. Feststellung wie „Sie haben MS, finden sie sich damit ab, dass sie in ein paar Jahren im Rollstuhl sitzen!“ dringen bei den Frauen tief ein und erschweren es nachhaltig, ein auf effektives Coping ausgerichtete Handlungsweisen herauszubilden. In der Folge vernachlässigen MS-Patientinnen oft grundlegende Bedürfnisse wie Bewegung, Geselligkeit, Ernährung, Ruhe und Entspannung. In wöchentlichen Gruppengesprächen werden deshalb unter ärztlicher Lei-tung Fragen thematisiert, die die Frauen beschäftigen. Dies sind unter ande-rem: - wie sich Schübe ankündigen, welche Warnsymptome zu erkennen sind

und welche Möglichkeiten der Lebensführung als Prophylaxe es gibt, um Schübe zu vermeiden.

- ob eine Schwangerschaft Einfluss auf die Krankheit hat; oder umgekehrt, ob die Krankheit vererbt werden kann.

- mögliche Verlaufsformen der MS und Hinweise darauf, dass es auch sich nicht verschlimmernde Formen dieser Erkrankung gibt.

4.3 Sozia-/psychotherapeutische Betreuung Das sozial- und psychotherapeutische Konzept der Vorsorgemaßnahmen im Haus Daheim konzentriert sich - in Ergänzung und Kooperation mit der kurärzt-lichen medizinischen Diagnostik und Therapie - besonders auf das Bewälti-gungsverhalten von Frauen. Der ganzheitliche therapeutische Ansatz der Ein-

Page 24: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

23

richtung berücksichtigt schwerpunktmäßig frauenspezifische Lebenswelten und gesellschaftliche Bedingungen von Frauen und Müttern. Deshalb werden die besonderen, psychisch wirksamen Bedienungen berücksichtigt und bear-beitet, denen Frauen heute ausgesetzt sind. Diese Bedingungen sind maß-geblich beteiligt an der gesundheitlichen Situation von Frauen und definieren ihre Leiden und ihr Kranksein. Wir beziehen uns in unserer Arbeit auf die Definitionen der WHO und ihrer Klas-sifikation ICIDH10, die außer der Beschreibung einer Krankheit auch die Erfas-sung der Folgen von Gesundheitsstörungen in den drei Dimensionen Schädi-gungen, Fähigkeitsstörungen und sozialen Beeinträchtigungen vorlegt. Dies geschieht nicht nur zur konkreten Analyse von Gesundheitsstörungen, sondern auch zur Konzeption und Ordnung unserer Interventionen. Besondere Bedeu-tung kommt dabei den Folgeerscheinungen von Belastung oder Krankheit zu, die einschneidenden Einfluss auf die persönlichen und sozialen Fähigkeiten, in der Regel sowohl der Mutter und des Kindes, als auch der betroffenen Familie insgesamt haben. Wir wenden uns diesem Problemfeld mit einem speziellen Gesamtkonzept zu, indem wir das Belastungs- und Krankheitsbild der Frauen, ihrer Kinder und die Interaktionsprozesse zwischen beiden ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit rü-cken. Deshalb stehen bei unserer Arbeit Kinder und Erwachsene angemessen gleichrangig nebeneinander. Der systemische Ansatz der Familientherapie ist unsere Grundlage für die Betrachtung von Wechselbeziehungen der Famili-enmitglieder in Bezug auf ihre Gesundheit. Bei chronischer Krankheit, wie der Multiplen Sklerose, die zu den ohnehin viel-fach problematischen Lebensbedingungen von Frauen mit Kindern eine zu-sätzliche andauernde psychische und soziale Belastung bedeutet (auch wenn sie primär nur ein Familienmitglied zu betreffen scheint), ändert sich die Beziehung der Personen zueinander. In der Familie stehen deshalb alle Mit-glieder unter dem Druck psychosozialer (Krankheitsfolge-) Belastungen. Dar-aus resultiert ein erhebliches Risiko an Überforderungen, Verhaltensstörungen und schließlich gesundheitliches Krisen. Unser Ansatz der Stärkung von Bewältigungsmöglichkeiten orientiert sich im Sinne des Gesundheitshandelns11 besonders an der Einübung positiver Hand-lungsergebnisse und der Verringerung von Barrieren, die dies erschweren. Satt so weiter zu machen wie bisher und Veränderungen zu fürchten, sollen die Frauen und ihre Kinder neue Handlungsoptionen finden und mit der Krankheit und deren Folgen schrittweise besser umgehen. Methodische Schwerpunkte unserer Arbeit sind: - Selbstreflexion - Auseinandersetzung mit dem Thema Krankheit - Übungen zur Wiederentdeckung eigener Ressourcen

10 World Health Organization (1980) The international classification of impairments, disabilities and

handicaps. WHO Library Cataloguing in Publication Data. Genf.

ICIDH übers. von R.-G. Matthesius. – Berlin; Wiesbaden: Ullstein Mosby, 1995. 11 siehe 4.1 Therapeutische Grundlagen

Page 25: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

24

- Entspannungsübungen - Imaginationsübungen - bewusste Lebensplanung In diese therapeutische Methodik integrieren wir bei Bedarf Elemente der sys-temischen Familientherapie, Gestalttherapie, Biographiearbeit, Psychodrama und des Bochumer Gesundheitstrainings. Außerdem trägt der bewusst entlastend gestaltete und zielgruppenspezifische Ansatz der Mutter-Kind-Maßnahmen im Haus Daheim dazu bei, dass die Frau-en und Kinder Zeit und Gelegenheit haben, sich ihren Bedürfnissen, Wünschen und ihrer Gesundheit widmen zu können. Hier findet Austausch mit anderen Frauen in vergleichbaren Situationen statt und schafft ein Klima zur Neuorien-tierung und zum Aufbau individueller Ressourcen der betroffenen Frauen. Dies wird besonders auch durch gemeinsame Mutter-Kind-Angebote vermit-telt und erprobt. Hierunter verstehen wir alle Angebote für Mutter und Kind gemeinsam, die der Verbesserung der physiologischen/medizinischen Situati-on der Hauptbetroffenen und gleichzeitig einer praktisch erfahrbaren Stabili-sierung der Familienstruktur dienen. Mutter-Kind-Gymnastik, -Turnen, -Basteln, -Spielen usw. haben diese Doppelfunktion. Die Angebote werden immer von qualifizierten Kräften geleitet. Eine solche Unterstützung von außen kann auch Fehlentwicklungen in der Partnerschaft entgegenwirken. Je besser Eltern über die Erkrankung und die Behandlungsmöglichkeiten oder die Belastungen und Auswege daraus infor-miert sind, desto intensiver können sie sich untereinander austauschen und desto zufriedenstellender wird die Partnerschaft eingeschätzt. Gleichzeitig verbessert sich die Kommunikation beider Eltern mit den Kindern (Erziehungs-stil) und entsprechend besser wird das Verständnis der Kinder für die Krankheit und die Belastungen der Familie. So wird auch die kindliche Beziehung zu den Eltern verbessert. Eine möglichst gerechte Verteilung der erkrankungsbeding-ten Belastungen zwischen den Familienmitgliedern erhöht den familiären Zu-sammenhalt und minimiert das Risiko der Überforderung einzelner. Die Qualität unserer Arbeit sichern wir durch regelmäßige interdisziplinäre Tref-fen, Supervision und den fachlichen Austausch.

4.3.1 Gesprächstherapie

Der Erfahrungsaustausch mit Frauen in ähnlichen Lebenssituationen, auch wenn sie keine MS haben, wirkt entlastend. Ein solcher Erfahrungsaustausch wird einerseits ermöglicht und gefördert durch die Gruppenkur mit gemein-samer An- und Abreise und den vielfältigen Austauschmöglichkeiten während dieser Zeit. Um diesen Prozess zu lenken und therapeutische aufzubauen bie-ten wir Gruppengespräche und Einzelberatungen an, in denen über Schwie-rigkeiten im Alltag gesprochen werden kann.

Page 26: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

25

Vor dem Hintergrund aller anderen Leistungen der Mutter-Kind-Maßnahmen im Haus Daheim geben Gruppenangebote und Einzelberatung einen wichti-gen und sensibel angeleiteten Raum, die Selbstwahrnehmung zu schärfen, Zusammenhänge zu erfassen und neue Handlungsstrategien in den Blick zu nehmen.12 Zentrales Anliegen der Gruppen- und Einzelgespräche ist die Erar-beitung von neuen Perspektiven und Lösungswegen für die psychosozialen Belastungen der Frauen. Die gesprächstherapeutischen Angebote dienen der prozessorientierten Bewusstwerdung und der Erschließung von individuellen Ressourcen. Diese Angebote werden von Psycho- und Sozialtherapeuten/-innen durchgeführt. Themenzentrierte Gruppengespräche als wichtige Bausteine unserer Therapie umfassen unter anderem die Inhalte: Rollenverhalten und Identität Abgrenzung und Selbstfindung Stressbewältigung Partnerschafts- und Erziehungsprobleme Einzelberatungen bieten den Frauen Gelegenheit, sich Zeit und Raum zu nehmen, um sich zu entlasten und ihre momentane Lebenssituation lösungs-orientiert zu betrachten. So können positive Veränderungsmöglichkeiten auch in Bezug auf die Mutter-Kind-Interaktion entwickelt und noch während der Maßnahme erprobt und umgesetzt werden. Wir helfen dabei, mögliche Lö-sungswege für Partnerschaftsprobleme, Trennung und Scheidung, Tod, Bezie-hungsfragen, Erziehungsprobleme, Gewalterfahrungen, Ängste, Depressionen und vieles andere, aber auch für individuell abgestimmte Möglichkeiten der Stressbewältigung zu erarbeiten. Dabei wird immer auch gesehen, welche Hilfsangebote zu Hause in Anspruch genommen werden können. In die Bera-tung fließen therapeutische Elemente aus Gesprächspsychotherapie, systemi-scher Familientherapie, Psychodrama und Gestalttherapie mit ein. Die MS-Diagnose stellt eine große Belastung für die familiären Beziehungen dar. Dabei gehört die Qualität der Beziehungen zu den ausschlaggebenden Faktoren für eine Bewältigung der Krankheit.13 Deshalb sind Eltern- und Partnerbeziehungen wichtige Themen bei der Bewäl-tigung von Krankheitsfolgen und um neue Handlungsmöglichkeiten zu finden. Sehr oft sind die familiären Beziehungen durch Kommunikationsprobleme und unerfüllte Erwartungen und Bedürfnisse belastet und werden frustrierend er-lebt. Auf diese Weise belasten ungelöste familiendynamische Konflikte das gesundheitliche Befinden noch zusätzlich. Die Krankheitsverarbeitung ist ein Trauerprozess um den Verlust von Gesund-heit und Zukunftsperspektiven. Davon sind auch Partner und Kinder betroffen. Hilfreich für die Gestaltung des Familiensystems ist eine gegenseitige Anerken-

12 siehe 4.1 Therapeutische Grundlagen 13 siehe 3.1.4 Resümee „Familiäre Bindung“

Page 27: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

26

nung von Bemühen und Verzicht. Dabei ist das eigene Leid mit dem des Part-ners nicht zu vergleichen: beide haben es schwer.

4.3.2 Bewegungstherapie und Entspannung

Die Entspannungs- und Bewegungstherapie im Haus Daheim arbeitet mit den Frauen und Kindern in Gruppen oder bei besonderem Bedarf auch einzeln. Um Entspannungsfähigkeit aufzubauen und um eine verbesserte psychove-getative Stabilisierung zu erreichen, beinhaltet das Gesamtkonzept des Hau-ses Progressive Muskelentspannung nach Jacobson und das spezielle Ange-bot „In der Ruhe Kraft schöpfen“. Hierbei werden innere Ruhe und Gelassen-heit erlebt und erlernt. Neue Lebenskraft und neuer Lebensmut werden akti-viert. Eigene Stimmungen und das eigene Befinden werden beim anschlie-ßenden Malen kreativ ausgedrückt und sichtbar gemacht. Kombiniert mit psychotherapeutischen Verfahren kann „In der Ruhe Kraft schöpfen“ Angst und Stress abbauen sowie depressive Verstimmungen reduzieren. Oftmals werden von MS-Betroffenen aus Rücksicht auf die Erkrankung und aus Angst vor einer Verschlechterung auf körperliche Belastungen verzichtet. Dies allerdings fördert die Atrophie der Muskulatur und hat eher gegenteilige Effek-te. Deshalb gehören neben den Anwendungen in der Krankengymnastik und physikalischen Therapie die Sport- und Bewegungsangebote im Haus Daheim

mit zur MS-Bewältigungstherapie. Generelles Ziel von wirbelsäulengerechtem Beweglichkeitstraining, leichtem Ausdauer- und Konditionstraining und Fit-nessgymnastik ist eine leistungsangepasste Verbesserung von gestörten Funk-tionen, eine psychovegetative Umstimmung und Förderung der sozialen In-teraktion, etwa bei reduzierter Freizeitkompetenz oder mangelndem Antrieb. Auch für zu Hause wird vorbereitet, damit die Übungen dort fortgeführt wer-den können. Die Koppelung von Entspannungs- und Bewegungsübungen bewirkt eine Anregung zur positiven inneren Ausrichtung. Aus diesem Grund ist auch die Mittagsruhe definiert, die, wie auch die Freizeit generell (=therapiefreie Zeit) dazu anleiten soll, mit freier Zeit umgehen zu lernen und für sich selbst zu nutzen.

4.3.2.1 Bewegung und Entspannung für Frauen

- Orthopädische Rückenschule - Wirbelsäulengymnastik - Atemtherapie /-gymnastik - Krankengymnastik - Gymnastik - Entspannungsübungen

„In der Ruhe Kraft schöpfen“

Page 28: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

27

- Progressive Muskelentspannung - Terraintherapie - Kreativer Tanz

4.3.2.2 Bewegung und Entspannung für Kinder

- Krankengymnastik - Entspannungsübungen - gezielte Bewegungsübungen bei motorischen Störungen - Bewegung in freier Natur - Psychomotorik - Kinderturnen - Ausflüge

4.3.2.3 Bewegung und Entspannung für Mutter und Kind

- sportliche Übungen und Spiele - Psychomotorik - Mutter-Kind-Turnen - Spaziergänge und Ausflüge

4.3.3 Kurleitung und Rekreationstherapie

Während des Maßnahmeverlaufs werden die Patientinnen im Haus Daheim in persönlichen und organisatorischen Belangen von unserer Einrichtungsleitung und den Bezugstherapeuten/--innen betreut. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Anreise der Familien und ihre ersten Tage in der Einrichtung. Eine persönliche Begrüßung und Informationen über das Haus er-leichtern den Einstieg. Erst am zweiten Tag beginnt die Kontaktaufnahme mit den Erzieherinnen im Kinderland, um besonders bei Kindergarten unerfahre-nen Kindern die Lösung von der Mutter schonend einzuleiten. Die Bezugstherapeuten/-innen sind Ansprechpartner/-innen und Vertrauens-personen. Sie darauf achten, dass unsere Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter und Gäste wertschätzend und unterstützend miteinander umgehen. Leitender Gedanke ist es, dieser Arbeit mit Hilfsbereitschaft und Liebe nachzukommen. Gemäß der grundsätzlichen therapeutischen Ausrichtung im Haus Daheim sehen wir in den rekreationstherapeutischen Ansätzen eine wesentliche Vor-aussetzung zur Wiederherstellung und Stabilisierung der Gesundheit. Unsere Rekreationstherapie folgt einem spezifischen Konzept der pädagogi-schen Gesundheitsbildung. Der Organisation von Kreativangeboten, Freizeit-veranstaltungen, Ausflügen und gemeinsamen Festen liegt eine Idee der Ge-sundheitserziehung zugrunde. Dabei geht es darum, den Frauen und Kindern zu ihren sinnlichen Möglichkeiten zu verhelfen, ihnen zu helfen, ein Gefühl für

Page 29: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

28

sich selbst zu finden, um sich schließlich für sich selbst zuständig zu fühlen. Den Frauen und Kindern soll gezeigt werden, dass sie mit ihrem Körper etwas kön-nen. Sie sollen ihre Gefühle bewusster wahrnehmen, etwas Neues lernen und die Natur erleben können. So gewinnen sie eine positive Einstellung zu sich und ihrem Leben trotz der Diagnose Multiple Sklerose. Eine spezifische Form der Rekreationstherapie im Haus Daheim ist das kreative Arbeiten. Durch Seidenmalerei und Bastelarbeiten mit verschiedenen Mate-rialien können vielfach eigene Fähigkeiten erkannt und Sicherheit in die eige-ne Schaffenskraft (wieder-) erlangt werden. Über das kreative Tun werden Er-folgserlebnisse vermittelt, die das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen stärken. Dadurch werden Handlungskompetenzen vermittelt, um für die eige-ne seelische und körperliche Gesundheit besser sorgen zu können. Diese Pro-zesse werden durch Entspannungsangebote, etwa die Phantasiereise, unter-stützt.

4.4 Kinderland Das Kinderland hat 4 Gruppenräume mit jeweils dazugehörigem Sanitärbe-reich, einem Wickelraum sowie einem Küchenbereich. Die Gruppenräume sind je nach Altersstufe der Kinder ausgestattet. Zusätzlich steht dem Kinder-land ein Entspannungsraum zur Verfügung. Genutzt werden auch der Gym-nastikraum, die Lehrküche und der „Toberaum“ im Haus. Im Kinderland werden 4 Kindergruppen betreut. Das Alter der Kinder liegt in der Regel zwischen 0,5 und 13 Jahren. Die Kinderbetreuung findet in alters-spezifischen Gruppen statt und liegt im allgemeinen zwischen 8 und 15 Uhr. 0 bis 2jährige Kinder werden maximal 6 Stunden betreut. Unsere Arbeit ist besonders spezialisiert auf Kinder mit ADS (Aufmerksamkeits-defizit-Syndrom), Erkrankungen der Atmungsorgane, Entwicklungsverzögerun-gen, sowie grob- und feinmotorischen Auffälligkeiten. Wir haben insgesamt viel Erfahrung in der Betreuung von Kindern mit psychosozialen Entwicklungs-beeinträchtigungen, die durch problematische Familienbedingungen und innerfamiliäre Konflikte verursacht werden. Die Grundlage unserer Arbeit ist eine vertrauensvolle Atmosphäre, die wir schaffen, indem wir günstige Kindergruppen zusammensetzen und durch ü-berschaubare Tagesabläufe und wiederkehrende Handlungen (Regeln, Ri-tuale) Orientierungshilfen geben. Insgesamt geschieht dies in einem Rahmen, der durch Freiräume des Kindes und sein selbstbestimmtes, von eigenen Neigungen geleitetes Tun, orientiert ist. Dies wird durch Hilfestellungen bei sozialen Schwierigkeiten unterstützt. Die Gruppenangebote geben den Kindern Impulse für neue Spielideen, fördern grob- und feinmotorische Fähigkeiten, Kreativität und Phantasie. Ein gelenkter Gesprächskreis macht Regeln und Rituale transparent und hilft so bei der Er-arbeitung von Konfliktlösestrategien.

Page 30: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

29

Darüber hinaus fördern wir das Gesundheitsverhalten der Kinder in verschie-densten Bereichen. Dies beginnt beim morgendlichen Wassertreten in der Physio-Abteilung und wird durch vielerlei Frischluft-Spiele und „Entdeckungs-reisen“ in den naturnahen Waldgebieten in der Umgebung des Hauses Da-heim fortgesetzt. Durch selbst zubereitete Speisen in der Kinderküche werden Kenntnisse, Spaß und Freude an gesundem Essen vermittelt. An die Zahnpflege wird spielerisch herangeführt. So wird Freude an Alltagspflichten und Körperpflege vermittelt. Je nach Erfordernis, etwa durch ärztliche Verordnung oder durch eigenes Be-obachten kindlicher Auffälligkeiten, hält das Kinderteam zusätzliche und be-gleitende Angebote für die Kinder und ihre Mütter bereit, die in Absprache mit dem therapeutisch-pädagogischen Team durchgeführt werden.12 Die speziellen Angebote richten sich besonders auf Angstbewältigung, Wahr-nehmungstraining, psychomotorisches Training und gelenkte Entspannung für Kinder ab 5 Jahren. Dabei geht es um psychologische Hilfen zu: Vertrauen haben können, Gefühle zulassen, erkennen und benennen, Konfliktstrategien finden und Selbstwertgefühl aufbauen. Dies führt in ein selbstbestimmtes Le-ben, indem die Kinder einen autonomen Spielraum aufbauen und eigen-ständige Entwicklungsschritte vollziehen lernen.

4.4.1 Mutter-Kind-Interaktion

Die Mutter-Kind-Beziehung ist durch die MS-Erkrankung der Mutter belastet, die Stabilität der Familie ist gefährdet.13 Sie kann aber durch Ausbildung neuer Orientierungen und Werte, Informationen über die Erkrankung, Neubestim-mung familiärer Ziele und daran anschließend durch Fertigkeiten im Umgang mit den Symptomen zur Bewältigung der Erkrankung wesentlich beitragen. Über gemeinsames Tun können Mutter und Kind lernen, eingefahrene Verhal-tensmuster zu verändern. Hierüber bekommen die Mütter neue Informationen über die Entwicklung und die Fähigkeiten ihrer Kinder. Sie erleben Sichtweisen und Handlungsstrategien für den Umgang mit ihrem Kind im Alltag. Ziel der Mutter-Kind-Angebote ist die Verbesserung der Mutter-Kind-Beziehung vor dem Hintergrund stressfreier gemeinsamer Erlebnisse. Zur Verbesserung der Mutter-Kind-Beziehung und um unsere Arbeit für die Mutter einsichtig zu gestalten, wird der Kontakt zu den Frauen in Bezug auf ihre Kinder gesucht. Denn kindliche Verhaltensänderung macht die Mitarbeit der Mutter erforderlich. Die Mütterbetreuung findet über ein pädagogisches Gruppengespräch, Ein-zelberatung und Videoanalyse statt. Das Gruppengespräch greift eher all-gemeine pädagogische Themen auf, wie kindliche Entwicklungsphasen, Um-deutung von Konflikten, Erarbeitung neuer Sichtweisen und die Bewertung von Handlungen und Verhalten, die Reflexion eigener Erwartungen an das

12 siehe auch 4.4.1 Mutter-Kind-Interaktion 13 siehe 3.2 Die Kinder MS-kranker Mütter und 3.1.3 Familiäre Belastungen

Page 31: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

30

Kind und an sich selbst sowie eine kritische Auseinandersetzung mit Schuldge-fühlen. Darauf aufbauend geht es sowohl in der Einzelberatung als auch in der Videoanalyse vor allem um die Bearbeitung und Klärung individueller Er-ziehungs- und Familienproblematiken. Ein häufiges Problem in der Beziehung MS-kranker Mütter zu ihrem Kind ent-steht vorwiegend wenn der zunehmende Bewegungsdrang und die voran-schreitende Sprachentwicklung kleiner Kinder dazu führen, dass die Störungen und Behinderungen der Mutter immer stärker in den Vordergrund treten und nach Erklärungen verlangen. Wird in diesen Situationen das Gespräch (oder die Kommunikation in weiterem Sinne) vermieden, was in der Praxis mögli-cherweise aus Unsicherheit oder Schamgefühlen geschieht, dann wachsen bei dem Kind Verunsicherung, Angst, aber auch Wut, Enttäuschung und so-gar Schuldgefühle gegenüber dem Leiden der Mutter. Dies trifft insbesondere in den Entwicklungsphasen der Kinder zu, in denen von ihnen zunehmend Rücksichtnahmen abverlangt werden. Im Hinblick auf eine MS-Erkrankung der Mutter steht für die betreffenden Kin-der in vielen Fällen eine Entlastung im Mittelpunkt der Arbeit. Diese wird er-reicht durch eine Förderung der Mutter-Kind-Interaktion in Bezug auf die müt-terliche Erkrankung. Kinder wollen sich selbst und ihre Eltern verstehen. Dafür brauchen sie einerseits Hilfen im Umgang mit eigener Wut, Trauer und Enttäu-schung, die das Verhalten der Mutter unwillkürlich bei ihnen auslöst. Anderer-seits sind altersspezifische und kontinuierliche Informationen über die Erkran-kung der Mutter, ihre bis dahin vielleicht unverständlichen Verhaltensweisen und die Einstellungen und Gefühle der Mutter nötig. Kinderfragen altersgemäß zu beantworten, bedeutet nicht, sie mit Information zu überhäufen, nach denen sie nicht gefragt haben. Vielmehr soll geduldig und verständnisvoll auf gestellte Fragen geantwortet, und auf versteckt ge-äußerte Gefühle reagiert werden (ansprechen, spiegeln). Dadurch kann das Kind lernen, dass es ernst genommen wird, und wird bei nächster Gelegenheit wieder fragen. Damit können auch Wut, Trauer und Gefühle der Ablehnung reduziert werden. Die Gruppen- und Einzelgespräche, die Videoanalyse und auch die im Fol-genden genannten pädagogischen Maßnahmen werden mit dem therapeu-tisch-pädagogischen Team abgestimmt und sind in der Regel ärztlich verord-net. Der Bedarf wird möglichst zu Beginn der Maßnahme abgeklärt. Die Mut-ter wird sensibel in diesen Kommunikationsprozess mit einbezogen.14 Im Haus Daheim wird möglichst frühzeitig mit dieser Arbeit begonnen, damit die Fami-lie sich einübt und eine entsprechende Kommunikation nach Ende der Mut-ter-Kind-Maßnahme fortführen kann. Im Haus Daheim werden nach Indikationsprüfung und ärztlicher Verordnung für an MS erkrankte Frauen mit ihren Kindern Bewegungseinheiten angeboten. Mit Hilfe der Psychomotorik oder des Mutter-Kind-Turnens werden Kinder in ih-ren Bewegungsabläufen gefördert, ihre kognitive Lernfähigkeit wird angeregt

14 siehe auch 3.2 Die Kinder MS-kranker Mütter

Page 32: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

31

und gestärkt. Ein wichtiger Schwerpunkt ist die Förderung und zielgerichtete Besserung der Mutter-Kind-Interaktion. Beim gemeinsamen kreativen Tun im Mutter-Kind-Basteln erfährt die Frau viel über den Entwicklungsstand ihres Kindes, was zu einer positiven Wahrneh-mung der Mutter für das Verhalten ihres Kindes führt. In Problemsituationen, insbesondere wenn MS-spezifische Besonderheiten der Mutter thematisiert werden müssen, kann das (konflikthafte) Verhalten von Mutter und Kind durch Hilfestellungen gefördert werden. Auch hier werden die Ressourcen des Kin-des transparenter und der Grad, was dem Kind zugemutet werden kann, kann realistischer eingeschätzt werden. Die Qualität der Arbeit im Kinderland und die Beratung der Frauen werden durch wöchentliche Dienstbesprechungen und Fallkonferenzen, durch tägli-chen kurzen Informationsaustausch auch mit anderen Berufsgruppen der Ein-richtung und durch die Teilnahme an Fortbildungen gewährleistet. Die individuelle Einzelfallbetreuung kann es erforderlich machen, zu Einrich-tungen am Heimatort der Frauen Kontakt aufzunehmen, um ihnen Hilfe vor Ort zu vermitteln. Dies geschieht in der Regel, indem die jeweiligen Beratungs-stellen, Vermittlungseinrichtungen oder der Kostenträger (Krankenversiche-rung) je nach Dringlichkeit telefonisch oder schriftlich eingeschaltet wird. E-benso werden bei Bedarf Gutachten zur Einschätzung der individuellen Situa-tion erstellt und an die zuständigen Kontaktstellen versandt.

4.5 Physiotherapie Die Abteilung Physiotherapie im Haus Daheim arbeitet in enger Abstimmung mit dem Einrichtungsarzt. Sie ist mit Blick auf die Indikationen der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtung ausgestattet und arbeitet vor allem mit großer Zuwendung zu den Patienten. Die Einrichtung bietet neben vielen Methoden der Krankengymnastik alle balneo-physikalischen Therapien in der eigenen Bäderabteilung mit Kneippanlage, einschließlich der externen Bad Harzburger Thermalsole. In Einzelgesprächen wird mit jedem Patienten ein eigener Behandlungsplan aufgestellt. Dabei wird besonders darauf geachtet, dass Mutter und Kind als eine Einheit betrachtet und behandelt werden. Ein Schwerpunkt der Behand-lung wird auf Übungsempfehlungen für die Zeit nach der Mutter-Kind-Maßnahme gelegt. Ein gutes, individuell abgestimmtes physiotherapeutisches Programm lindert schmerzhafte Muskelverspannungen, verbessert die Beweglichkeit und kann sogar Spastiken reduzieren. Innerhalb der Krankengymnastik gilt die PNF17 als

17 PNF = propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation. Propriozeptoren sind Rezeptoren, die dem Gehirn

Informationen über die Haltung und Bewegung unseres Körpers übermitteln. Neuromuskulär heißt, dass es Nerven, Muskeln und Sehnen betrifft. Und Fazilitation bedeutet, etwas einfacher machen oder

Bewegung erleichtern.

Page 33: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

32

für MS-Patientinnen am besten geeignete Therapie. Sie wird zur Aktivierung und Kräftigung der Muskulatur eingesetzt. Diese Methode wirkt positiv auf vie-le Muskeln, die man für Tätigkeiten und Bewegungen des täglichen Lebens braucht. Zur Anwendung gelangen auch physiotherapeutische Ansätze nach Bobath. Diese Methode basiert auf der Beobachtung, dass bestimmte Bewegungen muskuläre Verkrampfungen entweder mindern oder verstärken können. So kommt es in der Therapie darauf an, die günstigsten Haltungen und Bewe-gungen für die einzelne Betroffene zu finden. Richtig angewendet kann die Bobath-Methode spastische Symptome, Gangattaxien und andere neurolo-gisch bedingte Bewegungseinschränkungen entscheidend bessern. Die Behandlung stärkt nicht nur die in ihrer Funktion beeinträchtigten Muskeln, sondern auch andere Muskelgruppen. Dadurch werden die gesunden Mus-keln gestärkt, dass sie unter Umständen die Funktion der geschädigten mit übernehmen können.

4.5.1 Krankengymnastik

Im Rahmen der Krankengymnastik werden individuelle Übungen zur Behand-lung von Fehlhaltungen mit Anleitung für ein gezieltes Üben nach der Maß-nahme zu Hause durchgeführt. Außerdem gibt es rehabilitative Maßnahmen zur Verbesserung und Stärkung des Muskelaufbaues sowie zur Behandlung von Schwächen und Fehlstellungen. Das Angebotsspektrum der Krankengymnastik umfasst: Wirbelsäulengymnastik orthopädische Rückenschule Atemtherapie / Atemgymnastik Beckenbodengymnastik

Inhalte sind zunächst eine Erklärung, was der Beckenboden ist und wel-che Bedeutung er auch im Zusammenhang mit der Blasenfunktion hat. Die gezielten Übungen können dann dazu beitragen, dass die Blasen-funktion gestärkt und der Harndrang besser kontrolliert werden kann.

4.5.2 Physikalische Therapie

In der eigenen Bäderabteilung sorgt die Masseurin für die ärztlich verordneten Behandlungen. Das Angebotsspektrum der physikalischen Therapie umfasst: klassische Massagen Parafango Rotlichtbestrahlung Kneipp‘sche Anwendungen Med. Voll- und Teilbäder

Page 34: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

33

Lymphdrainage Bindegewebsmassage nach Teubich-Leube, Dicke Inhalation

4.6 Diätküche und Ernährungsberatung Es gibt derzeit keine wirksame diätetische Therapie gegen MS. Eine vollwertige Ernährung allerdings kann die Entzündung und den dabei durch freie Radika-le entstehenden oxidativen Stress positiv beeinflussen. Gegen die Müdigkeit hilft leichte Kost aus viel Gemüse, Obst und Vollgetreide, bei wenig Fett und Eiweiß. Eine bedarfsgerechte Kalorienaufnahme entlastet außerdem das Immunsystem. Dabei sollte ausreichend Flüssigkeit, etwa 1 - 1,5 ltr., zu sich genommen werden. Wegen der oft bestehenden Blasenprobleme trinken MS-Betroffene oft zu wenig, um nicht so oft zur Toilette zu müssen. Da-her sollten die Getränke gleichmäßig über den Tag verteilt werden, um die Blase nicht zu sehr zu belasten. Einen ebenfalls großen Einfluss auf das Immunsystem hat die Fettaufnahme. Sie sollte etwa 25 - 30 % der gesamten Energiezufuhr betragen. Dabei ist zu beachten, dass insgesamt wenig tierische Fette, also wenig Fleisch, Wurst, Kä-se, Sahne und Butter, und dafür mehr Seefisch, Gemüse, Pflanzenöl, Nudeln und Reis zu sich genommen werden. Bei Entzündungsgeschehen spielt die Arachidonsäure eine besondere Rolle, weil sie die Ausgangssubstanz für ent-zündungsfördernde Botenstoffe ist. Deshalb sollten besonders Eigelb, Fleisch, Innereien, Butter und Haut vermieden werden, da sie viel dieser Säure enthal-ten. Entzündungshemmende Effekte haben dagegen Omega-3-Fettsäuren, wie sie viel in Fischöl, Leinöl und Rapsöl vorkommen. Das Ernährungskonzept im Haus Daheim orientiert sich an den Ansätzen von Dr. Swang und Dr. Evers. Durch eine verminderte Zufuhr von tierischen Fetten (< 20 gr/Tag) kann, wie eine Diätstudie zeigte, die MS positiv beeinflusst wer-den. Insgesamt wird eine weitgehend naturbelassene Kost mit einem hohen pflanzlichen Anteil, ballaststoffreich und mit pflanzlichen Ölen gereicht. In 2 Gruppen zur Ernährungsberatung werden die Frauen von einer Dipl.-Oecothrophologin mit den Besonderheiten des Ernährungskonzeptes des Hauses Daheim vertraut gemacht. Ein erhöhter Körperfettanteil ist gerade bei MS-Betroffenen zu reduzieren, weil er die Krankheit begünstigt. Deshalb werden bei Bedarf 2 weitere Einheiten Ernährungsberatung speziell zur Reduktionskost angeboten.

Page 35: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

34

5. Beschreibung der Einrichtung Bad Harzburg ist das älteste und größte Heilbad des Harzes. Die kleine Stadt mit dem grünen Herzen ist ein heilklimatischer Kurort mit mildem Reizklima in 400 m Mittelgebirgslage. Die Bad Harzburger Sole-Therme mit ihrer entspan-nenden und wohltuenden Wirkung und ihrer bis zu 32 Grad warmen Schwefel-sole ist der Mittelpunkt des Kurortes. Die lebendige Kurstadt ist das Tor zum Na-tionalpark Harz, der zu wunderschönen Wanderungen und Spaziergängen einlädt. Unser Haus Daheim liegt direkt unterhalb des Burgberges und ist unmittelbar von Wald umgeben. Die Stadtmitte und die kurgastfreundlichen Einrichtun-gen, wie die Seilbahn und die berühmte Harzburger Bummelallee können in 10 bis 20 Minuten zu Fuß erreicht werden. Eine Bushaltestelle befindet sich di-rekt vor unserem Kurhaus. Ausstattung der Einrichtung Das Haus Daheim bietet Platz für 34 Frauen und 40 Kinder, die hier eine Vor-sorge und Rehabilitation durchführen können. Jedes Zimmer des Hauses ist allergiegerecht und ausgestattet mit Vorraum, Dusche, WC, Balkon und Tele-fon. Die Physiotherapieabteilung mit einer eigenen Kneippeinrichtung, Inha-lierraum, Sauna und Solarium sorgt für die medizinisch verordneten Anwen-dungen. Für einen behaglichen Aufenthalt gibt es gemütliche Aufenthaltsräume mit Kamin und Fernseher, helle Räume für Gesprächsgruppen und einen An-dachts-/Meditationsraum. Die Mahlzeiten werden in zwei Speisesälen serviert. Auf jeder Etage ist ein Spielzimmer mit Küchenzeile. Für die kleinen und großen Kinder gibt es ein Spielzimmer, Kinderspielplätze und einen Bolzplatz. Zum Wer-ken und Basteln haben wir extra ausgestattete Räume. Es stehen Waschma-schine, Trockner und Trockenräume zur Verfügung. Therapeutisches Spektrum Die inhaltlichen Schwerpunkte der Vorsorgemaßnahmen für MS-kranke Mütter und ihre Kinder in der Vorsorge-Reha-Klinik Haus Daheim: Schulmedizinische Grundversorgung in Verbindung mit psychosozialen und physiotherapeutischen Verfahren durch jeweilige Fachkräfte. Spezifische Diagnostik und Therapie durch ein erfahrenes und qualifiziertes Therapeutenteam: Bei Erwachsenen: - Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselerkrankungen - psychische und Verhaltensstörungen - Krankheiten des Atmungssystems - Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes - Faktoren die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruch-

nahme des Gesundheitswesens führen (außer Z 44).

Page 36: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

35

Bei Kindern: - Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselerkrankungen - psychische und Verhaltensstörungen - Krankheiten des Atmungssystems Ausgewogenes Angebot bei einer ganzheitlichen Betrachtung der Patienten. Besondere Fachlichkeit, Sensibilität und Erfahrung in der Interaktionstherapie für Mutter und Kind bei psychischen und Verhaltensauffälligkeiten. - Diagnostik - Medizinische und physikalische Therapie - Psychosoziale Therapie - Pädagogische und therapeutische Arbeit mit Kindern - Therapie unterstützende Maßnahmen

Page 37: Mutter-Kind-Maßnahmen für Frauen mit Multipler Sklerose ... · Die Multiple Sklerose ist die häufigste neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird besonders oft bei Frauen zwischen

36

6. Vernetzung und Nachsorge Wir fördern bei unseren Patientinnen die Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit und Mitgestaltung, weil wir unsere Arbeit als aktive Rehabilitation und Gesund-heitsvorsorge verstehen. Durch diesen starken Einbezug der Teilnehmerinnen, der bereits im Vorfeld der Maßnahme beginnt, soll die Fähigkeit gefördert werden, die während der Maßnahme gemachten Erfahrungen und gewon-nenen Erkenntnisse später im Alltag umzusetzen, gezielt gesundheitsfördernde Maßnahmen weiterzuführen oder Hilfen in Anspruch zunehmen. Um diese Ef-fekte zu unterstützen halten wir eine psychologische/therapeutische Nach-betreuung je nach Bedarf und Grad der Krankheitsfolgen für äußerst sinnvoll. So lassen sich langwirkende Verbesserungen in medizinischer, physiologischer, psychosozialer und psychosomatischer Hinsicht erzielen. Dies leistet letztlich auch einen bedeutenden Beitrag zur Kostendämpfung. Unser Haus kooperiert in Bezug auf die Vor- und Nachbetreuung mit der Deut-schen MS-Gesellschaft, Landesverband Niedersachsen, Hannover.

7. Qualitätsmanagement

Haus Daheim fühlt sich einem hohen Qualitätsstandard verpflichtet. In diesem Sinne wird auf allen Ebenen der Klinik ein Total Quality Management System umgesetzt. Seit 2006 wurde im Netzwerkverbund des evangelischen Fachverbands für Frauengesundheit und in Zusammenarbeit mit dem Diakonischen Institut für Qualitätsentwicklung im Diakonie Bundesverband wurde das "Bundesrah-menhandbuch Diakonie-Siegel Vorsorge und Rehabilitation für Mütter/Mutter-Kind" erarbeite. Das Handbuch wurde offiziell im Januar 2010 herausgegeben. Das Gütesiegel entspricht den allgemein anerkannten TQM Kriterien und zeigt darüber hinaus die Besonderheiten des evangelischen Gesundheitsangebots für Frauen und Mütter und deren Kinder auf. Haus Daheim, das maßgeblich an der Entwicklung des Bundesrahmenhandbuchs beteiligt war, wird im Früh-jahr 2010 nach dessen Gütekriterien und entsprechend der Vorgaben des § 137 SGB V zertifiziert werden.