micha brumlik: bildung und glück. versuch einer theorie der tugenden

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Page 1: Micha Brumlik: Bildung und Glück. Versuch einer Theorie der Tugenden

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Menschen fachlich begleiten, die auch dieseFragen haben?

Sicher, dieses Handbuch enthält Texte,die manchmal Jahrhunderte alte Antworten aufheute wieder aktuelle Fragen auf wenigenSeiten sehr komprimiert zusammenzufassenversuchen. Es ist eben keine Einführung, dieden/die Leserin behutsam vom Nicht-Wissenzum Wissen führt. Man muss sich von Quer-verweis zu Querverweis durcharbeiten. Undman hat „natürlich“ auch mit Positionierungender einzelnen Autor/innen zu tun, die sichschon mal widersprechen. Neugier und selbst-ständiges Denken ist schon verlangt. Aberman erhält zu nahezu allen Fragen mindestenseine Antwort und weiterführende Literatur-hinweise. So bietet dieses Handbuch zwar kei-ne Patentrezepte. Es ist aber ein hervorragen-der Werkzeugkasten, der wichtiges Wissenund erprobte Denkwerkzeuge enthält, dieweiterhelfen. Mehr kann man ernsthaft auchnicht verlangen.

Ferdinand Buer, Münster

Martin E.P. Seligman: Der Glücks-Faktor.Warum Optimisten länger leben. BergischGladbach: Ehrenwirth 2003, 479 Seiten,22,- €€ .Micha Brumlik: Bildung und Glück. Ver-such einer Theorie der Tugenden. Ber-lin/Wien: Philo 2002, 317 Seiten, 24,90 €€ .

Der Original-Titel von Seligmans Buchlautet: „Authentic Happiness: Using the NewPositive Psychology to Realize Your Potentialfor Lasting Fulfillment“. Es geht also darum,wie die Leserschaft die Erkenntnisse der „neu-en positiven Psychologie“ nutzen kann, um ihreigenes Potenzial für eine dauerhafte Erfül-lung (ihres Lebens) auszuschöpfen. Und die-ses Ziel, diese Utopie nennt Seligman: echtesGlück. Eben nicht „luck“, also nicht einen„Glücksfall“. Seligman will eben nicht zeigen,wie man „Glück haben“ kann, im Gegensatzzu „Pech haben“. Ihm geht es nicht darum, wieman durch geschicktes Ausnutzen von Vor-teilen, durch „Schnäppchenjagd“ ein Glücks-pilz oder ein Winner oder ein Superstar wird.Ihm geht es mit der Wortwahl von „authentichappiness“ ausdrücklich um „Eudaimonia“,

wie die alten Griechen sagten, eben um„Glückseligkeit“ und was man dafür tun kann,wenn man ein solches Ziel überhaupt in Be-tracht zieht.

Und was macht der Ehrenwirth-Verlagdaraus? Er verspricht mit dem deutschen Titelgenau das, was nach Seligman unglücklichmacht. Bekanntlich gehört Ehrenwirth zumBastei Lübbe Konzern. Und da passt der Titeloffensichtlich in die Konzern-Philosophie:Unsere Bücher sind Glückbringer! Wer siekauft, hat das Glück gekauft! Ein solcher Titelschreckt natürlich viele nachdenkliche Men-schen ab. Es könnte sein, dass eben dieseMenschen dieses Buch wegen dieses Titelserst gar nicht aufschlagen. Das ärgert mich, dasich eine Lektüre durchaus lohnt. Wenn ichaber länger nachdenke, dann könnte dieserTitel dazu beitragen, dass viel mehr Menschendieses Buch lesen, zumal es gut verständlichgeschrieben ist, als bei einer zutreffendenÜbersetzung des Originaltitels. Und das ver-söhnt mich mit diesem Fehlgriff des Verlags.Wenn durch eine Lektüre viele Glücksgläubi-ge von ihrem kruden Glauben abgebrachtwerden können und zur Rückbesinnung auftugendhaftes Verhalten kommen, umso besser.Und um Tugenden geht es in diesem Buch.Und da darf man schon von nachdenklichenMenschen verlangen, dass sie sich nicht vonTiteln schocken lassen. Kritisches Hinterfra-gen von Titeln kann auch eine Tugend sein.

Aber nun zur Sache: Seligman, Jg. 1942,ist Professor für Psychologie an der Universityof Pennsylvania. Er ist in der deutschen Fach-öffentlichkeit bekannt geworden durch seineForschungen zur „erlernten Hilflosigkeit“.Schon diese andere Sichtweise depressivenVerhaltens zeigt ihn offen für eine neue Psy-chologie, deren Blick nicht mehr auf„schlimmste Erscheinungen im Leben“ fixiertist, sondern sich mehr richtet auf das, „was einLeben lebenswert macht“ (S. 415). So hat ersich mit Mihaly Csikszentmihaly, dem be-kannten Glücksforscher, und anderen Profes-sor/innen zusammengeschlossen, um eine Po-sitive Psychologie zu entwickeln. Mit dieserPositiven Psychologie verbinden diese For-scher aber kein neues Paradigma. Sie wollennur ihren Fokus verlagern. Die bewährten wis-senschaftlichen Methoden, also die üblichenquantitativen, werden weiterhin genutzt, aber

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durchaus mit ungewöhnlichen Fragestellungenund Forschungsdesigns.

Das Forschungsprogramm der PositivenPsychologie umfasst drei Säulen: (1) Die Er-forschung der positiven Emotionen, (2) die Er-forschung des positiven Charakters, (3) die Er-forschung der positiven Strukturen. Seligmanist schon klar, dass Individuen sich nur dannpositiv entwickeln können, wenn sie von ge-eigneten sozialen Kontexten umgeben sind.Damit kann und will er sich in diesem Buchaber nicht befassen. Diesen Teil des For-schungsprogramms haben andere übernom-men. Wenn das Buch also etwas psychologis-tisch daher kommt, ist das dieser Einschrän-kung geschuldet.

Seligman möchte ein „verbraucherfreund-liches Buch über Psychologie für gebildeteNichtpsychologen“ (S. 85) schreiben. D.h., erstellt nur ausgewählte Forschungsergebnissevor. Theoretische Auseinandersetzungen sindsehr sparsam ausgeführt. Dafür gibt es einenumfassenden Anmerkungsteil mit zahlreichenLiteraturverweisen. Und er will durchaus ei-nen Ratgeber mit Anspruch schreiben. Hiergibt es daher keine totsicheren Rezepte. Aberer bietet Forschungsergebnisse, theoretischeErkenntnisse und Geschichten an, die zumNachdenken anregen, zur Selbstbesinnung unddamit durchaus uns Leser/innen auffordern,unser Leben zu überprüfen. Diese Kombinati-on wird in Büchern deutscher Autor/innen lei-der wenig erprobt. Hier heißt es: entwederWissenschaft oder Beratung. Dass eine Ver-bindung möglich ist, beweist dieses Buch, wiemanches andere Buch aus den USA. Der latentoder manifest in den USA verbreitete Pragma-tismus trägt eben viele gute Früchte.

Im ersten Teil geht es um positive Emotio-nen. Und Seligman steigt gleich mit einem frap-pierenden Forschungsergebnis ein: Nonnen, dieaus Anlass des Ablegens ihrer ewigen Gelübdeeinen Lebenslauf verfasst hatten, wurden da-nach in Gruppen eingeteilt, ob diese TexteFröhlichkeit ausströmten oder nicht. Es zeigtesich, „dass aus der fröhlichsten Gruppe im Altervon 85 Jahren noch 90 Prozent der Nonnen amLeben waren, aus der unfröhlichsten Gruppe je-doch nur 34 Prozent. Das Alter von 94 Jahrenerreichten in ersterer Gruppe immerhin noch 54Prozent, wohingegen es in letzterer Gruppe nurmehr elf Prozent waren“ (S. 21). Also schluss-

folgert der geneigte Leser: Der Verlag hat dochrecht – Optimisten leben länger! Nun ist das soeine Sache mit solchen Schlussfolgerungen. Sielassen sich sicher nicht so einfach aus solchenErgebnissen herleiten. Aber: Seligman bringt imweiteren Verlauf so viele und so ungewöhnlicheForschungsergebnisse wie diese, dass viele sei-ner Behauptungen doch eine gewisse Plausibi-lität gewinnen.

Im zweiten Teil befasst er sich mit Stär-ken und Tugenden. Den Zusammenhang mitden positiven Emotionen sieht Seligman so:„Happiness“ wird als „well-being“ operationa-lisiert. „Wohlbefinden“ wiederum ist mit vie-len positiven Gefühlen verbunden. Bei den ge-genwartsbezogenen positiven Emotionen un-terscheidet er „pleasures“ von „gratifications“.Ein vergnügliches Leben führe ich, wenn esdurch körperliche und höhere Genüsse wieauch durch viele Belohnungshandlungen ge-kennzeichnet ist. Diese „gratifications“ könnenaber weder erreicht noch nachhaltig gesteigertwerden, ohne dass wir unsere menschlichenStärken und Tugenden entwickeln. Durch Aus-wertung der Weisheitsliteratur der Welt gibtSeligman sechs Tugenden eine große Bedeu-tung: Weisheit/Wissen, Mut, Liebe/Humanität,Gerechtigkeit, Mäßigung, Spiritualität/Tran-zendenz. Um diese Tugenden als Haltungen zuerwerben und aus ihnen heraus zu leben, be-darf es nach Seligman verschiedener Zugänge.Die nennt er (Charakter-)Stärken. Um z.B. zurTugend der Weisheit zu gelangen, müssen be-stimmte Stärken erworben oder verstärkt wer-den wie Neugier, Lerneifer, Urteilskraft, Origi-nalität, soziale Intelligenz, Weitblick. So ordneter allen Tugenden bestimmte Stärken zu.

Der Leser kann nun mit Hilfe von Ein-schätzungsbögen herausfinden, was seine cha-rakteristischen, eben seine Signatur-Stärkensind. Wer nun die eigenen Signatur-Stärken ein-setzt, um reichlich Belohnungen auf den ihmwichtigsten Gebieten seines Lebens zu erfahren,der führt nach Seligman ein gutes Leben. Einsinnvolles Leben führt, wer seine Signatur-Stärken und Tugenden einsetzt, „um etwas Grö-ßerem zu dienen, als wir es sind“ (S. 411). Undein erfülltes Leben besteht in der gelebten Syn-these dieser drei Ebenen. Und das meint „hap-piness“, „Eudaimonia“, „Glückseligkeit“.

Im dritten Teil seines Buches zeigt er,was das für die „Lebenräume“ Liebe, Kin-

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dererziehung und Arbeit bedeutet. Für Bera-ter/innen in Organisationen hier ein Beispielaus dem Bereich Arbeit: In einer Umfrage inden USA von 1992 beschrieben sich 52 Pro-zent der praktizierenden Rechtsanwälte selbstals unzufrieden. Seligman kann als Gründe an-führen: (1) Pessimismus (mit dem Schlimmstenzu rechnen, ist gut für die Anwaltstätigkeit, aberschlecht fürs Gemüt.), (2) geringe Entschei-dungsbandbreite in Hoch-Stress-Situationen und(3) Zunahme reiner Profitorientierung in derAnwaltstätigkeit statt fairem Einsatz für Rechtund Gerechtigkeit. Was kann der einzelne An-walt in einer solchen Lage konkret tun? Se-ligman rät: Er kann sich neben der Routinear-beit Freiräume verschaffen, in denen er seineSignatur-Stärken entfalten kann. Damit wirddie Arbeit insgesamt weder zum Vergnügen,noch wird sie wirklich sinnvoll. Aber sie führtpartiell zu befriedigenden Belohnungen. Unddas steigert die Arbeitszufriedenheit und hatAuswirkungen auch auf die anderen Arbeits-tätigkeiten und die anderen Lebensbereiche.Zugegeben, das ist wenig. Aber daran könntenBerater/innen konkret arbeiten, wenn sie nichtden Ausstieg empfehlen müssen.

Die Lektüre lohnt sich gerade für Bera-ter/innen, weil hier jedem Ratsuchenden dieSehnsucht nach einem erfüllten Leben unter-stellt wird. Es gilt dann, ihn an dieser vitalenKraft zu packen. Wer aber ein gutes oder garein sinnvolles Leben führen will, der muss eintugendhaftes Leben führen wollen. Wer sichaber dazu entscheidet, der muss seine Signa-tur-Stärken entfalten, indem er sie in möglichstvielen seiner Lebensvollzüge fruchtbar macht.Einen anderen Weg gibt es nicht. Und Seligmangibt eine Fülle von Anregungen, wie das gehenkann. Und er zeigt, wie dadurch das Leben be-friedigender erlebt wird. Und manchmal führtes sogar zu einem längerem Leben.

Da ist der Text von Micha Brumlik, Jg.1947, doch aus einem ganz anderen Holz ge-schnitzt. Brumlik ist Professor für Erzie-hungswissenschaft an der Universität Frank-furt/M. und Direktor des Fritz Bauer Instituts.Seine Themen sind nicht nur Bildungstheorieim weitesten Sinne, sondern auch europäischeGeistesgeschichte, insbesondere jüdische, so-wie politische und ethische Fragen. Das Buchist innerhalb von vier Jahren aus zwei Vorle-sungen entstanden. In diesen Text sind zahl-

reiche kleinere Veröffentlichungen eingear-beitet. Leider ist das Format einer Vorlesungnicht mehr zu erkennen. Denn dann müsste esverdaubarer portioniert und einprägsamerformuliert sein. So ist es eine gelehrte Ab-handlung, die den Wissenschaftskolleg/innendeutlich macht, was der Autor alles zum The-ma bedacht hat. Das ist sicher ein Nachteil fürLeser/innen, die nicht mit erziehungs-, sozial-und geisteswissenschaftlicher „Schreibe“ ver-traut sind. Und doch: Die Lektüre auch diesesBuches lohnt sich für Berater/innen. Denn hierwerden Denktraditionen konnektiert, die sonstgetrennt nebeneinander herlaufen: aus Philo-sophie, Sozialwissenschaft und Pädagogik.

Brumliks Denken war zunächst geprägtvom Aufklärungs- und Liberalisierungsschub,der die 68er-Generation geprägt hat. In dieserTradition verfiel eine ernsthafte Reflexion aufMoral und Tugend einem abgrundtiefenIdeologieverdacht. Erst als von konservativerSeite wieder Tugenden eingeklagt wurden undsich die Pädagogik – vor allem angeregt durchdie Rezeption der Arbeiten des US-Amerika-ners Kohlberg, der übrigens von Seligman nuram Rande erwähnt wird, – der Moralerziehungvor allem in der Schule angenommen hatte,war das Thema „Moral“ auch für kritischeDenker wieder da. Bis etwa vor 10 Jahren wardiese Diskussion aber immer von Ansätzen derPflichtenethik geprägt: Ohne Kant lief nichts.Erst in den letzten Jahren ist parallel zur Dia-gnose der Gegenwartsgesellschaft als „Spaß-gesellschaft“ wieder das „Glück“ als zentralerWert in den Fokus der Reflexion gerückt. Unddamit Aristoteles. Und damit Thomas vonAquin. Und damit die vier Kardinaltugenden:„phronesis – prudentia“ (Klugheit), „dikaiosy-ne – justitia“ (Gerechtigkeit), „andreia – fortitu-do“ (Tapferkeit, Mut), „sophrosyne – tempe-rantia“ (Mäßigung, Besonnenheit) und die drei„theologischen“ Tugenden: „pistis – fides“(Glaube), „elpis – spes“, (Hoffnung), „agape –caritas“ (Liebe). Seligmans Katalog ist ähnlichgestrickt; nur die Hoffnung musste bei den an-deren Tugenden Unterschlupf finden.

Brumlik operationalisiert Tugenden als„Handlungsdispositionen“ und fragt dann: Waskann uns die heutige empirische wie theoreti-sche sozialwissenschaftliche Forschung über dieErscheinungsformen und die Relevanz dieserTugenden sagen? Sind das Konstruktionen, die

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heute noch etwas taugen? Wie kann man bei-spielsweise „Glaube“ in einer säkularen Weltverstehen? Brumlik bietet an: „dass sich ‚Glau-be‘ – jenseits der theologischen Tradition vonJudentum und Christentum – als kollektiv er-möglichte und individuell realisierte ‚Überzeu-gung von und Wunsch nach einem sinnvollenLeben‘ erläutern lässt“ (S. 204). Und so klopfter alle diese Tugenden ab und prüft sie aufHaltbarkeit für ein gelingendes Leben in heuti-ger Zeit. Dieser Teil über die klassischen Tu-genden (Kapitel IX) ist sicher das Hauptstück;es umfasst etwa ein Drittel des Buches. Im An-schluss ergänzt Brumlik diesen Katalog um dieTugenden der Freundschaft und der Toleranz.Und er zeigt am Ende die Bedeutung all dieserTugenden für eine Demokratisierung der Ge-sellschaft auf (Kapitel X-XII).

Dem Hauptstück vorgelagert (Einleitungund Kapitel I-VIII) sind Überlegungen zu spe-zifischen Fragen der Moraltheorie und Mo-ralerziehung. Hier geht es um das Verhältnisvon Tugend und Natur, eine Theorie des Las-ters, eine Theorie moralischer Gefühle, evolu-tionstheoretische Betrachtungen zur Moral, dieVerdrängung der Leidenschaften in der Kriti-schen Erziehungswissenschaft, Glück und Le-benslauf, Humanontogenese und der Sinn desLebens, Tugend und Charakter.

Wie Seligmans Buch enthält BrumliksWerk kein Literaturverzeichnis. Sein Anmer-kungsteil ist aber auch umfangreich. Er enthältaber keine theoretischen Exkurse; die sind alleschon im Text enthalten. Brumlik bietet keinRegister an. Seligmans Register hat Sach- undPersonenregister integriert.

Im Gegensatz zu Seligmans Buch wendetsich Brumliks Werk nicht an ein breites Publi-kum. Er will der Leserschaft nicht zeigen, wasman tun muss, um glücklich zu sein oder zuwerden. Sein Buch ist eben ein Stück Geistes-wissenschaft, kein Ratgeber. Seligmans Buchmacht mit frappierenden Forschungsergebnissenund praxisnahen Vorschlägen Mut. Er sprichtdie Leser/innen direkt an und aktiviert sie, in-dem er sie anhand von zahlreichen Fragen zurSelbsteinschätzung anregt. Übrigens können dieAntworten auch per Internet ausgewertet wer-den. Nun kann man das als Firlefanz abtun. Esveranlasst aber zur Selbstbeobachtung, zurSelbstreflexion, man kann sogar sagen, zur Ge-

wissenserforschung, wenn dieser Blick nicht alszu deontologisch abgelehnt wird.

Brumlik will den Leser/innen nicht zunahe treten. Sie müssen selbst entscheiden,was sie mit diesem Wissensangebot anfangen.In Europa scheint es nach wie vor verpönt zusein, einen Text so zu gestalten, dass er Lern-prozesse bei den Leser/innen unterstützenkann. Und das gilt eben auch für Texte vonPädagogen, die nun allerdings qua Professiondazu verpflichtet sein sollten. Oder gehört dasetwa nicht zum Berufsethos?

So ergänzen sich beide Bücher: Was Se-ligman an Theorie fehlt, bietet Brumlik. Undwas Brumlik an praktischer Anregung fehlt,bietet Seligman. Und da beide vom Judentumgeprägt sind, fallen mir zwei typische Figurenaus dieser Tradition ein: Brumlik macht den„Schriftgelehrten“, Seligman den „Zaddik“.Wenn Seligman davon berichtet, dass fröhlicheNonnen im Durchschnitt wesentlich älter wer-den als verbiesterte, so ist das zwar das Ergebniseines empirischen Forschungsprojekts. Es wirktaber doch wie eine Wundergeschichte. Oder?

Aber welchen Nutzen könnten Supervi-sor/innen, Coaches, Organisationsberater/innenvon einem Studium dieser beiden Bücher ha-ben? In allen Beratungsprozessen von Fach-und Führungskräften geht es auch immer ummoralische Fragen: Kann ich für diese oder jeneHandlung die Verantwortung übernehmen odernicht? Und es geht darum: Trägt diese Dienst-leistung, trägt dieses Arbeitsprodukt zu einembefriedigenden, guten, sinnvollen, erfüllten Le-ben der Beteiligten und Betroffenen bei? Wennwir eine Beratung wollen, die nicht einfach nurdie Schwierigkeiten kompensieren will, die unsdie Ratsuchenden vorlegen, sondern sie befähi-gen, befriedigende und sinnvolle Arbeit zu ma-chen, die auch für andere zur Zufriedenheit undSinnerfüllung beiträgt, dann brauchen auch wirzusammen mit unseren Klienten eine Orientie-rung an einer Vision, einer Utopie. Und warumsoll das nicht „happiness“, „Eudaimonia“,„Glückseligkeit“ für möglichst viele sein? Auchund gerade in und durch Arbeit?

Ferdinand Buer, Münster