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Lesekompetenz: Eine Aufgabe für alle Fächer Anja Schmitt, M.A. 1. Fachdidaktisches Kolloquium, 12.01.2011 1 Lesekompetenzentwicklung: Eine Aufgabe für alle Fächer Lesekompetenz ist der Schlüssel zum Erwerb von Bildung. In nahezu allen schulischen Fächern findet Lernen mit und aus Texten statt. Ohne eine aus- reichend ausgebildete Lesekompetenz ist dieses Wissen für viele Schüler 1 nur sehr schwer oder teilweise überhaupt nicht erreichbar. Nachfolgend werden neben aktuellen Forschungs- ergebnissen und Konzepten der Lesekompetenz methodische Möglichkeiten zur Förderung der Lesekompetenz in der Sekundarstufe I sowie abschließend kurz zwei Testformate vor- gestellt. 1. Der Lesekompetenzbegriff nach PISA In der PISA-Studie 2009 wird Lesekompetenz definiert als „die Fähigkeit, schriftliches Text- material zu verstehen, zu nutzen und darüber zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teil- zuhaben.“ 2 Der Lesekompetenz kommt aufgrund ihres Charakters als universelles Kulturwerkzeug eine Schlüsselstellung unter den in PISA erfassten Kompetenzen zu. Sie ist eine Voraussetzung für den Wissenserwerb in mehr oder weniger allen schulischen Fächern; auch in der Ausbil- dung und im Studium müssen neue Textsorten mit anspruchsvollen Inhalten effizient er- schlossen und zum Lernen genutzt werden. 3 Abb. 1: Lesekompetenz nach Leistungsstufen, Vergleich PISA 2000 und PISA 2009: www.oecd.org Die Ergebnisse von PISA 2009 zeigen erste Erfolge die schwachen Leser betreffend: 18,5% der Schüler auf dem unteren Level 2 im Gegensatz zu noch 22,5% im Jahr 2000. Am oberen Ende der Skala (Level 5 und besser) wird jedoch deutlich, dass nur sehr wenige Schüler die 1 Zur besseren Lesbarkeit werden im Folgenden nur die männlichen Formen verwendet. 2 http://www.oecd.org/dataoecd/36/56/35693281.pdf 3 http://pisa.dipf.de/de/pisa-2009/ergebnisberichte/PISA_2009_Zusammenfassung.pdf

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Lesekompetenz: Eine Aufgabe für alle FächerAnja Schmitt, M.A. 1. Fachdidaktisches Kolloquium, 12.01.2011

1

Lesekompetenzentwicklung: Eine Aufgabe für alle Fächer

Lesekompetenz ist der Schlüssel zum Erwerb von Bildung.

In nahezu allen schulischen Fächern findet Lernen mit und aus Texten statt. Ohne eine aus-

reichend ausgebildete Lesekompetenz ist dieses Wissen für viele Schüler1 nur sehr schwer

oder teilweise überhaupt nicht erreichbar. Nachfolgend werden neben aktuellen Forschungs-

ergebnissen und Konzepten der Lesekompetenz methodische Möglichkeiten zur Förderung

der Lesekompetenz in der Sekundarstufe I sowie abschließend kurz zwei Testformate vor-

gestellt.

1. Der Lesekompetenzbegriff nach PISA

In der PISA-Studie 2009 wird Lesekompetenz definiert als „die Fähigkeit, schriftliches Text-

material zu verstehen, zu nutzen und darüber zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen,

das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teil-

zuhaben.“2

Der Lesekompetenz kommt aufgrund ihres Charakters als universelles Kulturwerkzeug eine

Schlüsselstellung unter den in PISA erfassten Kompetenzen zu. Sie ist eine Voraussetzung

für den Wissenserwerb in mehr oder weniger allen schulischen Fächern; auch in der Ausbil-

dung und im Studium müssen neue Textsorten mit anspruchsvollen Inhalten effizient er-

schlossen und zum Lernen genutzt werden.3

Abb. 1: Lesekompetenz nach Leistungsstufen, Vergleich PISA 2000 und PISA 2009: www.oecd.org

Die Ergebnisse von PISA 2009 zeigen erste Erfolge die schwachen Leser betreffend: 18,5%

der Schüler auf dem unteren Level 2 im Gegensatz zu noch 22,5% im Jahr 2000. Am oberen

Ende der Skala (Level 5 und besser) wird jedoch deutlich, dass nur sehr wenige Schüler die

1 Zur besseren Lesbarkeit werden im Folgenden nur die männlichen Formen verwendet.2 http://www.oecd.org/dataoecd/36/56/35693281.pdf3 http://pisa.dipf.de/de/pisa-2009/ergebnisberichte/PISA_2009_Zusammenfassung.pdf

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Fähigkeit besitzen, zu reflektieren und zu bewerten, d.h. textinterne Informationen mit textex-

ternen Informationen zu verbinden.4

Für lesedidaktische Belange ist der Lesekompetenzbergriff nach PISA nicht ausreichend.

Um zu einem ganzheitlichen Lesekonzept zu erlangen, müssen die Erwerbswege und die

subjektiven5 sowie sozialen6 Funktionen des Lesens integriert werden. Als Basis für eine

systematische Leseförderung, die alle Bereiche mit einbezieht, ist also ein „Lesekompetenz-

begriff [nötig], der die Lernprozesse erfasst, so dass diese gezielt unterstützt werden kön-

nen“ (Rosebrock/Nix 2010:15).

2. Lesedidaktik und Lesekompetenz

Lesen- und Schreibenlernen beginnt schon weit vor dem Eintritt in die Schule. In der Familie

und in vorschulischen Einrichtungen werden bereits wichtige Grundlagen gelegt. Es kann

allgemein nicht davon ausgegangen werden, dass die basale Lesefähigkeit in der Grund-

schule ausreichend erworben wird und die Leseausbildung somit als abgeschlossen ange-

sehen werden kann. Der Umgang mit Texten muss weiterhin trainiert und vor allem automa-

tisiert werden. Dazu zählt auch, dass schwache Leser ihre basalen Lesefertigkeiten mit ge-

eigneten Maßnahmen verbessern (vgl. ebd:31ff).

Im Folgenden werden zwei aktuelle didaktische Modelle zur Entwicklung der Lesekompetenz

vorgestellt.

2.1 Ein didaktisches Modell der schulischen Leseförderung

Das Mehrebenenmodell von Rosebrock/Nix (2010:16) zur Gestaltung von Leselernprozes-

sen im Unterricht und zur Diagnose von Leseschwächen „benennt die verschiedenen Di-

mensionen des Lesens – die messbaren auf der Ebene des konkreten Leseprozesses, aber

auch diejenigen auf der subjektiven und auf der sozialen Ebene“ (ebd:15). Rosebrock sieht

den Leseprozess dreigeteilt. Das Modell beschreibt in konzentrisch gedachten Kreisen zeit-

lich parallel ablaufende hierarchiegleiche Dimensionen während des Leseprozesses und

macht so deutlich, auf welcher Ebene Leseförderungsmaßnahmen systematisch eingesetzt

werden müssen (vgl. ebd).

Dabei befindet sich im Innenkreis die Prozessebene, bei der neben der Bildung lokaler Kohä-

renz durch die Verknüpfung von Buchstaben und Wörtern sowie von Satzfolgen auch die

Bildung von Sinnzusammenhängen durch Sprach- und Weltwissen stattfindet. Beim kompe-

tenten Leser sind diese Prozesse automatisiert, ungeübte Leser müssen auf dieser Ebene

gefördert werden.7 Auf der Prozessebene findet auch komplexeres Leseverstehen statt. Der

4 vgl. ebd5 Zu den subjektiven Funktionen des Lesens zählen bspw. das Selbstkonzept als Leser/Nicht-Leser oder die Motivation zulesen, vgl. Rosebrock 2010: 156 Die soziale Ebene des Lesens bestimmt erheblich die Genese der Lesefähigkeit und der aktuellen Lesebereitschaft mit. Hierzuzählen u.a. Faktoren wie der Einfluss der Familie, der Schule, der Peergruppe(n) und die Anschlusskommunikation, vgl. ebd7 vgl. Kap. 4.1 (Leseflüssigkeit)

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Leser stellt beim Lesen globale Kohärenz her, macht sich also ein Bild davon, worüber im

Text die Rede ist, was Thema und Inhalt des Textes sind. Vorhandenes Textmusterwissen

wird herangezogen, um den Text in so genannte Superstrukturen einzuordnen.

Auf der Subjektebene im Mittelkreis sind neben dem Aspekt der Motivation, „die komplizier-

ten und vielschichtigen Denkakte beim Lesen langwierig einzuüben“ (Rosebrock/Nix

2010:21) und sich überhaupt auf den Text einzulassen, auch weitere Komponenten angesie-

delt. Dazu gehört neben dem Einbezug von Weltwissen und der Reflexion des Gelesenen

auch die innere Beteiligung, also der Bezug des Textes zum eigenen Leben, zu eigenen

Wünschen. Das eigene lesebezogene positive oder negative Selbstkonzept hat einen star-

ken Einfluss auf die Lesemotivation und spiegelt Erfahrungen und Rückmeldungen aus dem

Umfeld hinsichtlich des eigenen Leselebenslaufes wieder (vgl. ebd:22).

Der Außenkreis in Rosebrocks Modell beschreibt die soziale Ebene des Leseprozesses. Die

Anschlusskommunikation über gelesene Texte, sei sie in der Familie, der Schule oder mit

der Peergroup, „bietet zum einen eine Intensivierung des Textverstehens, zum anderen bil-

det [sie] einen starken Leseanlass“ (ebd:23). Hier sei auf das „Harry-Potter“-Phänomen ver-

wiesen. Der aufkommenden Leseunlust ab der Pubertät muss nach Rosebrock/Nix mit ge-

eigneten Maßnahmen entgegengewirkt werden, indem schwache Leser hinsichtlich der Le-

seflüssigkeit gefördert werden und vorhandene Genreerfahrungen der Jugendlichen (z.B.

Musikzeitschriften, Sportblätter etc.) als Ausgangspunkt für den weiteren Literaturunterricht

betrachtet werden sollen (vgl. ebd:28).

Abb. 2: Mehrebenenmodell nach Rosebrock/Nix (2010:16); Abbildung übernommen aus Garbe (2010:34)

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2.2 Ein Erwerbsmodell der Lesekompetenz

Das Lesekompetenz-Erwerbsmodell von Garbe (2009:37) besteht aus drei ineinander über-

gehenden Plateaus, die den jeweils 'idealen' Entwicklungsverlauf unter optimalen Sozialisie-

rungsbedingungen aufzeigen. Beim Erreichen eines weiteren Plateaus erhalten die bereits

erworbenen Fähig- und Fertigkeiten eine neue Qualität, d.h. sie gehen nicht verloren. Im

Plateau der Emergenz und Interpersonalität erfahren Kinder im Vorschulalter, etwa bis zu

ihrem fünften Lebensjahr, Literatur und Schrift in direkter Kommunikation mit der Umwelt,

z.B. in der Familie oder im Kindergarten beim Vorlesen und Sprechen über das Vorgelesene.

Schrifterfahrung findet nur im mündlichen Dialog statt, mit einem ganz klaren Bezugspunkt

auf das 'Wir'. Im Plateau der Heuristik und Automatisierung, das grob die Jahre in der

Grundschule und in der Sekundarstufe I bis zum 14. Lebensjahr umfasst, steht der 'Ich'-

Bezug im Mittelpunkt. Neben dem Lesen- und Schreibenlernen erfährt sich der Lerner als

autonomer Teilnehmer der Schriftkultur. Im Plateau der Konsolidierung und Ausdifferenzie-

rung, das sich vom 14. Lebensjahr an bis ins Erwachsenenalter erstreckt, steht neben der

Weiterentwicklung zu funktionaler Literalität in Schule und Beruf auch die diskursive Literari-

tät im Mittelpunkt. Das 'Ich' wird in Relation zu den 'anderen' gesetzt und führt dadurch zu

einer reflektierenden Erfahrung mit Fremdem (vgl. ebd:37-38).

Abb. 3: Erwerbsmodell der Lesekompetenz nach Garbe (2009:27)

3. Lesen geht alle Fächer an.

Dem Lesen lernen folgt in zweiter Instanz das Lesen um zu lernen. Um eine Automatisierung

von Leselernprozessen zu entwickeln, muss das Training und 'Einschleifen' in allen Fächern

stattfinden. Ein Blick in die Bildungsstandards und in die Saarländischen Kernlehrpläne8 ver-

schiedener Fächer zeigt den hohen Stellenwert der Lesekompetenz. Die Kernlehrpläne im

8 Alle Kernlehrpläne sind einzusehen unter: http://www.saarland.de/27246.htm, zuletzt eingesehen am 27.02.2011.

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Fach Deutsch fordern bspw. die Kompetenzen „über Lesefertigkeiten verfügen, sinnerfas-

send lesen“ (Klassenstufe 5/6), „Lesestrategien kennen und selbstständig anwenden“ (Klas-

senstufe 5/6) oder „Textfunktionen komplexerer Texte erfassen können“ (Klassenstufe 7/8).

Die Kernlehrpläne Mathematik beschreiben für die Klassenstufen 9/10 z.B. die Kompetenz

„Informationen aus authentischen Texten und mathematischen Darstellungen entnehmen,

analysieren und bewerten“. Die englischen Kernlehrpläne fordern, dass die Schüler „in Short

Stories und längeren Sachtexten die wesentlichen Aussagen [erfassen].“ 9 Da in den meisten

Fächern das Lernen mit und aus Texten stattfindet, kommen verschiedene Textsorten zum

Einsatz, so z.B. Quellentexte, Versuchsanleitungen, Protokolle, Textaufgaben, Sachtexte,

Zeitungstexte, literarische Texte, Tabellen, Grafiken, Karikaturen.

4. Förderung der Lesekompetenz

Doch wie kann und soll nun Lesekompetenz gezielt gefördert werden? Hier muss auf dem

Hintergrund der Forschungsergebnisse von Rosebrock/Nix (2010) bei den Schwierigkeiten

mit basalen Leseprozessen angesetzt werden. Viele der schwachen Leser haben noch in der

Sekundarstufe I erhebliche Probleme, Texte automatisiert zu erfassen. Sie verhaften auf den

hierarchieniedrigsten Stufen der Wort- und Satzidentifikation, also der lokalen Kohärenz.

Diese unzureichende Automatisierung der Dekodierfertigkeit eines Textes manifestiert sich

im stockenden Lesen. Der Schüler kann die Verstehensanforderungen des Textes mental

nicht erfüllen, wodurch auch die Lesemotivation erheblich leidet.

In der Grundschule sowie der 5. und 6. Klasse in der Sekundarstufe I bieten sich daher zur

Verbesserung der Leseflüssigkeit (reading fluency) Lautleseverfahren an, wie z.B. das paired

reading nach Keith Topping (vgl. ebd:42) oder auch Formen wie das Lautlese-Tandem oder

das Lesetheater (vgl. ebd:41-44). Weiterhin sind Vielleseverfahren (vgl. ebd:47ff) wie etwa

das Meter-Lesen, die Leseolympiade oder auch das Pultbuch nach skandinavischem Vorbild

zu nennen.

Die gesamte Sekundarstufe I und II betreffend fördert das Einüben und Anwenden von Le-

sestrategien und Lesemethoden durch die konkrete Arbeit an verschiedenen Textsorten das

komplexe Leseverstehen in den hierarchiehöheren Prozessebenen.

4.1 Leseflüssigkeit (reading fluency)

Nach Rosebrock/Nix (2010:38) umfasst die Leseflüssigkeit die exakte Dekodierfähigkeit von

Wörtern, die Automatisierung der Dekodierprozesse, eine angemessen schnelle Lesege-

schwindigkeit und die Fähigkeit zur sinngemäßen Betonung des gelesenen Satzes, also zu

einem ausdrucksstarken Lesen. Die neuere Forschung10 zeigt, dass die Leseflüssigkeit für

das Gesamtverständnis eines Textes von zentraler Bedeutung ist. Erst die Automatisierung

9 vgl. http://www.saarland.de/27246.htm10 vgl. Rosebrock/Nix 2010 und Garbe et. al. 2009

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der hierarchieniedrigen Anforderungsdimension macht die weitere inhaltliche Verarbeitung

eines Textes erst möglich. Das folgende Spiegeltext-Beispiel11 veranschaulicht deutlich das

Problem des ungeübten Lesers. Durch die Spiegelung wird die Automatisierung weitgehend

aufgehoben.

4.2 Laut- und Vielleseverfahren

Bei den Lautleseverfahren12 handelt es sich um „explizite Trainingsformen und –routinen, bei

denen die Schüler(innen) durch das laute Vorlesen von kurzen Texten oder Textabschnitten

gezielt ihre Lesefähigkeit im hierarchieniedrigen Bereich verbessern können“ (Rosebrock/Nix

2010:39). Diese im angelsächsischen Raum schon seit langem verbreiteten Verfahren zielen

auf die Arbeit im Tandem. Beim Wiederholten Lautlesen13 nach Chomsky und Samuels

(1978/79, zit. nach Rosebrock/Nix 2010:39-40) liest der schwache Leser seinem Begleiter

(Tutor) vom Schwierigkeitsgrad her sukzessiv steigende Texte immer wieder laut vor, bis die

Lesegeschwindigkeit (gelesene Wörter pro Minute) einem Standardwert entspricht. So ver-

größert der Schüler durch die geführte Wiederholung seinen Sichtwortschatz. Außerdem

lernt er, Textsignale (z.B. Satzzeichen und Schlüsselwörter) zu beachten und so die Texte

angemessen betont vorzulesen. Zur Steigerung der Motivation sollten Vorlesesituationen

geschaffen werden, für die sich die Schüler gezielt vorbereiten.

Beim Lesetheater (vgl. Nix 2006:23), einer ebenfalls aus dem angelsächsischen Raum stam-

menden Methode, werden aus einfachen literarischen Texten Lesescripts in Figuren- und

Erzählerrede hergestellt. Die Schüler üben in Gruppenarbeit durch wiederholtes Lautlesen

sowohl das flüssige Lesen ihrer Texte als auch die passende stimmliche Interpretation, um

dann abschließend gemeinsam den Text im Lesetheater vorzuführen.

Vielleseverfahren dienen dazu, Schüler zum Lesen zu motivieren. In freien Lesezeiten haben

die Schüler die Möglichkeit und auch die Pflicht, nach Herzenslust und losgekoppelt vom

Unterricht zu schmökern. Eine bekannte Methode ist die Leseolympiade nach Bamberger

(Lange: 2007), bei der die Schüler pro Woche mindestens ein Buch ihrer Wahl lesen und

dieses mit einem Lesepass dokumentieren. Der sportliche Charakter dieser Methode besteht

11 Der Spiegeltext wurde in Anlehnung an das Beispiel aus Rosebrock/Nix (2010:37) erstellt.12 Rosebrock (2010: 39) kritisiert in diesem Zusammenhang das Reihumlesen, da bei dieser Methode durch den unbekanntenText und die Kürze der vorzulesenden Passagen weder ein Übungseffekt noch eine Verbesserung durch Relektüre zu erwartensind. Im Gegenteil werden dabei schlechte Leser vorgeführt und gute Leser eher gelangweilt.13 Weitere Methoden: vgl. Rosebrock/Nix (2010)

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darin, dass derjenige, der die meisten Bücher geschafft hat, eine kleine Belohnung oder Eh-

rung erhält. Im monatlichen Abstand wird die Lesegeschwindigkeit gemessen und ebenfalls

im Lesepass festgehalten sowie das Leseverstehen getestet. Weitere Verfahren sind z.B.

Stille Lesezeiten oder das Kilometer-Lesen, wobei Klassen im Wettstreit miteinander mög-

lichst viele Buch-Meter lesen (vgl. Rosebrock/Nix 2010:57).

4.3 Lesestrategien

Seit einigen Jahren weisen die Leseforschung und die Fachdidaktik vermehrt auf die Bedeu-

tung von Lesestrategien für die Entwicklung von Lesekompetenz hin. Lesestrategien sind

„mentale Werkzeuge“ (ebd:59) um hierarchiehohe Verstehensanforderungen von Texten vor,

während und nach dem Lesen sowohl kognitiv als auch metakognitiv gezielt zu unterstützen

(vgl. ebd). Sie erfüllen eine Reihe von Kriterien: Lesestrategien sind auf ein bestimmtes Le-

seziel hin ausgerichtet sind, in einen systematischen Verbund verschiedener Strategien ein-

gebettet und bei guten Lesern weitgehend automatisiert (vgl. Streblow 2004:285 ff, zit. nach

Rosebrock/Nix 2010:59). Letztlich machen sie das Unsichtbare sichtbar, indem sie eine Ant-

wort auf die Frage „Was tue ich beim Lesen?“ geben.

Geeignete Strategien für die drei Lesephasen vor dem Lesen, während des Lesens und

nach dem Lesen sind bspw. das Aktivieren von Vorwissen, das Klären unbekannter Wörter

und Textpassagen, das Markieren wichtiger Wörter, das Notieren von Stichwörtern, die Ein-

teilung in Sinnabschnitte, das Reformulieren von Absätzen, das Zusammenfassen des ge-

samten Textes etc. Zum sinnvollen Einüben dieser Strategien hat sich die Arbeit mit syste-

matischen Zusammenstellungen verschiedener Strategien bewährt. Instrumente wie der Le-

selotse, der Lesenavigator14 (Starter- oder Profi-Set) oder das Lesezeichen für die Sekun-

darstufe I sind vorrangig für Sachtexte, aber auch teilweise für literarische Texte geeignet

und stützen schülerorientierten Unterricht sowie selbstständiges Lernen. Durch das gezielte

Einsetzen dieser Strategien in allen Fächern soll der Schüler dazu befähigt werden, die für

ihn und den jeweiligen Text passenden Strategien auszusuchen und den Nutzen danach

immer wieder zu reflektieren. Dabei soll das Lesen bzw. der Umgang mit den Strategien

nicht auf einen „Kurs“ reduziert werden, sondern fester Bestandteil des Unterrichts sein.

14 Beide Hilfsmittel sind, ebenso wie das Lesezeichen für höhere Klassen, auf dem Bildungsserver Berlin-Brandenburg freizugänglich. Dort finden sich auch weitere didaktische Hinweise zur Arbeit mit den Hilfsmitteln bzw. weitere Anregungen zurEinführung eines Lesecurriculums an der Schule: www.bildungsserver.berlin-brandenburg.deZu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die Textdetektive (vgl. Arbeitsgruppe um Prof. Andreas Gold:www.textdetektive.de), der Lesefächer oder das Reziproke Lehren und Lernen. vgl. Gaile (2006): Lesen macht schlau.

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Strategie-Beispiele aus dem Lesenavigator (Profi-Set):

Leselotse: Klasse 3-6 Lesenavigator: Klasse 6-8

Abb. 4: www.bildungsserver.berlin-brandenburg.de

Abb. 5: www.bildungsserver.berlin-brandenburg.de

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In diesem Zusammenhang sei auch noch kurz beispielhaft auf die Lesemethode ABC-

Darium (Hessisches Kultusministerium 2008:97) verwiesen, die dabei hilft, Schwierigkeiten

mit einem Text für alle sichtbar zu machen und diesen nach dem individuellen Lesen ge-

meinsam kooperativ zu erschließen. Die Schüler erhalten einen Text mit der Aufgabenstel-

lung, diesen mit Hilfe des Lesenavigators oder zuvor eingeübter Strategien zu lesen und auf

drei vorbereitete Kärtchen jeweils einen Begriff zu notieren, den sie nicht erschließen können

oder den sie sehr interessant finden. Die Lehrkraft legt am Boden ein Alphabet aus und die

Schüler ordnen ihre Begriffe den Buchstaben zu. Nach der Lesephase in Einzelarbeit grup-

pieren sich die Schüler um das Alphabet im Kreis und die einzelnen Buchstaben werden im

Plenum im Zweischritt „besprochen“, indem Schüler zuerst die Begriffe vorlesen und erklä-

ren, warum sie sie dort angesiedelt haben und diese dann im Plenum gemeinsam geklärt

werden.

5. Testformate zur Lesekompetenz (Auswahl)

Um die Lesekompetenz hinsichtlich Dekodierfähigkeit, basaler Lesefertigkeit, Wort- und

Satzverständnis zu diagnostizieren, gibt es eine Fülle verschiedener Tests: Salzburger Le-

sescreening, Elfe-Test, Bayerischer Jahrgangstest, Würzburger Lesestrategie- und Wissens-

test, Stolperwörtertest etc. Im Folgenden werden zwei Testformate beispielhaft vorgestellt.

5.1 Das Salzburger-Lesescreening15

Der Salzburger Lesescreening-Test misst in erster Linie die basale Lesefertigkeit und dient

als valider Test dem Aufdecken von Leseschwächen. Dabei ist die Lesegeschwindigkeit der

wichtigste Indikator. Der Test kann in Gruppen in der Versionen A und B jeweils am Ende

der Klassenstufen fünf bis acht durchgeführt werden. Bei der Durchführung des Tests lesen

die Schüler in vorgegebener Zeit leise eine Liste sehr einfacher Sätze und markieren am

Ende jedes Satzes, ob die Aussage wahr oder falsch ist. Zur Leistungsbeurteilung wird als

Rohwert die Anzahl der in drei Minuten korrekt bearbeiteten Sätze herangezogen. Anhand

einer Tabelle kann so die Leseleistung des Schülers ermittelt werden.

5.2 Der Elfe-Test16

Beim Elfe-Test handelt es sich um einen standardisierten Lesetest für die Klassenstufen eins

bis sechs. Er kann wahlweise einzeln oder in der Gruppe, in Papierform oder am Computer

durchgeführt werden. Durch diesen Test werden neben dem Wortverständnis und der Lese-

geschwindigkeit auch das Satz- und Textverständnis gemessen.

15 Zur genaueren Information über Testaufbau, Validität, Durchführung und Auswertung:http://bsrlf.lsrnoe.gv.at/lesescreening/sls-5-8_handbuch.pdf16 http://www.psychometrica.de/elfe1-6.html: Auf der Internetseite wird das Testverfahren genau erläutert. Aufgabenbeispieledienen zur Veranschaulichung.

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Abb. 7: Elfe-Test, Zuordnungsaufgabe: http://www.psychometrica.de/elfe1-6_aufgaben.html

6. Zusammenfassung und Ausblick

Lesekompetenz gilt als die grundlegende Kompetenz und muss auf lange Sicht in allen Fä-

chern entwickelt werden. Der Deutschunterricht hat dabei sowohl Vorreiterrolle als auch Ser-

vicefunktion. Hier werden die Grundlagen zum Erwerb der Lesekompetenz, für den Umgang

mit Lesestrategien und -methoden gelegt, die dann auch in anderen Fächern und über alle

Jahrgangsstufen hinweg möglichst flächendeckend und konsequent durch kontinuierlichen

Einsatz im Unterricht eingeübt und gefestigt werden müssen. Das Ziel sollte sein, gemein-

sam ein langfristig angelegtes schulinternes Lesecurriculum zu entwickeln, das alle textba-

sierten Fächer umfasst. Aktuell wurde am Landesinstitut für Pädagogik und Medien (LPM)

ein Konzept zur Förderung der Lesekompetenz ausgearbeitet. Zur Umsetzung des Konzep-

tes ist die längerfristige Entwicklung von Modulen geplant, wissenschaftlich begleitet von

Frau Prof. Garbe (Universität Köln).

7. Bibliographie

GAILE, Dorothee (Hrsg.)(2006): Lesen macht schlau. Berlin: Cornelsen-Scriptor.

GARBE, Christine/ HOLLE, Karl/ JESCH, Tatjana (2008): Texte lesen. Textverstehen,

Lesedidaktik, Lesesozialisation. Schöningh: UTB.

KLUTE, Wilfried (2006): Sachtexte erschließen: Grundlagen, Texte und Arbeitshilfen für den

Deutschunterricht der Sekundarstufe I. Berlin: Cornelsen-Scriptor.

LANGE, Reinhardt (2007): Die Lese- und Lernolympiade. Aktive Leseerziehung mit dem

Lesepass nach Richard Bamberger. Baltmannsweiler: Schneider.

NIX, Daniel (2006): Das Lesetheater. In: Praxis Deutsch. Heft 199. S. 23-29.

ROSEBROCK, Cornelia/ NIX, Daniel (2006): Grundlagen der Lesedidaktik und der

systematischen schulischen Leseförderung. Baltmannsweiler: Schneider.

PRAXIS DEUTSCH. Vorlesen und Vortragen. Heft 199/2006.

PRAXIS DEUTSCH. Sachbücher und Sachtexte lesen. Heft 189/2005.

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HESSISCHES KULTUSMINISTERIUM (2008): Texte öffnen Türen. Reihe Unterrichtsent-

wicklung.

Internetquellen (alle zuletzt eingesehen am 27.02.2011):

- http://www.afl.hessen.de/

- http://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/

- http://www.oecd.org/dataoecd/36/56/35693281.pdf

- http://pisa.dipf.de/de/pisa-2009/ergebnisberichte/PISA_2009_Zusammenfassung.pdf

- http://www.psychometrica.de/elfe1-6.html (Elfetest)

- http://www.saarland.de/27246.htm

- http://bsrlf.lsr-noe.gv.at/lesescreening/sls-5-8_handbuch.pdf

(Salzburger Lesescreening)