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MICHAEL ROBOTHAM Amnesie

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Page 1: MICHAEL ROBOTHAM Amnesie - Libri GmbH

MICHAEL ROBOTHAM

Amnesie

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man

Buch

Schwer verletzt wird Detective Inspector Vincent Ruiz aus der Themsegeborgen und in ein Londoner Krankenhaus eingeliefert. Erst Tage spä-ter erwacht er aus dem Koma – und kann sich nicht mehr erinnern, wasgeschehen ist, weder in der Nacht, in der er verunglückte, noch in den

Wochen davor.Der einzige Anhaltspunkt ist das Foto eines Mädchens, das er bei sichtrug: Die siebenjährige Mickey Carlyle war drei Jahre zuvor entführtworden und blieb spurlos verschwunden. Ruiz selbst hatte in diesem Fall

ermittelt und das Kind monatelang verzweifelt gesucht – vergeblich.Dass es einen Zusammenhang geben muss, wird ihm schnell klar, alsAleksej Kuzner, der Vater des verschwundenen Mädchens und ein skru-pelloser russischer Mafioso, eines Nachts an seinem Bett steht und dieRückgabe von Diamanten im Wert von zwei Millionen Pfund verlangt.Ruiz weiß nicht, wovon Aleksej spricht, doch als er die Juwelen balddarauf tatsächlich in seiner Wohnung entdeckt, begreift er, wie tief erin Schwierigkeiten steckt. Gemeinsam mit seinem alten Bekannten, demPsychologen Joe O’Loughlin, gelingt es Ruiz nach und nach, sein Erinne-rungsvermögen zurückzuerlangen. Dabei muss er feststellen, dass er zumSpielball in einer perfiden Intrige geworden ist – und dass die Drahtzieher

ihn bereits zum zweiten Mal ins Visier genommen haben …

Autor

Michael Robotham wurde 1960 in New South Wales, Australien, gebo-ren. Er war lange Jahre als Journalist für große Tageszeitungen und Ma-gazine in London und Sydney tätig, bevor er sich ganz seiner Laufbahnals Schriftsteller widmete. Nach seinem international erfolgreichen De-büt »Adrenalin« legt Robotham mit »Amnesie« seinen zweiten Thrillervor, der von der australischen »Crime Writers’ Association« zum »CrimeBook of the Year« gewählt wurde. Michael Robotham lebt mit seiner

Frau und seinen drei Töchtern in Sydney.

Von Michael Robotham außerdemim Goldmann Taschenbuch erschienen

Adrenalin. Ro

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MichaelRobotham

AMNESIERoman

Deutschvon Kristian Lutze

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Die Originalausgabe erschien 2005unter dem Titel »Lost«bei Time Warner Books

1. AuflageTaschenbuchausgabe November 2007Copyright © der Originalausgabe 2005

by Michael RobothamCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagfoto: Plainpicture/Westend61IK · Herstellung: Str.

www.goldmann-verlag.de

eISBN 978-3-641-06304-7

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Für meine Mutter und meinen Vater

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Gut verloren – etwas verloren!Ehre verloren – viel verloren!Mut verloren – alles verloren!

(nach Johann Wolfgang Goethe)

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Die Themse, LondonIrgendwer hat mir mal erzählt, man wisse, dass es kalt ist, wennman einen Anwalt mit den Händen in den eigenen Taschensieht. Jetzt ist es noch kälter. Mein Mund ist taub, und ich habebei jedem Atemzug das Gefühl, Eissplitter in die Lunge zu sau-gen.

Menschen schreien und leuchten mir mit Taschenlampen indie Augen. Ich klammere mich derweil an eine große gelbe Boje,als wäre sie Marilyn Monroe. Die ziemlich dicke Marilyn Mon-roe, die angefangen hatte, Tabletten zu schlucken, und so lang-sam verkam.

Mein Lieblingsfilm ist Manche mögen’s heiß mit Jack Lem-mon und Tony Curtis. Ich weiß nicht, warum mir das geradejetzt einfällt, obwohl es mir bis heute ein Rätsel ist, wie irgend-jemand Jack Lemmon für eine Frau halten kann.

Ein Typ mit einem wirklich buschigen Schnauzbart undeinem Atem, der nach Pizza riecht, haucht in mein Ohr. Er trägteine Schwimmweste und versucht, meine Finger von der Boje zulösen. Ich kann mich vor Kälte nicht rühren. Er schlingt beideArme um meine Brust und schleppt mich rückwärts durchsWasser. Weitere Menschen, die ich wegen der Lichter nur inUmrissen wahrnehme, greifen nach meinen Armen und ziehenmich an Deck.

»Mein Gott, guck mal, sein Bein!«, sagt irgendjemand.»Er ist angeschossen worden!«Über wen reden die?Wieder fangen irgendwelche Leute an zu brüllen, rufen nach

Verbandszeug und Blutplasma. Ein Schwarzer mit einem golde-

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nen Ohrring sticht eine Nadel in meinen Arm und drückt einenBeutel auf mein Gesicht.

»Ich brauche Decken. Wir müssen ihn warm halten.«»Puls bei einhundertzwanzig.«»Einhundertzwanzig?«»Puls bei einhundertzwanzig.«»Irgendwelche Kopfverletzungen?«»Negativ.«Ein Motor heult auf, und wir setzen uns in Bewegung. Ich

kann meine Beine nicht spüren. Ich spüre gar nichts – nicht ein-mal mehr die Kälte. Die Lichter verblassen auch. Dunkelheit si-ckert in meine Augen.

»Fertig?«»Ja.«»Eins, zwei, drei.«»Vorsicht mit den Transfusionsschläuchen.«»Alles klar.«»Beatmung fortsetzen.«»Okay.«Der Typ mit dem Pizzaatem keucht jetzt schwer und rennt

neben der Trage auf und ab. Er drückt seine Faust auf den Beu-tel vor meinem Gesicht, um Luft in meine Lunge zu pressen, diesich gleich darauf hebt. Quadratische Lichter gleiten über michhinweg. Ich kann noch sehen.

Eine Sirene heult in meinem Kopf. Jedes Mal, wenn wir brem-sen, wird sie lauter und eindringlicher. Jemand spricht in einFunkgerät. »Er kriegt gerade seine vierte Konserve. Er verblutetuns. Der systolische Druck sinkt.«

»Er braucht Volumen.«»Drück ihm noch einen Beutel rein.«»Herzstillstand!«»Herzstillstand. Siehst du?«Eine der Maschinen stößt einen anhaltenden Warnton aus.

Warum schaltet sie keiner ab?

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Pizzaatem reißt mein Hemd auf und klatscht mir zwei Gum-mimatten auf die Brust.

»ALLES KLAR!«, brüllt er.Der Schmerz bläst mir beinahe die Schädeldecke weg.Wenn er das noch mal macht, brech ich ihm beide Arme.»ALLES KLAR!«Ich schwöre bei Gott, ich werde dich nicht vergessen, Pizza-

atem. Ich werde mich genau erinnern, wer du bist. Und wennich hier rauskomme, suche ich dich. Im Fluss war ich glück-licher. Bringt mich zurück zu Marilyn Monroe.

Jetzt bin ich wach. Meine Augenlider flattern, als kämpften siegegen die Schwerkraft an. Ich drücke sie fest zu, versuche es er-neut und blinzele in die Dunkelheit.

Ich drehe den Kopf und kann die orangefarbene Leuchtan-zeige einer Maschine neben dem Bett ausmachen, außerdemeinen grünen Lichtpunkt, der über ein LCD-Display flimmert wiebei diesen Stereoanlagen mit hüpfenden farbigen Lichtwellen.

Wo bin ich?Neben meinem Kopf steht ein Chromständer, im Metall spie-

geln sich Sterne. An einem Haken hängt ein Plastikbeutel, prallvoll mit einer durchsichtigen Flüssigkeit, die durch einen bieg-samen Plastikschlauch fließt und unter einem abgeklebten Ver-band an meinem linken Unterarm verschwindet.

Ich bin in einem Krankenhauszimmer. Als ich nach einemBlock greifen will, der auf dem Nachttisch liegt, fällt mein Blickauf meine linke Hand – das heißt, weniger auf die Hand als aufeinen Finger. Er fehlt. Statt eines Fingers und eines Eherings istdort ein klobiger Verband, den ich idiotisch anstarre, als wäreich Opfer eines Zaubertricks.

Mit den Zwillingen habe ich früher immer ein Spiel gespielt,bei dem ich mir scheinbar einen Daumen ausgerissen habe, abersie mussten nur draufniesen, dann war er wieder da. Michaelhätte sich jedes Mal beinahe vor Lachen in die Hose gemacht.

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Ich taste nach dem Block und lese den Briefkopf: »St. Mary’sHospital, Paddington, London«. In der Schublade liegen nureine Bibel und ein Koran.

Ich entdecke ein Klemmbrett, das am Fußende des Betteshängt. Als ich danach greife, explodiert in meinem rechten Beinein Schmerz und schießt durch meinen Kopf hindurch. Herr-gott! Tu das auf gar keinen Fall noch einmal.

Ich rolle mich zusammen und warte, dass der Schmerz ab-ebbt. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Wenn ich michauf einen ganz bestimmten Punkt in meinem Kiefer konzen-triere, kann ich spüren, wie unter meiner Haut das Blut fließt,in immer kleinere Kanäle drängt und Sauerstoff verbreitet.

Meine Frau Miranda, mit der ich nicht mehr zusammenlebe,konnte so schlecht schlafen, dass sie immer behauptet hat, meinHerz würde sie wach halten, weil es zu laut klopft. Ich habenicht geschnarcht oder bin aus nächtlichen Albträumen hoch-geschreckt, aber mein Herz hat gepumpt wie wild. Das stehtauch auf Mirandas Liste von Scheidungsgründen. Ich über-treibe natürlich. Sie braucht keine zusätzliche Rechtfertigung.

Ich mache die Augen wieder auf, und die Welt ist noch da.Ich atme tief ein, packe das Laken und hebe es ein paar Zen-

timeter an. Ich habe nach wie vor zwei Beine. Ich zähle extranach. Eins. Zwei. Das rechte ist mit Schichten von Mull banda-giert, der an den Rändern abgeklebt ist. Irgendjemand hat mitFilzschrift etwas auf meinen Oberschenkel geschrieben, aber ichkann es nicht lesen.

Weiter unten sehe ich meine Zehen, die mir zur Begrüßungzuwinken. »Hallo, Zehen«, flüstere ich.

Zögernd greife ich nach unten, lege die Hand unter meine Ge-nitalien und lasse die Hoden zwischen meinen Fingern hin undher rollen.

Eine Krankenschwester schlüpft lautlos durch die Vorhänge.Ihre Stimme erschreckt mich. »Ist das ein sehr intimer Mo-ment?«

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»Ich habe – ich habe – bloß nachgesehen.«»Also, ich glaube, Sie sollten das Ding vorher zum Essen ein-

laden.«Sie spricht mit irischem Akzent, und ihre Augen sind grün wie

frisch gemähtes Gras. Sie drückt auf den Rufknopf über meinemKopf. »Gott sei Dank sind Sie endlich aufgewacht. Wir habenuns sehr große Sorgen um Sie gemacht.« Sie klopft gegen denBeutel mit der Flüssigkeit und überprüft die Fließgeschwindig-keit, bevor sie meine Kissen glatt streicht.

»Was ist passiert? Wie bin ich hier gelandet?«»Sie sind angeschossen worden.«»Von wem?«Sie lacht. »Oh, das dürfen Sie mich nicht fragen. So was er-

zählt mir nie jemand.«»Aber ich kann mich an nichts erinnern. Mein Bein… mein

Finger…«»Der Arzt sollte jeden Moment hier sein.«Sie hört mir offenbar nicht zu. Ich packe ihren Arm. Sie ver-

sucht, sich loszureißen, hat plötzlich Angst vor mir.»Sie verstehen mich nicht – ich kann mich nicht erinnern! Ich

weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin.«Sie blickt zum Alarmknopf. »Man hat Sie im Fluss gefunden.

Das habe ich aufgeschnappt. Die Polizei hat die ganze Zeit da-rauf gewartet, dass Sie erwachen.«

»Wie lange bin ich schon hier?«»Acht Tage… Sie lagen im Koma. Ich dachte gestern schon,

dass sie vielleicht zu sich kommen. Sie haben Selbstgesprächegeführt.«

»Was hab ich denn gesagt?«»Sie haben ständig nach einem Mädchen gefragt und gesagt,

Sie müssten sie finden.«»Wie war ihr Name?«»Das haben Sie nicht gesagt. Bitte lassen Sie mich los. Sie tun

mir weh.«

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Ich lockere den Griff, sie bringt sich in Sicherheit und reibtsich den Arm. Sie wird nicht mehr in meine Nähe kommen.

Mein Herz beruhigt sich nicht. Es pocht weiter und weiter,schneller und schneller, chinesischen Trommeln gleich. Wie kannich schon seit acht Tagen hier sein?

»Was für ein Tag ist heute?«»Der dritte Oktober.«»Hat man mir Medikamente gegeben? Was haben Sie mit mir

gemacht?«»Sie bekommen Morphium gegen die Schmerzen«, stottert

sie.»Was noch? Was haben Sie mir sonst noch eingeflößt?«»Nichts.« Sie blickt erneut zum Alarmknopf. »Der Doktor

kommt gleich. Versuchen Sie, ruhig zu bleiben, sonst muss er Siesedieren.«

Sie huscht hinaus und kommt bestimmt nicht zurück. Als dieTür zufällt, sehe ich auf einem Stuhl vor dem Zimmer einenPolizisten sitzen, die Beine ausgestreckt, als wäre er schon langeda.

Ich sinke aufs Bett zurück und rieche Verbände und getrock-netes Blut. Ich halte die Hand hoch und versuche, mit dem feh-lenden Finger zu wackeln. Wie kann es sein, dass ich mich nichterinnere?

Für mich hat es so etwas wie Vergessen nie gegeben, nichts istverschwommen oder an den Rändern ausgefranst. Ich hortemeine Erinnerungen wie ein Geizkragen, der ständig sein Goldzählt. Jeder Schnipsel eines Augenblicks wird aufbewahrt, so-lange er irgendeinen Wert hat.

Die Dinge sind nicht fotografisch in mir gespeichert. Ich stellevielmehr Verbindungen her und verwebe sie wie eine Spinne, dieihr Netz spinnt und einen Faden an den nächsten knüpft. Sokann ich Details von fünf, zehn, fünfzehn Jahre zurückliegen-den Kriminalfällen aus dem Gedächtnis kramen, als wären sieerst gestern passiert. Namen, Daten, Tatorte, Zeugen, Täter,

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Opfer – ich kann sie heraufbeschwören und noch einmal durchdieselben Straßen laufen, dieselben Gespräche führen und die-selben Lügen hören.

Jetzt habe ich zum ersten Mal etwas wirklich Wichtiges ver-gessen. Ich weiß nicht mehr, was passiert ist, und wie ich hier ge-landet bin. Das schwarze Loch in meinem Kopf ähnelt demSchatten auf einem Röntgenbild. Ich habe diesen Schatten gese-hen. Ich habe meine erste Frau durch Brustkrebs verloren.Schwarze Löcher saugen alles auf. Nicht einmal das Licht ent-geht ihnen.

Zwanzig Minuten später rauscht Dr. Bennett durch den Vor-hang. Er trägt Jeans und eine Fliege unter seinem weißen Kittel.

»Detective Inspector Ruiz, willkommen zurück im Land derLebenden und der hohen Steuern.« Sein Akzent klingt schwernach Privatschule, und er hat eine affige Ponyfrisur à la HughGrant. Die Strähnen fallen ihm in die Stirn wie eine Servietteüber einen Schoß.

Er leuchtet mit einer Stablampe in meine Augen und fragt:»Können Sie mit den Zehen wackeln?«

»Ja.«»Irgendein Kribbeln irgendwo?«»Nein.«Er schlägt das Laken zurück und kratzt mit einem Schlüssel

über die Sohle meines rechten Fußes. »Spüren Sie das?«»Ja.«»Ausgezeichnet.«Er nimmt das Klemmbrett an meinem Fußende und kritzelt

mit einer knappen Handbewegung seine Initialen darauf.»Ich kann mich an nichts erinnern.«»Sie meinen den Unfall.«»Es war ein Unfall?«»Ich habe keine Ahnung. Sie wurden angeschossen.«»Wer hat mich angeschossen?«»Sie können sich nicht erinnern?«

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»Nein.«Dieses Gespräch läuft im Kreis.Dr. Bennett klopft mit dem Stift gegen seine Zähne und be-

denkt seine Antwort. Dann zieht er einen Stuhl heran, setzt sichverkehrt herum drauf und legt seine Arme auf die Rückenlehne.

»Sie wurden angeschossen. Eine Kugel ist direkt über demGracilis-Muskel Ihres rechten Beines eingetreten und hat einsechs Millimeter großes Loch hinterlassen. Sie ist durch die Haut,die Fettschicht und genau zwischen den femoralen Blutgefäßenund dem Nerv durch den Pectineus, den Quadratus femoris, denKopf des Biceps femoris und den Gluteus maximus gedrungen,bevor sie auf der anderen Seite wieder ausgetreten ist. Die Aus-trittswunde war ungleich imposanter. Die Kugel hat ein Lochvon zehn Zentimetern Breite gerissen. Alles weg, keine Haut-fetzen, keine Reste. Ihre Haut ist einfach verdampft.«

Er pfeift beeindruckt durch die Zähne. »Sie hatten noch einenPuls, aber keinen messbaren Blutdruck mehr, als man Sie fand.Ihre Atmung hatte ausgesetzt. Sie waren tot, aber wir haben Siezurückgeholt.«

Er hält Daumen und Zeigefinger hoch. »Die Kugel hat IhreOberschenkelarterie um so viel verfehlt.« Ich kann die Lückezwischen seinen Fingern kaum ausmachen. »Andernfalls wärenSie binnen drei Minuten verblutet. Außerdem mussten wir dieEntzündungsgefahr in den Griff kriegen. Ihre Kleidung warschmutzig. Weiß der Himmel, was alles in diesem Wasser war.Wir haben Sie mit Antibiotika voll gepumpt. Sie hatten Glück.«

Soll das ein Witz sein? Wie viel Glück braucht man, um an-geschossen zu werden?

»Was ist mit meinem Finger?« Ich halte meine Hand hoch.»Weg, fürchte ich, direkt über dem ersten Knöchel.«Ein hagerer Assistenzarzt mit der Frisur des ewig Zweiten

steckt den Kopf durch den Vorhang. Dr. Bennett stößt ein leisesKnurren aus, das nur Untergebene hören. Er steht auf und ver-gräbt die Hände in den Taschen seines weißen Kittels.

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»Warum kann ich mich nicht erinnern?«»Ich weiß es nicht. Das ist nicht mein Fachgebiet, fürchte ich.

Wir können ein paar Untersuchungen veranlassen, am besteneine Computer- oder Kernspintomographie, um einen Schädel-bruch und Gehirnblutungen auszuschließen. Ich sage der Neu-rologie Bescheid.«

»Mein Bein tut weh.«»Gut. Es heilt. Sie machen sehr gute Fortschritte. Sie brau-

chen einen Rollator oder Krücken zum Laufen. Eine Physiothe-rapeutin wird mit Ihnen ein Programm zur Stärkung der Bein-muskulatur erarbeiten.« Er wirft seinen Pony aus der Stirn undwendet sich zum Gehen. »Das mit Ihrem Gedächtnis tut mirLeid, Detective. Seien Sie dankbar, dass Sie noch leben.«

Dann ist er verschwunden und lässt nur einen Hauch vonAftershave und Überlegenheit zurück. Warum kultivieren Chi-rurgen eine Aura, als würde die Welt ihnen gehören? Ich weiß,dass ich dankbar sein sollte. Wenn ich mich daran erinnernkönnte, was passiert ist, würde ich den Erklärungen vielleichtmehr trauen.

Ich sollte also tot sein. Ich habe stets vermutet, dass ich einesplötzlichen Todes sterben würde. Ich bin gar nicht besonderstollkühn, habe aber die Angewohnheit, Abkürzungen zu neh-men. Die meisten Menschen sterben nur ein Mal. Ich habe jetztzwei Leben. Dazu drei Ehefrauen. Man könnte also meinen, ichhätte mehr als meinen gerechten Anteil am Leben gehabt. (Aufdie drei Ehefrauen würde ich ganz klar verzichten, falls jemandsie zurückwill.)

Meine irische Krankenschwester ist wieder da. Sie heißt Maggieund beherrscht dieses aufmunternde Lächeln, das man auf derSchwesternschule lernt. In der Hand hat sie eine Schüssel war-mes Wasser und einen Schwamm.

»Fühlen Sie sich besser?«»Es tut mir Leid, dass ich Sie erschreckt habe.«

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»Ist schon in Ordnung. Zeit für ein Bad.«Sie schlägt die Decke zurück, und ich ziehe sie wieder hoch.»Da ist nichts drunter, was ich noch nicht gesehen hätte«,

sagt sie.»Da bin ich leider anderer Meinung. Ich kann mich ziemlich

gut erinnern, wie viele Frauen ein Tänzchen mit dem alten Lollygewagt haben, und wenn Sie nicht das Mädchen in der letztenReihe von Shepherd’s Bush Empire beim Yardbirds-Konzert1961 waren, glaube ich nicht, dass Sie dazugehören.«

»Mit dem alten Lolly?«»Meinem ältesten Freund.«Sie schüttelt den Kopf und sieht aus, als hätte sie Mitleid mit

mir.Neben ihr taucht eine vertraute Gestalt auf – ein gedrungener,

kantiger Mann ohne Hals und mit Bartschatten. CampbellSmith ist Chief Superintendent, sein Händedruck zermalmendund sein Lächeln von No-Name-Qualität. Die silbernen Knöpfeseiner Uniform sind poliert, und sein Hemdkragen ist so steif,dass er Gefahr läuft, sich zu enthaupten.

Jeder behauptet, Campbell zu mögen – selbst seine Feinde –,aber kaum jemand ist je froh, ihn zu sehen. Ich jedenfalls nicht.Nicht heute. An ihn kann ich mich erinnern! Das ist ein gutesZeichen.

»Mein Gott, Vincent, du hast uns wirklich einen Schreckeneingejagt!«, dröhnt er. »Eine Zeit lang hing es wirklich am sei-denen Faden. Wir haben alle für dich gebetet – jeder im Präsi-dium. Siehst du all die Karten und Blumen?«

Ich wende den Kopf und sehe einen Tisch voller Blumen undObstschalen.

»Jemand hat auf mich geschossen«, sage ich ungläubig.»Ja«, erwidert er und zieht sich einen Stuhl ans Bett. »Wir

müssen wissen, was passiert ist.«»Ich kann mich nicht erinnern.«»Du hast sie nicht gesehen?«

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»Wen?«»Die Leute auf dem Boot.«»Welches Boot?« Ich sehe ihn mit leerem Blick an.Seine Stimme wird unvermittelt lauter. »Man hat dich in

der Themse gefunden, zusammengeschossen, keine halbe Meileentfernt von einem Boot, das aussah wie ein schwimmendesSchlachthaus. Was ist passiert?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«»Du kannst dich nicht an das Massaker erinnern.«»Ich kann mich nicht mal an ein beschissenes Boot erinnern.«Campbell hat allen Anschein von Freundlichkeit fallen las-

sen. Er läuft im Zimmer auf und ab, ballt die Fäuste und ver-sucht, die Fassung zu wahren.

»Das ist gar nicht gut, Vincent. Wirklich sehr unschön. Hastdu irgendjemanden getötet?«

»Heute?«»Komm mir nicht mit Witzchen. Hast du deine Waffe abge-

feuert? Deine Dienstpistole ist ordnungsgemäß aus der Waffen-kammer ausgegeben worden. Werden wir Leichen finden?«

Leichen? Ist es das, was geschehen ist?Campbell streicht sich frustriert durch die Haare.»Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel Scheiße schon durch

die Luft fliegt. Es wird eine umfassende Untersuchung geben.Der Kommissar verlangt Antworten. Die Scheißpresse wirdeinen inneren Vorbeimarsch haben. Auf dem Boot wurde dasBlut von drei verschiedenen Personen gefunden, darunter deins.Die Spurensicherung sagt, dass es mindestens einen Toten gege-ben haben muss. Man hat Gehirnmasse und Schädelsplitter ge-funden.«

Ich habe das Gefühl, dass die Wand hin und her schwankt.Vielleicht liegt das an dem Morphium oder der stickigen Luft.Wie könnte ich so etwas vergessen?

»Was hast du auf dem Boot gemacht?«»Es muss ein Polizeieinsatz gewesen sein…«

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»Nein«, erklärt er wütend und tut nicht einmal mehr so, alswären wir Freunde. »Du hast nicht an einem Fall gearbeitet. Eswar kein Polizeieinsatz. Du warst allein.«

Wir fechten ein altmodisches Blickduell aus, das ich lockergewinne. Vielleicht blinzele ich nie wieder. Die Antwort ist Mor-phium. Es fühlt sich verdammt gut an.

Schließlich lässt Campbell sich wieder auf einen Stuhl sinkenund greift eine Hand voll Weintrauben aus einer braunen Pa-piertüte.

»Was ist das Letzte, woran du dich erinnern kannst?«Wir sitzen schweigend da, während ich versuche, die Fetzen

eines Traums zu fassen. Bilder treiben durch meinen Kopf, erstblass, dann scharf: eine gelbe Rettungsboje, Marilyn Monroe…

»Ich kann mich erinnern, dass ich eine Pizza bestellt habe.«»Ist das alles?«»Tut mir Leid.«Ich starre auf den Mullverband an meiner Hand und staune,

dass ein Finger, der gar nicht da ist, jucken kann. »Woran habich denn gearbeitet?«

Campbell zuckt die Achseln. »Du hattest Urlaub.«»Warum?«»Weil du eine Pause brauchtest.«Er lügt. Manchmal glaube ich, er vergisst, wie lange wir uns

schon kennen. Wir haben gemeinsam unsere Ausbildung an derPolizeischule in Bramshill absolviert. Und ich habe ihn bei einemGrillfest vor fünfunddreißig Jahren mit seiner Frau Maureen be-kannt gemacht, was sie mir nie ganz vergeben hat. Ich weißnicht, was sie mehr empört – meine drei Ehen oder die Tatsache,dass ich sie mit einem anderen verkuppelt habe.

Es ist lange her, dass Campbell mich Kumpel genannt hat,und seit er Chief Superintendent ist, waren wir nicht mehr zu-sammen Bier trinken. Er ist ein anderer geworden. Nicht besseroder schlechter, sondern einfach anders.

Er spuckt einen Weintraubenkern in seine Hand. »Du hast

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dich immer für etwas Besseres gehalten, Vincent, aber ich binvor dir befördert worden.«

Du bist ein Arschkriecher.»Ich weiß, dass du denkst, ich sei ein Arschkriecher. (Er kann

Gedanken lesen.) Aber ich war einfach schlauer. Ich habe dierichtigen Kontakte geknüpft und das System für mich arbeitenlassen, statt es zu bekämpfen. Du hättest vor drei Jahren in denRuhestand gehen sollen, als du noch die Chance hattest. Nie-mand hätte dir einen Vorwurf gemacht. Wir hätten dir einengroßen Abschied bereitet. Du hättest dich zur Ruhe setzen, einbisschen Golf spielen und vielleicht sogar deine Ehe retten kön-nen.«

Ich warte, dass er noch etwas sagt. Aber er starrt mich nur an,den Kopf zur Seite gelegt.

»Vincent, darf ich dir etwas sagen?« Er wartet meine Ant-wort nicht ab. »Dafür, was alles passiert ist, wirkst du ziemlichgelassen, aber ich habe das Gefühl, dass du… nun ja… dass duein trauriger Mann bist. Aber da ist noch etwas anderes… dubist wütend.«

Verlegenheit lässt die Haut unter meinem Nachthemd pri-ckeln wie Hitzepocken.

»Manche finden Trost in der Religion, andere haben Men-schen, mit denen sie reden können. Ich weiß, dass das nichtdeine Art ist. Schau dich doch an. Deine Kinder siehst du prak-tisch nie. Du lebst alleine… Und jetzt hast du dir auch nochdeine Karriere versaut. Ich kann dir nicht mehr helfen. Ich habedir gesagt, du sollst die Sache ruhen lassen.«

»Was sollte ich ruhen lassen?«Er gibt keine Antwort. Stattdessen nimmt er seine Mütze und

poliert mit seinem Ärmel den Schirm. Jeden Moment wird ersich mir zuwenden und sagen, was er meint. Aber das tut ernicht. Er geht einfach zur Tür hinaus und den Flur entlang.

Meine Weintrauben sind ebenfalls weg. Die Stängel sehen auswie abgestorbene Bäume auf einer Ebene aus zerknülltem brau-

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nem Papier. Daneben beginnen im Korb die Blumen zu welken.Begonien und Tulpen werfen ihre Blütenblätter ab wie fetteFächertänzerinnen und streuen Blütenstaub über den Tisch.Zwischen den Stängeln steckt eine kleine weiße Karte mit einemeingeprägten Schnörkel. Den Gruß kann ich nicht lesen.

Irgendein Schwein hat auf mich geschossen! Es sollte mir insGedächtnis gebrannt sein. Ich sollte es mit Worten immer wie-der durchleben können wie die jammernden Opfer in den Nach-mittags-Talkshows, die eine Kurzwahl für ihren Schadensersatz-anwalt eingespeichert haben. Aber ich erinnere mich an nichts.Und das ändert sich auch nicht, egal wie oft ich die Augen zu-kneife und mit der Faust gegen meine Stirn schlage.

Wirklich seltsam ist, woran ich mich zu erinnern glaube. ZumBeispiel die Umrisse von Menschen im harten Gegenlicht; mas-kierte Männer mit Plastikduschhauben und Papierschlappen,ihr Gerede über Autos, Pensionsfonds und Fußballergebnisse.Das könnte natürlich auch eine Nahtoderfahrung gewesen sein.Ich habe einen Blick in die Hölle getan, und sie war voller Chi-rurgen.

Wenn ich mit den einfachen Sachen anfange, komme ich viel-leicht an den Punkt, an dem ich mich erinnern kann, was mitmir passiert ist. Ich starre an die Decke und buchstabiere stummmeinen Namen: Vincent Ruiz; geboren am 11. September 1946.Ich bin Detective Inspector bei der London Metropolitan Policeund Leiter des Dezernats für schwere Gewaltverbrechen (Wes-tern Division). Ich wohne in der Rainville Road in Fulham…

Früher habe ich immer gesagt, ich würde gutes Geld dafürzahlen, den größten Teil meines Lebens zu vergessen. Jetzt willich meine Erinnerungen wiederhaben.

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Persönlich kenne ich nur zwei Menschen, die angeschossen wur-den. Der eine war ein Bursche, der mit mir zusammen auf derPolizeischule war. Er hieß Angus Lehmann und wollte immerder Erste sein – Erster in den Prüfungen, Erster an der Bar, Ers-ter bei der Beförderung.

Vor ein paar Jahren leitete er einen Einsatz gegen ein Dro-genlabor in Brixton und stürmte als Erster durch die Tür. Daskomplette Magazin einer Halbautomatik pustete ihm sauberden Kopf weg. Darin liegt irgendeine Lektion verborgen.

Ein Bauer namens Bruce Curley aus unserem Tal ist derandere. Er schoss sich bei dem Versuch, den Liebhaber seinerFrau durch das Schlafzimmerfenster zu vertreiben, selber in denFuß. Bruce war fett, graue Haare quollen aus seinen Ohren he-raus, und Mrs. Curley duckte sich jedes Mal wie ein Hund,wenn er die Hand hob. Schade, dass er sich nicht zwischen dieAugen geschossen hat.

In meiner Polizeiausbildung habe ich einen Kurs über Schuss-waffen absolviert. Der Leiter war ein gewisser Geordie miteinem Kopf wie eine Billardkugel, und er hatte vom ersten Tagan etwas gegen mich, weil ich vorgeschlagen hatte, dass manden Lauf einer Waffe am besten mit einem Kondom sauberhielt.

Wir standen auf einer offenen Schießanlage und froren unsden Arsch ab. Er zeigte auf die Pappfigur am Ende des Schieß-stands, die Silhouette eines kauernden Banditen mit Pistole.Kopf und Herz waren mit weißen Kreisen markiert.

Dieser Geordie nahm einen Revolver, ging mit gespreiztenBeinen in die Hocke und feuerte sechs Schüsse ab – jeweils einen

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