kluge, alexander_30 april 1945_leseprobe
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Introducción a KlugeTRANSCRIPT
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Leseprobe
Kluge, Alexander30. April 1945
Der Tag, an dem Hitler sich erscho und die Westbindung der Deutschen begann Mit einem Gastbeitrag von Reinhard Jirgl
Suhrkamp Verlagsuhrkamp taschenbuch 4588
978-3-518-46588-2
Suhrkamp Verlag
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suhrkamp taschenbuch 4588
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Der 30. April 1945, ein Montag, letzter ausgebter Werktag des Deutschen Reiches. Es ist ein Tag voller Widersprche und verwirrender Lebensgeschichten. In Berlins Mitte toben heftige Gefechte, die Rote Armee nimmt die Stadt in Besitz, Hitler er-schiet sich. Scheinbare Idylle dagegen in der Schweiz. In San Francisco formieren sich die Vereinten Nationen. Alexander Kluge beschreibt in seinem Buch lokale und globale Verhltnis-se. In diesen wahren und erfundenen Geschichten geht es um das Leben in einer kleinen, von amerikanischen Streitkrften schon besetzten Stadt, um den Takt der Haarschnitte, aber auch um Ereignisse rund um den Erdball. Die Frage, die sich berall und unwiderru+ich stellt: Wie soll man auf den Umsturz der Verhltnisse angemessen reagieren? Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor und Filmemacher, aber: Mein Hauptwerk sind meine Bcher. Fr sein Werk erhielt er viele Preise, darunter den Ge-org-Bchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis. Zuletzt sind von ihm erschienen: Nachricht von ruhigen Momenten. Zusammen mit Gerhard Richter (BS 1477), Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verrter. 48 Geschichten fr Fritz Bauer (2013), Das Bohren harter Bretter. 133 politi-sche Geschichten (st 4396).
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Alexander Kluge30. April 1945
Der Tag, an dem Hitler sich erscho und die Westbindung der Deutschen begann
Mit einem Gastbeitrag vonReinhard Jirgl
Suhrkamp
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Mitarbeit:Thomas Combrink
Erste Au+age 2015suhrkamp taschenbuch 4588
Suhrkamp Verlag 2014Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der bersetzung, des ffentlichen Vortrags sowie der bertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotogra7e, Mikro7lm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfltigt oder verbreitet werden.Druck und Bindung: CPI Ebner & Spiegel, UlmUmschlag: Hermann Michels und Regina Gllner
Printed in GermanyISBN 978-3-518-46588-2
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Abb. 1: EUROPA. Anselm Kiefer.
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1Ankunft am Endpunkt
Galoppierende Morgenrte 11
Tod in Verwirrung 11
Die Waffe der Nichtbeachtung 11
Der Weg nach Westen 12
Die gefhrlichste Waffe des Zweiten Weltkriegs auf Transportweiter nach Westen 13
Was ist eine Kmpfernatur? 14
Letzte Erfolge, schon nicht mehr gewollt 17
Keine Sicherung von Eigentum bei Ansturm einer neuen Zeit 18
Wege des Geldes 19
Ein knftiges Vermgen 19
Wenigstens auf einen Blick 20
Auf gedachten Straen 21
Unternehmung nach Art eines Gelndespiels, nur weil einBenzinvorrat vorhanden war 22
bungsflug aus bermut 22
Nachbeben der Kriegszeit 23
Filmszene im Park 25
Ende einer Epoche 28
Bearbeitung der Beute 28
Von der Front berrannt 29
Ein Unglck unter Millionen 30
Kein Feind war ntig, um den Krieg zu beenden 30
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Tdliche Begegnung zweier Zustndigkeiten 31
Ein antibolschewistisches Prag fr einen Tag 32
Vieles, was liegengeblieben war, sollte noch erledigt werden 33
Erfahrungszuschu aus der Alpenfestung fr Frankreich 35
Die letzten Tage des ewigen Frankreichs 37
Ein provisorisches Leben 37
Die Bahnen stlich des Brenners arbeiteten auf Hochtouren 38
Drei russische Offensiven in den Ostalpen und donauaufwrts 38
Man nennet aber diesen den Ister. Schn wohnt er 40
Das Ende der Feindseligkeit, erlebt im Burgtheater Wien 41
Hotel im Niemandsland 42
Die Schwarze Hand von 1914 htte gegen den Prsidentender USA keine Chance 44
Himmelschreiende Entschlsse in so kurzer Zeit 44
So viel Verschwendung war nie 46
Termindruck des Fhrers 46
Venus plusMars imQuadrat zu Saturn: die Todeskonstellation 48
Hemmschwelle gegenber gewaltsamer Ttung bei einemSteinzeitstamm 49
Alle waren mit der Ttung einverstanden 51
Wie wenig militrische Voraussagen ein Vierteljahrhundertberstehen 53
Ankunft am Endpunkt 55
Auf Nebenpfaden 56
Er wnschte sich, nach Hause zu kommen 57
Schuld, der lteste Marmor 57
Verschrnkung der spirituellen Welten mit den realen 58
Geisterhafte Himmelserscheinung ber dem Brocken 58
Heiner Mller: Das Eiserne Kreuz 60
Der letzte Meteorologe von Pillau 63
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Ich habe diesen Tag in einer Stadt nrdlich des Harzge-
birges erlebt. Mit 13 Jahren. Unsere Stadt ist seit dem
11. April von den Amerikanern besetzt. VomRest derWelt
wei ich zu diesemZeitpunkt aus unmittelbarer Erfahrung
nichts (was ich hre, was ich lese, wre mittelbar). Nie-
mand hat einen berblick ber das Ganze, sagt der Archi-
tekt Uri Bircher in Zrich. Er liest in der NZZ.
Es gibt ja dieses Ganze auch gar nicht, entgegnet ihm ein
Arzt. Sie sitzen in einemCafe. Der Zusammenbruch einer
Groorganisation wie Deutschland schafft Trmmer-
stcke. Und das sind nicht nur, fgt der Architekt hinzu,
die Gebude, Bahnen und Straen, die zerstrt sind, son-
dern im Seelensack eines jeden dortigen Menschen liegen
Stcke unterschiedlicher Realitten durcheinander. Ich
stelle mir vor, sagt der Arzt, da in den Enklaven, in de-
nen die Organisation der Vorjahre existiert, also inOslo,
auf Rhodos, in Breslau, in den Festungen an der Atlantik-
kste oder in Prag, noch Flaggenhissungen stattfinden.
Man kann sich eigentlich als Leser des Jahres 2014, sagt
der Pdagoge Bhmler aus Bielefeld, in das, wasman von
den Zeitgenossen des 30. April 1945 wei (oder zu wis-
sen glaubt), schwer hineinversetzen. In den Kellern des
umkmpften Berlin ist alles, was die Sinne ausfllt, so
rabiat anders als das, was im bereits neuenWirklichkeits-
zustand, unter der Herrschaft der Alliierten im Westen,
stattfindet.
Trgheit: Im Kopf eines Menschen noch die Schlager von
1939. Das Auge sieht das brutale Grau von Explosionen.
Die Seele zieht sich zurck: Erwin Brinkmeier sah eine
Gruppe von Rotarmisten am Werke, die Frauen vor sich
her in einen Keller trieben. Obwohl er im Garten eine
Panzerfaust vergraben hatte, rhrten er und sein Ge-
fhrte, der Blockwart Fred Schller, sich nicht aus ihrem
Versteck.
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Abb. 2: Flchtlinge klettern ber die gesprengte Elbebrcke von Tangermnde, um dasWestufer und damit die US-Amerikaner zu erreichen. Foto von Fred Ramage.
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Galoppierende Morgenrte
DieMorgenrte bersprang die Reichshauptstadt, die unter einer
tiefliegenden Wolkendecke lag, darunter grauer Gefechtsstaub
und Brnde. In den Trmmern und Straen fand das Licht wenig
Halt. Weit ausgreifend dagegen warf sich der Tag auf das Land
westlich von Brandenburg bis zum Harz hin. Dort saugte eine
Regenfront alle Macht des Morgens etwa an der Grenze Dingel-
stedt Zilly rasch auf. Von Westen strebten ber die Chausseen
Versorgungskolonnen der US-Streitkrfte, welche die Panzerein-
heiten, die dort tatenlos verharrten, bis zum Frhstck zu errei-
chen suchten.
Tod in Verwirrung
Die Familie von Vo zog in den Wald. Sie wollte fliehen. Die
Brcke, die ber den Flu nach Westen fhrte, schien unpassier-
bar. Von Anklam her nherten sich russische Truppen. Der Guts-
herr entschlo sich zum Freitod. Er erscho seine Frau, dann die
Tochter. Die Gutssekretrin, die aus dem Ort hinzugelaufen kam,
ttete er auf deren Bitte hin. Dann erscho er sich selbst. Die fnf
wurden imWald begraben. VonVowar keinGrogrundbesitzer,
sondern Bewirtschafter eines relativ kleinen Gutes. Die Russen
htten ihn einen Kulaken genannt. In der Partei war er nicht. Es
war nicht gesagt, da die russischen Fronttruppen den Flchten-
den etwas zuleide getan htten. Trotzdem dieser Tod. Von Vo
hielt das Leben fr beendet, glaubte, aus der Realitt herausgefal-
len zu sein.
Die Waffe der Nichtbeachtung
Nach eineinhalb Jahren immer noch siegestrunken, lag die
KAMPFGRUPPE FRIEDRICH-WILHELM MLLER in ihren
11Die Waffe der Nichtbeachtung
vier
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Quartieren auf der Insel Kreta. Gebirgsjger, Fallschirmjger, An-
gehrige des Regiments Brandenburg (Geheimdienstler), Ein-
heiten der 22. Infanteriedivision. ImNovember 1943 noch hatten
sie die Briten, die auf der Insel Leros gelandet waren, zur Kapitula-
tion gezwungen.
Nachdem die deutschen Truppen Athen und das nrdliche Grie-
chenland gerumt hatten, waren die Besatzungen der gischen
Inseln und Kretas isoliert. Man sprach von ihnen als einem be-
waffneten Gefangenenlager. Aber tatschlich, sagten sie sich,
waren sie in der Lage, sich gegen jeden der rtlichen Gegner wirk-
sam zu wehren.
Kritisch war die Ernhrungslage, vor allem fr die kretische Be-
vlkerung. Ein Schiff, gechartert vom Schweizerischen Roten
Kreuz, brachte Lebensmittel und Medikamente nach Heraklion.
Die Lieferung wurde von britischen Offizieren begleitet, die an
Land und wieder auf das Schiff gelassen werden muten und wel-
che die ordnungsgeme Verwendung der Vorrte fr die Bevl-
kerung kontrollieren sollten. Als ob die deutsche Truppe sich an
den Gtern vergreifen wrde! Es lag Miachtung darin, wie die
britischen Abgesandten im Umkreis der schwerbewaffneten Deut-
schen einherstolzierten. Es handelte sich hier um die letzte intakte
Streitmacht der Achse im Sden. Erneut war sie zum Warten ver-
urteilt. Nichts entnervt strker, als vomFeind ignoriert zuwerden.
Zuletzt wnschten die deutschen Stbe, da jemand sie hier ab-
holen wrde. Am Montag, dem 30. April, funkten sie an die alli-
ierten Hauptquartiere in Alexandria und Neapel mit der dring-
lichen Anfrage, was mit ihnen geschehen solle.
Der Weg nach Westen
Er galt als bester Stotruppfhrer seiner Division. Er war Ober-
studiendirektor, einer der jngsten des Reiches, Altphilologe. Die
Kenntnis der alten Sprachen hilft bei der Unterscheidung von Bu-
men, Bschen, Bodenbeschaffenheit und Feind, die quasi gram-
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matische Beziehungen darstellen, wenn einer ungesehen durch
das Gelnde schleichen will. So fand er einen Nachen, als er von
Osten zur Elbe gelangte. Unerkannt durchquerte er auf demwest-
lichenUfer die Front undmarschierte weiter nachWesten. So kam
er bis zum Rhein. Dort ergab er sich einem rckwrtigen Posten
der Amerikaner.
Durch seinen weiten Marsch hatte er sich verdchtig gemacht.
War er ein Werwolf, der sich versptet stellte? Die deutschen Sol-
daten waren in diesem Bereich des Landes schon vorMonaten als
Gefangene vereinnahmt worden. Die Gefangenenlager sahen ihrer
Auflsung entgegen. Die Beschreibung des Weges in den Westen,
die er zu Protokoll gab, klangwenigwahrscheinlich. Er aber hatte
erreicht, was er wollte: soweit von der Front zur RotenArmee hin
entfernt zu sein, da es fr die Amerikaner unpraktisch gewesen
wre, ihn noch dorthin auszuliefern.
Die gefhrlichste Waffe des Zweiten Weltkriegsauf Transport weiter nach Westen
Nchtlich an der Donau fuhren Lastkraftwagen an Flukhne
heran, die im Uferdickicht versteckt lagen. Fsser wurden auf die
Khne geladen. Die Fsser waren unbeschriftet. Die Kapitne der
sechs Flufahrzeuge legten noch in der Dunkelheit Kilometer fr
Kilometer auf der Donau zurck, fluaufwrts. Sie sorgten fr
Abstand zum Ostfeind.
Erst Jahre spter erfuhren die Beteiligten, da sie das Nervengas
Tabun dem Zugriff des Feindes auf dem Strom hatten entziehen
sollen. Tagsber sollten sie auf einemNebenarm der Donau unter
berhngenden Zweigen Schutz suchen. Noch vor Tag holte sie
ein Motorboot ein mit dem Befehl, die Behlter wieder auszu-
laden auf Pionierprhme.
uerst gefhrlich.
Dies war eine derWunderwaffen, von denen so viel gesprochen
13Die gefhrlichste Waffe des Zweiten Weltkriegs
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wurde. Das tckische Gas war den Alliierten nicht bekannt. Es
wirkte auf die Nerven und konnte binnen Sekunden Millionen
Menschen tten.
Wenn man eineMethode gewut htte, es wirksam zu verspr-
hen.
Wieman es versprhen sollte, war nicht klar. EineZeitlang hie
es, Flugzeuge sollten das Gas ber London absprhen, sozusa-
gen mit umgebauten Rasensprengern. Man htte die Bevlke-
rung dieser Grostadt umbringen knnen.
Und die Flugzeugbesatzung auch?
Das Zeug ist gefhrlich.
Die wahrscheinlichste Kontamination entsteht bei einem Un-
fall, wenn das Gas transportiert wird.
Schrecklich. Deshalb war ja das Herumtransportieren in der
Nacht so gefhrlich.
Es ging darum, da der Kampfstoff vom Feind nicht entdeckt
wrde, weil man gesagt htte: So etwas wollen die Deutschen
einsetzen. Also bewegliche Flucht. Der Einfall, die Behlter
in Lastkhnen auf der Donau und der Elbe zu verstauen, kam
von Hitler selbst. Er warMann des ErstenWeltkriegs. Gas war
Chefsache.
Gerade durch die Verschiebung der Vorrte potenzierte sich die
Gefahr der Entdeckung.
Vom Fhrer so angeordnet. Noch immer empfand er ein gehei-
mes Grauen bei der Erwhnung von Gas.
Es war aber kein Gas im Sinne des Ersten Weltkriegs, sondern
neues Teufelszeug.
Was ist eine Kmpfernatur?
Es war im Jahr 1958. Autofahren in der Nacht entspanntemeinen
Dienstherrn Hellmut Becker. Die von den Autoscheinwerfern an-
geleuchteten Bume, welche die Landstrae begrenzten, in ihrem
Rhythmus, die Aussicht auf die Heimkehr in das Haus in Kress-
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bronn schlferten ihn ein. Ich bemerkte das daran, da er, ehe er
wirklich ins Trumen geriet, am Steuer ri und die Position des
Fahrzeugs zur Straenmitte jeweils gerade noch korrigierte. Er
spielte mit dem Risiko. Generell fuhr er mit Fernlicht in der
Erwartung, da entgegenkommende Fahrzeuge dadurch geblen-
det wren, ihrerseits Fernlicht einschalteten und so ihn, auch im
nur halbwachen Zustand, warnen wrden. Die Fahrweise war
nicht ungefhrlich.
In solcher Stimmung, welche die Anspannung des Tages absenkte
(wir hatten an unterschiedlichen Orten von Frankfurt bis Ulm
acht Besprechungen durchgefhrt), rieb er sich gern an meiner
Naivitt, die er festzustellen geglaubt hatte, wenn ich ihm Szenen
aus Geschichten beschrieb, an denen ich arbeitete. In einer davon
ging es um die Reaktionen eines Generals im Zweiten Weltkrieg,
die ich fr leichtfertig hielt und der Stellung eines solchenOffiziers
fr nicht angemessen, weil sie Dritte ins Unglck strzten.
Und darber wundern Sie sich?
Ich htte etwas anderes erwartet.
Wie stellen Sie sich so einen General vor?
Ich stockte. Auer einemhherenOffizier, der zur Familie gehrte
und den ich nicht fr charakteristisch hielt, hatte ich meine Ein-
drcke vom Hrensagen aus der Kinderzeit; auch aus Bchern,
sogenanntenKriegsheften und aus den Erzhlungen Erwachsener,
die sich fr im ZweitenWeltkrieg bereits vergangene Kriege inter-
essierten und von historischen Befehlshabern sprachen: negativ
ber Offiziere whrend des preuischen Zusammenbruchs nach
Jena und Auerstedt, positiv ber Offiziere im Siebenjhrigen Krieg.
Auch hatte ich Husaren und Panduren im Auge, von denen einige
zu Kommandanten aufgestiegen waren.
Sie kennen doch Dhner, Schuricke und Heckel, bohrte Hellmut
Becker weiter. Es handelte sich um hhere Beamte der Schulauf-
sicht in Hessen, die wir beide kannten. Oder Dr. Schliephake und
Direktor Rothe, fuhr Becker fort. Die vertraten die Ideologie des
15Was ist eine Kmpfernatur?
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Deutschen Philologenverbandes, galten als konservativ und bro-
kratische Neinsager gegenber Bildungsreformen. Die Lehrer im
Umkreis der Waldorfschule Stuttgart dagegen, meinte Becker,
seien als Generale undenkbar. Gerade sie aber waren (in mei-
nen Augen) selbstbewut, entschlossen, verantwortungs-
bewut und eher khn, also Helden an der pdagogischen
Front.
Sie mssen sich einen Oberst wie einen Gymnasialdirektor in
der Staatsschule und einen kommandierenden General wie
einen Ministerialdirektor vorstellen.
Das sind doch Beamte.
Berufsoffiziere sind Beamte.
Becker zog mich auf, weil er wohl annahm, da ich Offiziere des
Zweiten Weltkriegs nicht fr Beamte hielt. Eine Heeresgruppe
sieht aus und amtiert wie einMinisterium, sagte er. Schlieffen war
Archivrat in der historischen Abteilung des preuischen General-
stabs, ehe er zum Kriegsplaner wurde. Becker scho sich auf
meine Unkenntnis ein. Ein weiterer Vorgriff auf den verdienten
Nachtschlaf, dem wir uns Kilometer fr Kilometer, die wir durch
die Nacht zurcklegten, nherten.
Er hatte viel beobachtet. Im Gegensatz zu mir, dessen Eindrcke
sich auf die Augen anderer sttzten, hatte er alle Phasen des Drit-
ten Reiches im Status eines Mannes ohne Eigenschaften erlebt.
Die Sorge seiner Mutter, einer Dame aus dem augsburgischen
Patriziat, Leiterin der Zuknfte ihrer Kinder, bestand darin, da
er sich berhaupt nicht fr irgendeine Existenz, einen Beruf, eine
Bindung, eine Entschlossenheit im Umfeld seiner damaligen Ge-
genwart engagieren wollte und sich sozusagen amRande der Zeit
als Beobachter bewegte. Nach dem Krieg schien er durch die Um-
stnde strker in Lebenswirklichkeit verstrickt. Die Mutter blieb
mitrauisch. Als er dann ber Frau, Kinder und eine Anwaltspra-
xis verfgte, war sie sich immer noch unsicher, ob er dieses Leben
nicht nur provisorisch fhrte. Ein Mensch, der sich auf Wahrneh-
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mung konzentriert, verfgt ber eine dichte Erfahrung, er ist UN-
ABHNGIG. Tatschlich erschien mir Hellmut Becker nicht als
bindungsunfhig, sondern als bindungsunwillig, als warte er auf
die Ankunft einer noch anderenRealitt, die ihm ein hheresMa
an Respekt abfordern wrde.
Seine Mutter war stndisch orientiert. Die Augsburger Patrizie-
rin war ausersehen, der alten, flmischen Familie ihres Mannes
einen Schu Vitalitt und praktischen Sinn zu implantieren. Ih-
rem Sohn hatte sie, so mein Eindruck, widersprchliche Impulse
mitgegeben: ein hohes Ma an Ehrgeiz (der sich auf den Sohn
dann wegen der zweiten Art der Signale nicht bertrug) und ein
Quantum Hochmut. So hatten die Begriffe Lehrer, Gymnasial-
direktor oder Beamter in der Diktion dieser Mutter einen mo-
kanten Beiklang. Wie htte sie einen begeisterungsfhigen Typus
charakterisiert? Ich vermute, da Becker von einem Typus, des-
sen Haltung er respektieren knnte, nicht sprechen wrde, um
ein solches Bild nicht zu beschdigen. In der mden Verfassung
am Steuer, kurvenreicher Weg, die Scheinwerfer ziselierten jede
Wendung der Strae, htte er auf eine Rckfrage, soweit kannte
ich ihn, nicht geantwortet. Was eine Kmpfernatur oder ein Held
ist, darber kann man nicht sprechen, ohne das Bild davon zu
verscheuchen.
Letzte Erfolge, schon nicht mehr gewollt
Um den Abflu von Truppen und Flchtlingstrecks aus der
MECKLENBURGER FALLE nach Schleswig-Holstein zu sichern,
wurde unter Zusammenfassung aller noch intakten Krfte der
Panzerverband Clausewitz aufgestellt. Aufgabe: Aus der Lne-
burger Heide ber Braunschweig Vorsto bis zur Elm (Hhen-
gelnde im Vorharz), so die Verbindung zu den im Harzgebirge
eingeschlossenen Krften aufnehmen (deren Einsatz auch nach
Osten auf Berlin und nach Sden ber Thringen hinaus nach
Bayern, jeweils von anderen Befehlsstellen, gewnscht wurde).
17Letzte Erfolge, schon nicht mehr gewollt
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Auf diese Weise sollten der offene Schlauch im Norden gesichert
und der Gegner, sozusagen im theoretischen Sinn, so weit noch-
mals erschreckt werden, da dies der Serie der beabsichtigten hin-
haltenden Kapitulationen bis zur Endkapitulation zugute kme.
Dieser letzte schlagkrftige Verband des Nordens verfgte ber
mehr als 100 Panzer.
Die strkste Kampfgruppe dieser Einheit wurde von der Panzer-
schieschule Putlos gestellt.Major von Bennigsen, verheiratet mit
der Tochter des englischen Autors John Knittel, hatte seine Frau
und die Kinder in die Schweiz gebracht und bisher mit Geschick
vermieden, gegen angelschsische Truppen zu kmpfen. Er und
seine Schielehrer trafen mit jedem Schu. Die von ihnen in die
Ausbildung eingefhrte und den jngsten Panzerfahrern beige-
brachte Angriffstaktik aus schrger, kurzer Entfernung war neu
und htte Folgen gehabt, wre sie 1943 bereits blich gewesen.
Die Panzer, darunter Tiger-Panzer VI und Hetzer-Jagdpanzer, be-
saenmodernste Zieloptik. So fuhr die gepanzerte Kolonne durch
den Ort Fallersleben. In drei der Panzer war das neue Infrarot-
nachtsichtgert eingebaut. Bennigsen, der keineswegs gern davon
Gebrauch machte, sich aber dazu verpflichtet fhlte, scho nichts-
ahnende gegnerische Panzer auf 200 Metern ab, deren Nachbar-
fahrzeuge immer noch rtselten, woher die Schsse kamen.
Keine Sicherung von Eigentumbei Ansturm einer neuen Zeit
Als ich mein Haus verlie, in der Erwartung, da ich es nie wieder
betretenwrde vielleicht erreichte ich ja noch denGrenzflu, bis
zu dem die amerikanischen Vorhuten dem Gercht nach vorge-
stoen sein sollten , berlegte ich, ob ich dieHaustr abschlieen
oder offenlassen sollte. Auf der Chaussee, die von der Hhe des
Ortes einigeKilometerweit einzusehenwar, rcktenEinheiten der
Roten Armee auf uns zu. Ich beeilte mich. Es war ebenso sinnlos,
das Haus abzuschlieen, wie auch, es unverschlossen zu lassen.
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Ich habe das Haus nie wiedergesehen. Als wir nach der Wende
nach ihm suchten, war es durch ein anderes Gebude ersetzt.
Wege des Geldes
Wie auf einer Insel amtierte in der Stadt Schneidemhl, weit hinter
den Fronten der Roten Armee, noch eine Telefonvermittlung und,
rtlich davon getrennt, in einem Nebengebude des Geldhauses
ein Referent der Deutschen Bank. So wurden vom Konto einer
Holzgrohandlung 300000 Reichsmark telegraphisch nachMin-
den transferiert, das bereits britisch besetzt war, und auf dem
Konto des Bruders des Kontoinhabers, der ebenfalls Holzgro-
hndler war, gutgeschrieben. Das Kapital flo ungegenstndlich,
und ohne Waffenwirkung durchquerte es elektrisch sieben mili-
trische Machtzonen (da weit vorgestoene sowjetische Kolon-
nen mitWiderstandsnestern deutscher Truppen undmit alliierten
Gruppierungen abwechselten) ber Drhte, die noch aus der Frie-
denszeit an Eisenbahntrassen entlangfhrten.
Ein knftiges Vermgen
Schon auf der Westseite der Elbe angelangt, wurde ein Mann, der
zwei Koffer trug, von den GIs aufgehalten, die den bergang der
Flchtenden regelten. Die Amerikaner verdchtigten den Zivili-
sten, ein verkleideter deutscher Offizier zu sein. Beide Koffer, die
sie sich ffnen lieen, waren gefllt mit Aktien (Siemens, Deut-
sche Bank, AEG, I.G. Farben). Sie seien nicht das Papier wert, auf
dem sie gedruckt wren, interpretierte der deutsche Dolmetscher
die Antwort des Zivilisten auf die Fragen der US-Wache. So lieen
die GIs diesen Narren mit den papiergefllten Koffern auf der
Strae nach Westen weiterziehen. Die Papiere lagen enggepret
aufeinander und waren mit Klammern zusammengehalten.
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Wenigstens auf einen Blick
In Richtung Grningen, Oschersleben und weiter bis Magdeburg
waren amerikanische Kolonnen vorgedrungen. Die alte Frau ver-
lie am 12. April ihren Hof in Langenstein, nachdem sie die Khe
versorgt hatte, und fuhr mit ihrem Fahrrad in Richtung Ballen-
stedt. Eigentlich wollte sie ihren Enkel aus der Napola herausho-
len und mit nach Hause nehmen.
Die Chance, in der Napola ausgebildet zu werden, hatte sie noch
vor drei Jahren positiv gesehen. Sie hatte es gebilligt, da Bauern-
kinder aus der Volksschule fr das Gymnasium ausgewhlt und
von dort an die Napola versetzt wurden. Das htte fr einen Bau-
ernsohn eine gute Laufbahn ergeben. Jetzt aber schien ihr eine sol-
che Auslese gefhrlich. Sie konnte es auch nicht aushalten, da
zwischen ihrem Enkel (dem einzigen, was ihr geblieben war, nach-
dem dessen Vater gefallen war und die Mutter den Hof verlassen
hatte) und ihr eine Front feindlicher Soldaten liegen sollte. Den
Enkel wollte sie nicht verlieren.
Sie stellte sich vor, wie sie auf ihn zutreten und ihn anredenwrde.
Er steht, nahm sie an, zusammen mit seinen Kameraden. Sie geht
auf ihn zu und fordert ihn auf, mit ihr zu kommen. Dabei sah sie
sofort ein, da ein solcher Versuch auf etwas Unmgliches hinaus-
laufen wrde. Eine alte Frau kann nicht einen Jungen, der mit sei-
nen Kameraden dasteht, nach Hause holen, ihr Enkel war kein
Muttershnchen. Innerlich zgerte sie, whrend sie auf ihremWeg
voranfuhr.
In Ballenstedt umstrich sie das Gebude, das auf einer Anhhe
lag. Schon war sie vorgedrungen bis zum Vorzimmer der Schullei-
tung. Was sollte sie dort sagen? Vom Pfrtner hrte sie, da die
Klasse, zu der ihr Enkel gehrte, in einem hochgelegenenWaldge-
lnde bte. Dort erschien sie, das Fahrrad schiebend, den Ruck-
sack auf die schmalen Schultern gehalftert, und beobachtete an
einemWaldrand die Schlange bewaffneter Jungs. So wie sie ihren
Beobachtungspunkt gewhlt hatte, war sie von der Gruppe nicht
zu erkennen. Jetzt hatte sie ihren Jungen wenigstens gesehen.
20 Ankunft am Endpunkt
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