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Einblicke in die Geopolitik von Morgen Eine Rezension zu „Die nächsten 100 Jahre. Die Weltordnung der Zukunft“ von Georg Freidmann (Campus) von Grzegorz A. Nocko und Michael Knoll Der Titel des Buches klingt spannend. George Friedman, Gründer des US-amerikanischen Think Tanks Stratfor, zeigt, wie die „Weltordnung der Zukunft“ aussehen könnte. Er tut das, indem er die wesentlichen Entwicklungen der Vergangenheit mit den wichtigsten Tendenzen der Gegenwart in die Zukunft projiziert. Das ist manchmal wild. Im zweiten Teil fokussiert er zu stark auf militärische Entwicklungen, der erste Teil aber gibt faszinierende Einblicke in außenpolitische Bestrebungen der jetzigen relevanten Akteure. Als Amerikaner stellt er die Rolle der USA in den nächsten 100 Jahren nicht in Frage. Dies garantiere etwa die Vorherrschaft der USA auf den Weltmeeren. Wer die Ozeane der gesamten Welt kontrolliert, beherrscht auch den Welthandel und dieser ist nach wie vor Grundlage von Wohlstand und Sicherheit einer Nation. Den Vorsprung, den die Marine der USA in der Welt einnimmt, wird sie sich nicht nehmen lassen. Über die Geschichte, Gegenwart und Zukunft Europas äußert er wenig Positives. Heute befinde sich Europa als schizophrenes Gebilde oder gutartiges Durcheinander immer noch in einem Prozess der Neuorganisation. Die demografische Entwicklung in den großen Staaten Europas, vor allem Deutschlands, wird das politische und ökonomische Kraftzentrum der EU lähmen. Friedman plädiert daher für ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten. Von Belang für das 21. Jahrhundert werden die Entwicklungen in Polen und in der Türkei sein. Friedman zufolge wird die Türkei ihre europäischen Ambitionen aufgeben und den Blick in den Nordosten richten. Aufgrund der prognostizierten Schwäche Russlands besteht die Chance der Türkei, ihren Einfluss weit in die Territorien des Kaukasus erweitern zu können. Russland, so Friedman, hat es noch nicht überwunden und wird es nicht überwinden, dass

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Page 1: Einblicke in die Geopolitik von Morgen - · PDF fileEinblicke in die Geopolitik von Morgen Eine Rezension zu „Die nächsten 100 Jahre. Die Weltordnung der Zukunft“ von Georg Freidmann

Einblicke in die Geopolitik von Morgen Eine Rezension zu „Die nächsten 100 Jahre. Die Weltordnung der Zukunft“ von Georg Freidmann (Campus) von Grzegorz A. Nocko und Michael Knoll Der Titel des Buches klingt spannend. George

Friedman, Gründer des US-amerikanischen

Think Tanks Stratfor, zeigt, wie die

„Weltordnung der Zukunft“ aussehen könnte.

Er tut das, indem er die wesentlichen

Entwicklungen der Vergangenheit mit den

wichtigsten Tendenzen der Gegenwart in die

Zukunft projiziert. Das ist manchmal wild. Im

zweiten Teil fokussiert er zu stark auf

militärische Entwicklungen, der erste Teil aber gibt faszinierende Einblicke in außenpolitische

Bestrebungen der jetzigen relevanten Akteure.

Als Amerikaner stellt er die Rolle der USA in den nächsten 100 Jahren nicht in Frage. Dies

garantiere etwa die Vorherrschaft der USA auf den Weltmeeren. Wer die Ozeane der

gesamten Welt kontrolliert, beherrscht auch den Welthandel und dieser ist nach wie vor

Grundlage von Wohlstand und Sicherheit einer Nation. Den Vorsprung, den die Marine der

USA in der Welt einnimmt, wird sie sich nicht nehmen lassen.

Über die Geschichte, Gegenwart und Zukunft Europas äußert er wenig Positives. Heute

befinde sich Europa als schizophrenes Gebilde oder gutartiges Durcheinander immer noch in

einem Prozess der Neuorganisation. Die demografische Entwicklung in den großen Staaten

Europas, vor allem Deutschlands, wird das politische und ökonomische Kraftzentrum der EU

lähmen. Friedman plädiert daher für ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten.

Von Belang für das 21. Jahrhundert werden die Entwicklungen in Polen und in der Türkei

sein. Friedman zufolge wird die Türkei ihre europäischen Ambitionen aufgeben und den Blick

in den Nordosten richten. Aufgrund der prognostizierten Schwäche Russlands besteht die

Chance der Türkei, ihren Einfluss weit in die Territorien des Kaukasus erweitern zu können.

Russland, so Friedman, hat es noch nicht überwunden und wird es nicht überwinden, dass

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ihm sein Einflussgebiet des 20. Jahrhunderts abhanden gekommen ist. Es wird versuchen,

die baltischen Staaten wieder unter Kontrolle zu bekommen, mit fatalen Konsequenzen für

Polen und die EU. Polen wird wählen zwischen der Hilfe seitens der schwächlichen und

binnenzentrierten Staaten Deutschland und Frankreich auf der einen Seite und der Nation,

der es zweimal im 20. Jahrhundert sein Überleben verdankte: den USA. Die Wahl ist einfach.

Mit den USA im Rücken wird Polen die Führung eines osteuropäischen Bündnisses

übernehmen und dadurch in Zukunft gemeinsame osteuropäische Interessen in

Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten durchsetzten können. Polen wird seine Rolle

als Mittelmacht, politisch wie geographisch, überwinden können und sich aus dem Schatten

Russlands und Deutschlands lösen.

Bei dieser Prognose für Polen legt Friedman seine Kategorien erfolgreicher Geopolitik auf

den Tisch: ein demografisch junges Volk, eine selbstbewusste und ambitionierte politische

Führung, den richtigen Partner im Rücken (die USA) und Mächte im Umfeld, die entweder

nicht stark genug oder zu unentschlossen sind, um entschieden zu handeln. Ähnliches gilt für

die Türkei. Diese beiden Staaten werden Friedmans Szenario zufolge eine dauerhafte

Führungsrolle in Europa übernehmen.

Friedmans Blick in die Zukunft lohnt sich, auch wenn er sich in vielen Aspekten irren wird.

Aber leicht von der Hand zu weisen sind seine Prophezeiungen nicht. Wer die Zeitungen

aufmerksam liest, wer mit Entscheidungsträgern in Berlin oder Brüssel intensiv diskutiert,

weiß, dass der Traum Europa von vielen ausgeträumt ist. Und dass die Türkei bereits heute

wahrlich bessere nationale Alternativen als die EU hat, ist auch nicht mehr zu leugnen.

Vielleicht werden wir gar nicht lange warten müssen, bis einige von Friedmans Visionen in

Erfüllung gehen.

Michael Knoll ist Leiter des Berliner Büros der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und Gregorz

A. Nocko ist dort Mitarbeiter.