sind wir gefangene des phallogozentrismus?

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Sind wir Gefangene des Phallogozentrismus? Versuch eines Ausweges anhand ausgewählter Werke von Hélène Cixous. Bachelorarbeit für die Lehrveranstaltung SE 180051 Raum und Zeit der Körper - Ansätze feministisch-philosophischen Raum- und Zeitdenkens Veranstaltungsleiterinnen: Mag.a Dr.in Esther Hutfless und Mag.a Elisabeth Schäfer Institut für Philosophie Universität Wien SS 2012 vorgelegt von Flora Loeffelmann Matrikelnummer: 1006380 Studienkennzahl: A 033 541 E-Mail: [email protected] Wien, 30. November 2012

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Sind wir Gefangene des Phallogozentrismus? Versuch eines Ausweges anhand ausgewählter Werke von Hélène Cixous.

Bachelorarbeit für die Lehrveranstaltung

SE 180051 Raum und Zeit der Körper -

Ansätze feministisch-philosophischen Raum- und Zeitdenkens

Veranstaltungsleiterinnen: Mag.a Dr.in Esther Hutfless und Mag.a Elisabeth Schäfer

Institut für Philosophie Universität Wien

SS 2012

vorgelegt von

Flora LoeffelmannMatrikelnummer: 1006380

Studienkennzahl: A 033 541E-Mail: [email protected]

Wien, 30. November 2012

Eidesstattliche Erklärung

Hiermit erkläre ich Eides statt, dass ich die vorliegende Arbeit eigenständig und ohne

fremde Hilfe verfasst und entsprechend der Richtlinien redlichen wissenschaftlichen

Arbeitens der Universität Wien sorgfältig überprüft habe. Ich habe andere als die

angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt sowie die entnommenen Stellen als

solche gekennzeichnet. Diese Arbeit wurde nicht bereits in anderen Lehrveranstaltungen

von mir oder anderen zur Erlangung eines Leistungsnachweises vorgelegt.

Paris, November 2012 Flora Löffelmann

INHALTSVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG................................................................................................................3

2. HAUPTTEIL..................................................................................................................5

2.1. Vom Logozentrismus zum Phallogozentrismus nach Jacques Derrida..............5

2.1.1. Der Logozentrismus................................................................................5

2.1.2. Dekonstruktion des Schriftbegriffes bei Jacques Derrida .............................7

2.1.3. Logozentrisums - Phonozentrismus - Phallogozentrismus............................9

2.1.4. Die Mutter bei Jacques Derrida....................................................................12

2.2. Hélène Cixous .................................................................................................14

2.2.1. Hélène Cixous und der Phallogozentrismus ...............................................14

2.2.2. Die Mutter bei Hélène Cixous.....................................................................17

a) Mutter und Geburt ..........................................................................17

b) Mutter und Tod...............................................................................20

3. SCHLUSS.....................................................................................................................23

Literaturverzeichnis.......................................................................................................................24

1. Einleitung

Diese Bachelorarbeit soll sich mit ausgewählten Texten von Hélène Cixous und Jacques Derrida

beschäftigen. Zuerst sollen Grundzüge von Derridas Dekonstruktion des Schriftbegriffes hinführend

zu seiner Konzeption des Phonozentrismus vorgestellt werden, um anschließend die von ihm

vorgenommene Weiterentwicklung zum Phallogozentrismus darzustellen. Hierzu werden Derridas

Werk Of Grammatology1 und der 1971 erschienene Text „Signatur, Ereignis, Kontext“2 sowie das

1972 erschienene Buch La dissémination3 herangezogen werden. Anschließend soll anhand

ausgewählter Werke von Hélène Cixous diese Konzeption untersucht werden, vor allem am 1975

erstmals publizierten The Laugh of the Medusa4.

Im Rahmen dieser Arbeit soll besonders auf die Figuren der Mutter und ihre Verflechtung mit dem

Aspekt der Zeit im Werk von Hélène Cixous eingegangen werden. Diese Dimension, die Figur der

Mutter zu lesen, ist insbesondere für das Verständnis der "autobiographischen Zeit" und das der

Lebenszeit wichtig, da es hier zwar schon um das singuläre Ereignis "Leben" geht, aber nicht um

das private. Wichtig ist hier, dass es nicht um eine persönliche, private oder autobiographische

Analyse dieser Person gehen soll, sondern um die philosophische Figur, die sie darstellt. Die dazu

herangezogenen Texte werden „What is it o‘clock?“, erschienen im Sammelband Stigmata.

Escaping Texts im Jahr 1998 und der 1987 im Rahmen des Symposions „Weibliche Kreativität und

Sexualität in Psychoanalyse und Literatur“ veröffentlichte Text „Von der Szene des Unbewussten

zur Szene der Geschichte“5 sein.

Der Phallogozentrismus, der von Derrida als in der westlichen Gesellschaft vorherrschendes

Denksystem herauskristallisiert wird, wird auch von Cixous klar als solcher erkannt. Aber was kann

gegen diesen unternommen werden? Eine im Laufe der Arbeit zu diesem Thema von der Autorin

dieser Arbeit aufgestellte These ist es, dass Cixous als Gegenbewegung zur Konzentration auf den

Phallus in der westlichen Philosophie ganz speziell mit seinem Gegenpol, dem Bild der Mutter,

Flora Loeffelmann, 1006380! ! ! ! ! ! ! ! SE Raum und Zeit der Körper Mag.a Dr.in Esther Hutfless, Mag.a Elisabeth Schäfer

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1 Jacques Derrida, Of Grammatology, John Hopkins University Press, Baltimore and London. 1976.2 Jacques Derrida, „Signatur, Ereignis, Kontext“ (1971). In: ebd., Randgänge der Philosophie. Wien: Passagen 1988. S. 28.3 Jacques Derrida, La dissémination, Seuil, Paris. 1972.4 Im Original: Le rire de la Méduse. L'Arc, Vol. 61,1975. S. 39-54. 5 In: Karin Rick (Hrsg.), Das Sexuelle, die Frauen und die Kunst. KonkursbuchVerlag, Tübingen. 1987.

verfährt. Das philosophische Konzept, das hinter dieser Figur steckt, soll analysiert werden, und wie

es als Gegenpol zum phallogozentristischen Denken eingesetzt wird.

In der im Jahr 2002 erschienenen Dokumentation Derrida6 wird Jacques Derrida die Frage gestellt,

welcher Philosoph seine Mutter sein könnte. Er antwortet darauf:

„It‘s impossible for me to have any philosopher as a mother, that‘s the problem. [...] Ça veut dire que la figure du philosophe pour moi, et c‘est pour ça que je déconstruise la philosophie, le philosophe est une figure masculine. [...] Elle était lié depuis toujours à une figure masculine et paternelle. Donc, le philosophe est un père, et pas une mère. Donc, le philosophe qui serait ma mère, serait un philosophe post-deconstructive, c‘est à dire moi où mon fils. [...] [Où] ma petite-fille, par exemple. En tout cas un héritier. Une femme philosophe qui aurait réaffirmé la deconstruction.[...] Une mère pensante, [...] [qui] donne naissance, fait naître.“ 7

Er gibt in dieser Antwort den Grund an, aus dem er die Philosophie dekonstruieren will: die

Philosophie sei für ihn immer männlich, der Philosoph an sich eine maskuline, väterliche Figur, und

sei das auch schon immer gewesen. Der Philosoph ist also immer ein Vater, und keine Mutter. Ein

Philosoph, der seine Mutter sein könnte, müsste daher ein post-dekonstruktivistischer Philosoph

sein - zum Beispiel seine Enkeltochter. Er streicht auch hervor, dass diese neue Philosophin eine

denkende Mutter sein müsste, die die Geburt schenken kann. Derrida entwirft hier also das

philosophische Bild der Mutter als Gegenbild zur patriachalen Prädestination der nicht

dekonstruierten Philosophie.

Wenn man also den Phallogozentrismus überkommen will, welche Figur sollte man dann als

Gegenfigur zum übermächtigen Sprachen-Vater wählen? Die Antwort liegt auf der Hand: die

Mutter. Diese Arbeit soll an Hand von Hélène Cixous zeigen, wie diese neue Bewegung gedacht

werden kann.

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6 Kirby Dick/ Amy Ziering Kofman: Derrida. Jane Doe Films. 2002.7 Transkription aus: Kirby Dick/ Amy Ziering Kofman: Derrida. Jane Doe Films. 2002. 1:05:15 ff.Übersetzung der Autorin: Es ist unmöglich für mich, irgendeinen Philosophen als meine Mutter zu haben, das ist das Problem. [...] Damit möchte ich sagen, dass die Figur des Philosophen für mich, und das ist auch der Grund, aus dem ich die Philosophie dekonstruiere, eine männliche Figur ist. [...] Sie war schon immer mit einer maskulinen und väterlichen Figur verbunden. Also ist der Philosoph ein Vater, und keine Mutter. Also wäre der Philosoph, der meine Mutter wäre, ein post-dekonstruktivistischer Philosoph, so zu sagen ich oder mein Sohn. [...] [Oder] meine Enkeltochter, zum Beispiel. Auf jeden Fall ein Erbe. Eine weibliche Philosophin, die die Dekonstruktion wieder bestätigt hat. [...] Eine denkende Mutter, [...] [die] auf die Welt bringt, macht, das etwas geboren wird.

Hinzufügend soll noch ein Problem angemerkt werden, welches sich im Laufe der Arbeit an diesem

Thema aufgetan hat. Es beläuft sich darin, dass die Texte Hélène Cixous, die in dieser Arbeit

analysiert werden sollen, rein formal nicht den wissenschaftlichen Texten entsprechen, die man aus

dem Kader phallogozentrisch geprägter philosophischer Literatur gewohnt ist. Die Texte werden

deshalb auch eher der Literaturwissenschaft zugerechnet als der Philosophie. Wie ist es dennoch

möglich, in der phallogozentrisch geprägten, wissenschaftlichen Sprache etwas über diese Texte

auszusagen, die sie selbst der Écriture Féminine zurechnet, die ein Gegenentwurf zu eben jener

Sprache sein soll? Eine klassisch-wissenschaftliche, daher phallogozentrische, Sprache, die rein

rational argumentiert, wäre wohl nicht in der Lage, etwas über die Texte auszusagen, eine

Produktion von Sinn wäre schwer. Es wird daher in dieser Arbeit versucht werden, besonders im

Bezug auf die Texte von Cixous, einen Mittelweg zu wählen, der die „Andersheit“ ihrer Schrift8 zu

berücksichtigen versuchen wird.

2. HAUPTTEIL

2.1. Vom Logozentrismus zum Phallogozentrismus nach Jacques Derrida

2.1.1. Der Logozentrismus

Der Logozentrismus ist der Boden, von dem aus jeder Mensch schreibt, eingeschlossen Jacques

Derrida, der diesen Begriff entscheidend mitentwickelt hat. Ohne Logozentrismus gäbe es keine

Philosophie, aber es gäbe dennoch Gedanken. Ohne ihn gäbe es weder Ideen, noch Technik, noch,

obwohl sich das vielleicht nicht so leicht sagen lässt, Objekte. Das Sein wäre weit entfernt vom

Sinn und der unüberwindbaren Stimme der Sprache. Die Selbstwahrnehmung hätte keinen Beweis,

was sich zum Beispiel zeigt, wenn man an den Kartesianischen Existenzbeweis denkt, der nur durch

die in Worte gefassten Gedanken, das selbstbewusste „ego cogito, ergo sum“ möglich wird. Und

auch der Anschein würde nicht mehr der Wahrheit gegenüber stehen. Man wäre sicherlich nicht auf

der Suche nach einem letzten Signifikanten.

Der Logos ist nicht universell - er hat eine Geschichte in der Kreuzung zwischen Gesellschaft und

Metaphysik. Er stützt sich auf ein System der Worte in dem die Worte auf sich selbst verweisen,

also selbstreferentiell sind. Dieses System wird, so Derrida in seinem Text La Dissémination9 aus

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8 Anmerkung: „Anders“ soll hier nicht im negativen Sinne gebraucht sein.9 Jacques Derrida, La dissémination, Seuil, Paris. 1972.

dem Jahr 1972, unterstützt von der Anwesenheit des „Vaters“, seiner idealisierenden und

phonetischen Stimme. Nach Derrida vergleicht schon Platon den Diskurs (Logos) mit einem

lebenden Organismus. Dieser hat einen Körper, der aus verschiedenen Teilen besteht, einen Anfang

und ein Ende. Es ist eine Sprache, die keinen Sinn macht, außer wenn jemand darauf mit seinem

eigenen Namen antwortet, in Funktion der Notwendigkeit der aktuellen Situation. Der Logos ist den

Gesetzen des Lebens unterworfen, das heißt, einem Vater, der seinen Ursprung bildet und der der

einzige Garant für seine Wahrheit ist. Eine Schrift, die diesen Bedingungen nicht entspricht, fällt

nicht in die Kategorie des Logos. Ohne die Sprache ist es unmöglich, die Zeugung oder die

Übertragung eines Lebens mit einem Vater in Verbindung zu bringen, es ist also unmöglich, eine

Vaterschaft zu melden. Die Verbindung Vater-Tochter/Sohn, genauso wie die Verbindung Ursache-

Wirkung, hat keine Gültigkeit außer für Lebewesen, die diese in einem Diskurs verlautbaren. Dieser

Figur des Vaters (Pater) ist auch die des Guten (Agathon), des Anführers, des Kapitals oder seiner

Produkte (Tokos), wie dies in den griechischen Texten vorkommt, zugeordnet.

Das selbstreferentielle System überträgt sich durch die alphabetische Schrift, selbst in einer Epoche,

die den Signifikanten auslöscht. Seine Wahrheit ist zirkulär: wie die Logik kehrt es zum toten Vater

zurück, ja sogar das Wort „Signifikant“ selbst führt darauf zurück. Um den Logos mit seinen

Korrelationen möglich zu machen, also mit der Unterwerfung unter sein Gesetz, war es nötig, durch

das Graphem, also die phonetische Schreibweise, die „zusätzliche Logik“ zu invertieren.

In seinen Dialogen versucht Platon, so Derrida in La Dissémination, diese „zusätzliche Logik“, die

sich durch magische Mittel, die Eloquenz der Sophisten oder die Verirrungen der Schrift im

schriftstellerischen, nicht dinggerichteten Sinne, manifestiert, auszutreiben. Die Selbstbeherrschung

erlaubt, das vertrauenswürdigste Objekt zu benennen, also die Idee, das Wissen. Indem man sich

diesem unterwirft, akzeptiert das Subjekt auch den Vater, den König, den Herrscher, das Kapital und

so weiter. Es erkennt sich selbst als der Sohn oder als Repräsentant des Gesetzes, der an einer

Gemeinschaft Teil hat, an einer Stadt, in der es wohnt. Diese Inversion annulliert aber nicht diese

Zusätze, sie schreibt sich in dessen Ökonomie ein. Sie produziert ein anderes Pharmakon, oder

einen Pharmakon-Logos, der durch den Bann der nackten Stimme, der lebendigen Sprache

funktioniert. Sokrates überzeugt, er bringt den inneren Gerichtsstand mit sich, die intime

Überzeugung, die die Macht der Erkenntnis ausmacht. Der Logos ist ein Gegengift, und die

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Kenntnis ist ein Liebestrank. Dank ihnen wird die Droge, also das Pharmakon, in eine Medizin ,

den Pharmakon-Logos, verwandelt.

Jede Schrift, selbst die phonetische, trägt diese Zusätze in sich, die reine Form des Logos ist

unmöglich. Dies ist die Verwechslung von Babel: die Schrift übersteigt den Verstand.10

2.1.2. Dekonstruktion des Schriftbegriffes bei Jacques Derrida

Jacques Derrida stellt sich infolge seiner Dekonstruktion des Schriftbegriffes drei große Fragen.

Das Ziel dieser Dekonstruktion: der vorherrschende Logozentrismus. In seinen Augen sollte sich

die Philosophie mit den Konditionen und der Möglichkeit des Logos beschäftigen, anstatt den

Logos als die Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit anzusehen. Für Derrida präsentiert sich der

Logozentrismus in der Geschichte hauptsächlich als Phonologismus, oder die Vormachtstellung von

Sprache gegenüber geschriebenem Wort. Er benutzt auch Phonologismus also Synonym für

Logozentrismus.

Logocentrism would thus support the determination of the being of the entity as presence. To the extent that such a logocentrism is not totally absent from Heidegger’s thought, perhaps it still holds that thought within the epoch of onto-theology, within the philosophy of presence, that is to say, within philosophy itself.11

Zuerst hinterfragt er, ob der Begriff der Kommunikation immer als Übermittlung, Transport,und

Austausch von Sinn und Intentionen, verstanden werden muss. Seine zweiter Frage gilt dem

Kontext: ist er wirklich eine alle Mehrdeutigkeiten reduzierende Grenze? Und was hat es mit der

Schrift auf sich - der im Abendland vorherrschende Phonozentrismus legt den Schluss nahe, dass

der Schrift hinter der gesprochenen Sprache, also dem sich selbst gegenwärtigen Sprechen, nur eine

sekundäre Funktion zukommt, sie lediglich ein abgeleitetes Kommunikationsmittel ist und ein

Leben auch ohne die Schrift möglich wäre. Die Schrift verweist immer auf etwas, wohingegen in

gesprochener Sprache die Bedeutung immer präsent ist. Derrida stellt die Frage, ob das Argument

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10 Von diesem Tag an sind die Sprachen nicht mehr untereinander verständlich, die Kulturen verstreuen sich über die gesamte Erdoberfläche. Die Punkte der Verwechslung unter den Sprachen stören die Verhältnisse zwischen den Sprachen. Es gibt keinen Sinn mehr außer den teilweisen, lokalen, fragmentarischen. Der Logos macht auf Grund der phonetischen Unterschiede in der gesprochenen Sprache Sinn, die den Signifikanten auslöscht. Aber graphische Elemente wie Buchstaben, das zu Papier bringen oder das fremde Wort unterwerfen sich diesem nicht. Diese unbeschreiblichen Elemente, unverständlich wie der Name Gottes (Yhvh) tragen die bablische Verwechslung in sich, diese Verwechslung, die Gott den Menschen auferlegt hat, weil sie den Turm der einen Sprache errichten wollten. Vgl.Jacques Derrida, Ulysse gramophone, Deux mots pour Joyce, Éditions Galilée, Paris. 1987. S. 47.11 Jacques Derrida, Of Grammatology, John Hopkins University Press, Baltimore and London. 1976. S. 12.

der Sekundärheit der Schrift wirklich stimmt. So ist doch jedes Sprechen immer schon Schrift. Er

fordert daher eine Verallgemeinerung und Verschiebung, also Dekonstruktion, des Schriftbegriffs.

Um eine Dekonstruktion des klassischen Schriftbegriffs durchzuführen, geht Derrida in drei

Schritten vor. Zuerst nimmt er eine genaue Bestimmung der Schrift vor und legt ihre

Kerneigenschaften dar. So will er zeigen, dass die Schrifteigenschaften auch für die gesprochene

Sprache und für Erfahrung im Allgemeinen gelten. Der erste von ihm genannte Punkt ist die

Beständigkeit oder das Bestehenbleiben des geschriebenen Zeichens über die Gegenwart seiner

Inskription hinaus. Schrift funktioniert auch in Abwesenheit von Sender und/oder Empfänger, also

eines Signifikats, eines Referenten oder einer bestimmten Bedeutungsintention. Er betont auch die

Kraft des schriftlichen Zeichens, mit seinem Kontext zu brechen, insofern man ein schriftliches

Syntagma immer aus einer Verkettung herausnehmen und in andere Ketten einschreiben oder diesen

aufpfropfen kann. Ein weiterer Punkt, der eine einzigartige Eigenschaft der Schrift ist, ist die

Verräumlichung, die das geschriebene Zeichen als eine visuelle Markierung in einem bestimmten

Raum sowohl „von den anderen Elementen der internen kontextuellen Kette“12 als auch von

seinem/seiner ReferentInnen und selbst von seinem Signifikat trennt. All das findet sich aber, und

das streicht Derrida selbst hervor, auch im Gesprochenen. Hier ist genauso die Möglichkeit einer

strukturellen Abwesenheit gegeben, und der Moment der Abwesenheit macht jedes Zeichen zu

einem Graphem, das sich dadurch auszeichnet, dass es von seinem äußeren Ursprung abgeschnitten

ist. Wichtig ist es hierbei, zu beachten, dass die Zeichen nur durch Wiederholung und Zitation

funktionieren.

Die Konsequenzen, die sich laut Derrida daraus ergeben, sind folgende:

Erstens gehören die Kerneigenschaften der Schrift nicht nur zur Struktur des geschriebenen,

sondern auch des gesprochenen Zeichens. Die strukturelle Möglichkeit der Abwesenheit eines

bestimmten Signifikats oder einer Bedeutungsintention macht jedes Zeichen, auch das mündliche,

zu einem Graphem, das von seinem (Äußerungs-)Ursprung abgeschnitten ist. „[E]s gibt keine

Erfahrung von reiner Gegenwart, sondern nur Ketten von differentiellen Zeichen [marques]“13 Die

sich daraus ergebende Endkonsequenz ist folgende: damit ein Element als entweder geschriebenes

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12 Jacques Derrida, „Signatur, Ereignis, Kontext“ (1971). In: ebd., Randgänge der Philosophie. Wien: Passagen 1988. S. 28.13 Derrida, SEK. S. 29.

oder gesprochenes Zeichen funktionieren kann, muss es iterierbar, d.h. wiederholbar und zitierbar,

sein.

2.1.3. Logozentrismus - Phonozentrismus - Phallogozentrismus

Je parle surtout, depuis longtemps, des différences sexuelles, plutôt que d’une seule différence – duelle et oppositionnelle – qui est en effet, avec le phallocentrisme, avec ce que je surnomme aussi le “phallogocentrisme”, un trait structurel du discours philosophique qui aura prévalu dans la tradition. La déconstruction passe en tout premier lieu par là. Tout y revient. Avant toute politisation féministe (et, bien que je m’y sois souvent associé, à certaines conditions), il importe de reconnaître cette puissante assise phallogocentrique qui conditionne à peu près tout notre héritage culturel. Quant à la tradition proprement philosophique de cet héritage phallocentrique, elle est représentée, de façon certes fort différente mais égale, aussi bien chez Platon que chez Freud ou Lacan, chez Kant que chez Hegel, Heidegger ou Lévinas. Je me suis employé à le démontrer en tout cas.14

Der Logozentrismus ist ein Phonozentrismus und auch ein Phallogozentrismus: ein logisches

Zusammenspiel zwischen Stimme, Phallus und Logos, das Jacques Lacan in seiner Logik des

Signifikants aufgebracht hat. Der Phallus in der Psychoanalyse: „In der Psychoanalyse unterstreicht

die Anwendung dieses Ausdruckes die symbolische Funktion des Penis in der intra- und

intersubjektiven Dialektik, während der Ausdruck ›Penis‹ vielmehr dazu dient, das Organ in seiner

organischen Realität zu bezeichnen.“15 Der Glaube an die Kraft des Signifikanten, an seine

Fähigkeit der Berechnung, verdoppelt die sakro-sankte Schöpferkraft des Lebenden. Wir beginnen

heutzutage, die Epoche des Logozentrismus von außen zu betrachten, weil sie zunehmends zu

zerfallen und ihrem Ende zuzugehen scheint. Auch wenn in der Epoche der„Kommunikation“ der

Vocozentrismus stärker denn je auftritt, versteckt sich dennoch der Boden, von dem dieser her

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14Jacques Derrida, „Autrui est secret parce qu'il est autre". In: Le Monde de l'éducation. 284, September 2000, S. 14 - 21. http://www.egs.edu/faculty/jacques-derrida/articles/autrui-est-secret-parce-quil-est-autre/ (28.11.2012)Übersetzung der Autorin: Ich spreche vor allem, und das seit langer Zeit, von sexuellen Differenzen, nicht nur von einer einzigen Differenz - dual und oppositionell - die nämlich, gemeinsam mit dem Phallozentrismus, mit dem ich auch den Phallogozentrismus benenne, ein struktureller Charakterzug des philosophischen Diskurses ist, der in der Tradition vorgeherrscht haben wird. Dekonstruktion nimmt zuerst diesen Weg. Und alles kommt auf diesem Weg zurück. Bevor jeder feministischen Politisierung (und, obwohl ich mich oft damit verbunden habe, unter bestimmten Konditionen) ist es wichtig, dieses starke phallogozentrische Fundament zu erkennen, das fast unser gesamte kulturelles Erbe konditioniert. Betreffend der im eigentlichen Sinn philosophischen Tradition dieses phallozentrischen Erbes ist dieses, sicher in unterschiedlicher, aber gleichgewichtiger Form, bei Platon genauso wie bei Freud oder Lacan, bei Kant genauso wie bei Hegel, Heidegger oder Lévinas anzutreffen. Auf jeden Fall habe ich mich sehr bemüht, das zu beweisen. 15 Laplanche/Pontalis (1973): Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt am Main, Suhrkamp, S. 385.

entstanden ist. Das Geschriebene verändert sich, überlastet von den Tele-Technologien und den

Bildern, die allgegenwärtig scheinen. Wir wissen also zum derzeitigen Stand der Geschichte nicht,

wohin wir uns bewegen. Das andere Absolute, das sich vom Logozentrismus abspaltet, ist nicht

benennbar. Das absolute Wissen sowie die Geschichte des Logozentrismus, also das Wissen in der

Form von Epistémé, seiner Form des in der Welt seins, verbergen sich.

This notion remains therefore within the heritage of that logocentrism which is also phonocentrism: absolute proximity of voice and being, of voice and the meaning of being, of voice and the ideality of meaning.16

Die Stimme ist der ideale Ort, von dem aus der Phallus wirken kann - durch sie kann der

Phallogozentrismus entstehen. Die Entwicklungen, die Lacan in den Jahren 1953 bis 1966

durchgeführt hat, und die in dem Sammelband Ecrits publiziert wurden, zeigen für Derrida die enge

Verbindung zwischen Logozentrismus, Phonozentrismus und Phallozentrismus. Lacan beschäftigte

sich mit der parole pleine, also der wahren und authentischen Sprache, mit ihren Werten der

Gegenwart, der Nähe und der Konsistenz. Für ihn zeigt sich hier auch die enge Verbindung

zwischen den Lacan‘schen Theorie des Symbolischen und der okzidentalen Metaphysik. Für ihn ist

dies eine historische, systematische Verbindung, die sich von Platon an, über Rousseau, Hegel und

Heidegger bis hin zu Freud verfolgen lässt.

Nur eine lebendige Sprache kann die unbewusste Verbindung aufrecht erhalten, die den Menschen

mit der Begierde [désir] des anderen verbindet. Nur die Stimme trägt eine idealisierende Kraft von

solch einer Größe in sich, die ausreicht, um die Integrität des Phallus aufrecht zu erhalten. Für

Lacan ist der Phallus unsichtbar auf Grund seiner Transzendenz, er ist der privilegierte Signifikant

der Präsenz. Das Wort, selbst unsichtbar, ist der Träger seiner Stimme. Lacan weist den Feminismus

zurück, der aus dem Phallus ein Partialobjekt wie jedes andere machen wollte, genau diese

Gleichmachung, die dazu führen würde, dass der Phallus seine transzendentale Position einbüßen

würde. Diese Position ist auch die Freuds, als er die kindliche Entwicklung im Bezug auf die

genitale Phase beschreibt. Wenn es nur eine Libido gibt (in Freuds Fall wäre dies die männliche), so

gäbe es nicht wirklich einen bedeutenden Unterschied zwischen Mann und Frau, aber die Frau

bliebe dennoch stets eine Figur des „Anderen“.

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1016 Derrida, Of Grammatology, S. 12.

Der Phallogozentrismus spricht immer von sich selbst: er hat immer Recht, wenn er sich selbst hört.

Derrida kommentiert den Platz des Phallus in Lacans Texten Les Ecrits und Der gestohlene Brief.

Er ist ein privilegierter, transzendentaler Signifikant, von dem aus sich das Signifikat ausspricht. Er

ist durch die verbale Sprache geschützt. Wenn Lacan sagt „Moi, la vérité, Je parle“, also „ Ich, die

Wahrheit, Ich spreche“, dann etabliert er dadurch eine Verbindung von integraler Kraft zwischen der

Wahrheit und der Sprache. Diese Verbindung ist eine Tradition, eine Wurzel, der alle denkenden

und sprechenden Subjekte unterworfen sind. Sie spricht, diese Wahrheit, und von was spricht sie?

Von sich selbst. Wie alle Stimmen hört sie sich selbst sprechen. Sie reproduziert sich als Praxis,

Ethik und Institution, und das alles über das Mittel der Sprache. Die Authentizität der reinen

Sprache ist so durch die Stimme des Vaters und die Logik des Signifikanten gesichert. Für Freud,

genauso wie für Lacan, gibt es nur eine Libido, und die ist notwendigerweise männlich. Hierbei

kann es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen geben, weil es nur eine Vernunft gibt,

und zwar jene, die immer vernünftig ist aus dem einfach Grund, dass sie sich selbst hört, also auto-

affektiv17 ist.

Zusammenfassend kann man wohl sagen, dass der Phallozentrismus oder Phallogozentrismus als

die Privilegierung des Männlichen, also des Phallus, in Verstehen und Bedeutung sowie sozialen

Beziehungen verstanden werden kann. Der Begriff ging augenscheinlich von den

Dekonstruktivisten (wie zum Beispiel Jacques Derrida) aus, die den Logozentrismus der westlichen

Literatur und des westlichen Denkens, also den Glauben an die Zentralfigur des „Logos“,

hinterfragten. In der westlichen Tradition wurde der Logos als kosmischer Verstand aufgefasst -

zum Beispiel in der griechischen philosophischen Tradition als Quelle von Weltordnung und

Intelligibilität, wie es zum Beispiel Gorgias aus Leontinoi in seiner Lobrede auf Helena formuliert:

„Der logos (die Rede) ist ein(e) große Bewirker(in)/Herrscher(in), der/die mit (dem) kleinstem und

unscheinbarstem Körper die göttlichsten Werke vollbringt;“18 In der christlichen Version würde

dieser Überzeugung der sich selbst offenbarende Wille Gottes entsprechen.

Der Begriff steht aber auch in engem Zusammenhang mit der Lacan‘schen Psychoanalyse, die den

Eintritt von Subjekten in die Sprache als eine Verhandlung des Phallus und des Namens des Vaters

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17 Siehe hierzu: Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls. Übers., Vorwort von Jochen Hörisch. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979.18 Gorgias aus Leontinoi, Lobrede auf Helena (Ἑλένης ἐγκώμιον) 8, DK 82 B 11 [8].

versteht. Die Feministische Theorie streicht hervor, wie alle westlichen Sprachen in ihren

Bestandteilen absolut und unausweichlich männlich erzeugt, männlich eingerichtet und männlich

dominiert sind. Diskurse sind phallogozentrisch, weil sie durch und durch immer durch eine

implizite Rückführung auf den Phallus hin bezogen sind. Dieser ist der angenommene Grund für

einen Diskurs, also der Logos, oder seine größte Quelle der Kraft. Dies geschieht nicht nur in den

benutzten Vokabeln und der Syntax, sondern auch in den strengen logischen Regeln, der

augenscheinlichen Neigung zu festen Klassifizierungen und Gegenüberstellungen und in den

vorgeschriebenen Regeln für das, was wir als schlüssige Beweisführung und objektives Wissen

annehmen.

2.1.4. Die Mutter bei Jacques Derrida

Den Text Circonfession hat Jacques Derrida von 1989 bis 1990 als Komplementärtext zu einem

Buch19 verfasst, das der amerikanische Philosoph und Literaturkritiker Geoffrey Bennington über

seine Werke verfasste. Durch das ganze Buch hin läuft der Text am unteren Rand der Seite mit,

steht aber nicht in direktem Zusammenhang mit dem, was Geoffrey Bennington darüber thematisch

behandelt. Zu dem Zeitpunkt, als Derrida diesen Text verfasste, war er 59 Jahre alt - der Grund, aus

dem er auch die Gliederung in 59 Teile gewählt hat. Jeder Abschnitt ist einem Jahr seines Lebens

gewidmet, behandelt eine Erinnerung, von der ausgehend er weitere Überlegungen anstellt.

Einen interessanten Gedankengang, bezogen auf das Verhältnis zu seiner Mutter, stellt Derrida im

13. Kapitel dieses Textes an. Es geht darin um die Beschneidung, die in Derrida‘s jüdischer Familie

ja zum Brauchtum gehörte20. Er stellt darin Überlegungen an, warum die Beschneidung überhaupt

durchgeführt wird. Während der Beschneidung wird die Mutter zur Seite genommen, damit sie die

blutigen Tücher nicht sehen muss. Aus diesem Grund ist sie auch die erste, die davon betroffen ist:

es ist sie, von der das Kind getrennt wird, sie, die in Tränen aufgelöst ist, sehen muss, wie dieser

Akt ohne Anästhesie an ihrem noch vor sieben Tagen im Bauch befindlichen Teil, der jetzt ein

äußerer ist, vollzogen wird.

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12

19 Geoffrey Bennington/ Jacques Derrida: Jacques Derrida. Seuil, Paris. 1991.20 Interessant ist, dass Derrida seine eigenen Söhne nicht beschneiden ließ und damit große Missgunst seiner Familie ausgelöst hat. Quelle: Kirby Dick/ Amy Ziering Kofman: Derrida. Jane Doe Films. 2002.

Nach Derrida ist also die Beschneidung ein Vollzug, der den Sohn an seine Mutter bindet. Obwohl

er von der jüdischen Tradition her eigentlich gegenteilig intendiert wäre: normalerweise soll die

Beschneidung den Sohn von der Mutter loslösen und ihn an die Gemeinschaft binden, also an den

Vater. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch ein sehr spezielles Detail aus der algerisch-

jüdischen Tradition, der Jacques Derrida entstammt. „La mère [...] devait manger le prépuce alors

sanglant, j‘imagine en le suçant d‘abord, ma première cannibale aimée, l‘initiatrice à la porte

sublime de la fellation.“21 Durch diesen Akt erfährt also das Kind, gerade einmal sieben Tage alt,

den ersten symbolischen sexuellen Akt, der es für immer an die Mutter binden wird.

An einer anderen Stelle, genauer gesagt im 4. Abschnitt von Circonfession, spricht Derrida von

einem Besuch, den er seiner dementen Mutter abgestattet hat. Er fragte sie, „si elle avait mal“22, und

sie antwortete „J‘ai mal à ma mère“23. Für Derrida hat diese Antwort zwei Bedeutungen: entweder,

seine Mutter spricht an dieser Stelle für ihn, das heißt, dass sie signalisieren will, dass sie ihm weh

tue, mit ihrer Veränderung, mit ihrem Vergessen, oder, dass seine Mutter in ihren letzten Tagen zu

ihrer eigenen Mutter zurückkehrt, das heißt, zu Derridas Großmutter. Wenn man die erste

Interpretation zur Analyse heranzieht, fällt zuerst auf, dass die Verbindung Mutter-Sohn hier

anscheinend auf eine andere Ebene übergegangen ist. Sie versteht ihn, die Schmerzen, hat selbst

aber keine, entfernt sich immer weiter von sich - spürt aber trotzdem noch seine Anwesenheit, ist

vielleicht sogar viel mehr bei ihm als jemals zuvor. Die Distanz der zwei Körper, der zwei

Lebenszeiten scheint verschwunden zu sein, sie identifiziert sich endgültig mit ihm.

Flora Loeffelmann, 1006380! ! ! ! ! ! ! ! SE Raum und Zeit der Körper Mag.a Dr.in Esther Hutfless, Mag.a Elisabeth Schäfer

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21 Geoffrey Bennington/ Jacques Derrida: Jacques Derrida. Seuil, Paris. 1991. S. 68 Übersetzung der Autorin: „Die Mutter [...] musste die noch blutende Vorhaut essen, zuvor an ihr lutschend, stelle ich mir vor, meine erste kannibalische Geliebte, meine Initiatorin zur überwältigenden Pforte der Fellatio.“ 22 Bennington/ Derrida: Jacques Derrida. S. 24. Übersetzung der Autorin: „ob es ihr irgendwo weh tue“ 23 Bennington/ Derrida: Jacques Derrida. S. 24. Übersetzung der Autorin: „Ich habe Schmerzen in meiner Mutter.“

2.2. Hélène Cixous

2.2.1. Hélène Cixous über den Phallogozentrismus

Nearly the entire history of writing is confounded with the history of reason, of which it is at once the effect, the support, and one of the privileged alibis. It has been one with the phallocentric tradition. It is indeed that same self-admiring, self-stimulating, self-congratulatory phallocentrism.24

Im Jahr 1976 schrieb Hélène Cixous den Text Le rire de la Meduse, in dem sie Frauen aufforderte,

sich aus dem vorherrschenden Phallogozentrismus zu befreien und endlich selbst eine Stimme zu

finden. Sie selbst schildert das Problem, das sie am Anfang ihres Schreibens hatte, folgendermaßen:

„Daß [sic] man nämlich damit beginnt, dass man vor dem Vater schreiben will, vor dem

symbolischen Vater, vor dem Vater, der abwesend ist - es handelt sich nicht um den realen Vater -

vor dem toten, deshalb idealen Vater, um ihm zu gefallen“25.

In Le rire de la Meduse drückt sie sich noch stärker aus:

By virtue of affirming the primacy of the phallus and of bringing it into play, phallocratic ideology has claimed more than one victim. As a woman, I've been clouded over by the great shadow of the scepter and been told: idolize it, that which you cannot brandish. But at the same time, man has been handed that grotesque and scarcely enviable destiny (just imagine) of being reduced to a single idol with clay balls. And consumed, as Freud and his followers note, by a fear of being a woman!26

Dieses Zitat lässt sich in zwei Abschnitte gliedern: erstens das Richten der Aufmerksamkeit darauf,

dass fast jedes weibliche, unabhängige Schreiben dem vorherrschenden phallischen Denksystem

zum Opfer gefallen sei. Auch sie selbst habe den Einfluss gespürt, der sie zur Stille, zum

Verheimlichen ihrer schöpferischen Tätigkeit gezwungen habe. Das „Zepter“ des männlichen

Vorherrschens, das man von klein auf gezwungen werde, anzuhimmeln, habe ihr oft den Mut und

die Kraft geraubt, offen dazu zu stehen, dass auch sie produktiv ist - genauso, wie es auch vielen

anderen Frauen ergehe, wie Cixous es auch an einer anderen Stelle anspricht: „Where is the

ebullient, infinite woman who, immersed as she was in her naivete, kept in the dark about herself,

led into self-disdain by the great arm of parental-conjugal phallocentrism, hasn't been ashamed of

her strength?“27 Und auch wenn Frauen sprechen, schweigen sie, weil sie in der Sprache sprechen,

in der sie nicht existieren. Sie äußern sich immer nur als das „andere“, weil ihnen nicht erlaubt

wird, das zu sein, was sie sind. Der Status des „eigenen“ wird ihnen verwehrt, sie sind immer nur

Flora Loeffelmann, 1006380! ! ! ! ! ! ! ! SE Raum und Zeit der Körper Mag.a Dr.in Esther Hutfless, Mag.a Elisabeth Schäfer

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24 Cixous, Medusa, S. 879.25 Cixous, Von der Szene des Unbewußten zur Szene der Geschichte, Wien 1987, S. 67.26 Cixous, Hélène (1976): The Laugh of Medusa. S.884.27 Cixous, The Laugh of Medusa, S. 876.

das, das anders ist als der Mann, ein Teil des Systems, der eigentlich kein Teil ist, weil immer

verschieden von diesem.

Im zweiten Abschnitt spricht sie jedoch etwas ganz anderes an: den Männern bleibe nichts anderes,

als sich am Symbol ihrer Potenz, sowohl im biologischen als auch im Sinne eines Machtgefüges,

festzuhalten. Denn das, was ihnen wirklich Angst bereiten würde, das wäre, eine Frau zu sein, das

heißt, in die Position derer „zurückzufallen“, die sie Zeit ihres Schaffens auf eine untere Stufe

verdrängt haben. Kann man daraus also schließen, dass sich die Männer bewusst sind, dass sie den

Frauen im Laufe der Geschichte eine immer schwächere Position zugewiesen haben?

„Opposition, hierarchizing exchange, the struggle for mastery which can end only in at least one

death [...] - all hat comes from a period in time governed by phallocentric values.“28 Immerhin

müsste es doch auffallen, dass, wenn es zu Hierarchisierungen kommt, das weibliche Äquivalent

eines Begriffspaares immer als rangniedriger eingeordnet wird. Ein ganz einfaches Beispiel hierzu

aus der französischen Sprache: das Paar „Mademoiselle-Madame“. Erst, wenn eine Frau ins

„heiratsfähige“ Alter kommt, ist sie es wert, mit dem Namen „Madame“ angesprochen zu werden.

Es bestimmt also ihre mögliche Bindung an einen Mann, ob ihr die Gesellschaft den Wert

zuerkennt, nicht mehr mit einer verniedlichenden Form angesprochen zu werden - und endlich,

zumindest sprachlich, als „erwachsen“ anerkannt zu werden. Das Verfügen über den eigenen

Körper, über die kulturell hochstilisierte „Jungfräulichkeit“ wird zum prekären Objekt, das nur über

Umwege, über starke Mechanismen weiblicher Befreiung und Independenz erreicht werden kann.

Cixous selbst schreibt mit Le rire de la Meduse einen Text, der sicher als eine Art

Befreiungsmanifest angesehen werden kann. Ihre Aufforderung ist, trotz der schlechten Diagnose,

die sie aufstellt, durchwegs optimistisch: „For when the Phallic period comes to an end, women will

have been either annihilated or borne up to the highest and most violent incandescence. Muffled

throughout their history, they have lived in dreams, in bodies (though muted), in silences, in

aphonic revolts.“29 Trotz der andauernden Unterdrückung durch das phallische System kann auf

keinen Fall gesagt werden, dass Frauen untätig waren - still vielleicht, wie sie es sagt, aber

lebendig, nicht zu besiegen, nicht zu verdrängen.

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28 Cixous, The Laugh of Medusa, S. 893.29 Cixous, Medusa, S. 886.

In women's speech, as in their writing, that element which never stops resonating, which, once we've been permeated by it, profoundly and imperceptibly touched by it, retains the power of moving us-that element is the song: first music from the first voice of love which is alive in every woman. Why this privileged relationship with the voice? [...]Even if phallic mystification has generally contaminated good relationships, a woman is never far from "mother" (I mean outside her role functions: the "mother" as nonname and as source of goods). There is always within her at least a little of that good mother's milk. She writes in white ink.30

In diesen Sätzen offenbart sich noch ein weiteres Stück des Bildes, das Cixous zeichnet: Auch wenn

den Frauen durch „phallic mystification“31 der Zugang zu einer lauten Stimme verwehrt war, war,

auch in den Momenten der größten Unterdrückung und Hoffnungslosigkeit, noch ein letzter Weg

da, die weibliche Geschichte nicht versiegen zu lassen, that „never stops resonating“32. Cixous sieht

diese starke Kraft im Lied - und das Lied steht auch immer in enger Verbundenheit mit der

Mutterschaft einer Frau.33 An sich ist dieser Begriff nicht schlecht behaftet, man sieht jedoch seine

negativen Auswirkungen, wenn man ihn im Zusammenhang mit dem phallischen System betrachtet.

Eine Frau, die, in einer Beziehung mit einem Mann, ein Kind zur Welt bringt, ist nicht mehr weit

davon entfernt, auch vom Mann nur mehr in der Rolle der Mutter wahrgenommen zu werden. Ihr

Eigenname, ihr Status als „Frau, mit der ich in einer Beziehung bin, die ich liebe usw.“ wird ersetzt

durch die Gebärende, die Geboren-Habende, die auf diese Art auf eine andere Weise mit dem Mann

verbunden scheint als zuvor.

Die Muttermilch, mit der die Frau schreibt, also die „white ink“, ist unsichtbar, verborgen, aber

dennoch immer da. Erst, wenn das Papier, auf dem geschrieben wird, schwarz wird, also die

Gesellschaft grundlegend geändert wird, wird man lesen können, was geschrieben wurde.

Interessant ist auch, dass der Begriff „white ink“ oft auch synonym für die von Cixous maßgeblich

geprägte Écriture Féminine gebraucht wird. Die weiße Tinte steht als Zeichen dafür, eine Sprache

zu entdecken oder vielleicht wieder zu finden, die das weibliche Erleben in einer nicht vom

Phallogozentrismus unterdrückten Sprache wiedergeben kann.

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30 Cixous, Medusa, S. 881.31 Cixous, Medusa, S. 881.32 Cixous, Medusa, S. 881.33 „Die Mutter singt, der Vater diktiert.“ Aus: Cixous, Von der Szene des Unbewussten zur Szene der Geschichte, konkursbuchVerlag, Wien 1987, S. 70.

2.2.2. Die Mutter bei Hélène Cixous

a) Mutter und Geburt

Sometimes, trying to circumscribe ourselves, we graze our door. This occurs in certain circumstances, usually around a birthday, for it’s then that the mother returns to us, and with her comes the aid of an other regard, the only one that ‘remembers’ us since our first second.34

Mit ihr, der Mutter, beginnt jedes menschliche Leben. Egal, wie geartet die Beziehung danach sein

mag, dieser Anfangsschritt ist unausweichlich. Was Cixous außerhalb des offensichtlichen

anspricht: es ist ein Mensch, der uns von unserer „first second“ an kennt, der also auch

unausweichlich mit dem verbunden ist, was danach kommt - unserem Erleben, unserer

Selbstwahrnehmung. Als Art relativierende Instanz im Hintergrund steht sie da, die Mutterfigur, und

schreibt, viel mehr noch als der Vater, der unsere Sprache bestimmt, unser Leben mit. „[T]he

mother returns to us“35, wenn wir Geburtstag haben, wenn wir uns einmal im Jahr bewusst werden,

dass wir geboren wurden. Sie kommt zurück, und mit ihrem, zumindest damals noch, weil sie uns

noch kaum kannte, unabhängigen, Auge können wir uns selbst sehen, sehen, wie wir uns verändert

haben, was aus uns geworden ist. Der „other regard“36, der, so ähnlich er unserem eigenen doch sein

kann, immer der vorgängige sein wird, weil er ein Leben hatte, Dinge erlebt, gesehen hat, bevor wir

noch die Möglichkeit dazu hatten. „The other age, the one which our mother authenticates, remains

forever foreign to us, and yet, bound to the mother, it is sacred to us.“37

Auch wenn wir unsere Mutter nicht kennen würden, wären wir doch durch sie, durch ihre virtuelle

Präsenz, mit der Vergangenheit verbunden. Weil es immer etwas geben muss, das uns vorausgeht,

weil ein Mensch ohne Stätte der Geburt, also Mutter, unmöglich, undenkbar wäre. „The other

age“38, also das Leben vor unserem ersten bewussten Auseinandersetzen mit der Welt, wird uns, so

wie Cixous es schreib, immer fremd bleiben, immer abstrakt, eine willkürliche Ansammlung von

Daten und Fakten, die mit dem, was wir sind, oder was wir von uns glauben, zu sein, nur arbiträr in

Zusammenhang steht. Aber dennoch kann es uns nicht gänzlich egal sein - zum einen sicher auch

deswegen, weil es die Zeit war, in der wir unseren ersten Ursprung hatten, in der unsere

Autobiographie, wenn man es streng sieht, ihren Anfang nahm. Deshalb muss sie uns auch immer

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34 Cixous, What is it oʻclock? S. 53.35 Cixous, What is it oʻclock? S. 53.36 Cixous, What is it oʻclock? S. 53.37 Cixous, What is it oʻclock? S. 54.38 Cixous, What is it oʻclock? S. 54.

„sacred“ bleiben, heilig, weil, wenn diese Zeit ein wenig anders gewesen wäre, wir vielleicht nicht

wären.

‘Our age,’ ‘if it counts,’ is for our mother, it’s our mother who is it, it’s she who keeps count. We, we are always interiorly our secret age, our strong-age, our preferred age, we are five years old, ten years old, the age when we were for the first time the historians or the authors of our own lives, when we left a trace, when we were for the first time marked, struck, imprinted, we bled and signed, memory started, when we manifested ourselves as chief or queen of our own state, when we took up our own power, or else we are twenty years old or thirty-five, and on the point of surprising the universe.39

Dies ist der Absatz, der in What is it o‘clock? eigentlich vor dem oben zitierten „The other age, the

one which our mother authenticates, remains forever foreign to us, and yet, bound to the mother, it

is sacred to us.“40 steht. Um die Analyse dieses Absatzes weiter zu präzisieren, soll er nun anhand

des Kontextes erläutert werden. Cixous sagt, dass wir, in uns selbst, immer ein bestimmtes Alter

hätten, nämlich das, in dem wir unsere eigene Kraft entdeckten, „when we took up our own

power“41. Der Moment, als wir zum ersten mal „historians and the authors of our own life“42

wurden, uns aus dem Schatten der uns umgebenden, für natürlich angenommenen Weltbilder lösten

und lernten, auf eigenen Beinen zu stehen.

Diesen Moment könnte man vielleicht mit jenem vergleichen, in dem eine Frau sich aus dem

Duktus des Phallogozentrismus löst und lernt, ihre eigene Stimme zu finden, ihren eigenen

Ausdruck, ihre persönliche Écriture Féminine. Es ist eine Emanzipation vom Vorgegebenen, vom

unterdrückenden Erbe der Vergangenheit. Das „age“, also das Alter, ist, im Vergleich zu dem

Moment unseres Erwachens, den wir noch immer in uns spüren und den wir vielleicht nicht genau

benennen, aber dennoch wahrnehmen können, ein abstrakter Faktor, nicht mehr als ein paar Daten

in einer Geburtsurkunde. Es ist die Mutter, die die einzige Person ist, für die dieser Moment

wirklich zählt. In ihr haben wir immer noch den Bezugspunkt, dass es eine Zeit vor dieser

„Subjektwerdung“ gegeben haben muss.

Wenn man „the other age“43 also mit diesen Überlegungen in Zusammenhang bringt, merkt man,

dass sich dieses Alter auf die Zeit vor unserer Subjektwerdung bezieht und nicht, wie oben

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39 Cixous, What is it oʻclock? S. 54.40 Cixous, What is it oʻclock? S. 54.41 Cixous, What is it oʻclock? S. 54.42 Cixous, What is it oʻclock? S. 54.43 Cixous, What is it oʻclock? S. 54.

angenommen, auf die Zeit, die vor unserer Geburt schon verstrichen ist. Man könnte also Cixous‘

Worte zusammenfassen: „‘Our age,’ ‘if it counts,’ is for our mother, it’s our mother who is it, it’s

she who keeps count. [...] The other age, the one which our mother authenticates, remains forever

foreign to us, and yet, bound to the mother, it is sacred to us.“44 Wir könnten also, ohne die Mutter

als Bezugspunkt, sehr leicht die Verbindung zu oder das „Wissen“ über unser eigenes Alter, nicht

als Moment sondern als gewordenes, persönliches Narrativ, verlieren. Das zeigt vielleicht, dass die

Zeit der Selbstbestimmung uns immer in einem viel größeren Ausmaß gegenwärtig ist, als die rein

mathematische Zeit, die verstrichen ist.

Was Cixous auch immer wieder betont, ist das, was ihre Mutter ihr gibt. Freiheit, die auch immer

ein Zeichen der Verbindung ist: „The first gesture that linked us was to have cut the umbilical

cord.“45 Der Vorgang, den sie hier beschreibt: du gibst mir Raum, aber dadurch, dass ich weiß, dass

dieser Raum ein Geschenk von dir war, werde ich auch immer mit dir verbunden sein. „The

freedom I give you takes nothing from you“46 - die Freiheit ist eine Gabe, die keine Gegenleistung

verlangt, keine wehmütigen Blicke zurück. Und trotzdem bleibt da immer diese Verbindung. Oft

wirkt es so, als würde Cixous, wenn sie die Beziehung zu ihrer Mutter beschreibt, eigentlich

Konditionen der perfekten Liebesbeziehung aufs Papier malen - oder vice versa.

With the other for endless mother, melt the dikes that impede the carnal soul from rolling its waves to the far ends of the worlds. The favor you do me in the act of love—this possibility for evasion, this chance to enjoy extravagance, without suffering from madness, I call this freedom.47

Auch „ the other“, die oder der nicht direkt als Mutter angesprochen, sondern mit dieser verglichen

wird, also nicht mit ihr ident ist, gibt, durch den „act of love“48, die Möglichkeit, frei zu sein. Hier

tritt ein neuer Aspekt der gegebenen Freiheit ans Tageslicht: die Möglichkeit, Extravaganzen zu

genießen, außerhalb der Normen in der Welt der Liebenden zu existieren. Wenn die oder der andere

so ist wie die Mutter, die uns vom ersten Tag an kennt, dann wird sie oder er auch die Möglichkeit

dazu geben, unser „secret age, our strong-age, our preferred age“49 zu sein, wie Cixous es an einer

anderen Stelle schreibt. Auch wenn wir mit jemandem im „act of love“ verbunden sind kann uns

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44 Cixous, What is it oʻclock? S. 54.45 Cixous, What is it oʻclock? S. 66.46 Cixous, What is it oʻclock? S. 66.47 Cixous, What is it oʻclock? S. 62.48 Cixous, What is it oʻclock? S. 62.49 Cixous, What is it oʻclock? S. 54.

diese Person das geben, was wir eigentlich nur von der Mutter erwarten: die unendliche Gabe der

Liebe, die keine Gegenleistung erwartet.

Whoever is capable of an acceptance this vast can only be the equivalent of the maternal breast, not of an exterior mother, but of the one who doesn’t lean over the cradle, who doesn’t say ‘I am your mother,’ of the mother who doesn’t congratulate herself. The mother who loves like she breathes, loves and doesn’t know it’s the incarnation of a yes.50

Der wahre Akt der Liebe, der dem der Mutter gleicht, führt nicht dazu, dass das Subjekt, das ihn

durchführt, sich selbst gratuliert, sich durch den moralisch „guten“ Akt, der gerade vollbracht

wurde, auf eine höhere Stufe hebt. Wenn man Cixous hier mit Jacques Derrida liest, dann findet

man in ihrer Formulierung Spuren der Gabe, die die scheinbar unendliche Ökonomie des Gebens

und Nehmens durchbricht. Derrida beschreibt diese partikuläre Figur in dem 1991 erschienen Buch

Donner le temps. 1. La Fausse Monnaie51. Das besondere an der Gabe ist, dass kein Zurückzahlen

in äquivalenten Werten statt findet, es keine Schuld entsteht, die getilgt werden müsste. Für Derrida

ist diese Gabe anfänglich unmöglich, weil unfassbar. Im Laufe des Textes kristallisiert sich

schließlich ein Imperativ zur Gabe heraus, der unausweichlich ist. Nun scheint es also, als habe

Cixous mit der Liebe, mit eben jenem zuvor schon zitierten „act of love“, ein Beispiel dieser Gabe

aufgestellt. In Von der Szene des Unbewussten zur Szene der Geschichte, Niederschrift eines

Vortrags, den Cixous 1987 in Wien hielt, schreibt sie folgendes: „Das ist wie die Mutterliebe, das

absolut Gegebene.“52

b) Mutter und Tod

„We can’t believe in death in advance, it remains inadmissible. Our immortality is: not-believing-

in-death“53. Bevor wir mit einem Todeserlebnis direkt konfrontiert sind, ist es für uns, so Cixous,

unmöglich, den Tod zu fassen oder zu denken. Aber auch dann, wenn der Augenblick eingetreten

ist, ein geliebter oder geschätzter Mensch uns verlassen hat, führt das zu keiner Realisierung der

Sterblichkeit: „None has ever lived in the present the death of a loved one. The death of a dear

parent at first eliminates us. At the time not a tear for my father, not a tear for your mother.“54 Wir

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50 Cixous, What is it oʻclock? S. 62.51 Jacques Derrida, Donner le temps. 1. La Fausse Monnaie. Éditions Galilée, Paris. 1991.52 Cixous, Von der Szene des Unbewußten zur Szene der Geschichte, Wien 1987, S. 81.53 Cixous, What is it oʻclock? S. 59.54 Cixous, What is it oʻclock? S. 59.

sind nicht fähig, das Ereignis mit unserem zuvorigen „not-believing in death“55 in Einklang zu

bringen, als würden uns die Kategorien fehlen, einen Verlust wie diesen zu denken und zu fühlen.

Cixous bearbeitet das Thema des Todes besonders in Referenz auf ihre Mutter. Interessant wird

diese Vorgehensweise, wenn man die Stellen, die ausführlich Cixous Gefühlslage beschreiben56, mit

Passagen in Verbindung bringt, in denen die Autorin über das, so scheint es, gegenteilige Ereignis

spricht: den Moment der „double birth, ours, like the mother is born of the child’s birth“57, in dem

die Mutter ihr mit der Sicherheit, immer auf sie zu warten, absolute Freiheit geschenkt hat, die aber

keine Gegenleistung erwartet.58 Wenn also mit der Geburt des Kindes auch die Mutter zu diesem

Kind geboren wird, das heißt, die Leben schenkende Frau in die Rolle der Mutter übertritt, also im

wahrsten Sinne des Wortes „Mutter wird“, welche Auswirkungen trägt dann der Tod dieser Mutter

mit sich? Ist die Bindung eine, die sich durch den Tod auflösen lässt?

Wenn man von der eigenen Mutter, nach ihrem Tod, spricht, dann sagt man nicht „Ich war die

Tochter/ der Sohn von X“, sondern dass man noch immer die Tochter oder der Sohn dieser Person

ist. Von dieser Seite her ist die Verbindung also nie vergänglich. Warum sagt man dann aber „Sie

war meine Mutter“, nachdem die Mutter gestorben ist? Hört eine Person auf, Mutter zu sein, wenn

sie aufhört, zu existieren? Heißt das, dass sie eigentlich auch keine Töchter oder Söhne mehr haben

kann? Wenn die eigene Mutter stirbt, dann ist man als Körper keine Tochter, kein Sohn mehr, weil

der Körper, nämlich der der Mutter, zu dem man in dieser Relation steht, nicht mehr existiert. Als

Subjekt hört der Mensch jedoch nie auf, Tochter oder Sohn zu sein - aus dem einfachen Grund, dass

die Mutter notwendig für das eigene Bestehen ist. Ohne sie würde unser persönliches Narrativ nicht

funktionieren, da sie ein essentieller Teil davon ist, der weiterhin notwendig in uns vorhanden sein

muss. Ohne die Mutter als Anhaltspunkt, als relativierende Instanz, könnten wir uns selbst nicht

weiter stabil als Subjekt aufrecht erhalten.

Und gerade weil uns im Tod der Mutter diese Differenz bewusst wird, erleben wir, dass eine

„immense opaque transparent inconsistent wall rises between you dea(d)th and me on this side.“59

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55 Cixous, What is it oʻclock? S. 59.56 Zum Beispiel auf Seite 60 in What is it oʻclock?57 Cixous, What is it oʻclock? S. 66.58 Vgl. Cixous, What is it oʻclock? S. 66.59 Cixous, What is it oʻclock? S. 61.

Für einen Moment zweifeln wir an, dass unser Narrativ weitergehen kann, wie es Cixous, bezogen

auf den Tod ihrer Mutter, ausdrückt: „[I] wasn’t living this time“60. Die prekäre Position, in der sich

das Subjekt befindet, wird auch in diesem Auszug deutlich: „I ‘die’ to me, I go away. Rather die

than undergo your death. Your death I could not live.“61 Es wäre einfacher und wünschenswerter,

selbst zu leben aufzuhören, als ohne diesen Bezugspunkt, den die Mutter für unsere persönliche

Geschichte bildet, weiterleben zu müssen.

Ein weiterer Punkt ist sicherlich auch, dass der Tod der Mutter die Macht hat, uns wieder in die Zeit

vor der Subjektwerdung zurückzuwerfen, uns unserer emotionalen und rationalen Fähigkeiten zu

berauben: „[W]e are just big enough to cry for our dog, but never big enough to cry for our

mother.“62 Im Moment des Todes der Mutter kann dem Menschen bewusst werden, dass es eine Zeit

gab, in der man noch nicht gefestigt und selbstständig war. Die Stärke, die man bräuchte, um für die

Mutter zu weinen, könnte einem nur eine Person geben: die Mutter selbst. Die Trauer würde den

Verlust symbolisieren können, den es gegeben hat, ihn wahr machen und damit bewältigbar.

„Death: something terrible that doesn’t come.“63 - man wartet auf den Moment, in dem die

erlösende Trauerarbeit endlich einsetzen kann und so Hoffnung entsteht, den Verlust irgendwann

verarbeiten zu können. „The worst part of grief is this grief that doesn’t let itself be suffered, this

absolute, infinite, indolorous suffering.“64

The mother, too, is a metaphor. It is necessary and sufficient that the best of herself be given to woman by another woman for her to be able to love herself and return in love the body that was "born" to her. 65

Wenn nämlich der Körper der Frau ihr vom Männlichen gegeben wäre, dann wäre sie weiterhin im

phallischen System verstrickt, wäre etwas Äußeres, das sich quasi als etwas dem System Inneres

ausgibt. Sie könnte die Gabe des Körpers nicht annehmen, weil sie für immer mit Maßstäben

verknüpft wäre, denen sie nicht gerecht werden kann. Die Mutter, über die Cixous an einer anderen

Stelle auch schreibt, sie wäre „In der englischen Sprache [...] «Mother» - mein Anderes“66, also „my

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60 Cixous, What is it oʻclock? S. 60.61 Cixous, What is it oʻclock? S. 59.62 Cixous, What is it oʻclock? S. 59.63 Cixous, What is it oʻclock? S. 60.64 Cixous, What is it oʻclock? S. 61.65 Cixouy, Medusa, S. 881.66 Cixous, Von der Szene des Unbewussten zur Szene der Geschichte. S. 70.

other“, macht es uns also möglich, einen Weg finden zu können, schließlich aus dem

phallogozentristischen System heraustreten zu können. Sie ist die Gegenfigur zum übermächtigen,

symbolischen Vater, der in der Sprache verankert ist.

3. SCHLUSS

Wenn man den Weg von Cixous Schrift, so wie sie ihn selbst beschreibt, betrachtet, dann wird klar,

dass auch ihr Logos, also ihre Sprache, ihr Schreiben, von Anfang an dem Phallus unterworfen war,

also dem Vater. „Dedans/Drinnen hat sich notwendigerweise drinnen im Vater geschrieben, ihn bis

zum Tode suchend und davon zurückkommend.“67, schreibt sie zum Beispiel über einen ihrer ersten

Texte. Aber was war es, das sie schlussendlich zumindest so weit, wie das möglich ist, davon befreit

hat? Zuallererst wahrscheinlich das Realisieren dieser stetigen Beeinflussung. Dann die ersten

Überlegungen zu diesem Thema: haben Frauen schon jemals wirklich als sie selbst gesprochen,

ohne sich mit der männlichen Sprache zu maskieren? War jemals etwas dabei, das wirklich genuin

weiblich war? Dabei ist vielleicht anzumerken, dass ein großer Kritikpunkt an Cixous‘ Text The

Laugh of the Medusa jener war, dass sie Frauen darin die Möglichkeit des rationalen, männlich

konnotierten Schreibens aberkennen würde. Diesen Vorwurf kann man mit Cixous selbst kontern:

„It is impossible to define a feminine practice of writing, and this is an impossibility that will

remain, for this practice can never be theorized, enclosed, coded-which doesn't mean that it doesn't

exist.“68 Nicht zu vernachlässigen ist vor allem der politische Aspekt, der hinter diesem Text steht:

wenn Frauen als Frauen schreiben können, haben sie auch die Macht, Stück für Stück die

Gesellschaft zu verändern.

Im Bezug auf Cixous‘ Umgang mit dem Bild der Mutter lässt sich vor allem ein signifikanter

Zusammenhang zwischen dieser Figur und dem persönlichen Narrativ herauslesen, wie dies schon

in der Einleitung angenommen wurde. Diese These hat sich also bestätigt. Wie aber wirkt die

Mutter als Gegenfigur zum phallischen Bild des Vaters? Vor allem wahrscheinlich darin, dass man

ihre „Andersheit“, ihre Postion des „Other“ anerkennt - und diese Postion nutzt - aber in einer

positiven Form, nicht in der des Ausschlusses, wie er in den klassischen Texten durch die gesamte

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67 Cixous, Von der Szene des Unbewussten zur Szene der Geschichte. S. 67.68 Cixous, Medusa, S. 883.

Philosophiegeschichte hindurch gedacht wurde. Das Andere, das durch die Mutter repräsentiert

wird, weist auf alles Weitere hin, das unterdrückt, aus dem, was wir wahrnehmen oder denken

können, ausgeschlossen wird. Die gängigen Normen über das, was sichtbar ist, können anhand

dieser Figur und der integralen Verbindung, die von uns zu ihr immer schon besteht, neu gedacht

werden.

Wenn dieses Andere, das durch die Mutter repräsentiert wird, in seiner Wichtigkeit im Bezug auf

unsere eigene autobiographische Zeit anerkannt wird, wir also merken, dass sie uns in dieser

Hinsicht weit mehr beeinflusst als zum Beispiel der Vater, kann auch ein Umdenken in anderen

Richtungen seinen Anfang nehmen. In Kombination mit einer femininen Sprache und Schrift, also

einer Écriture Féminine, können so alte Konzepte, gestärkt durch diese Erkenntnis, überarbeitet und

vielleicht überkommen werden. Dabei muss bewusst sein, dass diese Abarbeitung nur in vollem

Bewusstsein der alten Denkmuster geschehen kann. Es soll aber nicht heißen, dass Frauen im

Rahmen der Écriture Féminine nicht zu logischen Argumentationen fähig sind oder sie ihnen von

dieser sogar verboten würden - es ist vielmehr eine Aufforderung, das Alte neu zu denken. Anders,

vielleicht aus der Postion einer Mutter, die Denken gebiert und dabei nicht mehr abhängig ist vom

„Vater“ des Denkens, der für den Unterhalt sorgt, für die sprachlichen Normen, die festlegen, ob

dieses Denken überleben kann.

Literaturverzeichnis:

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