alfred grau - der zusammenbruch 1945 wie wir ihn erlebten

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Alfred Grau - Rudolf A. Haunschmied 1 DER ZUSAMMNENBRUCH 1945 wie wir ihn erlebten Alfred Grau mit Ergänzungen von Rudolf A. Haunschmied VORWORT Der nachfolgende Aufsatz wurde im Jahre 1975 in Argentinien durch den ehemaligen kaufmännischen Leiter und stellvertretenden Betriebsführer der DEST-Werkgruppe St. Georgen/Gusen 1 , Alfred Grau 2 , auf Basis von Tagebuchaufzeichnungen geschrieben, um seinen Kindern das damals erst 30 Jahre zurückliegende Geschehen aus persönlicher Sicht darzulegen. DEST-Werkgruppenleitung St. Georgen um 1960 1 Das Akronym "DEST" wurde anstatt der Firmenbezeichnung "Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH Berlin" verwendet. Die DEST wurde im April 1938 im Zusammenhang mit dem Beginn der SS-Aktivitäten zur Ausbeutung der Granitsteinvorkommen in Gusen und Mauthausen durch SS-Gruppenführer Oswald Pohl als Chef des damaligen SS-Hauptamtes für Haushalt und Bauten gegründet. Die DEST stand als staatsnahes Unternehmen im Eigentum von SS bzw. NSDAP und betrieb unter anderem Granit- und Klinkerwerke in Flossenbürg, Mauthausen/Gusen, Natzweiler, Oranienburg, Weimar, Neuengamme, Auschwitz und Prambachkrichen. Die Werkgruppe St. Georgen mit den Betrieben Mauthausen-Wienergraben, Gusen und Gusen- Kastenhof stellte die bedeutendste Werkgruppe der DEST dar. Sie wurde auch mit "Granitwerke Mauthausen" bezeichnet. Sitz und Zentrum dieser Werkgruppe befanden sich allerdings stets in St. Georgen/Gusen. 2 Alfred Grau wanderte bereits um 1926/1927 zuerst nach Barcelona aus um dort als Übersetzer für die Weltausstellung 1929 zu arbeiten. Alfred Grau wollte von dort aus eigentlich nach Chile weiter. Er blieb aber in Buenos Aires hängen, weil es um 1931/1932 in Chile zu Militärputschen kam und es nicht möglich war, für die Junta in Chile einen Nachweis zu bekommen, der bestätigt hätte, dass Alfred Grau kein Kommunist wäre. Die beiden in diesen Erinnerungen vorkommenden Söhne der Familie Grau wurden in den 30-er Jahren in Buenos-Aires geboren. Familie Grau reiste 1939 auf Wunsch einer Grossmutter nach Deutschland, konnte aber nicht mehr nach Argentinien zurückkehren, da im September 1939 der Krieg ausbrach. Alfred Grau wurde eingezogen und schliesslich 1941 wegen seiner Sprachkenntnisse nach St. Georgen entsendet. Alfred Grau war als kaufmännischer Leiter der DEST-Werkgruppe in St. Georgen vor allem auch für Grundstücks-, Versicherungs-, Steuer- und Personalan- gelegenheiten zuständig. Direktor Grau galt in der Bevölkerung als für Einheimische eher unnahbare Persönlichkeit. "Bürochef" Grau wurde im April 1947 von Verteidiger Dr. Fröschmann für ein Gerichtsverfahren in Nürnberg noch in St. Georgen gesucht. Der Autor war kein Einheimischer. Der Blick eines Aussenstehenden auf die Situation in unserer Heimat macht diesen Aufsatz für Menschen, die in dieser Region verwurzelt sind, einmal mehr lesenswert. Die Lebendigkeit der Schilderung illustriert Lage und Stimmung jener tausenden Reichsdeutschen, welche die letzten Kriegstage, den Untergang des Grossdeutschen Reiches und das anschliessende Chaos in St. Georgen und Umgebung erlebten und ergänzt die zahlreichen anderen Berichte, die uns von den Tagen der Befreiung vorliegen in geeigneter Weise. Der Aufsatz ist ein literarisch ansprechendes Zeugnis für die Situation in unserer Region zu Zeiten des sog. "Umsturzes". Plünderungen, Faustrecht, Chaos, Rache, Selbstjustiz, Mistrauen, Denunziation aber auch alte Beziehungsgeflechte kennzeichneten diese Übergangsperiode zwischen dem zusammenbrechenden Grossdeutschen Reich und den ersten Tagen des von den Alliierten besetzen neuen Österreich. Direktor Grau beschreibt auch eindringlich die Stilllegung der Betriebe am 3. Mai 1945 und liefert in seinen Erinnerungen auch wichtige Fakten für die Geschichte des ehemaligen nationalsozialistischen KZ-Komplexes St. Georgen-Gusen-Mauthausen. Der Erzählstil erlaubt auch einen Rückschluss auf Person und Charakter des ehemaligen kaufmännischen Leiters der DEST-Werkgruppe St. Georgen mit Betrieben in Mauthausen, Gusen, Prambachkirchen, etc. Verblüffend sind auch die präzise Erinnerung und die genaue Ortskenntnis von Direktor Grau, der ja als Zuwanderer nur während der Jahre 1941-1945 mit seiner Familie in St. Georgen lebte. Das Faktum, dass der Autor diese Erinnerungen niemals für eine Veröffentlichung schrieb, und dass diese Erinnerung mit den uns per heute vorliegenden Unterlagen bestens korrespondieren, machen aus diesem Erinnerungsbericht für seine Kinder auch eine wertvolle, historische Primärquelle für die zeitgeschichtliche Forschung. Wir danken dem Sohn von Direktor Grau für die Erlaubnis zum Abdruck dieser durch Rudolf A. Haunschmied im Jahre 2007 ergänzten Version der Erinnerungen seines Vaters in den St. Georgener Heimatblättern und Herrn Diplomingenieur Hans- Reiner Schmidt, der uns freundlicherweise und vertrauensvoll das Grundmanuskript für diesen Beitrag zugänglich machte und uns mit ergänzenden Informationen versorgte. -oOo- Vorweg sei gesagt: Vor mir liegt ein ganz einfaches graues Schulschreibheft. In dieses Heft hinein, auf das schlechte Kriegspapier, schrieb ich in Stenographie das nieder, was uns geschah - in den letzten Kriegstagen sowohl wie auf der Flucht, auf dem Treck der heimatlos Gewordenen und hernach! Was ich niederschrieb, war nicht mehr als ein chronologisches Festhalten der Geschehnisse. Es sind Tagebuchnotizen eines traurigen Tagebuchs zumeist. Ich will drum im folgenden versuchen, das

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Alfred Grau - Rudolf A. Haunschmied

1

DER ZUSAMMNENBRUCH 1945 wie wir ihn erlebten

Alfred Grau

mit Ergänzungen von

Rudolf A. Haunschmied

VORWORT

Der nachfolgende Aufsatz wurde im Jahre 1975 in Argentinien durch den ehemaligen kaufmännischen Leiter und stellvertretenden Betriebsführer der DEST-Werkgruppe St. Georgen/Gusen

1, Alfred

Grau2, auf Basis von Tagebuchaufzeichnungen

geschrieben, um seinen Kindern das damals erst 30 Jahre zurückliegende Geschehen aus persönlicher Sicht darzulegen.

DEST-Werkgruppenleitung St. Georgen um 1960

1 Das Akronym "DEST" wurde anstatt der Firmenbezeichnung

"Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH Berlin" verwendet. Die

DEST wurde im April 1938 im Zusammenhang mit dem Beginn

der SS-Aktivitäten zur Ausbeutung der Granitsteinvorkommen in Gusen und Mauthausen durch SS-Gruppenführer Oswald Pohl

als Chef des damaligen SS-Hauptamtes für Haushalt und Bauten

gegründet. Die DEST stand als staatsnahes Unternehmen im Eigentum von SS bzw. NSDAP und betrieb unter anderem

Granit- und Klinkerwerke in Flossenbürg, Mauthausen/Gusen,

Natzweiler, Oranienburg, Weimar, Neuengamme, Auschwitz und Prambachkrichen. Die Werkgruppe St. Georgen mit den

Betrieben Mauthausen-Wienergraben, Gusen und Gusen-

Kastenhof stellte die bedeutendste Werkgruppe der DEST dar. Sie wurde auch mit "Granitwerke Mauthausen" bezeichnet. Sitz

und Zentrum dieser Werkgruppe befanden sich allerdings stets in

St. Georgen/Gusen. 2 Alfred Grau wanderte bereits um 1926/1927 zuerst nach

Barcelona aus um dort als Übersetzer für die Weltausstellung

1929 zu arbeiten. Alfred Grau wollte von dort aus eigentlich nach Chile weiter. Er blieb aber in Buenos Aires hängen, weil es

um 1931/1932 in Chile zu Militärputschen kam und es nicht

möglich war, für die Junta in Chile einen Nachweis zu bekommen, der bestätigt hätte, dass Alfred Grau kein

Kommunist wäre. Die beiden in diesen Erinnerungen

vorkommenden Söhne der Familie Grau wurden in den 30-er Jahren in Buenos-Aires geboren. Familie Grau reiste 1939 auf

Wunsch einer Grossmutter nach Deutschland, konnte aber nicht

mehr nach Argentinien zurückkehren, da im September 1939 der Krieg ausbrach. Alfred Grau wurde eingezogen und schliesslich

1941 wegen seiner Sprachkenntnisse nach St. Georgen

entsendet. Alfred Grau war als kaufmännischer Leiter der DEST-Werkgruppe in St. Georgen vor allem auch für

Grundstücks-, Versicherungs-, Steuer- und Personalan-

gelegenheiten zuständig. Direktor Grau galt in der Bevölkerung als für Einheimische eher unnahbare Persönlichkeit. "Bürochef"

Grau wurde im April 1947 von Verteidiger Dr. Fröschmann für

ein Gerichtsverfahren in Nürnberg noch in St. Georgen gesucht.

Der Autor war kein Einheimischer. Der Blick eines Aussenstehenden auf die Situation in unserer Heimat macht diesen Aufsatz für Menschen, die in dieser Region verwurzelt sind, einmal mehr lesenswert. Die Lebendigkeit der Schilderung illustriert Lage und Stimmung jener tausenden Reichsdeutschen, welche die letzten Kriegstage, den Untergang des Grossdeutschen Reiches und das anschliessende Chaos in St. Georgen und Umgebung erlebten und ergänzt die zahlreichen anderen Berichte, die uns von den Tagen der Befreiung vorliegen in geeigneter Weise. Der Aufsatz ist ein literarisch ansprechendes Zeugnis für die Situation in unserer Region zu Zeiten des sog. "Umsturzes". Plünderungen, Faustrecht, Chaos, Rache, Selbstjustiz, Mistrauen, Denunziation aber auch alte Beziehungsgeflechte kennzeichneten diese Übergangsperiode zwischen dem zusammenbrechenden Grossdeutschen Reich und den ersten Tagen des von den Alliierten besetzen neuen Österreich. Direktor Grau beschreibt auch eindringlich die Stilllegung der Betriebe am 3. Mai 1945 und liefert in seinen Erinnerungen auch wichtige Fakten für die Geschichte des ehemaligen nationalsozialistischen KZ-Komplexes St. Georgen-Gusen-Mauthausen. Der Erzählstil erlaubt auch einen Rückschluss auf Person und Charakter des ehemaligen kaufmännischen Leiters der DEST-Werkgruppe St. Georgen mit Betrieben in Mauthausen, Gusen, Prambachkirchen, etc. Verblüffend sind auch die präzise Erinnerung und die genaue Ortskenntnis von Direktor Grau, der ja als Zuwanderer nur während der Jahre 1941-1945 mit seiner Familie in St. Georgen lebte. Das Faktum, dass der Autor diese Erinnerungen niemals für eine Veröffentlichung schrieb, und dass diese Erinnerung mit den uns per heute vorliegenden Unterlagen bestens korrespondieren, machen aus diesem Erinnerungsbericht für seine Kinder auch eine wertvolle, historische Primärquelle für die zeitgeschichtliche Forschung. Wir danken dem Sohn von Direktor Grau für die Erlaubnis zum Abdruck dieser durch Rudolf A. Haunschmied im Jahre 2007 ergänzten Version der Erinnerungen seines Vaters in den St. Georgener Heimatblättern und Herrn Diplomingenieur Hans-Reiner Schmidt, der uns freundlicherweise und vertrauensvoll das Grundmanuskript für diesen Beitrag zugänglich machte und uns mit ergänzenden Informationen versorgte.

-oOo-

Vorweg sei gesagt: Vor mir liegt ein ganz einfaches graues Schulschreibheft. In dieses Heft hinein, auf das schlechte Kriegspapier, schrieb ich in Stenographie das nieder, was uns geschah - in den letzten Kriegstagen sowohl wie auf der Flucht, auf dem Treck der heimatlos Gewordenen und hernach! Was ich niederschrieb, war nicht mehr als ein chronologisches Festhalten der Geschehnisse. Es sind Tagebuchnotizen eines traurigen Tagebuchs zumeist. Ich will drum im folgenden versuchen, das

Der Zusammenbruch 1945 - Wie wir ihn erlebten

2

gesamte Geschehen etwas eingehender, wirklichkeitsgetreuer darzustellen, umsomehr, als ich meinerseits alle Aufzeichnungen mit großer Vorsicht machen mußte, um zu verhüten, daß bei einer eventuellen Festnahme etwas davon gegen mich verwendet werden konnte, in jener Zeit des absoluten Chaos, wo ein Menschenleben nichts mehr galt, sondern alles nur vom Gesetz der Rache bestimmt wurde. Jetzt, 30 Jahre nachdem, betrachtet man so manches auch ausgewogener, abgeklärter, ruhiger und reifer. Dennoch, es soll dies alles nur bestimmt sein für Dich, Günter, und für Dich, Gerda, und vielleicht noch für die lieben treuen Freunde, die mit uns den schweren Weg ins Elend gehen mußten.

Florida3, im September 1975 Alfred Grau

Es war an einem trüben Februar-Tage 1945, als ein FIESELER-Storch, das langsamste deutsche Flugzeug, über unserem Verwaltungsgebäude in St. Georgen an der Gusen enge Kurven flog, mit den Tragdecks wackelte, bis der Pilot sah, daß aus unserer Garage ein Auto herausfuhr, woraufhin er dann direkten Kurs Richtung Donau nach Wels nahm. Wir wußten, das ist Generalstabsingenieur LUCHT

4, der Leiter der Messerschmitt-Werke, der

sich auf diese Weise anzumelden pflegte, um vom Flugplatz Wels abgeholt zu werden. Eine Stunde später waren wir um ihn versammelt, einige leitende Ingenieure, Herr Walther

5 und ich, alles GK-Träger,

d.h. Männer, denen "Geheime Kommandosachen" bekannt gegeben werden durften

6.

General Lucht begann mit den Worten: "Meine Herren, ich komme direkt vom Führer!"

7 Und dann

führte er aus, daß nach genauem Studium der Lage

3 Florida ist ein Stadtteil von Buenos Aires

4 Flieger-Generalstabsingenieur Roluf Lucht war bereits 1936-

1939 Chefingenieur des Technischen Amtes der Luftwaffe. Von 1939-1941 Chefingenieur beim Generalfeldzeugmeister. Von

1941-1942 General-Chefingenieur der Luftwaffe. Er übernahm

nach seiner Pensionierung 1943 die Betriebsführung (Geschäftsleitung) der Messerschmitt GmbH Regensburg und

wechselte im April 1944 in das Referat "Sonderaufgaben" des

Jägerstabes. Lucht verunglückte wenige Tage vor Kriegsende bei einem Flugzeugabsturz tödlich. Als Betriebsführer der

Messerschmitt GmbH Regensburg gehörten unter anderem auch

die Messerschmitt-Fertigungsbereiche der DEST in St. Georgen, Gusen, Mauthausen-Wienergraben und Flossenbürg auch zu

seinem unmittelbaren Führungsbereich. 5 Otto Walther war Werkleiter der DEST-Werkgruppe St.

Georgen und lebte wie Familie Grau in den Jahren 1941 bis

1945 in St. Georgen. Otto Walther fungierte im Jahre 1947 auch

als Zeuge in dem am US-Militärgericht II in Nürnberg abgeführten Verfahren gegen Oswald Pohl. 6 Als solche war z.B. die streng geheime unterirdische

Fliessbandproduktion von Rümpfen für den Messerschmitt-

Turbinenjäger Me-262 eingestuft, welche unter dem Decknamen "Bergkristall" als Joint-Venture zwischen Reichsluftministerium

(RLM), Messerschmitt GmbH Regensburg und DEST ab 1944

in St. Georgen und Gusen im grossen Stil realisiert wurde. 7 Bereits im Juli 1944 besichtigte der Reichsminister für

Rüstung und Kriegsproduktion, Albert Speer, die unterirdischen

Fertigungsstätten der DEST in "Gusen" und fuhr anschliessend direkt zum Führer auf den Obersalzberg weiter. Da sich Adolf

Hitler als Realschüler um 1904 in St. Georgen aufhielt und sich

Anfang 1944 höchstpersönlich mit der Standfestigkeit von Tunnels in den sog. "Linzer Sanden" auseinandersetzte ist davon

auszugehen, dass der Führer die Projekte der DEST in St.

Georgen und Gusen mit besonderem Interesse verfolgte.

- der Russe stand schon bei Wien! - auf Befehl des Führers die Operation "Weichselstoß" demnächst gestartet würde, was bedeutet, daß durch einen plötzlichen geschlossenen Einsatz der Luftwaffe, vor allem aber mit allen unseren fertigen Me 262 Düsen-Jägern - damals das schnellste Flugzeug der Welt - zusammen mit allen anderen Luftwaffen-Einheiten, einschließlich der Ramm-Jäger, entlang dem gesamten Weichselgebiet die zur Zeit bestehende Luftüberlegenheit des Feindes ausgeschaltet werden sollte. Gleichzeitig würden alle im Gebiet des Riesengebirges in Bereitschaft liegenden, noch voll einsatzfähigen SS- und sonstigen Elite-Divisionen, wie [die] Division Hermann Göring, ferner Fallschirmjäger-Divisionen, sich im Blitzmarsch weichselabwärts in Bewegung setzen, alles überrollend, was auf beiden Seiten der Weichsel an Russen stand, um die links der Weichsel kämpfenden russischen Einheiten einzukesseln und zu vernichten. Und dann, nach diesem, unsere noch vorhandene Stärke ausweisenden Schock, würden schon vorbereitete Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen eingeleitet werden.

Die streng geheime unterirdische Fabrik "B8 Bergkristall-Esche II" in St. Georgen war bei Kriegsende eine der grössten und modernsten

unterirdischen Fabriken Grossdeutschlands.

Der Mann verstand es, dies alles so detailliert und beweiskräftig darzustellen, daß ein allgemeines Aufatmen durch den Raum ging. Einer sagte sogar: "Na, Gott gebe es, denn sonst ist alles ......!" General Lucht gab noch seine letzten Instruktionen, die darin gipfelten, in 24-stündiger Tag- und Nachtschicht soviel wie überhaupt nur möglich Maschinen herauszubringen

8, schärfte nochmals

8 Die Produktion lag damals in St. Georgen bereits bei etwa 450

voll ausgestatteten Rümpfen im Monat und sollte noch auf 1250

Einheiten pro Monat gesteigert werden.

Alfred Grau - Rudolf A. Haunschmied

3

größte Geheimhaltung ein und verschwand mit einem kräftigen "Sieg Heil!".

9 Wir erhoben uns ohne

weiteren Kommentar und gingen an unsere Arbeit, doch, zugegeben, mit einem Gefühl, daß doch noch nicht alles verloren sein könnte. Unser Dorf lag voller Flüchtlinge, darunter auch viele aus der Riesengebirgs-Gegend

10. Mich dumm stellend,

fragte ich immer wieder: "Was, sind denn bei euch auch schon die Russen?" Und erhielt meist die Antwort in dem Sinne: "Der Russe, nein! Aber wir wurden alle evakuiert und alles ist voller SS-Truppen und Panzern und Fallschirmjägern." Dies zu hören, war eine gewisse Bestätigung des uns Gesagten, über das man nicht sprechen durfte. Und so hoffte man wieder, daß doch alles ein wenigstens glimpfliches Ende nehmen möge! Es verging der Monat Februar. Nichts geschah! Nur der Feind kam immer näher, im Westen sowohl wie im Osten. Ebenso geschah es im März. Nichts von Operation "Weichselstoß"! Anfragen konnte und durfte man ja nicht. Zudem hatten wir selber genug mit uns zu tun, denn außer den üblichen Bomben-Angriffen wurden wir täglich nun noch zusätzlich von feindlichen Tieffliegern beharkt, die auf alles Bewegliche schossen und, hupp, im rasanten Flug über die Bergkette

11 hinter unserer Siedlung

verschwanden, ehe die Flak12

auch nur einen gezielten Schuß abgeben konnte, bestenfalls mal losballerte, um zu beweisen, daß sie nicht geschlafen hatte. Waren dies zumeist Amerikaner, so erschien jeden Abend, pünktlich wie nach der Uhr, ein einzelner russischer Bomber, warf ein oder zwei Splitterbomben und verschwand wieder

13. Und

so ging es weiter. Im April wurde es täglich schwerer, denn näher und näher kam von beiden Seiten der Feind. Die Regensburger Messerschmitt-Werke waren schon von den Amerikanern

9 Diese Instruktionen Luchts werden z.B. durch ein Schreiben

Speers an die führenden Leuten der Luftrüstung vom 27. Februar

1945 untermauert, in welchem dieser bekannt gab: "Für die Hochleistungsflugzeuge 262, 234 und 152 und für die im Anlauf

befindlichen Hochleistungsflugzeuge 162 und 335 hat der Führer

nochmals unter Herausstellung ihrer kriegsentscheidenden Bedeutung die sofortige Einleitung und Durchführung aller

Massnahmen befohlen, um ihren Ausstoss und weiteren

Hochlauf im Rahmen der vorhandenen Materialbestände kurzfristig zu steigern". Das Rumpfwerk - das Herzstück des

Hochleistungsflugzeuges 262 wurde damals unter strengster Geheimhaltung in St. Georgen am Fliessband produziert. 10

So war zum Beispiel die Volksschule St. Georgen seit dem

7. Dezember 1944 geschlossen, da dieses grosse Gebäude bis

Juni 1945 als Notunterkunft für Flüchtlinie diente. 11

Gemeint sind hier die Höhenzüge des Frankenberges. 12

Flak-Geschütze befanden sich in der Nähe vor allem beim

"Haselbauern" in Luftenberg und beim "Steinmassl" hoch über

den Konzentrationslagern von Gusen. Ein Flak-Scheinwerfer befand sich z.B. im Hof des früheren Gasthauses "Haas" (heute

Marktstube) und beim "Gernfellner" in Zottmann. Das

Hofgebäude des Pfarrhofes diente damals auch als Krankenstube der örtlichen Flak "für leichtere Fälle". Die Verpflegung für die

örtlichen Flak-Besatzungen wurde täglich von SS-Einrichtungen

in St. Georgen geholt. Monatlich fanden beim "Gernfellner" sog. Flak-Exerziertage für die Besatzungen statt. 13

In diesem Zusammenhang sei auf einen Luftangriff einzelner

sowjetischer Kampfbomber auf die beleuchteten Eingangs-Portale von "Bergkristall" am 16. April 1945 hingewiesen. Von

12 leichten Splitterbomben detonierte nur eine. Hiedurch wurde

ein SS-Wachposten getötet und eine im Bräuhaus wohnende Frau durch Splitter leicht verwundet. Weiters wurde ein kleiner

Materialschuppen zerstört und das Bräuhaus (heute Pötsch)

leicht beschädigt.

eingenommen14

. Was uns als letztes noch von dort erreichte war ein verstümmelter Funkspruch, aus dem wir nur noch entnehmen konnten, im Falle der Feindbesetzung die Werke, also die unterirdischen Stollen, nicht zu sprengen, sondern laut Plan aus jeder Maschine ein bestimmtes wichtiges Teil auszubauen und diese Teile an den vorgesehenen Stellen zu verlagern. Aus diesem krausen, verstümmelten Funkspruch - der aber, wie beschrieben, befolgt wurde - folgerten einige Optimisten, daß etwas im Gange sein müsse in dem Sinne, daß wir mit den Amerikanern zusammen den Russen wieder zurückjagen würden.

15

Die "Führersiedlung" von SS und DEST in St. Georgen um 1942 (heute Siedlungsstrasse)

Gegen Ende April, als die Feindbesetzung als unausweichlich feststand, begannen auch wir uns irgendwie darauf vorzubereiten, sei es für ein zeitweises Ausweichen, sei es für eine Flucht. In der

14

Die Amerikaner erreichten Regensburg am 25. April 1945.

Diesbezüglich ist aber festzuhalten, dass der DEST-Betrieb

"Bergkristall" - damals auch als Betriebsabteilung (Ba) III

bezeichnet - operativ unmittelbar durch die in der sog. Oberbayerischen Forschungsanstalt (OFA) Oberammergau

gebündelten SS-Führungsstäbe geführt wurde, welche von dort

unter SS-Obergruppenführer Dr.-Ing. Hans Kammler alle verbliebenen Fertigungsstätten für Strahlflugzeuge zentral

führten. Es verkehrte damals täglich der sog. "Linzer-Kurier"

zwischen Oberammergau und St. Georgen mit den neuesten Direktiven. Noch im März 1945 wurde in St. Georgen eine

Aussenstelle der OFA als ständige Verbindungsstelle zum

Strahljägerentwicklungsbereich von Prof. Messerschmitt eingerichtet. Die OFA Oberammergau wurde am 28. April 1945

von den Amerikanern im Wettlauf mit den Franzosen erreicht.

Ab diesem Zeitpunkt war das Management in St. Georgen auf sich allein gestellt. Erste Messerschmitt-Mitarbeiter setzten sich

ab diesem Zeitpunkt aus St. Georgen ab. Die Kaserne in welcher

damals die OFA untergebracht war, ist nach wie vor im Besitz der Amerikaner und beherbergt heute die sog. "NATO School". 15

Diese Hoffnung unterstreicht die damalige Strategie des

Reichsführers SS (RFSS), Heinrich Himmler, nach einem erhofften Sonderfrieden mit den Westalliierten gemeinsam mit

diesen gegen die Sowjetunion zu Felde ziehen zu können. Diese

Absicht hatte sich gegen Kriegsende auch bis in untere Ränge der SS-Gefolgschaftsmitglieder in St. Georgen und Gusen

herumgesprochen und fand sogar Erwähnung in der örtlichen

Pfarrchronik. Bemerkenswert ist dazu auch, dass sich die Amerikaner, denen "Bergkristall" nach dem Zusammenbruch

zugefallen war noch bis Juli 1945 eine Wiederaufnahme der

Produktion in "Bergkristall" vorbehalten haben, soferne der Krieg weitergehen würde. Auch in Regensburg wurden Teile der

Me-262 Produktionseinrichtungen bereits vor Kriegsende von

der Belegschaft auf Befehl in Sicherheit gebracht, da man hoffte, mit den Amerikanern gemeinsam gegen die Russen zu kämpfen

und so die Produktion in kürzester Zeit hätte wieder hochfahren

zu können.

Der Zusammenbruch 1945 - Wie wir ihn erlebten

4

Laube unseres Gartens grub ich ein tiefes Loch aus. Die Erde davon verteilte ich spät abends, als schon niemand mehr ringsherum in den Gärten war, auf die Beete und verharkte sie dort, so daß nichts zu sehen war. Dann wurde zuhause ein Koffer gepackt mit einer Sommer und einer Winter-Ausrüstung für jeden von uns. Dasselbe taten Schmidts

16. Beide

Koffer paßten genau, in Wachstuch eingeschlagen, in eine Seekiste von uns und eines Abends, bei strömendem Regen und in völliger Dunkelheit, schleppten Ossi Schmidt

17 und ich die Kiste

heimlich den Waldrand entlang zu unserem Garten, wo sie sogleich in das vorbereitete Loch versenkt und mit Erde bedeckt wurde.

Ein Teil der "Führersiedlung" mit den DEST-Verwaltungsgebäuden in den frühen 1960-er Jahren noch mit Tarnanstrich.

In der unteren Bildhälfte ein Teil der zu den Häusern gehörenden Gärten.

Wir stampften die Erde fest, verstreuten noch zur Tarnung aus einem in der Laube befindlichen Sack Hornspäne, die sonst als Dünger dienten, um jede Spur zu verwischen. Dann schlichen wir uns wieder in unsere Wohnung. Wir hofften, wenn alles geplündert werden sollte, mit dem Vergrabenen etwas vorgesorgt zu haben. Es war alles umsonst, denn später, als wir schon auf der Flucht waren und die Russen kamen, fuhren diese mit ihren Panzern kreuz und quer durch die Gärten, walzten alles nieder, die Bäume, die Zäune, die Sträucher, sämtliche Lauben, so daß nichts mehr heil blieb.

18

16

Famlie Schmidt lebte, wie zahlreiche andere deutsche

Familien, die in Zusammenhang mit der DEST-Werkgruppe nach St. Georgen gekommen waren, zwischen 1941 und 1945 in

St. Georgen. Familie Schmidt flüchtete aus St. Georgen gemeinsam mit Familie Grau. 17

Oskar Schmidt war Kassier der DEST-Werkgruppe St.

Georgen und in dieser Funktion für die Kassen-Ein- und

Ausgänge, die Stundungsüberprüfung, die Verrechnung von Frachten sowie für die Kontrolle der Material-Ein- und

Ausgänge der DEST-Betriebsabteilungen II (Messerschmitt-

Fertigung Gusen und Wienergraben) und III (Messerschmitt-fertigung St. Georgen-Bergkristall) verantwortlich. Herr Schmidt

lebte zwischen 1927 und 1936 in Argentinien und war seit seiner

Zeit in Argentinien mit Alfred Grau befreundet. 18

Die Russen kamen ab 29. Juli 1945 nach St. Georgen,

nachdem die Amerikaner das Gebiet räumen mussten. Die

Russen okkupierten als erstes die Siedlung der DEST, die zu einem guten Teil bereits vorher von den Amerikanern devastiert

wurde. Die Amerikaner räumten die Quartiere ziemlich aus,

zerstörten noch einen Teil des DEST-Lehrlingsheimes (heute Hauptschule) und die Einrichtung der DEST-Werksküche

(ehemaliges Musikschulgebäude). Die Russen richteten in den

ehemaligen Konzentrationslagern eine Rekrutenschule ein in der ehemalige Ostarbeiter und KZ-Häftlinge aus der Sowjetunion

gedrillt wurden. Es wurden in Abwinden z.B. auch

Übungsschiessen im scharfen Schuss mit Panzerkanonen gegen den Luftenberg durchgeführt. Etwa 25 T-34 Panzer waren in

einem ehemaligen Autoschuppen der DEST im Bereich

unterhalb "Rapata" stationiert. Auch das Dorf Gusen glich einem

Die bestimmte Stelle, an der wir die Kiste vergruben, dürfte kaum noch zu finden sein, wenngleich ich mir vom Grenzstein an den Waldrand wie auch zum nächsten Ackerrain die genauen Meter ausgemessen hatte. Nun, wir sind nie wieder dahin gekommen! Weiter organisierte ich für mich einen großen Gebirgsjäger-Rucksack, für Liesel

19 Militärstiefel, und wir richteten alles her, was

wir, wenn wir fliehen müßten, mitzunehmen für nötig befanden. Außer dem Rucksack, dem großen, denn Liesel und Günter

20 hatten noch kleinere, kamen

noch zwei Handkoffer, eine Aktentasche, verschiedene Beutel, eine Milchkanne, etwas Blechgeschirr und manches andere zusammen, den Kinder-Sportwagen für Gerda

21 nicht zu vergessen.

Alles stand nun bereit für den Fall, daß ..... Und dieser Fall trat ja dann schneller ein als wir dachten. Oberhalb des Gusentals, in Richtung nach Lungitz, lag über dem Gehöft des Prammer-Bauern

22 eine verlassene Schihütte

23. Es war eine

gute Wegstunde zu Fuß hinauf. Von der Hütte hatte man einen weiten Blick über das Donautal bis hinüber nach Wels. Wir beschlossen, diese Hütte zunächst als Ausweichquartier zu nehmen, falls bei uns im Tal und in der Umgebung Kämpfe stattfinden sollten. Wir hatten sie schon etwas hergerichtet, mit Flugzeugblechen

24 das schadhafte Dach

abgedichtet und mit dem Pferdewagen eines Batschka-Flüchtlings die notwendigsten Sachen wie Decken, etwas Geschirr, wie auch das große BLAUPUNKT-Batterie-Radio hinaufgebracht. Am 1. Mai 1945 erklang im Radio - noch in unserer Wohnung in St. Georgen - ein Fanfarenstoß. Der Sprecher brachte als Sondermeldung, daß der Führer in der Reichskanzlei "bis zum Letzten gegen den Bolschewismus kämpfend" gefallen ist. Dann folgte Trauermusik. Liesel, am Tisch sitzend, legte den Kopf auf ihre Arme und weinte erschütternd, wissend, dies war der Schlußstrich! Am 2. Mai 1945 standen die Amerikaner schon östlich von Passau, würden also wohl in den nächsten Tagen bei uns sein, wenn der Russe nicht vorher kommen würde. Ich schrieb Briefe an meine Eltern und an Rolf Z. in Argentinien, letztere in deutsch und englisch, die die Kinder umgehängt bei der eventuellen Flucht mit sich nehmen sollten. Dies für den Fall, der so oft eintrat, daß wir von ihnen getrennt werden sollten, damit so die Kinder einen Anhaltspunkt hätten. Tatsächlich hat später auf der

Exerzierfeld. Hinter den Häusern wurde gegen die Au mit

Gewehren und MG geschossen. 19

Wohl Direktor Graus Ehefrau Elise. 20

Der damals neunjährige Sohn der Familie Grau. 21

Die damals erst dreijährige Tochter der Familie Grau. 22

Vulgo "Mitterberger" 23

Dieses Gebäude befindet sich nahe des höchsten Punktes des

Hohensteins und existiert in umgebauter Form noch heute. Das

ursprünglich zum "Mitterberger"-Gut in Oberpürach gehörige Gebäude ist älteren St. Georgenern noch heute als sog.

"Schihütte" bekannt. Diese dürfte wohl in den 20-er Jahren des

20. Jahrhunderts als Pachtobjekt durch den "Völkisch Deutschen Turnverein" in St. Georgen ausgebaut und in den 40-er Jahren

auch durch die SS, welche auch die Turnhalle des Vereins und

das Strandbad in St. Georgen nutzte, benutzt worden sein. 24

Diese standen damals in St. Georgen massenhaft zur

Verfügung. Noch heute sind einzelne Häuser in der Region mit

Flugzeugblechen von damals eingedeckt.

Alfred Grau - Rudolf A. Haunschmied

5

Flucht unser Günter unter dem linken Oberarm nicht nur in einem Brustbeutel fast unser ganzes Bargeld, so an die 5000 Reichsmark, sondern auch die erwähnten Briefe getragen. Wir hofften, sollten wir ausgeplündert werden, daß man sich an den Kindern wohl zuletzt vergreifen würde. Am 3. Mai wurden alle Vorbereitungen getroffen für die Übergabe des Betriebes. Es wurden allen Angestellten und Arbeitern drei Monatsgehälter ausbezahlt. Alle Geheimakten verbrannte ich persönlich im großen Dampfkessel im Heizungskeller

25. Dann verteilte ich alle

Lebensmittel aus den Beständen der Werksküche an die Bewohner der Siedlung und des Dorfes. Am folgenden Tage, dem 4. Mai, wurde Linz von den Amerikanern beschossen. Es zeigte sich das kommende Chaos an. Die vorhergehende Nacht war ich mit den Kameraden in und um die Siedlung herum Wache gegangen, weil schon von Ausländern, wohl von entlaufenen Ostarbeitern oder Häftlingen oder entwichenen Kriegsgefangenen Plünderungen des Nachts versucht wurden. Um sich zu verabschieden, suchte mich unser Truppenarzt in meinem Dienstzimmer auf. Wir standen zusammen vor der großen Landkarte. Der Doktor wies mit dem Zeigefinger auf Linz und sagte: "26 km, da der Amerikaner und hier liegt Perg, 40 km, der Russe! Nun, kommt der Amerikaner zuerst, haben wir eine Überlebenschance!" Dann drückten wir uns die Hand und er ging. Am Abend ging Liesel mit den Kindern, zusammen mit Schmidts, schon zur Schihütte hinauf um dort zu schlafen. Ich machte wieder mit den Kameraden unseren Wachrundgang. Es zeigte sich nichts Beunruhigendes. Der 5. Mai brachte noch viel Unruhe. Herr Walther war verschwunden. Vermutlich überwachte er das Verlagern der ausgebauten Maschinenteile irgendwo im Gebirge bei Spital am Pyhrn

26. Es

erschien der Bretterbauer [Name redaktionell geändert] bei mir und wollte alle Schreib- und Buchhaltungsmaschinen "kaufen", d.h. er wollte wohl, daß ich ihm alles schenkte. Ich wies ihn ab.

27

Am nächsten Tag, als ich zur Schihütte hinaufstieg, begegnete ich ihm mit seinem Fuhrwerk, wie er eiserne Rohre, die unserem Werk gehörten, heimführte. Ich sagte ihm nur: "Bretterbauer, was Ihr da fahrt ist Reichseigentum, morgen wahrscheinlich Beutegut der Amerikaner oder Russen. Gebt nur acht, daß sie Euch nicht wegen Diebstahl an

25

An diesem Tag wurden auch alle technischen Unterlagen in

"Bergkristall" in einem Elektroofen in Stollen Nr. 8 verbrannt.

Auch auf dem Marktplatz von St. Georgen loderte ein Feuer in

welchem sensible Unterlagen verbrannt wurden. 26

Die DEST-Werkgruppe versuchte dort ab Anfang 1944 einen

Marmorsteinbruch aufzubauen. Auch der Kommandant des

Konzentrationslagers Mauthausen, SS-Standartenführer Franz

Ziereis setzte sich nach Spital am Pyhrn ab. Wurde dort aber ausgeforscht und nach Gusen gebracht, wo er nach Verhören

durch das Central Intelligence Corps (CIC) verstarb. 27

Noch heute erinnern sich einige St. Georgener an die

unzähligen Schreib- und Rechenmaschinen, die sich nach

Kriegsende in der DEST-Werkgruppenleitung in St. Georgen

befanden.

Beutegut umlegen!"28

Er guckte saublöd! Ich ging weiter. Die beginnende Auflösung! Am 5. Mai noch kam plötzlich ein unbestimmtes Gerücht auf, alle zur Waffen-SS einberufenen Angehörigen unserer Dienststelle sollten zur Truppe kommandiert werden, die schon vom Wachdienst im Lager durch Wiener Feuerschutz-Polizei abgelöst worden war und sich selber wohl auf dem Wege zur nahen Front befand. Ich gab nichts auf dieses Gerücht, denn ich konnte mir nicht denken, daß man uns, die meisten nur mit sehr dürftiger infanteristischer Ausbildung und nur mit Handwaffen ausgerüstet, gegen einen Feind einsetzen könnte, der über alles verfügte.

29 Es kam dann auch der

Befehl, wir hätten den Schutz der Siedlung zu übernehmen, was wir an sich schon taten. Am Abend übernahmen die Kameraden meine Wache mit und ich ging zur Schihütte hinauf.

US-Amerikanische Soldaten am 5. Mai 1945 vor den Toren "Bergkristalls".

Die Nacht zum 6. Mai war ruhig. Nur frühmorgens versuchte jemand in unsere verrammelte Hütte hineinzukommen, ging dann aber weiter, ehe wir feststellen konnten, wer es war. Ich ging mit Liesel nach St. Georgen hinunter, wo ziemliche Aufregung herrschte. Amerikanische Panzer sollten schon in St. Georgen sein, dann hieß es wieder, nein, in

28

In weiterer Folge etablierte sich eine Art Tauschhandel in der

Region. Befreite Häftlinge brachten verwertbares Material aus

den ehemaligen Lagern und Lagerbetrieben zu den Bauern, um

es bei diesen gegen Lebensmittel "einzutauschen". 29

Tatsächlich wurde der Grossteil der SS-Gefolgschafts-

mitglieder der Kommandantur- und Führungsstäbe und der

Wachbataillone noch im Abwehrkampf eingesetzt. Selbst im Konzentrationslager Gusen wurden alle deutschen und

österreichischen Häftlinge noch für den Endkampf ausgebildet,

unter Waffen gesetzt und ausserhalb der Lager eingesetzt.

Der Zusammenbruch 1945 - Wie wir ihn erlebten

6

Lungitz.30

Ich fuhr mit dem Fahrrad zum Gemeindehaus auf dem Hauptplatz. Dort waren keine Panzer, wohl aber viel Volk und aus allen Fenstern wehten weiße Flaggen. "Ich werde gebeten, in der Siedlung nicht schießen zu lassen. So ein Blödsinn! Einmal habe ich keinen Befehl dazu und zum anderen würde ich es nicht tun."

DEST-Werkküchenbaracke. Im Hintergrund ein Teil der DEST-Verwaltungsgebäude in St. Georgen.

So schrieb ich in mein Tagebuch. Ich muß dazu sagen, ich war schließlich im Dorfe bekannt. Irgend so ein Kerl, ich kannte ihn nicht, trat auf mich zu und sagte: "Bittschön, sein's so guet und lassen's nit schießen in der Siedlung!" Ich guckte den Mann nur traurig an, wies mit der rechten Hand nur auf die weißen Flaggen überall herum und sagte: "Der Krieg ist aus!", drehte mich um und ließ ihn stehen.

31 Jetzt geht es im Tagebuch weiter:

Während Liesel noch letzte Einkäufe macht, rollen die amerikanischen Panzer von Lungitz nach Ried, um das ganze Gebiet um Mauthausen einzuschließen. Dazu sage ich: Die Gauleitung hatte in einer vortrefflichen Organisation bis zu allerletzt sich bemüht, die Bevölkerung vor Schwierigkeiten und Härten durch die bevorstehende Feindbesetzung zu schützen. So bekamen wir für eine geraume Zeit Lebensmittel auf unsere Marken hin zugeteilt. Und zu diesem Zweck waren wir ja, Liesel und ich, nochmals unten in St. Georgen, um das einzukaufen, was uns zustand. Wieder das Tagebuch: Mittags wieder zur Hütte hinauf mit Fahrrad. Große Plackerei. Auf der Hütte Einrichtungsarbeiten. Ja, es war eine Plackerei, das vollbeladene Fahrrad den Berg hinauf zu schieben, ungefähr eine Stunde Marsch, um alles in die Hütte

30

Als erster amerikanischer Trupp erreichte Staff-Sergeant

Albert J. Kosiek mit 5 Panzerspähwagen und 23 Mann des 41st

Reconnaissance Squadron Mechanized aus Lungitz kommend in den Morgenstunden des 5. Mai 1945 St. Georgen. Kosiek ging

als der Befreier der Konzentrationslager Mauthausen und Gusen

in die Geschichte ein. Dieser Panzerspähtrupp stiess aber eher zufällig auf die SS-Infrastruktur im Raum St. Georgen-Gusen-

Mauthausen und überforderte in der Nacht vom 5. auf den

6. Mai 1945 das damals bei Gallneukirchen liegend CCB der 11th Armored Division durch mehr als 1000 ehemalige

Lagerwachen. Es dauerte bis zum 7. Mai 1945 bis "reguläre"

US-Truppen de facto die Macht in der Region übernahmen. Dies erklärt auch, warum noch am 6. Mai 1945 die von Grau

beschriebene Unsicherheit in der Bevölkerung herrschte.

Möglicherweise wurden diese ersten Spähtrupps von der breiteren Bevölkerung noch nicht wirklich wahrgenommen. 31

Diese Sorge der Bevölkerung war aber begründet, da vor

allem die aus dem ehemaligen Lagerpersonal gebildeten SS-Truppen überall in der Region lagen. Es kam z.B. bis zum 6. Mai

1945 noch zu vereinzelten Gefechten der Amerikaner mit diesen

SS-Truppen.

zu bringen. Und dann begannen wir uns einzurichten, da wir ja nicht wußten, wie lange Zeit wir wahrscheinlich in dieser dürftigen Unterkunft zubringen müßten. So hatten wir im Wald versteckt eine Art Latrine, also ein, Örtchen gebaut, dessen Grube so ausgehoben wurde, daß wir in einer Ecke davon alle Wertsachen, wie Schmuck usw., vergraben konnten, annehmend, daß man da so etwas wohl zuletzt suchen würde. Ich möchte hier noch von einem anderen Erlebnis berichten, das sich am 5. Mai zugetragen hatte, als ich Lebensmittel, die noch in unserer Werkküche lagerten, an Werksangehörige und auch an die Dorfbevölkerung verteilte, ziemlich große Mengen Margarine zum Beispiel. Jeder Familie wurde der Kopfzahl entsprechend in gerechter Weise die Zuteilung gemacht. Mit dieser Aktion wollten wir verhüten, daß plündernde Banden das wegnahmen, was uns zustand und helfen konnte.

Das Magazin der DEST lag zwischen der damaligen Werks-Schlosserei (heute Poschacher) und dem Steinbruch Gusen

gleich rechts der heutigen Strasse.

Als ich hernach ins Büro zurückkehrte, sagte mir Herr Luftmüller, unser Buchhaltungschef: "Herr Grau, eben hat Stein angerufen!" - "Stein?" fragte ich zurück. - "Ja, Stein, er sagte, bitte bestellen Sie Herrn Grau, daß ich ihm von Herzen dankbar bin für die anständige Behandlung, für all das, was er während des Krieges für mich und meine Kameraden getan hat, und ich wünsche ihm, er möge aus all den Schwierigkeiten, die jetzt entstehen, gesund und heil davonkommen. Richten Sie das bitte Herrn Grau aus!" Ich war baß erstaunt über diesen Anruf. und bedauerte, daß ich nicht selbst zugegen war. Stein war KZ-Häftling gewesen, nun befreit und erinnerte sich so, daß ich stets bemüht war, ihm, soweit angängig, zu helfen mit Medikamenten, manchmal sogar mit etwas Brot und vor allem mit einem menschlichen Mitgefühl. Dr. Stein, der seinen Titel in Paris an der Sorbonne erworben hatte, der Ex-Direktor von SHELL in Warschau gewesen war, zeigte sich trotz aller Bitternisse immer als Kamerad seinen Mitgefangenen gegenüber. Darum achtete ich ihn und hatte ihm die Leitung der Buchhaltung in unserem Werksmagazin

32 übertragen. Daß er sich

auf diese Weise meiner erinnerte, tat mir wohl. Ein ähnliches Geschehen gehört auch noch hier hin. Bei

32

Dieses befand sich in Gusen links der heutigen Poschacher-

bzw. Steinbruchstrasse auf Höhe der langgestreckten Halle der Firma Poschacher, welche damals als Werks-Schlosserei bzw.

als Lehrlingshalle der DEST für jugendliche Häftlinge diente. Es

diente auch zur Versorgung der Betriebe im Wienergraben.

Alfred Grau - Rudolf A. Haunschmied

7

unserem Werkmeister Tönnings33

in der Wohnung lag ein Häftlingsarzt, Belgier, hatte Lungen-entzündung und wurde von Tönnings und seiner Frau gepflegt. Dieser Arzt erzählte mir, daß befreite Häftlinge den Obersturmführer Brauner

34

erschossen hätten, Lungenschuss! Er hätte Brauner verbunden und konnte ihn angeblich in ein amerikanisches Feldlazarett einliefern. Seinen Bericht schloß der schwer atmende Mann mit den Worten: "Trotz der Jahre im Lager sage ich Ihnen, was jetzt hier geschieht, hat das deutsche Volk nicht verdient. Sobald ich nach Belgien zurückkomme, werde ich meine Stimme erheben gegen diese Missetaten. Und ich habe gute Verbindungen zu Presse und Rundfunk!" Ich sah den Mann dankbar und nachdenklich an und verließ ihn. Ob man ihn wohl je zu Worte kommen läßt?... Immerhin, auch hier zeigte sich wieder, und sei es auch nur im Einzelfall, wie weit und wie wohltuend menschliches Verständnis und helfende Güte wirken kann.

Der DEST-Luftschutzkeller in St. Georgen heute.

Nun komme ich wieder auf die Tagebuch-eintragungen vom Sonntag, dem 7. Mai 1945 zurück, wo es heißt: "Wir vergraben Lebensmittel, da angeblich die Amerikaner gestern nachmittag St. Georgen besetzten und die Häftlinge freigelassen wurden.

35 Manni Schmidt

36 geht nach St. Georgen

33

Werkmeister Karl Tönnings lebte ebenfalls seit 1941 mit

seiner Familie in St. Georgen. Er leitete die Schlossereibetriebe

der DEST-Werkgruppe St. Georgen. Familie Tönnings bewohnte

eine 60 m2 grosse Wohnung und versuchte 1960 im Wege des Konsulates der BRD etwas über den Verbleib ihres Hausrates zu

erfahren. 34

SS-Obersturmführer Ing. Brauner war Werkleiter des DEST-

Betriebsabteilung III (Bergkristall) und dort vor allem auch für "Sonderaufgaben" zuständig. Brauner wurde dafür im Herbst

1944 von der DEST-Hauptverwaltung in Berlin zur DEST-

Werkgruppe nach St. Georgen versetzt. Brauner hat sich in seiner Verantwortung immer wieder auch für eine bessere

Verpflegung der dort beschäftigten Häftlinge eingesetzt und

dafür auch grosse Schwierigkeiten mit der KZ-Lagerverwaltung bekommen, die ihm den Vorwurf der Häftlingsbegünstigung

machte. Verteidiger Dr. Fröschmann suchte Werkleiter Brauner

noch im April 1947 in St. Georgen für ein Gerichtsverfahren in Nürnberg. 35

Von einer geordneten Freilassung kann keine Rede sein. Die

Amerikaner stiessen eher zufällig auf die damals mit etwa 40.000 KZ-Häftlingen belegten Konzentrationslager Gusen I, II,

III und Mauthausen und waren in keinster Weise darauf

vorbereitet. Die Folge war ein unbeschreibliches Chaos, welches in Gusen zu Lynchjustiz und das wilde Flüchten der Häftlinge

aus den Konzentrationslagern führte. Nationale

Häftlingskomitees versuchten die Lage einigermassen zu

hinunter und kommt abends mit der Nachricht zurück, daß unsere Wohnung geplündert wurde. Nacht ruhig. Hierzu meine Ergänzung: Ich erinnere mich noch sehr gut an diesen Sonntag. Wir hatten alle Lebensmittel, die uns nicht als für die nächsten Tage nötig erschienen, vergraben, da man ja nie wußte, ob nicht plötzlich aus dem angrenzenden Hochwald

37 Plündererbanden hervorbrechen

würden, um alles zu rauben. Die Mitteilung von Manni, daß unsere Wohnung geplündert wurde, erschreckte uns nicht sonderlich; wir hatten es erwartet. Die ruhig verbrachte Nacht leitet über zu dem traurigsten Tag jener Zeit, dem 8. Mai 1945, an dem an allen Fronten die Deutsche Wehrmacht kapitulierte

38. In mein Tagebuch hatte ich folgendes

stabilisieren. So illustrieren z.B. die folgenden Feststellungen

des Internationalen Befreiungskomitees von Mauthausen vom 6.

Mai 1945 über die nahegelegenen Lager von Gusen diese Situation drastisch: "Die Lage in Gusen wird als konfus

eingestuft. Die Amerikaner haben über Funk angeordnet, dass

alle Häftlinge in den Lagern bleiben müssten. Es wurde

beschlossen, eine aus einem Russen, einem Tschechen und

einem Polen bestehende Delegation nach Gusen zu entsenden,

um die Gusen betreffenden Fragen vor Ort zu klären. 400 bis 800 SS-Männer sind unter dem Kommando von Bukmayer von

Mauthausen [wohl Schutzhaftlagerführer Bachmayer] in der grossen Donauschleife. Eine Gruppe Gefangener ist unterwegs

um sie zu bekämpfen." Die aus Gusen zurückgekehrten

Delegierten berichten noch am selben Tag um 16:00 Uhr in der 3. Sitzung des Internationalen Befreiungskomitees: "In Gusen ist

beim Näherkommen der Amerikaner ein richtiger Aufstand

ausgebrochen. Die Häftlinge wurden von der SS versammelt, um in die Bunker zu gehen, wo die Lagerleitung beabsichtigte, sie

zu vergasen [richtig: In den bereits vorher abgemauerten

"Kellerbau"-Stollen zu sprengen]. Die Häftlinge weigerten sich den Befehlen Folge zu leisten. Ein Kampf zwischen Leben und

Tod brach zwischen diesen und den kriminellen Häftlingen aus.

Viele Häftlinge wurden von den Blockführern [wohl Blockältesten] (grünes Dreieck) oder diensthabende SS mit Hilfe

der Maschinengewehre der diensthabenden SS getötet. Die

Häftlinge gingen alsdann zum Gegenangriff vor. Das

Küchenpersonal, die Lagerleitung, die Blockführer und die

Büroangestellten wurden getötet. Der polnische Delegierte teilte

auch mit, dass in Gusen ein polnischer, provisorischer Ausschuss gebildet worden sei, da die Polen am zahlreichsten dort

verblieben seien. Man kann behaupten, dass das Lager Gusen

aufgelöst sei. Alles im Lager ist geplündert. So sind in den Speichern von 250.000 Tonnen Kartoffeln nur noch 1 Tonne

vorhanden. Im Lager Gusen, das grösser als das von Mauthausen

sei, seien gestern noch 21.000 Mann beim Appell erschienen, heute hingegen einmal 1500 und ein anderes mal 3000 Mann.

Die anderen würden in der Umgebung herumstreichen. Die Lage

sei unhaltbar. Nach der schlechten Behandlung, die die Häftlinge erlitten hätten, wäre es nicht weiter verwunderlich, dass sie

wahre Banditen geworden seien. Zur Zeit würden viele von

ihnen bewaffnet auf Linz zumarschieren, wo sie alles ausplündern ... Der tschechische Delegierte sagte u.a., dass der

einzige Ort in Gusen, an dem die Ordnung aufrechterhalten

werden konnte, das Revier sei. Der deutsche Delegierte erklärte, Gusen sei ebenso eine Katastrophe für die Häftlinge als auch für

die Bevölkerung. Wir müssen alles, was wir können für Gusen

tun. Wir befinden uns in einem armen, mittellosen Land ohne

Hilfe der Amerikaner. Es hiesse kein Geheimnis zu verraten,

wenn man sage, dass unser Komitee seit mehr als 3 Monaten

arbeite, um Massnahmen zu treffen, Mauthausen vor dem Schicksal von Gusen zu bewahren. Wir haben 600 Mann

militärisch vorbereitet, um unseren Schutz sicher zu stellen. Wir

haben nur einen einzigen Fehler gemacht, zu glauben, dass die Amerikaner alles tun würden [um uns zu helfen]". 36

Oskar Schmidts Ehefrau Marianne. 37

Den Wäldern des Hohensteins. 38

Noch bis zum 7. Mai 1945 kam es im Unteren Mühlviertel zu

vereinzelten Gefechten zwischen SS-Truppen und der 11. U.S.-

Panzerdivision. Die 3. SS-Panzerdivision legte z.B. ihre Waffen

im Raum Königswiesen gar erst am 9. Mai 1945 nach der

Der Zusammenbruch 1945 - Wie wir ihn erlebten

8

geschrieben: "Früh morgens hinunter nach St. Georgen. Wohnung ist geplündert. Es fehlen Geige, sämtliche Kleidungsstücke und sonstige Sachen. Im Luftschutzkeller

39 wurden sämtliche Kisten

erbrochen und der Inhalt, unsere Wintersachen, mein blauer Anzug, Wintermantel, Überzugsmantel, Unterwäsche, Schuhe, unsere schöne Uhr im hellen Birkenholzgehäuse, alles gestohlen. Der Rest der Wäsche im Keller mitten zwischen Häftlingslumpen zerstreut und in den Schmutz getreten, ebenso all meine vielen Fotos aus Spanien, Argentinien, usw. Es sieht verheerend aus. Im Hauskeller das gleiche Bild. Alles erbrochen und, soweit nicht gestohlen, zerschlagen und vernichtet. Zum Beispiel unsere schöne ERNEMANN-Kamera, sinnlos zerschlagen, das Objektiv am Boden zertreten. Über den Rest, der wohl nicht mehr weggeschleppt werden konnte, in viehischer Weise das letzte Eingemachte vom Garten; Heidelbeeren; Erdbeeren, Fruchtsaft, Bohnen usw. entleert, endlich noch draufgeschi... und gese... Ein ekelhaftes Bild! Porzellan und Gläser in einer besonderen Kiste scheint noch einigermaßen erhalten zu sein, soweit von außen ersichtlich ist. Mit Tönnings Hilfe Türen wieder verschlossen, nachdem ich das, was ich in dem Durcheinander noch als brauchbar ansah, aufgesammelt und in die alte Maiskiste von Argentinien hineingestopft hatte, hauptsächlich meine Fotos und Ahnenpapiere. Dann alles auf den Hausboden gestellt. Wohnungstüren wieder provisorisch verschlossen und wieder hinauf zur Hütte.

Die DEST-Werkgruppenleitung und die sog. "Führersiedlung" sollten die Keimzelle für einen nach Kriegsende zu errichtenden neuen Ortsteil von St.

Georgen bilden.

Ergänzung zu dieser traurigen Tagebuch-Epistel erübrigt sich, ich erwähne nur noch, daß ich einige spanische Häftlinge traf und sprach, ihnen ein paar spanische Bücher schenkte und sie bat, doch etwas auf unsere Wohnung aufzupassen, was auch versprochen wurde. Doch auch diese Vorsorge wurde unwirksam, denn als ich am 9. Mai mit Liesel zusammen wieder hinunter kam nach St. Georgen, saßen die Amerikaner schon in unserer Wohnung. "Reserved - Off limits" stand an der Haustür. Ich

Unterzeichnung der Bedingungslosen Kapitulation durch

Grossadmiral Dönitz und Generalfeldmarschall Keitel nieder. 39

Der Luftschutzkeller der DEST-Werkgruppe St. Georgen

befindet sich noch heute unweit der ehemaligen DEST-

Verwaltungs- und Wohngebäude in den Abhängen des "Scheitlberger"-Waldes. Die Gebäude der DEST-Werkgruppe

St. Georgen waren ebenfalls mit luftschutztauglichen Kellern

ausgestattet.

ging trotzdem hinein. Schon auf der Treppe höre ich oben ein Geräusch, sehe eine uniformierte Amerikanerin, die bei meinem Anblick zu schreien anfängt. Es erscheint ein Offizier, ein Major, den ich bitte, mir zu erlauben, in meiner Wohnung nur ein Bild von meinem toten Sohn von der Wand zu nehmen. Die Antwort: "Here remains all unchanged! Turn out immediately!" ["Hier bleibt alles unverändert! Raus!"] Und ich wollte doch nur das schöne über den Raster kopierte Bild von unserem Dieter

40 haben! Bevor wir uns nun aber anschickten,

zur Hütte zurückzugehen, wollte ich aber noch einmal in unserem Garten nachsehen, was da wohl vor sich gegangen wäre. Unser Garten lag von unserer Wohnung etwa 200 Meter entfernt am Waldrand. Als wir hinkamen, fanden wir dort freigewordene Kriegsgefangene, und zwar Russen, vor. Sie kamen mir sogar entgegen, taten noch immer etwas unterwürfig und sagten, sie hätten sich hier einquartiert. Ich sagte: "Es ist gut!" Und dann auf mein angebautes Gemüse schauend, das zum Teil schon geerntet werden konnte, sagte ich ihnen noch: "Selbstverständlich von all dem, was ihr hier findet, könnt Ihr nehmen, und sonst wird man euch irgendwo bei den Bauern zu essen geben." Die Leute waren sehr vernünftig. Doch dann bemerkte ich plötzlich auf dem Spielplatz der Kinder, unter der Schaukel, ein kleines hölzernes Kreuz. Und ich sagte zu dem einen, der am besten deutsch sprach: "Was bedeutet dieses Kreuz?" Er antwortete: "Oh, armes Kamerad italienisches, zuviel gefressen, verreckt in Hitte!"

41 Also ein italienischer

Gefangener, der wahrscheinlich nach der knappen Lagerkost der letzten Monate plötzlich soviel Speck und Fett gegessen hatte, daß er daran zugrunde ging, und zwar in unserer Laube starb, in der Schmidts und unsere Sachen vergraben lagen. Der Russe sagte weiter: "Haben ihn vergraben!" - Ich fragte, ob sie ihn tief genug eingegraben hätten. - "Oh ja, ein Meter!" war die Antwort. Ich sagte nur: "Gut!" und ging dann weg. Das war das letzte Mal, daß wir unseren mit soviel Liebe und Fleiß angelegten Garten sahen! Nun komme ich wieder auf das Tagebuch zurück, was dort unter dem 10. Mai 1945 eingeschrieben ist: "Auf der Hütte geblieben. Aufgeräumt und immer noch eingerichtet. Wer weiß, wie lange nun, nachdem die Amerikaner in unserer Wohnung sitzen? Angeblich ja nur für drei Tage. - Den Nachmittag über bis in den Abend die Kämpfe bei Enns beobachtet. Starker Nebelwerfereinsatz." Hier wäre zu bemerken: Am 8. Mai hatte die deutsche Wehrmacht kapituliert und am 10. Mai hatten wir noch zwischen Wels und Enns starken Nebelwerfereinsatz beobachten können. Unter dem 11. Mai 1945 schrieb ich in mein Tagebuch: "Manni Schmidt kam aus St. Georgen mit der Nachricht zurück, daß man verschiedene Angehörige der Firma geholt habe, ins Lager überführt, mißhandelt, totgeschlagen, ja, daß man

40

Sohn Dieter Grau wurde 1934 in Buenos Aires geboren und

verstarb als Kind im Jahre 1941 in Karlsruhe an Gehirnhautentzündung etwa zu der Zeit, als Familie Grau nach

St. Georgen übersiedelte. 41

Dieses Schicksal ereilte unzählige der extrem unterernährten

Häftlinge der ehemaligen KL Gusen, als diese nach deren

Befreiung insbesondere auf die Reste der durch die DEST in St.

Georgen eingelagerten Lebensmittel stiessen.

Alfred Grau - Rudolf A. Haunschmied

9

die Frauen der Opfer noch zum Einschaufeln der Leichen gezwungen habe, usw. angeblich würde man auch mich suchen.

42 Dazu: Derartige Gerüchte

waren uns schon tags zuvor ans Ohr gedrungen. So hatte ich ziemlich positiv von Zwarg - das war unser Einkaufschef - und von Häusler - dem Betreuer unserer Behelfssiedlung

43 - gehört, daß man schon

am 10. Mai den Oberscharführer Schmitt suchte. Schmitt war nach Auflösung der Truppe in der Nacht zur Hütte gekommen, in Zivil, weil seine Frau und sein vier Monate altes Töchterchen bei uns waren. Frau Schmitt, geborene L., war jahrelang meine Sekretärin gewesen. Ich muß da einflechten: Schmitt hatte den Westfeldzug mitgemacht gegen Frankreich, dabei einen Kopfschuß bekommen und litt seitdem an Gleichgewichtsstörungen. Und aus diesem Grunde wurde er abkommandiert zur Wachmannschaft des Konzentrationslagers, sehr zu seinem Leidwesen. Er war ein grundanständiger Mann.

Ehemalige DEST-Mitarbeiter beim ziehen eines Leichenwagens um den11. Mai 1945 in Gusen. Links der ehemalige Leiter der

Steinmetzabteilung Josef Latzel.

Ich wußte sofort, daß sein Auftauchen bei uns als Angehöriger der Wachmannschaft des Lagers für uns verhängnisvoll werden könnte. Auch er war sich dessen bewußt. Als am Abend des 10. Mai schon alle in der Hütte schliefen, saß ich mit ihm noch am Waldrand. Wir blickten hinüber zu dem Feuerzauber der Kämpfe bei Enns, sahen den langen Feuerbahnen der Nebelwerfer nach, lauschten den

42

Häftlingskommandos durchstreiften tagelang die Region um

in den Häusern nach ehemaligen Gefolgschaftsmitgliedern von

SS und DEST zu suchen. So kam z.B. im Mai 1945 auch der aus Langenstein stammende Spreng- und Bruchmeister der DEST,

Georg Wödlinger, ums Leben, nach dem dieser im Bunker des

ehemaligen KL Gusen I derart harte Schläge auf den Kopf bekommen hatte, dass er wenige Tage darauf in dem neben der

Pfarrkirche von St. Georgen als Verlies benutzten Erdkeller in

den Armen eines Kollegen verstarb. Am 8. Mai 1945 mussten derart Gefangene ehemalige Gefolgschaftsmitglieder auch mit

Mitgliedern der regionalen NSDAP-Ortsgruppen die hunderten

in Gusen herumliegenden toten Häftlinge unter Schüssen in Massengräbern bestatten. Die gesamte Bevölkerung von

St. Georgen (darunter auch viele Kinder) wurde dazu von den

Amerikanern nach Gusen getrieben, um dort diese Massen-bestattungen mit anzusehen. 43

Diese befand sich unter der Tarnbezeichnung "Esche"

hauptsächlich im Bereich Weingraben und im Bereich des Selnerbaches bei Knierübl und diente zur Beherbergung der

dienstverpflichteten zivilen Facharbeiter für Errichtung und

Betrieb von "Bergkristall" (Ba III).

dumpfen Detonationen, warfen ab und zu einen Blick zu dem hell-geröteten Himmel in Richtung Gusen, wo das ganze Lager zu brennen schien

44.

Es war ein unheimliches Bild. Dabei wußten wir unsere Lieben, wenige Schritte von uns, in der Hütte friedlich schlafend auf den roh gezimmerten Pritschen, wenigstens wohl die Kinder, denn die Frauen, sie fanden wohl auch kaum Ruhe. Wir besprachen dann noch, ob es wohl richtig gewesen war, die Waffen zu vergraben, konnten wir doch nicht wissen, ob nicht plötzlich aus dem angrenzenden Hochwald hinter uns oder aus der Tannenschonung seitlich ein Haufen entlassener Häftlinge oder sonstiger Gefangener hervorbrechen konnte und uns dann ganz wehrlos finden. Meine gute finnische Mpi mit 400 Schuß lag unter einem überhängenden Fels vergraben, sorgfältig eingewickelt in unsere alte Kinderdecke mit den Micky-Maus-Figuren von drüben noch. Ebenso waren im Wald die Pistolen vergraben. Nur die drei Eierhandgranaten, die hatten wir noch in der Hütte in eine Blechbüchse gesteckt und unter dem Tisch im Stampfboden vergraben als letzte Verteidigungsmöglichkeit. Ich sagte dann im Laufe des Abends Schmitt auch, daß er angeblich gesucht würde. Er schwieg lange. Dann sagte er: "Ich gehe im Morgengrauen fort. Ich kann euch nicht alle kompromittieren, schon der Frauen und Kinder wegen." Wir besprachen dann noch die Einzelheiten. Dann kamen wir noch in ein ziemlich deprimierendes Gespräch über den Ausgang des Ganzen und seinen so furchtbaren Folgen. Ich erinnere mich, ich fragte Schmitt auch noch, ob er jemals etwas von den angeblichen Vergasungsanlagen für Häftlinge im Lager gesehen hätte, von denen jetzt so viel geredet wird. Er antwortete: "Im Lager Gusen gab es so etwas bestimmt nicht, denn da kannte ich jeden Winkel.

45

Und ich glaube auch nicht, daß es so etwas in Mauthausen gab. Wenigstens ich habe nie etwas derartiges gesehen noch davon gehört." Er gab mir dann noch die Hälfte von einem Höllensteinstift, damit ich mir die Blutgruppentätowierung unter dem Arm entfernen könne. Dann legten wir uns nieder. Lange hörte ich noch ihn und seine Frau gedämpft miteinander sprechen. Und beim Morgengrauen erklärten sie uns, daß sie beschlossen hätten gemeinsam aufzubrechen. Wie konnten wir ahnen, als wir uns die Hände schüttelten, daß Schmitt schon wenige Stunden später halb tot geschlagen und dann erschossen wurde?!

46 Doch darüber

berichte ich noch an anderer Stelle.

44

Tatsache ist, dass das KL Gusen II auf jeden Fall vor dem 17.

Mai 1945 von den Amerikanern niedergebrannt wurde, um der

von diesem Lager ausgehenden Seuchengefahr Herr zu werden.

Es ist daher plausibel dass diese Tagebuchnotiz auf das

ansonsten bis jetzt nicht überlieferte Datum des Niederbrennens

des Lagers Gusen II durch die Amerikaner schliessen lässt. 45

Die Frage ist hier, ob SS-OScha Schmitt Angehöriger des

Wachsturmbannes oder des Kommandanturstabes war, denn die tausenden Angehörigen des Wachsturmbannes durften

normalerweise das Schutzhaftlager nicht betreten. 46

Es lagen damals in den Gemeindegebieten von Langenstein,

St. Georgen/Gusen und Luftenberg unzählige Leichen von

Malträdierten herum. Diese wurden teilweise erst im September

und Oktober 1945 in stark verwestem Zustand aufgefunden und in der Regel an Ort und Stelle verscharrt. Ein Teil dieser wilden

"KZ"-Gräber wurde im November 1949 aus sanitätspolizeilichen

Gründen exhumiert.

Der Zusammenbruch 1945 - Wie wir ihn erlebten

10

Nachdem Schmitts uns am Morgen des 11. Mai verlassen hatten, trug sich folgendes zu: Als ich, es war noch dämmrig, aus der Hütte trat, sah ich, wie im Hochwald, dicht am Bergkamm, ein Mann und zwei Frauen, schwer bepackt, vorbeieilten in Richtung Pulgarn. Wie Flüchtige! Mein Anruf ließ sie nur schneller laufen. Ossi kam aus der Hütte und wir besprachen noch das eigenartig anmutende Geschehen, als wir ein Knacken von Zweigen vernahmen. Es kam aus dem Waldstück, das sich talblickend rechterhand von der Hütte hinunterzog. Vorsichtig lugten wir herunter. Deutsche Soldaten kamen dann zum Vorschein, ohne Waffen. Als sie unserer ansichtig wurden, stutzten sie erst und kamen dann näher. Es waren Angehörige der Linzer FLAK. Sie erzählten uns, dass sie vom Pöstlingberg herunter, aus ihrer Stellung heraus, die letzten Granaten auf die anrollenden amerikanischen Panzer verschossen, dann ihre Geschütze gesprengt und sich selber abgesetzt hätten. Dabei wiesen sie einen mit der Maschine geschriebenen Entlassungsschein ihrer Einheit vor, daß sie mit Wirkung vom - ich glaube, es war der 4. Mai - aus dem deutschen Heeresverband entlassen seien. Sie trachteten nun danach, ohne den Amerikanern in die Hände zu fallen, durch die Berge heimzugelangen. Wir wiesen ihnen noch den Weg und wünschten ihnen glückliche Heimkehr.

Die brennenden Baracken der 26. und 27. Kompanie im sog. "Truppenbereich" des KL Gusen II (wohl am 10. Mai 1945)

Was ich nun erzählen will, ich weiß nicht mehr genau, ob es sich an diesem sonnigen Morgen oder an einem der vorhergehenden Tage zutrug. Ich will es aber berichten, weil es bezeichnend ist für das Gesamtgeschehen jener Zeit. Den Berg hinauf, vorsichtig im Walde streifend, kamen einige SS-Männer noch in Mänteln; das Hoheitszeichen auf dem linken Ärmel und auf der Feldmütze abgetrennt, zur Hütte. Sie fragten zunächst, ob wir in der Nähe Amerikaner gesehen hätten. Erst nachdem wir verneint hatten, erzählten sie uns, daß sie zur Wachmannschaft der auf den Hermann-Göring-Werken, Hütte Linz, arbeitenden KZ-Häftlinge gehört hatten und daß sie die letzten ihrer Einheit

47 seien. Alle anderen hätten die Amerikaner

nach Befreiung der Häftlinge kurzerhand erschossen. Sie konnten entwischen und baten nun dringend um Zivilkleidung, da sie ja auch ihr Leben retten möchten, der Amerikaner aber jeden SS-Mann umlegt, dessen er habhaft wird. Außer dem,

47

Vermutlich Angehörige der 7. und 11. Kompanie des SS-

Wachsturmbannes Mauthausen (7./SS-T.Stuba KLM Linz III

und 11./SS-T.Stuba KLM Linz III)

was wir auf dem Leibe trugen, hatten wir ja auf der Hütte kaum noch Männersachen. Ich kletterte noch auf den Dachboden, um von dort einen blauen Monteuranzug zu holen, fand ihn aber nicht gleich, und die Männer, die sahen, daß wir auch arme Flüchtlinge waren, zogen weiter. Es waren Volksdeutsche aus der Batschka, die, wie alle Volksdeutschen, zur Waffen-SS eingezogen waren. - Heute noch tut es mir weh, daß ich nicht einfach meine Knickerbockerhose und die alte Jacke ausgezogen habe, um sie ihnen zu geben. Ich hätte mir aus unseren alten Sachen beim Bauern unten wieder etwas holen können. Die anderen Sachen waren ja auch schon alle gestohlen worden. Doch immer noch sehe ich den ängstlich-irren Blick der Männer vor mir, die nicht so wie ihre Kameraden von den Amis abgeknallt werden wollten. All diese Umstände wirkten niederdrückend. Wir mußten doch damit rechnen, daß jeden Augenblick aus dem Wald heraus oder aus dem Tale kommend entweder amerikanische Truppen oder befreite KZ-ler oder sonstige Plündererbanden von den Kriegsgefangenen oder Ostarbeitern auftauchten, uns das Wenige, unsere letzten Wert- und sonstige Sachen wegnahmen, sich sogar vielleicht an den Frauen vergriffen und uns zum Schluß noch fertigmachten. Wenngleich ich in Zivil war, so war es, dessen war ich mir bewußt, dennoch nicht ungefährlich, irgendeiner dieser Banden in die Hände zu fallen, denn ich hatte mittlerweile begonnen, mit dem mir von Schmitt vermachten Höllensteinstift die Blutgruppentätowierung unter meinem linken Oberarm zu beseitigen aber bisher nichts weiter als eine große schwarze Brandstelle erreicht. Und wenn man diese finden würde, dann würde es wahrscheinlich brenzlig werden. Zunächst beschlossen wir drum, die in der Hütte vergrabenen drei Handgranaten herauszuholen und im Wald zu verscharren. Dann gingen wir nochmals all unser Gepäck und unsere Papiere durch auf irgend etwas, was verräterisch werden konnte. Zu unserem Entsetzen fanden wir in den von Schmitt zurückgelassenen Sachen unter anderem 3000 Zlotys. Wie Schmitt zu dem Geld gekommen war wußten wir nicht. Zunächst versteckten wir es in der Hütte so, daß es nicht so leicht zu finden war. Dann flog mein Kriegsverdienstkreuz in den Busch. Die Verleihungsurkunde dazu, von Obergruppenführer Pohl

48 unterschrieben, wurde verbrannt. Auch sonst

48

Ministerialdirektor SS-Obergruppenführer Oswald Pohl war

die rechte Hand von RFSS Heinrich Himmler und als Chef des

SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes (WVHA) in Berlin

ab 1942 Mastermind für den "wirtschaftlichen" Erfolg der unzähligen SS-Unternehmungen, die vor allem im Umfeld von

Konzentrationslagern aufgebaut wurden. Pohl war nicht nur

einer der Gründerväter des Konzentrationslagerkomplexes Mauthausen/Gusen sondern auch oberster Chef der DEST-

Mitarbeiter. Einerseits vertrat Pohl als Gesellschafter zahlreicher

SS-Unternehmungen die SS als Gliederung der NSDAP und andererseits unterstanden die DEST-Werkgruppen wie z.B. auch

St. Georgen dem sog. "Amt W" in Pohl´s WVHA. Die

Gehaltserhöhung von Werkleiter Walther wurde z.B. im Jahre 1944 von Pohl höchstpersönlich genehmigt. Pohl wirkte auf

Weisung Himmlers und Görings ab 1944 auch federführend an

der sog. Untertageverlagerung der Rüstungsindustrie mit, die sich für die DEST-Werkgruppe St. Georgen in der Errichtung

der Stollenanlagen "Kellerbau" (in Gusen) und "Bergkristall" (in

St. Georgen) auswirkte. Die zentrale Stellung der DEST-Werkgruppe St. Georgen im Zusammenhang mit dem Aufbau

strategisch wichtiger Rüstungsindustrien in St. Georgen und

Gusen dürfte wohl auch der Grund für die Verleihung von

Alfred Grau - Rudolf A. Haunschmied

11

verschwand noch so manches. Dann setzten wir uns zusammen und beratschlagten. Wir kamen überein, nur mit dem Allernotwendigsten versehen uns auf den Weg zu machen um zu versuchen, ins Reich zu kommen, denn, das fühlten wir, hier im befreiten Österreich war unseres Bleibens nicht mehr länger. Um mit mir ins Reine zu kommen, war ich eine Zeitlang allein durch den Wald gestrichen, hatte mir selbst das Für und Wider des Fortgehens oder Bleibens vorgerechnet und war dann zu dem Entschluss gekommen, daß es, wenn ich, wenn wir, alle Energie, allen Willen, alle List und Entschlossenheit sowie auch alle letzte physische Kraft zusammennehmen würden, es gelingen müßte, mit Frau und Kindern heim ins Reich zu kommen, trotz allem, was uns wahrscheinlich dabei geschehen könnte. Zur Hütte zurückgekehrt, wurde der Entschluß in die Tat umgesetzt. Ein nochmaliges Sichten der schon so oft gesichteten letzten Sachen hob an. Bald lag alles in der engen Hütte durcheinander. Letzte Leibwäsche, Schuhe, Kleider, Strümpfe, Bücher, Fotos, kurz, ein tolles Durcheinander. Plötzlich stürzte Ossi in die Hütte hinein mit den Worten: "Zu spät, sie sind schon da!"

US-Amerikanische Truppen bei der Inspektion von Bergkristall.

Den Berg hinauf stiegen, im Halbkreis ausgeschwärmt, etwa 20 bis 30 amerikanische Soldaten, schwer bewaffnet, Gewehre und Mpi im Anschlag. Langsam stiegen sie, Schritt für Schritt, bergan. In meinem Hirn arbeitete es fieberhaft. Die 3000 Zlotys wurden aus dem Versteck im Gebälk geholt und wanderten ins Feuer des kleinen Ofens, der Gottseidank noch brannte. Die Frauen räumten notdürftig auf. Wir blieben aber alle ganz ruhig. Allen sagte ich: "Es spricht niemand, Ihr stellt euch dumm! Laßt mich allein antworten, was auch kommen mag!" Dann waren sie auf etwa 40 Schritt heran. Ich war, die Pfeife im Mund, Gerda an der Hand, aus der Tür getreten. Die Kinder schauten ganz verwundert diesem kriegerischen Tun der auf uns zukommenden Gewehre der Soldaten zu. Als nun die ersten so auf etwa 20 Schritte heran waren und ich sah, wie sehr sie keuchten vom Bergsteigen und dabei schwitzten, rief ich ihnen entgegen: "Hallo, it's rather too hot for such a morning excursion, no?" ["Hallo, es ist fast zu heiß für solch einen Morgen-Ausflug, oder?"] Keine Antwort! Ich ging wenige Schritte auf sie zu. Der Anführer des Haufens, ein Leutnant, schwenkte auf mich ein. Dicht vor mir stehend, rammte er mir plötzlich seinen Karabiner in die Magengrube und brüllte

Kriegsverdienstkreuzen an St. Georgener DEST-Manager

gewesen sein.

mich an: "Where are the weapons?" ["Wo sind die Waffen?"] Ich trat einen Schritt zurück und sagte: "Weapons? I have none!" ["Waffen? Ich habe keine"!] Wieder schrie er: "Where are the weapons?" Und fügt auf deutsch hinzu: "Waffen!" und hielt mir dann zur Abwechslung den Gewehrlauf an die Gurgel. In mir kochte es! Die Gedanken überschlugen sich. Sind dies Amerikaner? Sind dies Soldaten? Diese Laffen

49, die sich nicht scheuen,

einen wehrlosen Zivilisten in Gegenwart von Frauen und Kindern so zu behandeln! Ich faßte den Kerl mit den Augen, schaute durch ihn hindurch. Immer noch fühlte ich den kühlen Gewehrlauf am bloßen Hals. Da riß es mich und ich schrie ihn an: "Verdammt noch mal, ich habe euch gesagt, wir haben keine Waffen!" Und da er nicht zu verstehen schien, fügte ich noch hinzu: "I told you already, we do not have any weapons!" ["Ich sagte Ihnen schon, wir haben wirklich keine Waffen!"] Und ich sagte ferner: "Or do you really believe me to be such a price-idiot to start now a private war against you, now after all has been totally lost for us?" ["Oder halten Sie mich wirklich für solch einen Vollidioten, daß ich jetzt einen Privat-Krieg gegen euch beginnen könnte, jetzt, nachdem für uns alles völlig verloren ist?" Da ließ er endlich das Gewehr sinken. Ich trat einen Schritt zurück. Stand neben Ossi. Neben uns standen unsere Frauen. Bei ihnen die Kinder. Und um uns zwei Männer, zwei Frauen und vier Kinder bildeten die Amis einen Kreis. Gefangen! Ein bitteres Gefühl stieg in mir auf und ich machte gerade eine wegwerfende Handbewegung, da hörte ich plötzlich wieder deutsch sprechen: "Und Ihr hoabt`s doch Waffen! Der Eidenberger-Bauer [Name redaktionell geändert] hat sie eich raufgefahrn!" Ich fuhr herum. Da stand plötzlich zwischen den Amis ein Zivilist, eine vertrocknete, kleine Gestalt mit einem Geiergesicht darüber und eiferte wieder: "Doch habt's ihr Waffen! Der Eidenberger hat's ... "Wer sind Sie überhaupt?" fuhr ich den Kerl an: "Ich kenne Sie ja überhaupt nicht!" Ein hämisches Grinsen war zunächst die Antwort, dann zynisch-versteckt die Worte: "Aber ich Sie..." Mir stieg der Ekel hoch. Daß man solch einem Burschen nicht einfach die Faust ins Gesicht drücken durfte! Liesel sagte zu dem Kerl: "Gut, wenn Sie angeblich meinen Mann kennen, dann können Sie bestimmt nichts Schlechtes von ihm behaupten." Wieder ein breites, freches Grinsen. Ich riß mich mit Gewalt zusammen, wandte mich wieder an die Amis, die mit gespitzten Ohren wohl versucht hatten, unsere deutsche Auseinandersetzung zu verstehen, und ich sagte dem Anführer des Haufens so ruhig wie möglich: "All what this chap talks here is bloody nonsense! I am not crazy enough as a civilian to start tighting against a regular troop. This I told you already." ["Alles, was dieser Bursche daherredet, ist völliger Unsinn! Ich bin nicht verrückt genug, als Zivilist gegen eine reguläre Truppe kämpfen zu wollen. Das sagte ich Ihnen schon!"] Und auf die Hütte weisend fügte ich hinzu: "There we lived in these last days. Look for arms if you think to find some or look around here whereever you want. I repeat emphatically, we have none!" ["Da drinnen haben wir dieser Tage gelebt. Suchen Sie Waffen, wenn Sie denken, da wären welche, oder suchen Sie ringsherum, wo immer Sie meinen.

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Alberne Kerle oder Trottel.

Der Zusammenbruch 1945 - Wie wir ihn erlebten

12

Ich wiederhole nachdrücklich, wir haben keine!"] Dem Geiergesicht den Rücken zuwendend, versuchte ich ruhig, meine Pfeife wieder in Brand zu setzen. Der Ami-Häuptling war mit seinen Leuten der Hütte zugeschritten. Zuerst waren sie ja von dem Durcheinander darin verblüfft. Wir waren doch gerade beim Packen gewesen. Dann gingen sie an das Durchsuchen. Wir mußten vor der Hütte bleiben, konnten aber durch die geöffnete Tür einen Blick hineinwerfen, wo sie das Unterste zu oberst stülpten. Dann fanden sie in einem Sack mehrere tausend Zigaretten. Und schon kamen sie angestürmt: "Eh, what's that? You could buy cigarettes only for points. Where did you get these lots from?" [He, was ist das? Ihr konntet doch Zigaretten nur auf Marken kaufen. Wo kommen diese Mengen her?"] Ich mußte lächeln, dieser Eifer der Waffensucher! und dann erklärte ich ihnen, daß bei Auflösung unserer Werkskantine die Restbestände verteilt wurden.

Die ab 1950 als Hauptschule adaptierte DEST-Werkküchenkantine war seit Ende 1944 fest gemauert und wurde erst 2001 abgerissen.

Ungläubig, mißtrauisch suchten sie weiter und fanden für mehrere Wochen Lebensmittel. Jetzt war es aus: "For whom are these lots of food here?" ["Für wen sind diese Mengen Lebensmittel?" Drohend standen sie vor mir: "These foods are not only for you. How many people are you here? We are told here were always five men. Where are they?" ["Diese Lebensmittel sind nicht nur für euch. Wie viele Personen seid ihr hier? Man hat uns gesagt, hier wären immer 5 Männer. Wo sind diese?"] Und wieder rückten sie mir auf den Leib, als ich ihnen so ruhig ich konnte antwortete: "When occupation by american forces was to be expected, the Gauleiter ordered distribution of special rations for several weeks. There they are. We got same to pass over a certain time, probably without distribution of foods so not to starve!" ["Als die Besetzung durch amerikanische Streitkräfte zu erwarten war, ordnete der Gauleiter an, besondere Rationen Lebensmittel für mehrere Wochen zu verteilen. Da sind sie! Wir bekamen diese, um eine bestimmte Zeit zu überbrücken, die wahrscheinlich ohne eine Zuteilung sein würde, um nicht zu verhungern!"] Ich habe kaum geendet, da steht wieder der junge Kerl, der Leutnant, vor mir und zischt mich haßerfüllt an: "But you o u g h t starve, damned bloody jerry!" ["Aber ihr s o l l t e t verhungern, verfluchte blutige Deutsche!"] Ich konnte nicht anders. Abgestoßen von diesem Haßausbruch schlug ich die Augen nieder. Ich weiß nicht, vielleicht war mir auch alles Blut aus den Wangen gewichen. Wie ein Hammerschlag aufs Hirn war dies: "Ihr sollt ja verhungern, Ihr

verdammten blutigen Deutschen! Woher ein solcher Haß gegen uns? Bis dahin hatte ich noch nie über das Wort "psychological warfare" nachgedacht. Jetzt plötzlich brach ein furchtbares Ahnen durch: "Wir s o l l e n verrecken...?!" Und mit den Hunderttausenden bei den Flächen-bombardierungen gemordeten Frauen und Kindern schien es noch nicht genug zu sein! Doch ich fange mich wieder und ich spreche ganz langsam nun und sage, Wort für Wort betonend: "Oh, is that so? Then I understand all. An american officer dares to say to women and children, you o u g h t starve. Oh yes, I comprehend all now!" [Oh, ist das so? Jetzt verstehe ich alles. Ein amerikanischer Offizier wagt zu Frauen und Kindern zu sagen: Ihr s o l l t verhungern. Ohja, jetzt begreife ich alles!" Da hebt er die Faust. Will mich ins Gesicht schlagen, faucht: "Tell me immediately - where are the weapons?" ["Sag mir sofort, wo sind die Waffen?"] Ich schweige, blicke den Kerl nur unverwandt an, immer noch die Faust schräg vor meinem Gesicht. Da spüre ich, wie Liesel zu mir getreten ist, wie sie an meiner Seite steht. Ich werde ganz ruhig, wende mich ihr zu und, mit den Achseln zuckend, sage ich ihr: "Ja, so ist das nun! Man glaubt uns nicht! Was soll man da tun?" Und füge noch in englisch an in dem Sinne: "Seems to be the way to intimidate defenseless persons!" ["Scheint die Art zu sein wehrlose Personen einzuschüchtern!"] Und, Liesel will gerade zu sprechen anfangen, da läßt der Ami etwas verwirrt die Hand sinken und herrscht mich an: "Where did you learn english?" ["Wo haben Sie englisch gelernt?"] Ich antwortete: "That does not matter here. But if you want to know .... at school .... and in America!" ["Das spielt hier keine Rolle. Aber wenn Sie es wissen wollen ... in der Schule ....und in Amerika!"] "America?" echote er: "where there?" ["Amerika? Wo da?"] "In Argentina!" ["In Argentinien!"] sagte ich. Von einer wegwerfenden Geste begleitet schnarrte er: "That's n o t America!" ["Das ist nicht Amerika!"] Ich zuckte mit den Achseln und sagte: "Sorry, till now I reckoned Argentina as the southern part of America!" ["Tut mir leid, bis jetzt rechnete ich Argentinien zum südlichen Teil Amerikas!"] Der Kerl schaute etwas blöd-verlegen, dann belferte er los: "How will you prove your stay in Argentina?" ["Wie wollen Sie beweisen, daß sie in Argentinien waren?"] "By our papers!" ["Mit unseren Papieren!"] sagte ich, und auf Günter weisend, fügte ich hinzu: "Look at this boy, he is an Argentinian citizen, as well as his brother, for both were born in Buenos Aires!" ["Schauen Sie diesen Jungen an, er ist argentinischer Bürger ebenso wie sein Bruder, denn beide wurden in Buenos Aires geboren!"] Und dann zeigte ich ihm Günter's argentinischen Paß. Er nahm ihn, blätterte darin herum und rief dann aus seinen Leuten heraus einen Soldaten, angeblich Kubaner, ihn auffordernd festzustellen, ob dies ein echter argentinischer Paß sei. Der junge Kerl, etwas dunkelhäutig, mit einem kleinen Holzkreuz an feiner Kette am Hals, blätterte den ganzen Paß durch. Ich sagte ihm auf spanisch: "Fijese, aqui está la fecha de nuestro embarque en Buenos Aires!" ["Achten Sie darauf, hier ist das Datum unserer Einschiffung in Buenos Aires!"], aber er tat so, als ob er mich nicht verstünde, gab den Paß dem Leutnant zurück mit den Worten: "Passport O.K.!" ["Reisepaß in Ordnung!"] Ich hatte das Gefühl, daß der Offizier etwas deutsch verstand, vielleicht sogar Deutsch-

Alfred Grau - Rudolf A. Haunschmied

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Amerikaner war, drum sagte ich mehr zu mir selbst: "Wenn ich denke, daß mein eigener Sohn einmal Menschen seines eigenen Volkes so behandeln würde, wie es jetzt hier geschieht, ich weiß nicht.... "Shut up!" ["Halt`s Maul!"] unterbrach mich barsch der Leutnant und dann schwieg er. Und da sagte plötzlich einer seiner Leute, schien ein Sergeant oder so was zu sein: "I give you a good advice ... go on the road with your people!" ["Ich gebe Ihnen einen guten Rat.....machen Sie sich auf den Weg mit Ihren Leuten!"] Dies klang schon sanfter und hieß in Landserdeutsch: "Haut ab ... verschwindet von hier!" Doch ein "Permit" [eine Erlaubnis] dazu wollte oder konnte er uns nicht geben. Aber anscheinend hatte man sich nun von unserer Harmlosigkeit überzeugt, wenngleich, wohl um seine Autorität darzutun, der Leutnant losschnarrte: "Listen, we shall hear the farmer now who is said having brought the weapons up here. If this be so, you altogether, also women and children will be brought into the concentration camp!" ["Hören Sie zu, wir werden jetzt den Bauer befragen, der angeblich die Waffen hier heraufgebracht hat. Sollte dies stimmen, so kommt ihr allesamt, auch Frauen und Kinder, ins KZ!"] Und damit zogen sie ab. Und hintendrein, noch immer gestikulierend und redend, der Denunziant, ein, wie ich später erfuhr, übles Subjekt, von den Amis aus dem Zuchthaus befreit. Nach diesem Vorfall war uns klar, daß diese noch glimpflich abgelaufene Heimsuchung nicht die letzte sein würde. Uns blieb nur .... verschwinden in Richtung Heimat!

US-Amerikanischer Jeep vor dem in Gusen von den Amerikanern angelegten Lagerfriedhof.

Zunächst gingen wir nochmals zum PRAMMER-Bauern hinunter, etwa 300 Meter unterhalb der Hütte, um aus unseren dort versteckten Sachen einiges für den Marsch Notwendige zu holen und uns von den netten Leuten zu verabschieden. Der Bauer versprach uns noch, alles, was wir auf der Hütte zurücklassen müßten, am selben Nachmittag zu holen und zu verwahren. Als wir wieder zur Hütte hinaufkraxelten, sahen wir, daß aus dem Tal kommend sich ein amerikanischer Jeep hinaufwindet. Wollen die uns holen?? Also nichts wie fort! In aller Hast werden noch die zuletzt geholten Sachen verstaut und auf geht's! Da die Hüttentür vom Tal aus einzusehen ist, klettern wir alle, auch die Frauen und Kinder, durch das dem Hochwald zu gelegene Fenster und verschwinden. So gut es ging, eilten wir mit Sack und Pack und den Kinderwägen durch den Wald in Richtung Pulgarn. Der Weg war schlecht. Immer wieder mußten wir Bombentrichter umfahren. Plötzlich

hörten wir Motorengeräusch hinter uns. Es schien ein in niedrigen Gängen lärmend fahrender Jeep zu sein. Also weg vom Weg und hinein in die Tannenschonung! Am Boden liegend hörten wir, wie der Lärm immer näher und näher kam und lauter und lauter wurde, wohl weil sich der Jeep in einem Bombentrichter festgefahren hatte. In diesem Moment fing Gerda an zu schreien aus Angst vor all dem eigenartigen Geschehen, und ich mußte dem Kind den Mund zuhalten, damit es still blieb und uns nicht verriet. Wir waren der festen Überzeugung, das sind die Amerikaner, die uns holen wollen. Nach einer geraumen Zeit hatten sich die Amerikaner wohl wieder aus dem Bombentrichter herausgewühlt, wie aus dem sich allmählich entfernenden Motorengebrumm zu schließen war. Nach dem ersten Schreck setzten wir unseren Marsch fort, stellten aber bald fest, daß wir die Orientierung verloren hatten. Ich kletterte auf einen am Waldrand stehenden Baum, um einen besseren Überblick zu gewinnen auf das vor uns liegende bewaldete Tal. Es war das Tal vor dem Holzwinden geheißenen Höhenzug. Damit hatten wir wieder die Richtung und marschierten weiter. Bald stießen wir auf einen hier verstreut liegenden Bauernhof und, da der Abend nahte, baten wir den Bauer, in der Scheune übernachten zu dürfen. Er erlaubte es, setzte aber hinzu, daß auch er wie fast alle Bauernhöfe schon von Plündererbanden ausgeraubt wurde

50. Obwohl wir völlig erschöpft

waren - denn es ist nicht so einfach, mit zwei Kinderwägen, schwerem Rucksack und in jeder Hand noch einen Koffer durch die Berge auf und ab zu ziehen - wurde schnell noch etwas Eßbares aus dem Rucksack geholt. Dann verpackten Ossi und ich noch die Familien nach Wandervogelart ins Stroh - die Kinder hatten sogar ob des Ungewohnten ihren Spaß dabei, wenn die Strohhalme kitzelten - aber bald schliefen wir alle. Dennoch, von Zeit zu Zeit erwachten wir wieder, weil wir draußen Stimmen hörten und nicht wußten, ob nicht vielleicht im nächsten Augenblick jemand in die Scheune hereinkommen würde. Es geschah jedoch in dieser Nacht nichts. Am folgenden Tage, dem 12. Mai 1945, konnten wir erst am Nachmittag unseren Marsch fortsetzen. Es war recht beschwerlich, denn mit so viel Gepäck ist marschieren nicht so leicht, zumal im Gebirge. Mein Rucksack wog 32 Kilo, dazu noch in jeder Hand einen Koffer. Jede Frau hatte einen Rucksack, selbst die Kinder Ursel

51 und Günter trugen einen

Rucksack, und die Frauen mußten noch die Kinderwägen schieben. Dabei war eine dauernde helle Aufmerksamkeit nötig wegen der befreiten KZ-ler und Gefangenen, die plündernd herumstreunten. Doch schließlich stießen wir wieder auf einen Bauernhof, ganz einsam gelegen, wo uns ein Kriegsbeschädigter an Krücken empfing - der Bauer! Er sagte uns: "Grade vor einer halben Stunde bin ich völlig ausgeplündert worden. Kommt ruhig her, außer einigen Äpfeln kann ich euch nichts geben. Aber nun bin ich ja schon ausgeplündert worden und glaube nicht, daß heute nochmals welche kommen werden." Am nächsten Morgen

50

Ähnlich wie der Raum Langenstein, St. Georgen und

Luftenberg ist auch der Raum Steyregg den ganzen Mai hindurch von plündernden und mordenden Banden stark in

Mitleidenschaft gezogen worden. 51

Die damals 7-jährige Tochter der Familie Schmidt.

Der Zusammenbruch 1945 - Wie wir ihn erlebten

14

ging ich erst mal allein los in Richtung Steyregg um die Lage zu erkunden. Ich traf auf keine Banden. In Steyregg selbst sah ich viele entlassene Gefangene und KZ-Häftlinge auf der Straße. Ich ging dann zurück zu unserem Bauer bei Schölln und um 10 Uhr marschierten wir alle in dauernder Wachsamkeit Richtung Steyregg, kamen aber ungeschoren an und durchschritten den Ort - die Häuser waren fast alle ausgeplündert worden - sogar außerhalb der Ausgangszeit. Amerikaner auf dem Marktplatz kümmerten sich nicht um uns.

Der Reichsführer SS besuchte mehrmals auch die Betriebe der DEST-Werkgruppe St. Georgen in Gusen und Mauthausen.

Außerhalb Steyregg hielten wir einen Lastwagen an, der die Straße daherkam. Man wollte uns sogar mitnehmen. Wir sahen aber, daß er von Häftlingen gesteuert war, anscheinend Tschechen, die uns keinen guten Eindruck machten. Darauf verzichteten wir. Wir marschierten. Es war sehr heiß, für die frühe Jahreszeit schon unerträglich heiß. Alle hundert Meter etwa mußten wir das Gepäck absetzen und verschnaufen. Dann plötzlich, um eine Kurve kommend, sahen wir gefangene deutsche Soldaten auf einer Wiese hockend, von Amerikanern bewacht. Verschiedene amerikanische Lastwagen standen herum. Von Zeit zu Zeit kam wieder einer mit neu eingefangenen Soldaten und lieferte sie ab. Ich ging, Gerda und Hans-Reiner

52

an der Hand, auf einen Ami-Offizier zu und fragte höflich, ob wir nicht mit einem der in Richtung Linz leer zurückfahrenden Lastwagen mitfahren könnten, da für die Frauen und Kinder doch das Marschieren in der Hitze und mit dem Gepäck so beschwerlich wäre. Die Antwort war kurz und typisch "We have no Taxi business!" ["Wir haben kein Taxi-Geschäft!"] Also marschierten wir weiter, und da Ossi und ich, die wir am schwersten zu tragen hatten, die langsamere Gangart der Frauen mit den Kindern nicht einhalten konnten, ergab es sich, daß wir immer etwa 100 bis 150 Meter vor ihnen herzogen. Nach einer Kurve, direkt an der Donau, stießen wir wieder auf die Amerikaner, die von einem Lastwagen etwas abluden und in die Donau warfen. Sie winkten uns heran und wir sahen, daß sie Kisten mit deutscher MG-Munition abluden. Man deutete uns an, diese Arbeit zu übernehmen. Wir konnten uns nicht weigern, nahmen unsere Rucksäcke herunter und luden Munition ab, richtiger, warfen sie in die Donau. Die Herren stellten sich daneben. Inzwischen kamen um die Ecke herum unsere Frauen und Kinder, die baff erstaunt waren, was wir da taten und stehen

52

Der damals 4-jährige Sohn der Familie Schmidt.

blieben. Dies sehend, fragte mich einer der Amerikaner: "Your wife?" - "Yes!" sagte ich und er: "Oh, stop now! We shall find other people to dump this." ["Oh, halt! Lassen sie! Wir finden andere zum Abladen!"] So durften wir aufhören und es ergab sich sogar noch nach einer Weile des Plauderns, daß sie den Kindern Schokolade und Bonbons schenkten. Es gab also auch solche! Weiter ging es! Und endlich, endlich nach mühseligem Marsch gelangten wir gegen abend nach Plesching, kamen zum Meierhof, wo Herr H. seine Wohnung im Oberstock hatte. Doch er selbst war nicht da. Vor seinem Haus saß ein deutscher Verwundeter mit einer Krankenschwester. Wir sagten ihnen, daß wir von Herrn H. die Erlaubnis hätten in seiner Wohnung zu übernachten. Beide meinten daraufhin: "Tut das ruhig. Wir machen euch aber darauf aufmerksam, neben uns und unter uns hausen entlassene russische Gefangene. Raubüberfälle am hellen Tag sind hier an der Tagesordnung. Im Augenblick sind die Brüder nicht da, sondern auf Raubzug. Verkrümelt euch nach oben und verhaltet euch mäuschenstill. Denn wenn die etwas merken, kommen sie bestimmt zu euch rauf. Mit uns" - damit meinte er sich selbst und die Schwester - "haben sie sich jetzt schon abgefunden. Sie haben uns alles, was sie brauchen konnten, weggenommen." Wir verstanden die Warnung und gingen nach oben. Da so viele Schlafplätze nicht vorhanden waren, machten wir es uns, so gut es ging, auf dem Fußboden der Wohnung zum Schlafen bequem, nicht ohne den Kindern vorher eingeschärft zu haben, daß sie ja nicht herumtrampeln und sich ganz ruhig verhalten müßten. Ossi und ich, wir versuchten wach zu bleiben um zu horchen, ob und was geschieht, ob irgendwelche kommen. Gegen Mitternacht hörten wir Betrunkene grölend ins Haus kommen. Es ging noch eine Zeitlang das Getöse und Gebrüll weiter, dann trat Ruhe ein; die Besoffenen schliefen. Glücklicherweise schliefen sie in den nächsten Tag hinein, so daß Ossi und Manni sich erst mal auf den Weg machten nach Heilham, um zu sehen, ob sie dort Quartier fänden. Sie kamen gegen Mittag wieder und wir gingen sofort los. Die Russen schliefen noch immer ihren Rausch aus. Der Weg war nicht weit und die Unterkunft war in einer großen Scheune, in der auch Häftlinge nächtigten. Wir richteten uns so gut es ging ein. Als der Abend nahte, fanden sich immer mehr und mehr befreite KZ-ler ein. Den Frauen erschien dies unheimlich. Zur Beruhigung holten wir uns, Ossi und ich, jeder von den Wagen auf dem Hof einen Ortscheit. So ein Knüppel ist ja im Notfall auch eine Verteidigungswaffe! Wir legten uns dann alle in einer Reihe ins Stroh. An der einen Seite Ossi, neben ihm seine Frau, seine Kinder, dann unsere Kinder, Liesel und an der anderen Seite ich. Und wir Männer legten die Knüppel neben uns. Jedoch, es geschah nichts. Die Nacht verging ruhig. Am nächsten Morgen, es war der 15. Mai 1945, streckten wir Fühler aus um zu erfahren, ob von Linz aus, wie das Gerede ging, irgendwie und irgendwohin Züge fahren würden. Dem war aber leider nicht so. Es fuhren weder Züge, noch Schiffe, noch irgend etwas anderes. Auf unserem Wege nach der Brücke in Urfahr hatten wir bemerkt, daß auf einer großen, teils bewaldeten Wiese sich viele befreite Kriegsgefangene, vorwiegend Franzosen, versammelt hatten. Sie waren aus ganz Österreich hier zusammen gekommen, um, wie wir erfuhren,

Alfred Grau - Rudolf A. Haunschmied

15

nun mit Flugzeugen in ihre Heimat geschafft zu werden. Alle nur erdenkbaren Fortbewegungsmittel hatten sie auf ihrer Anreise benutzt: Karren, Autos, Handwagen, Jagdwagen, kleine und große Pferdewagen. Das Ganze bot ein geradezu interessantes Bild. Die Leute lagerten in Zelten sowohl wie auch im Freien, dazwischen grasten Pferde, standen Fahrzeuge herum. Als wir langsam durch dieses Lager hindurchgingen, kam uns der Gedanke, daß, wenn wir uns ein möglichst von Pferden gezogenes Fahrzeug beschaffen könnten, die ganze Weiterfaht doch wesentlich leichter sein würde. Unser bestes Schulfranzösisch zusammennehmend, fingen wir an, mit dem einen oder anderen Franzosen, "a causer un peu", etwas zu plaudern. Das war ganz unterhaltend, die Leute waren in bester Stimmung, für sie ging es ja der Heimat zu. Auf meine Frage hin wurde uns schließlich sogar ein vierrädriger Leiterwagen zur Verfügung gestellt samt Pferden. Wir waren hocherfreut und gingen gleich daran, die Pferde anzuschirren. Da stellte sich heraus, daß ein Leitseil fehlte. Einer der Franzosen lachte und zeigte auf einen Haufen Riemenzeug, das unweit von uns an einem Ast hing. Ossi ging sofort dahin, um ein Leitseil zu holen. Ich versuchte schon ein Pferd anzuschirren, als wir plötzlich ein großes Geschrei und Geschimpfe hörten. Ich fuhr herum und sah, wie ein anscheinend betrunkener Franzose Ossi mit einer Pistole vor dem Gesicht herumfummelte und ihn in nicht mißverständlicher Weise bedrohte. Ich sauste hin, drückte dem Pistolenschwinger die Hand nach oben, neben mir erschien blitzschnell unser freundlicher Franzose, schlug dem Pistolenhelden das Schießeisen aus der Hand, der wild aufschrie, und ließ einen Wasserfall von Flüchen auf ihn nieder. Ringsherum erhob sich nun ein großes Geschrei, ein Streit aller gegen alle schien auszubrechen, schreiend und heftig gestikulierend. Als das "Freundschaftswort" ... "boche" [Deutsche] verschiedene Male ertönte, zogen wir es vor uns zu verdrücken, um nicht am Ende die einzig Leidtragenden zu sein.

Das Baubüro lag gleich rechts der heutigen Zufahrt zu Firma Poschacher.

In gebührender Entfernung setzten wir uns unter einen Strauch am Wegrand und rauchten eine Beruhigungszigarette. Plötzlich hörte ich hinter diesem Strauch spanisch sprechen. Ich sprang auf, ging hin, und sah dort eine Reihe von rotspanischen KZ-lern sitzen, die wohl auch hofften, mit nach Frankreich geflogen zu werden. Ich setzte mich zu ihnen, bot von meinen Zigaretten an, und sagte: "Que tal, amigos, ahora estan por partir hacia la patria, no?" ["Wie geht's, Freunde, wollt ihr jetzt auch nach Hause reisen?"] Sie guckten erst etwas

seltsam, wurden dann aber zugänglich und ein Wort gab das andere. Wir erzählten einander, sie sagten, sie kämen aus Mauthausen und, was ich zunächst befürchtet hatte, glücklicherweise kannte mich keiner. Ich sagte ihnen etwa, hört einmal her, ich habe hier ein Problem, das ich als Zivilist schlecht lösen kann, was aber für euch, die ihr ja Gefangene wart, nicht schwer sein dürfte. Hier stehen so viele Wagen und Pferde herum. Wir sind hier mit zwei Frauen und vier Kindern. Wir kommen aus Wien und müssen weiter. Aber als Deutsche wagen wir nicht recht, die Franzosen zu bitten, sie mögen uns einen Wagen und Pferde überlassen. Drum, wenn einer von euch sich bereit findet, zwei Pferde und einen Wagen dort herauszuholen, so kriegt er meine Armbanduhr. Und ich zeigte ihnen die Uhr, die ich versteckt in der Hosentasche hatte. Sie schauten mich erst mißtrauisch an, doch dann sagte einer: "Vale la pena!" ["Ist die Mühe wert!"] - Ich sagte: "No veo ninguna pena en eso, es un pequeno esfuerzo que hay que hazer, pero que rinde!" ["Ich sehe keine Mühe darin, wohl aber eine kleine Anstrengung, die sich aber rentiert!"] Darauf lachte einer und sagte: "Yo lo yoy hacer!" ["Gut, ich werde es machen!"] Wir stellten dann noch gemeinsam fest, wohin und wann sie uns den Wagen bringen sollten, nämlich am Eingang von Steeg. So war alles abgemacht, sogar die Uhrzeit. Plötzlich sagte einer: "Alto, para llegar hacia ahi uno tiene que pasar por el puesto de los americanos, y no le van a dejar pasar:" ["Halt, um dahin zu kommen, müßt ihr am amerikanischen Posten vorbei und der läßt euch nicht durch!"] - Da schreckten alle zurück. Und aus war es, leider Gottes! Also auch wir wären da nicht vorbeigekommen. Vielleicht war es ganz gut so, denn, so habe ich später überlegt, wie weit wir wohl mit solch einem Pferdewagen gekommen sein würden: Futter hatten die Tiere nur, was sie am Wegesrand fanden und es gab so viel streunendes Gesindel, die alle irgendwohin wollten. Und sehr wahrscheinlich hätte man uns bald das Fahrzeug wieder weggenommen. Etwas enttäuscht gingen wir weiter und trafen Manni, die uns sagte, ja, sie hätte dort in Steeg ein Quartier gefunden und wir sollten doch gleich mal dahingehen. Das taten wir und kamen dabei an der Stelle vorbei, wo vor einem Hause ein amerikanischer Posten stand inmitten verschiedener Männer, anscheinend frühere Gefangene. Als wir vorbeigehen wollten, sprang plötzlich der Posten vor, brachte sein Gewehr gegen uns in Anschlag und brüllte: "Hands up! You are captured!" ["Hände hoch! Ihr seid gefangen!"] Weder Ossi noch ich, keiner hob die Hände. Wir blieben stehen und ich schrie den Kerl an: "What do you want?" ["Was wollen Sie?"] "Back to the wall!" ["Zurück an die Wand!"], sagte er und wir wurden zur Wand zurückgedrängt, Ossi und ich. Ich sagte dann zu ihm: "I want to speak an officer!" ["Ich verlange einen Offizier zu sprechen!"] Und da drängte sich plötzlich ein Kerl vor, in Zivil, und sagte zu mir: "Ja, Herr Grau, Sie sind erkannt, Sie sind ein SS-Mann!" Ich guckte mir den Burschen näher an und sagte dann: "Und Sie waren Zeichner in der Bauabteilung

53, wo Sie als Gefangener den ganzen

Krieg über im Büro gewesen sind!" Er konterte

53

Das sog. "Baubüro" der DEST befand sich gemeinsam mit

dem sog. "Betriebsbüro" in Gusen rechts der heutigen

Poschacherstrasse.

Der Zusammenbruch 1945 - Wie wir ihn erlebten

16

gehässig: "Und Sie sind ein SS-Mann!" Ich wandte mich wieder an den Amerikaner, der immer noch unruhig so steht, als ob er jeden Augenblick auf uns schießen müßte und wiederhole: "I want to speak an officer. I repeat this!" ["Ich verlange einen Offizier zu sprechen. Ich wiederhole dies!"] Schließlich kam ein Jeep und es stieg ein Offizier heraus, Leutnant oder Captain, ich weiß es nicht mehr, bei dem ich protestiere gegen die Gefangennahme eines Zivilisten. Der Mann verstand anscheinend etwas deutsch, denn der polnische Denunziant sprach jetzt auf ihn ein. Daraufhin sagte der Offizier zu uns: "Your papers!" ["Ihre Papiere!"] Ich zog meine Brieftasche aus der Jacke und reichte ihm meinen Reisepaß. In dem Augenblick fiel mein silberner Vier-Farben-Stift zu Boden. Der Herr Leutnant oder was er war bückte sich blitzschnell und steckte den Stift ein. Er sieht meinen R e i s e paß flüchtig an, gibt ihn mir, mich mißtrauisch anblickend, zurück. Dann nimmt er Ossi's W e h r paß, schaut kurz hinein und gibt ihn auch mit weniger strengem, mehr gleichgültigem Blick zurück. Anscheinend wußte der Mann schon, daß jeder Deutsche, der Soldat war, keinen Wehrpaß mehr hatte, sondern ein Soldbuch, während nicht eingezogene Männer den Wehrpaß als Ausweis behielten. Und da zeigte ich ihm weder das eine noch das andere, dafür aber einen Reisepaß. Er wies mit der Hand auf den Jeep: "Hop up!" ["Aufsteigen!"] Wir mußten einsteigen ... gefangen! Und ab ging's! Manni stand erschüttert da und mußte zuschauen, wie sich in rasender Fahrt der Jeep entfernte.

Einige ehemalige Gefolgschaftsmitglieder der DEST-Werkgruppe St. Georgen

wurden nach dem Krieg von den Amerikanern angeklagt und auch zum Tod verurteilt.

Der hinter uns sitzende Offizier sprach zunächst mit dem auch mitgenommenen polnischen Denunzianten, dann fing er an auf uns einzureden in einem Mischmasch von Slang und akzentuiertem Deutsch: "Ein jüdischer Jüngling hat mir erzählt ...", und dann schilderte er uns die Grausamkeiten, die deutsche Soldaten in Polen verübt haben sollten, wobei die an den Füßen auseinandergerissenen Säuglinge noch das Harmloseste waren. Ich unterbrach ihn, angewidert, und mich halb umdrehend sagte ich: "That's only dirty propaganda, similar to the lie of the hands of Belgian children nailed on the table by German soldiers during the first World War!" ["Das ist nur schmutzige Propaganda, ähnlich der Lüge im ersten Weltkrieg, nach der deutsche Soldaten belgische Kinder mit den Händen am Tisch festgenagelt haben sollten!"]

Dann brach ich das Gespräch ab, hörte überhaupt nicht mehr auf das, was dieser Mensch faselte, gab nur acht, daß wir bei der nächsten Kurve - wie ein Irrer fuhr der Kerl! - nicht heruntergeschleudert wurden. Nichtsdestoweniger, wir gelangten zum Rathaus von Linz. Wir wurden hineingeführt und dieser Leutnant oder was er war, lieferte uns einem Major ab mit den Worten: "I am bringing two presumed SS-men!" ["Ich bringe zwei vermutliche SS-Männer!"] Außer uns wurde dann noch der polnische Ex-Häftling dagelassen, der ja gegen uns aussagen wollte. Wir standen in einem großen saalartigen Zimmer im ersten Stock mit einem weiten Balkon davor. An der Wand fiel ein großer rechteckiger heller Fleck auf. Hier hatte einmal das überlebensgroße Bild von Adolf Hitler gehangen, denn von dem nämlichen Balkon da draußen hatte er 1938 den Anschluß Österreichs an das Reich verkündet. Also ein schicksalsträchtiger Rahmen für das, was uns bevorstehen sollte! Da kam schon der Major auf uns zu: "Your papers!" ["Ihre Papiere!"] Er bekam Ossi's Wehrpaß und meinen Reisepaß. Mit reglosem Gesichtsausdruck nahm er beide entgegen, ging auf einen Schreibtisch zu, auf dem eine Mappe lag, die anscheinend eine Namensliste enthielt, denn der Mann, in der linken Ossi's Wehrpaß, fuhr mit dem Zeigefinger der rechten eine Zeile herunter, stoppte plötzlich, verglich anscheinend mit dem Paß, dann glitt sein Finger langsam weiter und legt den Wehrpaß beiseite, meinen Reisepaß in die Hand nehmend. Nun blätterte er einige Seiten in der Mappe zurück, und wieder glitt sein Finger langsam von oben nach unten. Dann schlug er die Mappe zu, gab uns unsere Pässe zurück und sagte nur: "Okay!" Und zu mir gewandt, mit unbeweglichem Gesicht, die Frage: "Were you SS-man?" ["Waren Sie SS-Mann?"] Ich antwortete: "Not in the sense of a volonteer!" ["Nicht als Freiwilliger!"] Und so erklärte ich in englisch den ganzen Sachverhalt, nämlich, daß ich, wie dieser frühere Gefangene behauptete, SS-Mann sei, stimmt nur bedingt. Ich war Zivilist und wurde, wie alle Arbeiter und Angestellte der Messerschmitt-Werke

54, die als wichtig für die

Kriegsproduktion angesehen wurden, UK, also "unabkömmlich" gestellt, um nicht von der Wehrmacht eingezogen zu werden, aber später dann rücksichtslos zur Waffen-SS eingezogen

55.

Der Major hörte aufmerksam zu. Schwieg. Anscheinend hatte das, was ich ihm erklärt hatte, doch irgendwie Eindruck auf ihn gemacht. Er wandte sich dann plötzlich dem polnischen Ex-Häftling zu, schaute ihn interessiert an und fragte ihn schließlich, woher er die schöne Jacke habe, die

54

Diese "UK"-Stellung betraf nicht nur Mitarbeiter der

Messerschmitt-Werke sondern auch Mitarbeiter der DEST und

der Steyr-Daimler-Puch AG. 55

Diese zwangsweise Übernahme in die Waffen-SS fand vor

allem ab Sommer 1944 statt, nachdem RFSS Heinrich Himmler

als Folge des gescheiterten Putschversuches durch Wehrmachts-

angehörige am 20. Juni 1944 als "Befehlshaber des Ersatzheeeres (BdE)" de facto das Oberkommando über die

deutschen Streitkräfte übernommen hatte. Diese zwangsweise

Übernahme in die Waffen-SS betraf in St. Georgen und Gusen vor allem hunderte Luftwaffe-Soldaten, die infolge der durch die

DEST in St. Georgen und Gusen realisierten Luftrüstungs-

projekte zur Verstärkung des SS-Wachsturmbannes Gusen in den Raum St. Georgen/Gusen versetzt wurden. Die Übernahme

der Zivilangestellten in die Waffen-SS entzog diese auch dem

Zugriff anderer Heereskörper für den Kriegseinsatz.

Alfred Grau - Rudolf A. Haunschmied

17

er trug. Der Pole verstand nicht. Ich mußte übersetzen. Etwas verlegen kam dann eine undeutliche Antwort, die so klang als wie, aus den eigenen Effekten. Ich sagte: "He says, of his own belongings!" Daraufhin faßte der Major das Revers der Jacke an, befühlte es und sagte: "Oh, such a fine jacket of british fabric I have not even in America!" ["Oh, solch ein feines Jacket aus englischem Tuch habe nicht mal ich in Amerika!"] Ich schwieg dazu und machte mir mein eigenes Bild von dem Major. Es kamen dann zu dem Major noch zwei oder drei weitere Amerikaner hinzu: Kreuzverhör! Von allen Seiten prasselten die Fragen auf uns nieder, alles in englisch. Ossi tat klug daran, sich zu stellen, als ob er nichts verstünde. Der Denunzianten-Häftling behauptete jetzt, daß er mich in Uniform gesehen habe. Nachdem ich das wieder übersetzt hatte, fügte ich nur an: "He is wrong!" ["Stimmt nicht!"], denn ich hatte aufgrund meiner Stellung als kaufmännischer Leiter und stellvertrender Betriebsführer "Berechtigung zum Tragen bürgerlicher Kleidung", also Zivil, und hatte davon ausgiebig Gebrauch gemacht. Dann behauptete der Denunziant, ich hätte Kenntnis von vielen Greueltaten, die im Lager begangen worden wären. Das Interessante war ja dabei, nachdem der Pole kaum englisch sprach und ein sehr schlechtes Deutsch, daß der Major zu jeder Äußerung immer zu mir sagte: "What did he say?" ["Was sagte er?" Ich weiß nicht warum? War es ein sechster Sinn? Jedenfalls versuchte ich stets all die unsinnigen, aber immerhin für mich gefährlich werdenden Anschuldigungen so wortgetreu widerzugeben, wie mir möglich war. In diesem Fall, was angebliche Greueltaten im Lager betraf, fügte ich meiner Übersetzung noch an, daß ich das Lager nie betreten hätte, weil ich es nicht betreten durfte

56.

Daraufhin fragte der Major den Polen: "Have you ever seen this man in the very concentration camp?" ["Haben Sie diesen Mann je im KZ-Bereich gesehen?"] Nach der Übersetzung war der Pole verblüfft und verwirrt sagte er auf deutsch etwa: "Nein, er war ja Beamter und durfte nicht hinein!" Ich übersetzte dies wieder und sagte anschließend scharf: "Look, that`s the reason why all this man may pretend before you is not true. I repeat, as I never was allowed to enter the camp, I neither had knowledge nor influence of what happened there." ["Schauen Sie, daraus ergibt sich warum alles, was immer dieser Mensch hier vor Ihnen behauptet, nicht der Wahrheit entspricht. Ich wiederhole, ebensowenig, wie mir nicht gestattet war, das Lager zu betreten, ebensowenig hatte ich Kenntnis noch Einfluß auf das, was dort geschah!"]

57 Noch einige

56

Es war üblich, dass grundsätzlich nur die Angehörigen des

sog. "Kommandanturstabes" das sog. "Schutzhaftlager" selbst

betreten durften. Dies waren in Gusen nur etwa 100 von 3000

Mann. Selbst die Angehörigen des SS-Wachsturmbannes durften die Häftlingslager nicht betreten. Auch bei Aussenkommandos

war dem Wachpersonal die Einhaltung eines festgelegten

Mindestabstandes zu den Häftlingen vorgeschrieben. Auch wenn Direktor Grau hier richtig argumentiert, ist aber dennoch davon

auszugehen, dass er täglich auch in seinen Betrieben mit der

Brutalität des Konzentrationslageralltages "seiner" Häftlinge konfrontiert war. 57

Dies bezieht sich auf die Zustände in den Häftlingslagern. Es

ist hingegen überliefert, dass sich vor allem die für die Erfüllung des Produktions-Plan-Solls verantwortlichen Manager von

Messerschmitt, Steyr-Daimler-Puch und auch DEST immer

wieder für eine bessere Behandlung und Ernährung der Häftlinge

Male mußte ich den Häftling scharf zurückweisen, einmal, als er behauptete, ich hätte von den Häftlingen als von "Sauvolk" gesprochen. Der Amerikaner fragte mich, nachdem ich übersetzt hatte und ich das Wort "Sauvolk" nicht ins Englische übertragen wollte, was dieses Wort bedeutet. Ich antwortete ihm: "Well, that's an expression which does not even exist in my German vocabulary, I am sorry, I cannot translate it." ["Nun, das ist ein Ausdruck, der nicht einmal in meinem deutschen Vokabularium existiert, es tut mir leid, ich kann es nicht übersetzen."] Dann fing der Pole wieder davon an, daß ich es gewesen wäre, der verlangt hätte, vor den unterirdischen Stollen See-Minen einzugraben

58, dann die Häftlinge allesamt, falls der

Feind kommen sollte, hineinzutreiben und die Eingänge zu sprengen.

Bergkristall wurde durch die US-Militärregierung hermetisch abgeriegelt. Auch damals durfte niemand ohne besondere Genehmigung hinein.

Zunächst übersetzte ich wortwörtlich, so gut ich konnte, diese ungeheure unvorstellbare Anschuldigung. Und dann sagte ich am Schluß hart und deutlich: "The reality is that I neither had any influence about all this nor knowledge of what was about to be planned or done.

59 I had to mind my

own administative business and this I did in plain clothes. Sorry to say that all what this man may tell about me here is - excuse me! a lie, a bloody lie." ["Die Wirklichkeit ist die, daß ich weder irgend einen Einfluß noch Kenntnis hatte von dem was geplant

einsetzten. Viele dieser Bemühungen scheiterten aber am Unverständnis und am Unwillen der Lagerkommandanten und

der sog. Arbeitseinsatzführer. Es kam auch immer wieder zu

Auffassungsunterschieden zwischen den Kommandeuren der Wachtruppen und den Angehörigen des Kommandanturstabes,

was die Behandlung der Häftlinge betraf. 58

Tatsache ist, dass sowohl die Stollen von "Bergkristall" in

St. Georgen als auch die Stollen von "Kellerbau" in Gusen vermint worden sind, um die Häftlinge durch Sprengung zu

töten. Die Vorbereitungen dafür wurden auf Befehl von Dr.

Ernst Kaltenbrunner und Reichsverteidigungskommissar Gauleiter August Eigruber ab Anfang April 1945 getroffen. Mit

der Umsetzung dieses Befehls wurde der sprengtechnisch

kundige Betriebsleiter der DEST-Steinbrüche in Gusen, SS-Obersturmführer Ing. Paul Wolfram beauftragt. Wolfram gab

später an, die Umsetzung dieses Befehls sabotiert zu haben. Laut

Wolfram stellte der Lagerkommandant SS-Standartenführer Franz Ziereis dafür zuerst etwa 24 Fliegerbomben zur Verfügung

und als Wolfram diese für nicht ausreichend erklärte,

schliesslich 120 See-Minen. 59

Die Befehle von oben wurden damals durch die

Lagerkommandanten Ziereis und Seidler weitergegeben und

umgesetzt.

Der Zusammenbruch 1945 - Wie wir ihn erlebten

18

oder getan wurde. Ich mußte mich um meinen administrativen Kram kümmern und das tat ich in Zivil. Es tut mir leid zu sagen, das alles, was dieser Mann hier über mich auch vorbringen mag, nichts weiter ist - Entschuldigung! - als Lüge, blutige Lüge!"] Ich hatte zuletzt meine Stimme vor Ärger gehoben, der Pole zuckte zusammen, vielleicht hatte er das Wort "blutige Lüge" verstanden. Der Major zuckte nur die Achseln. Es trat eine kurze Pause ein, bis eine Ordonnanz von der Tür her rief, der Major möchte mal herauskommen. Der Mann ging langsam zur Tür. Da stand ein Zivilist und hielt einen Zettel hoch, redete hastig. Ich konnte nur immer das Wort "Zellenleiter" verstehen. Der Major nahm wortlos den Zettel zwischen Daumen und Zeigefinger, hielt ihn von sich ab, drehte sich herum und ging langsam zum Schreibtisch, wo er aus etwa einem halben Meter Höhe den Wisch auf den Tisch flattern ließ, ohne ein Wort zu sagen. Sein Gesicht drückte etwa aus, zum Teufel mit diesen schmutzigen Denunzianten! Ich schämte mich und diesen Offlzier schien es zu ekeln, zu sehen, wie selbst Deutsche einander verkauften. Inzwischen hatte sich ein amerikanischer Soldat an mich herangemacht, ganz offensichtlich Jude, und zischte mich auf deutsch an, gerade als der Major wieder zu uns kam: "Ja, Sie sind erst mal Kriegsgefangener, was weiter mit Ihnen wird, wissen wir noch nicht!" Der Major schob mit einer Handbewegung den Eifrigen zurück und sagte hart: "That's my case!" ["Das ist mein Fall!"] Der Kerl trollte sich sofort. Dann sagte der Major zu mir: "We have to wait now till the commander comes. Stay here!" ["Wir müssen warten, bis der Kommandeur kommt. Bleiben Sie hier!"] Ich sagte: "Okay!" und da standen wir dann beide und harrten der Dinge, die da kommen sollten.

Die ehem. DEST-Werkgruppenleitung heute.

Im Nebenzimmer wurde ein SS-Obersturmführer vernommen, in deutsch. Was wir so durch die offene Tür hörten war widerlich! Ossi wackelte nur mit dem Kopf. Dieser Kerl - wer es war, weiß ich nicht - erzählte die größten Schmutzigkeiten, die die SS angeblich begangen haben sollte, u.a. von einem Geschäft, bei dem man die Rumänen betrogen hätte, indem man statt Feuersteine für Feuerzeuge Bleistiftminen geschickt hätte, und ähnliche Dinge mehr. Bis dann plötzlich, mit der Faust auf den Tisch hauend - wir hörten das Gedröhne - der amerikanische Vernehmende auf deutsch schrie: "Halten Sie das Maul! Waschen Sie Ihre schmutzige Wäsche woanders!" Und dieser

Kerl war vorher, zwar mit zynischer Betonung, als SS-Obersturmführer angeredet worden! Wir mußten weiter warten. Da es ein sehr heißer Maitag war und wir beide Durst hatten, bat ich einen Amerikaner, uns doch zu gestatten etwas zu trinken. Er wies auf den Flur hinaus, wo ein Wasserhahn war. Wir mußten aus der Hand trinken, denn ein Becher oder so etwas war nicht da. Während ich mich über meine muschelförmig zusammengelegten Hände beugte, um zu trinken, sagte Ossi zu mir: "Dreh Dich mal um!" Ich trank erst und schaute mich dann langsam um. Da stand wieder der kleine jüdische Amerikaner, der mich schon einmal eifernd angeflaxt hatte, hielt einen 45er Colt in der Hand und paßte auf. Ich lächelte im Stillen, tat aber so, als ob ich nichts sähe. Ossi trank dann auch und wir gingen wieder hinein. Endlich kam dann der "Commander". Er ging zum Schreibtisch hin, und, auf uns zeigend, fragte er den Major, was das für Leute wären. Der Major trug ihm einiges vor, was ich nicht verstehen konnte. Der Oberst fragte etwas und ich hörte das Wort "list"; er wollte wohl wissen, ob wir in der Liste der Gesuchten stünden. "No!" sagte der Major. Der Commander machte eine wegwerfende Handbewegung und sagte: "Away!" Also fort! Wir wurden dann zusammen mit dem Polen hinausgeführt. Der Major ging mit dem Polen abseits und sprach auf ihn ein, in welcher Sprache konnte ich nicht heraushören. Ich sah nur, daß der Pole anfing heftig zu gestikulieren, woraufhin der Amerikaner ihn beim Arm nahm und fortwies. Dann kam der Major zu uns. Am Fenster des Flurs stehend, hatten wir uns inzwischen Zigaretten angezündet. Ich fragte, ob wir weiter rauchen dürften. Er sagte: "Ja!" und fuhr in fließenden Deutsch fort, daß wir frei seien, da nach den Feststellungen uns nichts nachzuweisen sei, daß man im übrigen nur wirklich Schuldige suche und wir hingehen könnten, wohin wir wollten. Dies war eine s e h r f r e u d i g e Überraschung! Einmal deshalb, daß der Major plötzlich genauso gut deutsch sprach wie wir - was ich irgendwie mehr gefühlsmäßig vermutet hatte - und dann, daß wir gehen durften. Denn was täten wohl die Frauen ohne uns, wenn wir nicht zurückkämen? Ich sagte ihm, daß wir Frauen und Kinder allein vor Linz liegen haben und daß ich dasselbe wie heute schon einmal durchmachen mußte, nämlich unschuldig denunziert zu werden. Deshalb, und der Frauen und Kinder wegen, würde ich ihn doch bitten, mir irgendein "Permit" auszustellen, unsere Reise heimwärts ungeschoren durchzuführen. Es bestünde ja sonst die Gefahr, daß mich wieder irgendeiner erkennen und ich dann wieder hier landen würde. Er schaute mich lange an und sagte dann: "Hören Sie mal zu! Als Angehöriger der Waffen-SS so oder so sind sie jetzt erst mal Kriegsgefangener. Damit Sie dies nicht wieder erleben wie jetzt, gehen Sie runter zur Unteren Donaulände, dort ist eine frühere Kaserne, die jetzt als Gefangenenlager dient, und da begannen gestern die Entlassungen. Gehen Sie dorthin und lassen Sie sich ordnungsmäßig entlassen. Dann können Sie mit dem Entlassungsschein in der Hand mit Ihrer Familie in aller Ruhe nach Hause gehen." Ich nickte dankbar, bat aber doch um eine Einweisung oder so etwas für das Entlassungslager. Er zog eine Art Meldeblock aus der Tasche und schrieb darauf: "This person, Alfred Grau, has been screened with us and ought not been sent back to

Alfred Grau - Rudolf A. Haunschmied

19

here. Whether his status is that of a PW or not is up to the decision of the Camp Commander. May 15, 1945." ["Diese Person, Alfred Grau, ist von uns überprüft worden und sollte nicht wieder nach hier zurück geschickt werden. Die Entscheidung, ob der Status des Mannes der eines Kriegsgefangenen ist oder nicht, obliegt dem Lager-Kommandanten."] Und er unterschrieb, unleserlich, doch zu lesen war darunter "Major C.I.C." [Major der Spionageabwehr der US-Army] Ich nahm den Zettel, bedankte mich und wir gingen. Draußen sagte ich zu Ossi: "Scheint mir einer der Anständigen zu sein, der Major.

Ehemalige Baracken aus St. Georgen waren noch bis 2005 in St. Martin bei Traun in Verwendung. Sie mussten erst jüngst

einem neuen Stadtteilzentrum weichen.

Machen wir es so, wie er empfohlen hat, denn sonst werdet ihr immer Schwierigkeiten haben wegen mir. Du gehst ja frei, denn du hast ja einen Wehrpaß und warst folglich kein Soldat." Wir gingen also die wenigen Schritte bis zur Unteren Donaulände, mußten auf die andere Straßenseite hinüber, donauwärts zu, weil vor der Kaserne der Bürgersteig abgesperrt war. Als wir vor der Kaserne standen, aus deren Fenster überall gefangene Soldaten schauten, kreuzte ich die praktisch leere Straße und ging auf das Tor zu. Sofort kam ein Amerikaner auf mich zu und rief: "Stop!" Es war sogar ein Leutnant . Ich hielt ihm meinen Zettel hin und sagte: "The major of the C.I.C. sent me to here to be discharged." ["Der C.I.C. Major schickt mich zur Entlassung her!" Da stand plötzlich ein deutscher FLAK-Unteroffizier hinter dem Leutnant, las über dessen Schulter hinweg den Zettel und - das linke Auge zukneifend - hob er sofort zu sprechen an: "Hören Sie zu! Hier ist kein Entlassungslager - wieder Augenzwinkern - Entlassungslager ist Wegscheid, drei Stunden von hier. Melden Sie sich dort! - wieder Augenzwinkern - Ab!" und dasselbe übersetzte er schnell dem Amerikaner. Der hielt mir den Zettel hin, ich nahm ihn, drehte mich schnell um und verschwand. Zu Ossi, der noch auf der anderen Straßenseite stand, sagte ich nur: "Ein Pfundskerl, der FLAK-Unteroffizier. Ossi, ich gehe in kein Gefangenenlager mehr. Freiwillig nie!!!....". Und dann erzählte ich ihm den ganzen Hergang. So gingen wir dann, ohne angehalten zu werden, über die Nibelungenbrücke zurück nach Urfahr und weiter nach Steeg, wo wir unsere Frauen wußten. Nun waren wir da. Es ist schwer zu beschreiben, wie dieses Wiedersehen allen von uns ans Herz ging. Da saßen beide Frauen auf einem Strohbündel am Eingang der Scheune, in der wir genächtigt hatten. Als sie uns sahen, sprangen sie auf, sahen uns aus großen Augen an, mit

halboffenem Mund und tiefatmend, wohl nur denkend: "Sie sind doch wieder da!" Eine gestaltgewordene Wirklichkeit, an die zu hoffen sie schon nicht mehr gewagt hatten. So standen wir vor ihnen nach der so herzlichen Begrüßung und mußten dann erzählen, wie es uns ergangen war. In abgehackten Sätzen geschah dies, doch aus allem klang dankbar die Freude wieder, alle beieinander zu sein. Die Kinder drängten sich freudig an uns. Ich nahm Gerda, sie abküssend, auf den Arm. Da erschien plötzlich der Bauer und sagte: "Ja mei, da san's ja wieder! Grüß Gott! Hörn's, da hab I grad g'hört im Radio, der Montgomery läßt die gesamte SS zehn Jahre ins KZ sperren! Und mei Sohn is doch a dabei!" Ich konnte im Moment nichts sagen. Ich stand vor den Frauen, Ossi neben mir, doch dann plötzlich, als das Hirn diese Nachricht begriff, wurde ich in den Knien weich. Ich mußte mich setzen. Und ich ließ mich neben Liesel auf das Strohbündel fallen. Dieser ungeheuerliche Gedanke, nur weil Soldaten Angehörige der Waffen-SS, ob freiwillig oder unfreiwillig, gewesen waren, sie zehn Jahre ins KZ zu sperren, ergriff und erschütterte mich. Und ich dankte im Stillen einem gnädigen Geschick, daß man mich sozusagen aus dem Gefangenenlager fortgewiesen hatte und schwor mir, alles zu tun, um künftig jedes Gefangenenlager zu meiden: Und um dies zu erreichen, sollte mir keine Lüge, kein Trick oder was es sonst auch sei, zu niedrig sein! Denn jetzt kam es einfach darauf an, sich für Frau und Kinder zu erhalten! Nach diesem erschreckenden Vorfall dachten wir dann wieder überlegt und ruhig darüber nach, wie es weitergehen sollte mit uns, auf welche Weise, wann und wohin. Am besten lese ich dazu die letzten Zeilen meines Berichtes über den so ereignisreichen Tag, den 15. Mai 1945, wo es heißt: "Die Frauen hatten inzwischen noch eine Unterkunft gefunden, wo Ossi, Günter und ich übernachten konnten, während sie selber für sich und die Kinder eine andere Bleibe gefunden hatten. In unserer Unterkunft wurde ich am selben Abend noch einmal von einem früheren Häftling erkannt, der mal in unserem Werksmagazin gearbeitet hatte, wieder ein Pole, aber im Gegensatz zu dem Typ am Vormittag ein netter Kerl, der mir, nachdem ich ihm mein Tagesschicksal erzählt hatte, noch alles Gute wünschte." Unter den 16. Mai 1945 schrieb ich dann in mein Tagebuch folgendes: "Um nicht wieder Schwierigkeiten zu haben, wenn ich mich vielleicht außerhalb des Hauses begeben würde und wieder von irgend jemand erkannt und denunziert werden sollte, bin ich tagsüber im Haus geblieben. - Ossi hatte mit Mühe und Geschick einen Handwagen "organisiert". ... Morgen trecken wir los ... Richtung Prambachkirchen! Ich möchte hierzu folgendes sagen. In Prambachkirchen befand sich eines der dreizehn unserer Werksgruppe unterstehenden Werke

60 und lag auf dem Weg nach Passau zu, also

auf dem Weg, den wir gehen mußten, um ins Altreich, um nach Hause zu kommen.

60

Die Werkgruppe St. Georgen war die grösste Werkgruppe der

DEST. Neben den Betrieben im Raum St. Georgen-Gusen-

Mauthausen zählten z.B. auch Steinbrüche in Mittelböhmen zum

Führungsbereich der DEST-Werkgruppe St. Georgen.